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Marie-Luise Scherer

Die Hundegrenze

 

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Marie-Luise Scherer

DIE HUNDEGRENZE

Mit einem Vorwort von Paul Nizon
Fotografien von Oliver Hermann

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Inhalt

Vorwort

Die Hundegrenze

AN DEN ZÄUNEN

von Paul Nizon

Die Hundegrenze meint den mit Wachtürmen und Minenfeldern versehenen Todesstreifen in dem fast nur von Hunden bewohnten Sperrgebiet längs der gestaffelten Zäune, welche die alte DDR vom freien Westen trennte. Die Hunde liefen an Laufleinenanlagen die gesamte Trasse ab in einer mörderischen Isolierung, in der prallen Sonne und eisigen Kälte, buchstäblich bis zum Wahnsinn. Sie sind im vorliegenden Text die Exponenten des beschriebenen Gebiets und Betriebs, und sie sind die Entlarver einer dazugehörigen Staatsmentalität, zu deren Merkmalen die Abkapselung, Einsperrung, Überwachung und Unterdrückung und die Stimmung übelkeitserregender Spießbürgerlichkeit zählen. Und eine auf das Wachhundewesen ausgerichtetete berufsmilitärische Population, die sch mit verheimlichter bis halberlaubter Geschäftemacherei einer tödlichen Langeweile zu entziehen sucht. Und trotz allem handelt es sich bei dieser unansehnlichen Gesellschaft um Personen mit und ohne Anhang, mit Gefühlen, Zu- und Abneigungen, Charakteren. Und diese Gesellschaft erstreckt sich weit ins hundezüchterische Hinterland hinein, aus welchem der Schutzhunde- und Wachhundebedarf gedeckt wird, kurzum es handelt sich um einen bei aller Armseligkeit roman- bis dramenverdächtigen Stoff, und wie Marie-Luise Scherer sich dieses Stoffes bemächtigt, geht weit über die Qualitäten eines Anschauungsunterrichts hinaus. Es ist schlicht atemberaubend.

Das hat zu tun mit einer Detailkenntnis, die nicht nur die Erfordernisse und Abwicklung des faktischen Grenzbetriebs und Hundewesens umfasst und widerspiegelt, sondern den ganzen weitläufigen menschlichen Hintergrund dazu. Und dies in ener im besten Sinne Wirklichkeit ködernden Sprache mit Krallen, die teils mit Sprachgepflogenheiten aus dem beschriebenen Milieu operiert.

Es bleibt die Frage, wie Scherer zu dem bis in die kleinsten Winkel vordringenden intimen Wissen gelangt ist. Ich denke, wie ein Naturforscher und Entdeckungsreisender. Natürlich liegt solchem Kenntnisgrad eine intensive Recherche zugrunde, eine überaus aufwendige Wühlarbeit, die dazumal der SPIEGEL ermöglicht hat, für den Scherer ihre ausschweifenden literarischen Reportagen schrieb. Was aber hat sie zu dem aufwendigen Unternehmen angeregt, motiviert? Es ist die ihr eigene Neugierde, man muss schon sagen LEBENSneugier und ein nie genug zu befriedigender Wissensdurst. Und in dem besonderen Fall ist es das tiefe Mitleid mit den Hunden.

Nur im Zusammenhang mit den Hunden – einmal heißt es von einem Hundehalter, er kannte alle Nuancen des Hundeunglücks – erlangt der Ton des Berichts eine Art Pathos, während er allgemein eine eher wissenschaftliche Beobachterlaune ohen sonderliches Mitgefühl einhält und aus einer Erzählerperspektive stammt, die weder aus abschätzigem Überblick noch aus einem wie immer verursachtem Aufblicke stammt, sondern auf mitmenschlicher Augenhöhe verläuft. Nur bei den Hunden ist es anders.

Marie-Luise Scherer gilt als eine Spitzenverfasserin von Reportagen. Man sollte sie nicht in dieses Laufgitter einsperren. Sie ist eine bedeutende Prosaautorin, und ihre Geschichten aus dem Alltag haben alle Vorzüge der großen Literatur.

