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Über dieses Buch

In »Die Verbündeten«, einem seiner Hauptwerke, das 1927 in Paris erschienen ist, porträtiert Emmanuel Bove seine Mutter und seinen Bruder Léon, die sich im Kampf gegen ihr Schicksal zusammengetan hatten.

Geld, eine wahre Obsession im Leben und Werk Emmanuel Boves, ist auch hier eines der wichtigsten Themen. Seine Beziehung zu Mutter und Bruder war lebenslang schwer davon belastet, dass die beiden ihn als ihren Ernährer betrachteten – ihn, den Schriftsteller, der selbst kaum über die Runden kam.

Radikal und schonungslos zeigt Bove seine Figuren in ihrer Unfähigkeit zu handeln, in ihrem ausweglosen Scheitern. Peter Handke, ein großer Bewunderer Emmanuel Boves, meinte zu »Die Verbündeten«: »Ich könnte so ein Buch nicht schreiben. Man bräuchte viel Mut dazu.«

»Bove-Leser haben eines gemeinsam: Sie werden süchtig, und je mehr sie lesen, nach desto mehr verlangen sie.« (Wolfgang Matz in Die Zeit vom 14. Dezember 2000)

Mehr zum Autor und seinem Werk unter www.emmanuelbove.de

Der Autor

1898 als Sohn eines russischen Lebemanns und eines Luxemburger Dienstmädchens in Paris geboren, schlug sich Emmanuel Bove mit verschiedenen Arbeiten durch, bevor er als Journalist und Schriftsteller sein Auskommen fand. Mit seinem Erstling »Meine Freunde« hatte er einen überwältigenden Erfolg, dem innerhalb von zwei Jahrzehnten 23 Romane und über 30 Erzählungen folgten.

Nach seinem Tod 1945 gerieten der Autor und sein gewaltiges Œuvre in Vergessenheit, bis er in den siebziger Jahren in Frankreich und in den achtziger Jahren durch Peter Handke für den deutschsprachigen Raum wiederentdeckt wurde. Heute gilt Emmanuel Bove als Klassiker der Moderne.

Der Übersetzer

Thomas Laux, geboren 1955 in Düsseldorf. Studium der Germanistik und Romanistik, Staatsexamen, Promotion 1987 in Romanistik. Literaturkritiker und Übersetzer aus dem Französischen (u. a. Bove, Henri Thomas, Hervé Guibert, Jacques Chauviré).

Die Verbündeten

Roman

Aus dem Französischen
von Thomas Laux

Edition diá

Für H. de S.

