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Über dieses Buch

»Flucht in der Nacht« und »Einstellung des Verfahrens« sind so etwas wie das literarische Vermächtnis von Emmanuel Bove, abgefasst zwischen 1942 und 1944 im Exil in Algier. Die beiden Romane schließen inhaltlich aneinander an, und beide spielen vor dem Hintergrund des Zweiten Weltkriegs: Der Ich-Erzähler aus »Flucht in der Nacht« bricht mit einem Dutzend Kameraden aus einem deutschen Kriegsgefangenenlager aus und schlägt sich, zuletzt nur noch mit einem Gefährten, bis nach Frankreich durch. Doch auch nach seiner Rückkehr ins besetzte Paris, an den Hauptschauplatz von »Einstellung des Verfahrens«, kommt der Bove’sche Antiheld nicht zur Ruhe. Seine persönliche Tragödie wird zur Groteske: Hin und her gerissen zwischen heroischen Anwandlungen und Paranoia, dem Wunsch nach Einsamkeit und der Unfähigkeit dazu, lähmender Entschlusslosigkeit und panischer Aktivität, Hilflosigkeit und maßlosen Ansprüchen, ist er mit seinem Drang nach Freiheit und Sicherheit – obwohl ihm die Flucht nach Spanien gelingt – letztlich zum Scheitern verurteilt.

Emmanuel Bove, für seine gleichsam chirurgische stilistische Präzision von der Kritik hoch gerühmt, schildert diesen menschlichen Niedergang ungeschönt subjektiv als ein Scheitern nicht nur an der Welt, sondern vor allem an sich selbst.

»Ich weiß: das Wort ›groß‹ ist einem Schriftsteller sehr selten angemessen und oft schon gar nicht den sogenannten ›großen‹ Schriftstellern. Aber Bove ist groß.« (Peter Handke am 10. Januar 1994)

Der Autor

1898 als Sohn eines russischen Lebemanns und eines Luxemburger Dienstmädchens in Paris geboren, schlug sich Emmanuel Bove mit verschiedenen Arbeiten durch, bevor er als Journalist und Schriftsteller sein Auskommen fand. Mit seinem Erstling »Meine Freunde« hatte er einen überwältigenden Erfolg, dem innerhalb von zwei Jahrzehnten 23 Romane und über 30 Erzählungen folgten.

Nach seinem Tod 1945 gerieten der Autor und sein gewaltiges Œuvre in Vergessenheit, bis er in den siebziger Jahren in Frankreich und in den achtziger Jahren durch Peter Handke für den deutschsprachigen Raum wiederentdeckt wurde. Heute gilt Emmanuel Bove als Klassiker der Moderne.

Mehr zum Autor und seinem Werk unter www.emmanuelbove.de

Der Übersetzer

Thomas Laux, geboren 1955 in Düsseldorf. Studium der Germanistik und Romanistik, Staatsexamen, Promotion 1987 in Romanistik. Literaturkritiker und Übersetzer aus dem Französischen (u. a. Bove, Henri Thomas, Hervé Guibert, Jacques Chauviré).

Flucht in der Nacht

Roman

Aus dem Französischen
von Thomas Laux

Edition diá

Vorwort

»Flucht in der Nacht« und »Einstellung des Verfahrens« sind die letzten Werke von Emmanuel Bove. Wir haben uns entschieden, sie in einem Band vorzulegen, da man sie genauso gut im Zusammenhang lesen kann wie jedes für sich, beginnt doch die Geschichte von »Einstellung des Verfahrens« dort, wo »Flucht in der Nacht« endet. 1