FÜR DIE AUTOS, in denen die Teppichhändler saßen, hatten Herbigs bald einen Blick. Sie kamen flott über den Feldweg gefahren und näherten sich dann im Schleichgang den ersten Häusern. Und ehe man abwinkend vor die Tür treten konnte, postierte sich so ein Auto schon im Hof. Zwei fremdländische Männer stiegen aus. Der eine ging mit geschulterter Teppichrolle auf die Hausbewohner zu, warf seine Fracht vor deren Füßen ab und breitete die guten Stücke über der Klinkertreppe aus.

Schon ein kurzes Hinsehen, auch wenn es sich verneinend gab, war dann zu viel, denn der Mann nahm es als Ermunterung. Am Ende der Vorführung kam der zweite Mann, dessen Verschwinden den Hausbewohnern vor lauter Teppichen entgangen war, aus dem Schuppen herausspaziert und fragte: »Alte Möbel nix?« Gegen Heimsuchungen dieser Art, die mit der gefallenen Grenze einhergingen, entschlossen sich Herbigs zur Anschaffung eines großen Hundes.

Alles fügte sich in zeitlich passender Reihenfolge. Die letzte Heimsuchung durch Teppiche war mittwochs, am Donnerstag fuhr Herr Herbig als glücklicher Mann den Audi vor, seine neue Errungenschaft, und freitags stieß Frau Herbig auf die Annonce in der Schweriner Volkszeitung: Das Grenzkommando Nord hatte einen Restbestand Hunde abzugeben, Nachfragen sonnabends erbeten.

Herbigs eigentliche Zeitenwende beginnt mit dem Tag, als der Audi vor der Tür stand. Alle Geschehnisse sind als vor oder nach dem Audi liegend sortiert. Auf diese Weise kam ihr Hofhund zu der Ehre, dass es in seinem desolaten Lebenslauf das Datum seiner Übergabe gibt, den letzten Sonnabend im August 1990. Damals fuhren Herbigs von Göhlen bei Ludwigslust nach Schlutup/Selmsdorf, der ehemaligen Grenzübergangsstelle bei Lübeck, um den Hund zu holen. Es war ihre erste längere Tour im neuen Auto.

OBERFÄHNRICH SCHÖNKNECHT, zuständig für das Dienst- und Wachhundewesen beim Grenzregiment VI, Dienststelle Selmsdorf, stand in ziviler Sommerhose vor der Zwingeranlage. Diese lag, in Reihen gestaffelt, etwas abseits von den Kasernen zu einem Kiefernwald hin. Den 30 mannshohen Betonboxen schloss sich jeweils ein umgitterter Auslauf an. Die Wege längs der Boxen waren geharkt. An den Querseiten der Hundesiedlung verliefen Rosenrabatten, vor jeder beginnenden Gasse durch einen Zierstrauch unterbrochen. Die akkurate Spärlichkeit dieser Anpflanzung widersprach nicht der Nüchternheit des übrigen Kasernengeländes. Keine atmosphärische Begütigung ging von ihr aus, vergleichbar den munteren Kegeln des Zwergwacholders in einem Klinikgarten. Oberfähnrich Schönknecht sprach von einem ordnungsgemäßen Umfeld, das auch den Hunden bekomme.

In der vordersten Gasse sprangen die Schäferhunde Amor, Muck und Brando an ihren Auslaufgittern hoch. Es waren ältere Diensthunde mit Herkunftspapieren und Prüfungsdiplomen, die an der Seite eines Hundeführers einmal Grenzdienst gemacht hatten. Jetzt hatten sie den Verlust ihrer Herren zu verwinden, in die Städte zurückgekehrte Soldaten ohne weitere Verwendung für sie. Auch Oberfähnrich Schönknecht musste seinem letzten Diensthund das Zuhause schuldig bleiben. Sicher waren das herbe Hundeschicksale, doch für Herbigs nicht herb genug. Sie glaubten sich in einer Kuranstalt, deren Insassen wie die Aale glänzten, aus geputzten Näpfen fraßen und nach kurzen Tumulten wieder absackten in Resignation.