Kapitel I

Als Madame Louise Aftalion in Begleitung ihres Sohnes Nicolas in Paris ankam, ließ sie sich unverzüglich zu ihrer Schwester Thérèse Cocquerel fahren, die sie seit mehr als fünfzehn Jahren aus den Augen verloren hatte. Gemeinsam mit ihrem Mann bewohnte diese in unmittelbarer Nähe der École militaire eine Sechszimmerwohnung in der fünften Etage eines alten Mietshauses, das der Eigentümer, sobald Wohnungen frei wurden, aus Freude am Renovieren ebenso wie aus Gewinnsucht mit modernem Komfort ausstatten ließ, um auf diese Weise die Mieten verdoppeln zu können. Die Wohnungen waren geradezu lächerlich bescheiden. So lag die Wohnung der Cocquerels, deren Fenster fast alle auf die Avenue Bosquet gingen, bei einer Jahresmiete von zweitausend Franc. Thérèse hatte eine Rumpelkammer in ein Badezimmer umbauen lassen. Da es kein Fenster hatte, beschlugen die Spiegel wegen des Dampfes innerhalb von wenigen Sekunden, während sich unter der Decke eine Dunstwolke bildete. Der Salon befand sich an einer Ecke des Hauses. Deshalb, aber auch wegen der länglichen Fenster, die bis auf den Fußboden reichten, war es im Winter bitterkalt. Allen Gegenständen in diesem Zimmer haftete etwas Provinzielles an. Auf einem Konsoltischchen lag ein Fotoalbum mit Kupferverschluss. Um es zu füllen, hatte Benjamin, Thérèses Mann, Postkarten hinzugefügt, Ansichten, die er mit der Schere bearbeitete, damit keine weiße Litze ihre Herkunft verriet. Überall lagen Muschelschalen, Glöckchen und Strandsouvenirs herum. Zwei Porträts von Madame Perrier, der Mutter Thérèse Cocquerels und Louise Aftalions, zierten die Wände. »Bilias Hand hat es verstanden, die Ähnlichkeit einzufangen.« Bilia, ein Freund der Eltern der beiden Schwestern, war der Schöpfer dieser Porträts. Er war ein Künstler, dem ein Platz in der Familie eingeräumt worden war, ein Künstler, über dessen Ruf sich die Perriers überall erkundigten, dessen Namen sie in den Kunstrubriken suchten, dessen Werke sie in den Ausstellungen bewunderten. Der Vater hatte nie Modell stehen wollen, unter dem Vorwand, er sei zu hässlich. »Dein Gesichtsausdruck ist zu eigen, als dass ich dich nach einer Fotografie hinkriegen könnte«, meinte Bilia. Und alle Jahre wieder malte er das Porträt von Madame Perrier. Damals bewohnte Bilia ein großes Atelier in Passy, wo ihn die Familie Perrier des Öfteren aufsuchte, nicht ohne dass zuvor tausend Ermahnungen, bloß nichts anzurühren, an die Kinder – Thérèse, Louise, Charles und Marc – ergangen wären. Die Besuche bei dem Maler waren ein Fest. Madame Perrier versäumte es nie, auf den Hängeboden zu steigen, wo sein Zimmer eingerichtet war, und von der Balustrade aus, auf die sie ihre Ellbogen stützte, das Atelier darunter bewunderungsvoll zu betrachten. Die Wände waren bedeckt von Gemälden und Masken aus Gips, die, wie sie glaubte, von Toten abgenommen worden waren, sowie Farbskizzen, wie Bilia seine Landschaften und Entwürfe nannte.

Vom Salon aus gelangte man durch zwei Türen, die bedingt durch eine mechanische Vorrichtung gleichzeitig aufgingen, in den vollständig getäfelten Speiseraum, dessen Zimmerdecke mit Kassetten verziert war, denen die Maler den Farbton und die Maserung von Eichenholz gegeben hatten. Nachdem man einem langen Flur gefolgt war, von dem die Küche sowie die kleine Kammer abzweigte, in der das Badezimmer eingerichtet war, kam man ins Schlafzimmer. Das durch zahlreiche Vorhänge, Stores und Gardinen fallende Licht war sanft und verlieh diesem Zimmer eine intime Atmosphäre. Man ahnte, dass Benjamin dort auf andere Gedanken kommen, seine Sorgen vergessen und sich an kindlichen Beschäftigungen erfreuen sollte.

Das Nachbarzimmer gehörte der Tochter der Cocquerels, Edmonde, die es im Übrigen nicht bewohnte, denn sie war auf einem Gymnasium in Saint-Germain. Das letzte Zimmer, normalerweise ein Abstellraum, war für die Aftalions hergerichtet worden. Für Nicolas hatte das Dienstmädchen ein Sofa vom Dachboden heruntergeschafft; es verschwand hinter einem Wandschirm. In einem Wandschrank war ein eiserner Waschtisch, wie man sie in Krankenhäusern findet, verstaut worden. Da der Wasserkrug wegen der gebogenen Tischfüße nicht in den Wandschrank hineinpasste, war er in einer Zimmerecke versteckt und mit einem Handtuch überdeckt worden.