Jeder der beiden Romane wurde zunächst für sich veröffentlicht: der erste 1945 bei den Éditions Charlot in Algier, der zweite 1946 bei Robert Laffont in Paris. Diese Angaben sind nicht unerheblich. »Flucht in der Nacht« erscheint im letzten Drittel des Jahres 1945, doch Emmanuel Bove stirbt in Paris bereits am 13. Juli 1945. Edmond Charlot, dessen Archive während des Algerienkrieges von der OAS gesprengt wurden, kann nicht mit Sicherheit sagen, ob Bove noch ein Exemplar seines Buches in die Hand bekam; fest steht aber, dass er an seiner Veröffentlichung beteiligt war. Anderthalb Monate vor seinem Tod notierte der fiebernde und abgemagerte Bove, der aus seinem Zimmer nicht mehr herauskam, unter dem letzten Brief, den wir von ihm haben: »Ich publiziere.« Möglicherweise bezieht sich dieser Satz auf »Die Falle«, aber unerheblich ist er deshalb keineswegs. Bove, der zwischen 1940 und 1942 in die Gegend um Lyon geflüchtet war, hatte sich immer geweigert, im besetzten Frankreich zu veröffentlichen. Seine Absicht war es, nach England zu gelangen, und es ist kein Zufall, dass »Flucht in der Nacht« General de Gaulle gewidmet ist.

Es verschlägt ihn schließlich nach Algier, wo er im November 1942, kurz vor der Landung der Alliierten, ankommt. Dort bleibt er bis zum Oktober 1944, um dann in die französische Hauptstadt zurückzukehren. Die beiden hier vorliegenden, seit ihrer Erstveröffentlichung nicht wieder aufgelegten Romane verfasst er in Algier. Dort knüpft er auch zahlreiche Kontakte mit Schriftstellern und Künstlern, insbesondere mit André Gide, Saint-Exupéry, Max-Pol Fouchet, Albert Marquet, Henri Jeanson und Philippe Soupault. Sein Gesundheitszustand indessen verschlimmerte sich dort nur noch: »Boves Leben war fast ein Dahindämmern. Manchmal hielt er sich die Hand vors Gesicht, eigentlich nicht so sehr, um einen Hustenanfall zu ersticken, sondern um eine durch den Schmerz hervorgerufene Grimasse zu verbergen. Oft verschwand er zu einem Krankenhausaufenthalt, aber er sprach nicht über sein Leiden«, erinnert sich Enrico Terracini.

In seinem Taschenkalender notiert Bove am 28. März 1945: »Krank geworden.« Soll heißen: todkrank. Bis zu diesem Datum ist der Kalender über und über mit Notizen vollgeschrieben. Ab dem folgenden Tag, für die Dauer der etwa hundert Tage, die ihm noch zu leben bleiben, sind die Seiten leer, abgesehen von seinem Geburtstag, dem 20. April. Da schreibt er: »47 Jahre«, dreimal unterstrichen und mit einem Ausrufezeichen versehen. Danach endgültiges Schweigen. Schmerzliche Details, die sein extremes Schamgefühl belegen.

Als »Einstellung des Verfahrens« erscheint, ist Bove schon über ein Jahr lang begraben und sein Werk mit ihm. Dem Zeitgeist sind andere wichtiger. Im Namen der wiedererlangten Freiheit und der aufziehenden Revolution in Algerien drängt man sich, den neuen Ikonen – Sartre, Camus, Aragon – die Reverenz zu erweisen. Von nun an heißt es, weg mit ihnen, den Boves, Calets, Hyvernauds, Guérins und ihresgleichen, die den Anstand über die literarische Eitelkeit stellen, die mit der Ablehnung der Heuchelei bei sich selbst beginnen. Denn Tatsache ist, dass der Status des »großen« Schriftstellers nur selten mit einer ungeschönt klaren Selbstsicht einhergeht.

»Einstellung des Verfahrens« ist nicht nur der Titel von Boves letztem Roman. Er könnte als Überschrift für sein gesamtes Werk gelten, um nicht zu sagen: für seine ganze Existenz. Ohne Zweifel hat der Autor in der Situation, in der er sich befand, dies auch so empfunden. Die vier letzten Romane (»Ein Mann, der wußte«, »Die Falle«, »Flucht in der Nacht« und »Einstellung des Verfahrens«) bilden für sich allein ein ganzes Programm. Sie sind während des Krieges verfasst und haben den Krieg auch als Hintergrund. Man kann sie auf dieser Ebene lesen, man darf an sie, vor allem an die beiden letztgenannten, aber auch als einen einzigen großen Initiationsroman herangehen.