Dieses Prinzendasein wäre hinter ihrem Haus in Göhlen nicht fortzuführen gewesen. Auch würden diese Hunde, von ihrer Anspruchshaltung einmal abgesehen, etwas gekostet haben. Der Zeitwert des Fährtenhundes Amor beispielsweise, mit sieben Jahren so alt wie ihr gebrauchter Audi, betrug noch fünfhundert Mark. Herbigs hatten eher an einen gröberen Wüterich gedacht, der sein Temperament nicht in Heimweh verschwendet.

Oberfähnrich Schönknecht beorderte einen Soldaten, den Herbigs nach Klein Siemz vorauszufahren, eine Ortschaft hinter Schönberg Richtung Ratzeburg. Hier bewachten fünf Laufleinenhunde aus Grenzzeiten ein Munitionsdepot, ein trübsinniger, zu Kopf steigender Dienst wie in den Jahren zuvor zwischen den Zäunen. Das Terrain war schattenlos, und die Hunde hatten sich kühlende Wannen in den Sand gegraben. Sie lagen matt in der Mittagshitze, als sie den Kübelwagen hörten, in dem der Soldat saß.

Jetzt, in Vorfreude einer Abwechslung, bellten sie und rasten zwischen ihren Pflöcken hin und her, dass das Drahtseil über ihnen bebte. Vor allem waren sie durstig. Da der Soldat, der aus dem Auto stieg, keinen Wassereimer trug, verebbte jedoch der Jubel bald, und übrigblieb, indem sie sich setzten, ihr lächelndes Büßertum.

HERBIGS FÜRCHTETEN SICH vor diesen Hunden. Was sie soeben in Aktion erlebt hatten, waren galoppierende Mustangs, unter denen der Boden dröhnte. Selbst in ihrer Enttäuschtheit, wie sie mit flachen Ohren und artig gestellten Füßen den Zuspruch des Soldaten dankten, blieben es Ungetüme. Herr Herbig, als Frührentner zu Hause die Wirtschaft besorgend, sah sich von so einem Burschen im Geiste schon überrannt. Und hätte es nicht den Klagelaut gegeben aus der entferntesten Ecke des Terrains, wäre man ohne Hund nach Göhlen zurückgefahren.

Die Klage kam aus einem Schafgarbengebüsch. Und wo das Gebüsch etwas zitterte, zeigte sich ein schmaler gelber Hundekopf. Der Klage folgten noch einige kurze, nachhakende Töne, denen das Ereignis, endlich besucht zu werden, anzuhören war. Herbigs und der Soldat gingen an den Laufstrecken von vier schweren, dunklen Hunden vorbei. Dem vierten dieser kahlgefegten Abschnitte schloss sich das Revier des fünften, bis dahin versteckten Hundes an.

Er war inzwischen halb aus dem Gebüsch getreten, was ihn die volle Länge seiner Laufleine kostete. Seine Erscheinung strahlte eine gewisse Festlichkeit aus. Ein Geriesel von Schafgarbenblüten bildete ein Dreieck auf seiner Stirn, passend darunter die erfreute Miene. Das gelbe Gesicht lag in einem löwenhaften, etwas helleren Kragen. Die Ohren hielt er so lange hochgestellt, bis Herbig ihn ansprach und er in Überschwang geriet. Wie eine Machete schlug die Rute aus, dass es den ganzen Körper mitriss bis zum Kopf, und die kleine Wildnis, aus der er ragte, rechts und links zur Seite knickte. Gleichzeitig wollte er nach vorne springen, wobei die stramm gespannte Leine ihn zurückriss. Aufrecht, mit rudernden Pfoten, hing er in seiner Fessel. »Das ist Alf«, sagte der Soldat, »den könnten Sie mit einer Mütze totschlagen.«

HANNES SCHWEEN