Thérèse hatte kurz nach dem Tod ihres Vaters dessen Sekretär geheiratet. Ein Jahr später hatte sie ihre Tochter Edmonde bekommen und war in diese Wohnung gezogen, in der Benjamin geboren und seine Eltern gestorben waren. Verbittert von einem Leben, in dem die Höhepunkte fehlten, brachte sie ihrer jüngeren Schwester einen tiefen Hass entgegen. »Ich bin nicht schlecht«, sagte sie, »aber ich wünschte, ihr würde etwas zustoßen. Das brächte sie zum Nachdenken.« Nein, bösartig war sie nicht. Es kam oft vor, dass sie angesichts des Schicksals unglücklicher Menschen Mitleid empfand. Aufrichtig wünschte sie, ihnen helfen zu können. Doch immer gab es etwas, das sie, wie ihr schien, letztendlich daran hinderte.

Verbissen verteidigte sie ihren Mann. Sie war egoistisch, aber sie war es auch in seinem Sinne. Sie lebte ebenso sehr für ihn wie für sich selbst. So achtete sie, wenn sie sich zum Ausgehen bereitmachten, auf seine Kleidung gleichermaßen wie auf die ihre. Sie kochte ihm komplizierte Gerichte, nahm seinen Arm, sobald sie im Freien waren, ja manchmal sogar im Haus, wenn sie von einem Zimmer ins andere gingen. Sie wollte, dass die anderen Frauen sie um diesen Mann beneideten. Sie hatte eine Art, die anderen anzusehen und sich gleichzeitig an ihn zu drücken, womit sie zu sagen schien: »Dies ist ein rechtschaffener Ehemann. Der ist nichts für euch.« Wenn sie in ihrem Automobil saß und darauf wartete, dass Benjamin den Wagen vollgetankt hatte, verspürte sie tiefe Genugtuung darüber, ihn beschäftigt zu sehen, und dabei so gleichgültig gegenüber den vorbeigehenden Leuten.

Den Sonntag brachte sie zu einem guten Teil damit zu, sich anzukleiden. War sie damit fertig, verließ sie mit Benjamin zusammen das Haus, und beide gingen in eines der Cafés an den Boulevards, um sich Musik anzuhören. Ihr Gatte war der Inbegriff des Mannes. Er war größer und stärker als sie. Immer wieder stellte sie dies gern fest, und es gefiel ihr, ihm vorzuwerfen, dass er seine Zigarettenasche überall verstreute und keine Ordnung hielt, was sie dann zu der Bemerkung veranlasste: »Ein Mann ist doch die Unordnung in Person«, und weiter, dass er nicht imstande sei, sich sein Essen zu machen oder zu nähen, und dass er seine Kleidung schneller abnütze als sie. »Dein Verschleiß ist unglaublich. Ich werde dir Schuhe aus Eisen kaufen müssen.« Zweimal die Woche gingen sie ins Theater und aßen nach der Vorstellung zu Abend. Vor den Festtagen gingen sie in ein vornehmes Restaurant: er in einen Cut gezwängt, sie vor lauter echten und falschen Steinen glitzernd. Manchmal empfingen sie Freunde. Das artete dann zu nicht enden wollenden Mahlzeiten aus, während denen sie redete wie ein Wasserfall, sich ereiferte, sich so stark erregte, dass sie am Ende des Abends derart nervös war, dass sie nicht mehr wusste, was sie sagte.

Benjamin war ruhiger als sie. Dennoch kam es ihm nicht in den Sinn, seiner Frau ihre Entgleisungen übelzunehmen. Im Gegenteil, ihr Überschwang und ihre Erregtheit gefielen ihm. Ständig schien er sagen zu wollen: »Meine Frau ist nicht irgendeine Dahergelaufene.« Hinter seiner Neutralität spürte man, dass er sich nur in den äußersten Fällen einmischte. Er hatte etwas von diesen sanftmütigen und starken Männern an sich, die einen zu unangenehmen Verabredungen begleiten, wo sie dann so, als wären sie vom Himmel gefallen, dasitzen und nicht wissen, was sie mit ihren Händen anfangen sollen, während sie nur auf ein Zeichen warten, um einen endlich in Schutz nehmen zu können.