Der Protagonist aus »Flucht in der Nacht« und »Einstellung des Verfahrens« ist nicht weniger entschlusslos, als es die »Helden« der ersten zwanzig Bücher waren. In den Romanen zuvor war die jeweilige Hauptfigur allerdings ein Zauderer a priori, einer, der sich ebenso sehr aus Unfähigkeit wie aus Prinzip allem Handeln verweigerte. Hier nun steht er gewissermaßen auf der anderen Seite der Unschlüssigkeit, das heißt nach vollbrachter Tat, der – übrigens unbeabsichtigten – Tötung zweier deutscher Wachposten. Nun könnte man meinen, diese Tat befreie den Ich-Erzähler. Doch ganz im Gegenteil führt sie nur dazu, seine Unentschlossenheit ins Unermessliche zu steigern und ihn in einen existentiellen Horror zu stürzen, aus dem er – vom Gang der Handlung übrigens nur unzureichend kaschiert – nicht mehr herauskommt. Seine Zweifel und infantilen Ängste steigern sich bis zur Paranoia und einer extremen Lebensangst, die, zuvor nur potentiell vorhanden, nunmehr konkret und definitiv wird. Als ob der Umstand, nur ausnahms- und zufälligerweise gehandelt zu haben, etwas Unwiderrufliches ausgelöst hätte, als wäre jegliche Tat ein Verbrechen, um nicht zu sagen: das Verbrechen schlechthin. Das Grauen, das lange Zeit abgewehrt werden konnte, dringt nun durch alle Poren der Persönlichkeit und zersetzt die Identität des Ich-Erzählers. Von da an ist der Wurm in der Frucht, und diese wird zerfressen, bis nichts mehr übrigbleibt. Die äußere Welt wird nur noch als Alptraum erlebt – der halluzinatorische Aspekt der Erzählung hängt möglicherweise auch mit Boves Gesundheitszustand zusammen –, und die Menschheit, aus der sie besteht, erweist sich als unabänderlich feindselig.

Ein Initiationsroman, sagte ich, und das ist zu verstehen als eine Einführung in Einsamkeit und Tod. »Flucht in der Nacht« erzählt vom Ausbruch eines Dutzends französischer Kriegsgefangener aus einem deutschen Lager. Das Buch endet mit der Ankunft des Ich-Erzählers in Frankreich. Nachdem er seine Gefährten unterwegs aufgegeben oder verloren hat, kehrt er nunmehr allein zurück. Der Entwurf des Romans könnte mithin so zusammengefasst werden: von der unmöglichen Gemeinschaft zur hoffnungslosen Einsamkeit. »Einstellung des Verfahrens« zeigt den Protagonisten seinen feindseligen oder gleichgültigen Landsleuten im besetzten Frankreich ausgesetzt. Unter dem Vorwand, nicht wieder gefasst werden zu wollen – allerdings geht es im Buch nie direkt um die Deutschen –, verwendet er alle Kräfte darauf, den Teufelskreis seiner Einsamkeit zu durchbrechen. Der Roman, und so auch Boves Werk, mündet in dieses letzte Scheitern. Sich verfolgt und terrorisiert wähnend, beschließt der Erzähler, seinen Frieden und seine Sicherheit anderswo zu suchen. Man wird sehen, dass er sich einen idealen Ort dafür aussucht, denn es handelt sich um das Spanien Francos: »Ich drehte mich um. Zwei spanische Wachposten kamen auf mich zu. Ich wusste, sie würden mich ins Gefängnis bringen, aber das war mir egal: Ich war frei.«

Letzten Endes gibt es für Bove Freiheit nur im Tod. Sein eigener Körper sollte einige Monate später die Konsequenzen daraus ziehen: »Monsieur Bove verstarb heute Morgen an allgemeiner Entkräftung und Herzversagen«, heißt es auf dem Totenschein.

Raymond Cousse (1988)
 


1 Das Vorwort bezieht sich auf die gedruckte Ausgabe, in der die beiden Romane »Flucht in der Nacht« und »Einstellung des Verfahrens« zusammengefasst sind.

Für General de Gaulle

1

Die letzten zwölf Tage hatten wir zusammengepfercht in Viehwaggons zugebracht. Ganze Tage waren vergangen, ohne dass der Zug sich in Bewegung setzte. Dann auf einmal fuhr er an. Der Fahrtwind ließ uns erstarren. Grauer Staub fiel von den Wänden, stieg wieder vom Boden auf, kratzte in der Kehle und trocknete die Nasengänge aus. Bei einem Zwischenhalt hatte man uns erlaubt, etwas Stroh aufzusammeln, aber es war nach wenigen Stunden zu Staub zerfallen. Meine Kameraden drängten sich dicht aneinander. Ich hingegen zog es vor zu frieren. Als der Zug mit voller Geschwindigkeit fuhr und einer von uns rauchte, dachten wir alle an das Feuer, das ausbrechen konnte.

Es war dunkel, als wir im Lager von Biberbrach ankamen. Vom Bahnhof aus waren wir dreiundzwanzig Kilometer zu Fuß gelaufen. Nun ging es darum, aufgeteilt zu werden. Wir hockten auf der gefrorenen Erde und warteten darauf, dass die Formalitäten ein Ende nähmen. Doch trotz ihres berühmten Organisationstalents verzettelten sich die Deutschen. Ständig hatten wir uns anders aufzustellen. Zwar verlief alles in perfekter Ordnung, doch wir mussten die ganze Zeit im Freien warten.

Pelet setzte sich jedes Mal wieder hin. Seit der Abfahrt hatte ich mich neben ihm gehalten. Als wir den Zug bestiegen, wurde er zur einen Seite abgedrängt, ich zur anderen. Ich war ihm dennoch gefolgt. Man hatte versucht, mich mit Fußtritten zurückzubefördern, aber in dem Hin und Her war ich durchgekommen.

Was würde nun passieren? Pelet rührte sich nicht. Er war in sich zusammengesunken wie ein elend Ausgesetzter. Sein Kopf berührte beinahe seine Knie. Ich gab ihm einen Klaps auf den Rücken. Er richtete sich auf und sah mich traurig an. Ich sagte zu ihm: »Bleib vor allem an meiner Seite.«

Ich kannte ihn nicht, fürchtete aber doch, dass man uns trennen könnte.

In den fünfeinhalb Monaten meiner Gefangenschaft dachte ich nur an Flucht. Nie hatte ich mir Sorgen um die Zukunft gemacht, so fest war ich in meinem Entschluss. Ich war überzeugt, dass ich die passende Gelegenheit nutzen würde. Aber je länger ich den Zeitpunkt hinausschob, desto mehr musste ich erkennen, dass ich die missliche Neigung hatte, keine der sich bietenden Gelegenheiten als die anzusehen, die alle Voraussetzungen für ein Gelingen erfüllte. Sollte ich mich nicht ändern, würde ich noch in ein, zwei Jahren auf den richtigen Augenblick warten. Dementsprechend jämmerlich fühlte ich mich. Ich begriff, dass ich zu einer Entscheidung kommen musste. Nun gibt es nichts Schlimmeres, als sich entscheiden zu müssen, nicht weil die Umstände gerade günstig sind, sondern weil man schon zu lange gewartet hat.

Mein Gesundheitszustand war so prekär geworden, dass ich mir sicher war, ins Krankenhaus eingeliefert zu werden. Einige Jahre zuvor hatte ich an einer Rippenfellentzündung laboriert. Noch immer verspürte ich einen Schmerz in der Seite, ganz zu schweigen von den Verdauungsbeschwerden, die dieser Entzündung gefolgt waren. Alle Ärzte hatten mir übereinstimmend Schonung empfohlen. Es hatte mich bereits überrascht, dass die französischen Ärzte mich nicht dienstuntauglich geschrieben hatten. Noch größer war meine Überraschung jedoch, als auch der Lagerarzt nichts Ungewöhnliches an mir feststellen konnte, hatte ich doch so viele Entbehrungen und Misshandlungen durchgemacht. Ich legte ihm Atteste vor; er geruhte nicht einmal, sie zu lesen. Berichte über die Bestialität der Boches kamen mir wieder in den Sinn. Ich bat um eine weitere Untersuchung, die aber auch nicht günstiger ausfiel. Ich setzte eine schriftliche Beschwerde auf. Noch während ich die Antwort abwartete, erfuhr ich, dass mein Vater seinerseits bei den deutschen Behörden einen durch weitere Atteste gestützten Antrag eingereicht hatte, um meine Freilassung zu erwirken. Dieser Versuch war zwar lachhaft, aber man konnte ja nie wissen. Und so hatte ich lange Zeit nichts als diese winzigen Hoffnungsschimmer.