Am Tag vor der Ankunft der Aftalions hatte er lange mit seiner Frau über sie gesprochen. Er wollte, dass nicht der leiseste Vorwurf an ihm hängenblieb und sich alles nach den Gesetzen der Gastfreundschaft abspielte. Sein Gefühl ihnen gegenüber war recht komplex. »Bevor ich sie nicht gesehen habe, kann ich mir keine Meinung bilden«, sagte er seit mehreren Tagen immer wieder. Tatsächlich war es für ihn Ehrensache, sie nicht im Voraus zu verurteilen. Neugierde verleitete ihn freilich dazu, Thérèse allerlei Fragen zu stellen: »Nun erzähl mir schon, wie sie sind!« – »Das ist zu kompliziert. Du wirst sie schon noch sehen«, gab Madame Cocquerel zur Antwort. Vor allem wollte sie kein Detail außer Acht lassen, damit alle Schuld später bei den Aftalions lag. Das Ersuchen ihrer Schwester bewirkte, dass sie dunkel dachte: »Ich bin gerächt«, freilich ohne diese Worte auszusprechen, die zu hart gewesen wären. Nur ein blasser Schatten dieses Satzes geisterte in ihrem Hinterkopf. »Immerhin gibt es noch Gerechtigkeit«, sagte sie in einem fort. Sie hatte ihre Anwandlung bereits unter Kontrolle. Sie würde sich der Person gegenüber, die sie so sehr beneidet hatte, großherzig und gütig zeigen, doch sobald sich eine Gelegenheit böte, würde sie eine kleine böse Bemerkung anbringen.

* * *

Kaum hatten die Aftalions geläutet, rief Thérèse auch schon nach ihrem Mann und sagte ihm, er solle in den Salon kommen. Sie setzte sich unverzüglich hin, griff nach einem Buch und tat, als würde sie lesen. Benjamin ging, die Hände in den Hosentaschen, an ein Fenster und gab sich Mühe, das Hin und Her auf der Straße mit Interesse zu verfolgen. Wenige Sekunden später führte das Dienstmädchen die Aftalions herein, die in ihrer Verlegenheit auf ein aufmunterndes Wort warteten. Jäh erhob sich Thérèse, lief auf ihre Schwester zu und umarmte sie lange, während ihr Mann kräftig Nicolas’ Hand drückte.

»Setzt euch, ihr beiden. Wir haben uns seit einer Ewigkeit nicht mehr gesehen. Wie du dich verändert hast, Louise, und wie groß dein Sohn ist! Edmonde würde ihm nicht einmal bis an die Schultern reichen.«

Dieser Größenunterschied demütigte Thérèse eine Sekunde lang, und sie erinnerte sich plötzlich daran, dass sie ein Jahr älter als ihre Schwester war.

»Aber sie ist ein Mädchen!«, stellte Benjamin fest.

»Wie groß mein Neffe ist! Fast schon ein Mann!«

Nicolas senkte den Blick. Monsieur Cocquerel betrachtete ihn von oben bis unten.

»Ein ganzer Kerl … aus einem Stück …«

»Und er ist sehr gut zu seiner Mutter«, bemerkte Louise. »Nicht wahr, Nicolas?«

Alle nahmen Platz, außer Benjamin, der die Hände hinter dem Rücken verschränkte und sich Mühe gab, die Haltung eines Mannes einzunehmen, der seine Arbeit eine Weile ruhen lässt, um seiner Frau eine Freude zu machen. Schweigen machte sich breit. Benjamin wandte sich um und strich mit der Fingerspitze über den Zierhenkel einer Vase, um das Relief abzutasten. Thérèse spielte mit ihrer Halskette, die so lang war, dass sie wie eine Schleuder kreiste, wenn sie sie in der Mitte fasste.

»Und, hattest du eine angenehme Reise?«, fragte sie ihre Schwester.