Ich versuchte noch anderweitig, den Ernst meines Falls hervorzuheben, aber das war verlorene Mühe. Wollte ich mir das bisschen Gesundheit, das mir geblieben war, bewahren, dann durfte ich mich nicht verrennen, sondern musste mich den Umständen anpassen und trotz der Schwierigkeiten des Lagerlebens weiter auf meine Gesundheit achten.

Das waren also harte Tage für mich. Nichts ist zermürbender, als, wenn man nicht im Vollbesitz seiner Kräfte ist, zu körperlichen Anstrengungen gezwungen zu sein, die bereits für gesunde Menschen aufreibend sind. Zur allgemeinen Sorge wegen meiner Lage als Gefangener kam noch die um bessere Verpflegung, die Umgehung von Sonderdiensten und so weiter.

Meine Kameraden halfen mir zwar ein wenig, doch mit der Zeit bekamen sie es satt. Ich erwog, den Kampf aufzugeben, mich gehenzulassen, auf die Gefahr hin, wieder krank zu werden. Der Selbsterhaltungstrieb ließ mich diese Idee allerdings rasch wieder verwerfen. Statt nach getaner Arbeit stundenlang zu palavern und Karten zu spielen, machte ich mir Tee. Ich musste die Pflege, die ich mir angedeihen ließ, mit allerlei Tricks kaschieren, man hätte mir sonst vorgeworfen, zimperlich zu sein.

Zu Anfang war das recht einfach. Wir wurden relativ lasch überwacht. Als dann aber die Disziplin nach und nach verschärft wurde, hatte ich das Gefühl, dieses Doppelleben nicht durchhalten zu können. Ich bekam es mit der Angst zu tun. Der Augenblick, da es mit meiner Gesundheit vorbei sein würde, schien mir unausweichlich.

Abends gingen mir die dunkelsten Gedanken durch den Kopf. Obwohl mein Zustand zu meiner großen Überraschung besser statt schlechter geworden war, meine Verdauungsstörungen wie meine Schlaflosigkeit verschwunden waren und ich problemlos jeden Fraß essen konnte, erschien mir ein Rückfall letztendlich doch sicher. Ich sah mich schon ins Lazarett eingeliefert, zu spät, als dass der Krankheit noch Einhalt hätte geboten werden können, oberflächlich und ohne ernsthaftere Untersuchung behandelt von Leuten, die wahrlich keinen Grund hatten, mich heilen zu wollen; ich sah, wie ich meine letzten Tage aufgrund von Nachlässigkeit und allgemeiner Gleichgültigkeit in irgendeinem Krankensaal verbrachte. Der Einzelne zählt nun einmal nichts, wenn Millionen seiner Mitmenschen gerade dabei sind, sich die Köpfe einzuschlagen!

Doch diese Sorgen um meine Gesundheit waren nichts neben dem Gefühl von Bedrohung, das auf mir lastete, stärker noch, als ich es schon als einfacher Soldat in der französischen Armee verspürt hatte: das Gefühl, dass mir ein Unglück auch indirekt zustoßen konnte, allein aufgrund meiner Zugehörigkeit zu einer Gruppe. Daher verbrachte ich meine Zeit damit, in einem fort Ratschläge zu erteilen, Hitzköpfe zu beruhigen, mich in Verschwörungen einzuschleichen. Ich fürchtete mich vor einem Aufruhr, einem Anschlag auf einen Bewacher, einer Meuterei, ausgelöst durch eine Schikane. Die Tatsache, sich nicht einfach absetzen zu können, für alles, was passieren konnte, mitverantwortlich zu sein, dazu gezwungen, mit meinen Kameraden im Falle von Repressalien, einer Epidemie, eines Bombenangriffs zusammenbleiben zu müssen, das alles verursachte mir ein ständiges Unbehagen.

Auch wenn er wenig mit mir sprach, war klar zu erkennen, dass Pelet für mich die meiste Sympathie hatte. Häufig betrachtete er mich mit dem Blick einer Frau, als ob zwischen ihm und mir Bande bestünden, die für unsere Kameraden absolut unbegreiflich waren. Sein äußeres Erscheinungsbild war ziemlich unattraktiv: bleigrauer Teint, Ringe unter den Augen, feuchte Hände, ein merkbar schwächlicher Knochenbau, Zähne, deren Schmelz dünn wurde und die gelbe Flecken erkennen ließen.

Mitunter nahm er meinen Arm, zog mich beiseite, um mir Fotos von seiner Frau und seinem Sohn zu zeigen, um mir Briefe vorzulesen. Er verstand nicht, warum jene Ehepaare, die sich liebten, von den Deutschen nicht mehr Vergünstigungen bekamen als die, die sich nicht liebten. Bisweilen überraschte ich ihn, wie er in einer Ecke saß, als ob alle Welt sich von ihm abgewandt hätte. Wenn ich dann zu ihm ging, tat er so, als sei er auf mich genauso böse wie auf die anderen. Dieses Theater ging mir ziemlich auf die Nerven. Um ihn aufzurütteln, sagte ich ihm, dass wir bald frei sein würden, dass ich dabei sei, die Flucht vorzubereiten. Doch diese Worte bewirkten das Gegenteil dessen, was ich erwartet hatte. Man hätte meinen können, dass ich ihn in ein waghalsiges Abenteuer hineinziehen wollte, ohne Rücksicht darauf, dass er weniger als wir anderen in der Lage war, sich zu verteidigen; dass, sobald es um einen armen Teufel wie ihn ging, nicht zählte, wozu er imstande war und wozu nicht. Mein Interesse für ihn sei vielleicht aufrichtig, aber ohne Tiefe. Wenn ich aber schwieg, betrachtete er mich voller Misstrauen, als wollte ich mich nicht mit ihm abgeben. Mit der Zeit wurde er immer unangenehmer. Er wirkte, als wolle er uns für sein Unglück verantwortlich machen. Und aufgrund der besonderen Bande zwischen ihm und mir, die er sich einbildete, forderte er mich geradezu auf, diesem Zustand ein Ende zu machen.

2

Wir waren seit sechs Wochen im Lager von Biberbrach, als es zu einem kleinen Zwischenfall kam, der mir sehr zu schaffen machte. Gegen den armen Pelet hatte sich eine Art Komplott gebildet. Sein Gehabe, leidend und zugleich verächtlich, ging allen auf die Nerven. Wir kamen zusammen, um über ihn zu reden, und dies in einem überlegenen und mitleidigen Ton, der mir zutiefst zuwider war. Man mokierte sich über ihn, weil er sich als ein Familienoberhaupt betrachtete, wo er gerade mal ein Kind hatte. Es wurden ihm die verschiedensten Geschichten nachgesagt. Er sei sehr zu bedauern, meinte man, aber schließlich habe jeder seine eigenen Sorgen, es gebe keinen Grund, warum einzig die seinen zählen sollten.

Bisson wurde aufgetragen, ihm beizubringen, dass es so nicht weitergehen könne; dass wir, wenn er sich nicht als besserer Kamerad erweise, nicht mehr mit ihm reden würden. Ich warf ein, man müsse den armen Teufel verstehen und nachsichtig mit ihm sein, wo er doch so leide.

»Und wir? Leiden wir etwa nicht?«, wurde mir erwidert.

Ich gab zurück, dass wir sehr wohl auch litten, aber besser damit umgehen könnten. Zu guter Letzt erreichte ich, dass man ihn in Ruhe ließ.

Mein Eintreten für ihn hatte seltsame Folgen. Einige Tage später stellte Pelet mich unvermittelt zur Rede und hielt mir vor, ich hätte ihm schaden wollen. Ich sei der Auslöser für die Feindseligkeit, die er um sich spüre. Ich antwortete ihm, dass ich, wenn er in diesem Ton mit mir redete, nichts mehr mit ihm zu tun haben wolle; diese ganzen Geschichten seien wirklich zu schäbig, ich hätte Probleme genug und brauchte nicht auch noch ihn, dass er künstlich neue schuf.

Mit einem Mal zeigte er sich umgänglicher, bat mich um Verzeihung, sagte mir, dass er wohl wisse, dass nicht ich der Anstifter sei, dass ich aber verstehen müsse, wie sehr er darunter leide, von Frau und Kind getrennt zu sein. Ich wies ihn darauf hin, dass seine Situation nicht schlechter sei als die unsere. Er erwiderte, das wisse er sehr wohl, sie sei aber dennoch schlimmer, da er ja mehr leide als wir.

Von diesem Tag an wurde es zu seiner Gewohnheit, mich ins Gespräch zu ziehen, sowie er mich allein sah. Man hätte glauben können, dass wir Geheimnisse hatten. Dabei hatte er mir nie etwas zu sagen. Diese Art, eine Vertrautheit zur Schau zu stellen, die gar nicht existierte, war mir unangenehm. Ich mochte noch so abweisend zu ihm sein, er ließ einfach nicht locker. Wenn man uns sehen konnte, verdrehte er die Augen und machte eine Leidensmiene. Eines Tages sagte er mir, dass er einen Plan von Süddeutschland in die Hand bekommen habe. Er war bereit, ihn mir zu zeigen, vorausgesetzt, ich würde mit niemandem darüber reden. Er sagte mir auch, dass er eines Nachts das Geräusch eines Zuges, vom Wind herangetragen, gehört habe. Mein Mitleid mit ihm wurde immer größer. Ich befand mich in dieser zutiefst peinlichen Lage, in einem Menschen, der von allen verabscheut wird, eine Empfindung geweckt zu haben. Manchmal fuhr ich ihn an, doch meistens redete ich ihm gut zu. Er werde schon alles, was er verloren hatte, wiederfinden, seine Frau, sein Kind, und auch seine Wohnung, wie ich hinzufügte, um ihm eine Freude zu machen. Trotz allem erwiderte er mir oft, dass ich, der keine Familie hatte, ihn nicht verstehen könne.

Baillencourt, der als Einziger eine Erkennungsmarke um den Hals trug, führte sich zusehends autoritärer auf. Damit hatte er auch einigen Erfolg. Über einige unserer Kameraden – Jean und Marcel Bisson, Baumé, Billau, sogar Pelet – hatte er wirkliche Macht gewonnen. Eines Tages zog er mich in eine Ecke und teilte mir mit, dass der Tag für unsere Flucht feststehe. Wir würden das große Abenteuer (ich benutze seine Worte) am folgenden Samstag wagen, und zwar um drei Uhr morgens.

Ich wollte von ihm wissen, warum an diesem Tag und nicht einem anderen, warum zu dieser Stunde und nicht einer anderen. Er nannte alle möglichen Gründe. »Und wer hat das beschlossen?«, fragte ich noch. Er sah mich erstaunt an. Es war ihm peinlich zu antworten: ich. Also begnügte er sich damit zu sagen: »Es ist so beschlossen … es ist so beschlossen …«

Sowie ich allein war, dachte ich über den Plan nach, den er mir dargelegt hatte. Es war eben bloß ein Plan. So etwas konnte sich jeder ausdenken. Die Realität war, dass man, mit oder ohne Plan, aus dem Lager herauskommen musste, ohne erschossen zu werden, und dann mehr als vierhundert Kilometer quer durch Deutschland laufen, ohne gefasst zu werden. Ich verheimlichte allerdings meine Skepsis, aus Furcht, ausgeschlossen zu werden. Ich wollte dabei sein. Ich wollte zumindest die Möglichkeit haben, noch in letzter Minute selbst zu entscheiden, was ich zu tun hatte.

Tags darauf sagte mir Baillencourt, dass er mich in einer wichtigen Angelegenheit sprechen müsse. Immer noch gab er sich den Anschein, allein Herr der Lage zu sein. Ich bemühte mich, mir meinen Ärger nicht anmerken zu lassen.

»Ich höre«, sagte ich. »Nein, nein, nicht jetzt«, gab er zurück. »Kommen Sie gegen acht Uhr zu mir.« Ich fragte ihn, warum er mir nicht auf der Stelle sagen könne, worum es sich handelte. Er tat so, als seien wir nicht ungestört.

Um acht begab ich mich zum Treffpunkt, was nicht ganz gefahrlos war. Mit großer Gebärde holte er die Deutschlandkarte hervor, die schon Pelet mir gezeigt hatte. »Ich habe sie gerade erst bekommen«, sagte er einfältig.

Im Lichtschein eines Feuerzeugs zeigte er mir den Weg, den wir nehmen würden, dann erklärte er mir weitschweifig, mit welchen Finessen es ihm gelungen sei, sich alle notwendigen Informationen für seinen Plan zu besorgen. Ich musste mich zurückhalten, um nicht grob zu werden. Ich fand es lächerlich, dass ich mich für das bisschen herbemüht hatte. Nichts ist gefährlicher als Leute, die sich wichtigmachen wollen. Ich sah den Stacheldraht vor mir, die Patrouille, die Posten auf ihren Wachtürmen, die Scheinwerfer, die sie unaufhörlich über das Lager schweifen ließen. Unterdessen gefiel sich Baillencourt darin, auf seiner Karte mit einem Bleistift den Weg einzuzeichnen, dem wir folgen sollten – mitten durch ein Land, das er nicht kannte!

Als ich mich dann hingelegt hatte, sagte ich mir, dass ich allein würde ausbrechen müssen, wenn er es schon tun wollte. Natürlich war das meinen Kameraden gegenüber nicht besonders fair. Während ich so tat, als würde ich ihre Hoffnungen und Enttäuschungen teilen, dachte ich heimlich daran, sie im Stich zu lassen. Aber sie waren so dumm und sich der wirklichen Schwierigkeiten so wenig bewusst, dass ich in Wahrheit gar keine andere Wahl hatte.

Das Beste war sicher, allein auszubrechen, ohne große Risiken, eine plötzliche Möglichkeit nutzend, ein Versehen, eine Wachablöse, oder aber begünstigt durch eine Arbeit, eine Funktion, in der mir meine Deutschkenntnisse zunutze kamen, oder auch durch eine Freundschaft, die Freundschaft eines Offiziers, eines Beamten, irgendjemandes, der an der richtigen Stelle saß. Ich würde aus dem Lager verschwinden, ohne dass irgendjemand es bemerkte, wie in der Armee nach einer Entscheidung von oben, um so die Eifersucht, das Gerede zu vermeiden, um den anderen erst gar keinen Anlass zu geben zu fragen: »Warum nicht wir?«, um niemanden auf den Gedanken zu bringen, es mir nachzutun. Was für einen allein möglich ist, ist es nicht mehr, wenn man zu mehreren ist. Es würde vielleicht bemerkt werden, doch welche Bedeutung hätte es schon, das Leben würde weitergehen und die Aufmerksamkeit sich anderen Dingen zuwenden. Vorerst allerdings war es entschieden besser abzuwarten.

Jeden Abend vor dem Einschlafen dachte ich all diese Möglichkeiten durch. Vor allem musste ich es so einrichten, dass ich nicht bei meinen Kameraden blieb. Dank des Gesuchs meines Vaters sah ich mich in ein Krankenhaus eingeliefert. Wenn man im Unglück steckt, misst man dem, was von außen für einen unternommen wird, übertriebene Bedeutung zu. Womöglich tausendmal hatte ich mir den deutschen Leiter irgendeiner Sanitätsstelle vorgestellt, wie er gerade dabei war, das Gesuch meines Vaters zu lesen. Tausendmal hatte ich gesehen, wie er zögerte, das Papier auf den Tisch zurücklegte, nachdachte. Tausendmal hatte ich mich an seine Stelle versetzt. Hatte er über viele solcher Fälle zu entscheiden? Widmete er allen dieselbe Aufmerksamkeit? Oder war er vielmehr von einigen überrascht, bewegt, vor allem von meinem? Hatte er eine uneigennützige, großherzige Ader? Alles war möglich. Und das machte mir Mut. Ich sah mich in eine Stadt gebracht. Das Leben änderte sich auf einen Schlag. Ich sprach mit Leuten von Geist, die der Tatsache, dass ich Kriegsgefangener war, keinerlei Bedeutung beimaßen. Es gelang mir, Sympathien zu gewinnen. Schließlich schaffte ich es mit der Unterstützung von Leuten, die Feinde hätten sein müssen, wieder nach Frankreich zu gelangen. Und mit dieser glücklichen Vision schlief ich ein.