»Zum Glück hatten wir Eckplätze.«

»Umso besser. Habt ihr schlafen können?«

»Nicolas hat geschlafen. Ich kann im Zug nicht gut schlafen.«

»Du bist noch immer dieselbe, immer noch so empfindlich. Ich werde dir Tee machen. Wenn man müde ist, muss man was Warmes trinken.«

Benjamin war auf Nicolas zugegangen. Er wanderte eine Weile um ihn herum, bevor er ihn endlich ansprach:

»Sie sind das erste Mal in Paris?«

»Ich bin hier geboren, Monsieur. Ich war hier sogar auf der Schule.«

»Stimmt … ich vergaß. Sie sind Pariser. Und freuen Sie sich, wieder hier zu sein?«

»Ja, sehr. Ich erinnere mich undeutlich an einige Straßen. Die würde ich gerne wiedersehen.«

»Das kann ich verstehen. Es ist immer schön, einen Ort wiederzusehen, wenn man jahrelang fort war. Als ich bei der Armee war, dachte ich häufig an diese Straße, an dieses Viertel zurück. Und ich kann Ihnen versichern, dass ich immer sehr gerührt war, wenn ich auf Urlaub kam. Aber damals konnte man nicht sicher sein, überhaupt noch mal wiederzukommen.«

In diesem Augenblick vernahm Nicolas seine Mutter, die zu Thérèse sagte: »Er sucht eine Stellung.« Er wandte sich um. Benjamin tat dasselbe und fragte:

»Geht es um eine Anstellung?«

»Der junge Mann hier«, sagte Thérèse und zeigte auf ihren Neffen, »sucht eine Arbeit.« Sie heftete ihren Blick so nachdrücklich auf ihren Gatten, dass Nicolas spürte, dass sie nur einen Satz wiederholte, den sie wahrscheinlich schon unzählige Male unter vier Augen zu Benjamin gesagt hatte, als sie unter sich waren.

»Ach ja, Sie suchen eine Stelle?«

»Ich müsste halt arbeiten.«

»Natürlich … das wäre schon gut … Aber wissen Sie auch, was sie gern tun würden?«

»Eine Stelle als Sekretär«, sagte Madame Aftalion.

»Sekretär von was?«

»Ich weiß nicht«, erwiderte Nicolas.

»Zum Beispiel bei einem Politiker«, fuhr seine Mutter fort.

»Na, Sie gehen ja ganz schön ran! Glauben Sie, so etwas findet sich so leicht? Im Übrigen, unter uns, er würde da nichts verdienen.«

»Was weißt du schon davon!«, sagte Thérèse, um ihren Mann zum Weiterreden zu veranlassen.

»Ich sage das, weil ich es weiß. Erinnere dich an den kleinen Gérard. Wie schlecht es ihm ergangen ist …«

»Stimmt. Da hast du recht.«

Dann, zu ihrer Schwester gewandt:

»Mein Mann hat zu einem Haufen Leute Beziehungen. Wenn er nein sagt, dann heißt es auch nein. Du solltest dir so was nicht in den Kopf setzen, Louise.«

»Wirklich? Sie hatten die Absicht, Sekretär bei einem Politiker zu werden?«, sagte Benjamin, der wieder näher an Nicolas herangegangen war.

»Nicht unbedingt.«

»Aber eine bestimmte Vorstellung haben Sie doch? Denn die muss man haben. Man muss wissen, was man will. Zugegeben, es gibt Fälle, da haben Leute Erfolg, und man weiß gar nicht, woher das kommt. Aber das sind Ausnahmen. Zählen Sie nicht auf einen Ratschlag. Das Glück packt man am Schopf, wenn es da ist, aber wenn es nicht kommt, dann geht es auch ohne. Und damit hat man es auch nicht schlechter. Es ist mir peinlich, mich selbst als Beispiel zu nehmen, aber ich, sehen Sie, ich habe nie Glück gehabt.«

»Das solltest du nicht sagen, Benjamin«, unterbrach ihn Thérèse. »Du kannst dich doch nicht beklagen.«

»Lass mich ausreden. Ich sage, ich habe nie Glück gehabt, und das ist die Wahrheit. Weißt du, was das Glück ist? Schau dir die Vidals an. Die haben Glück gehabt.«

»Und ich sage dir, du hast auch Glück«, fuhr Thérèse fort, die großen Wert darauf legte, dass der Unterschied zwischen ihrer Lage und der von Madame Aftalion deutlich wurde.

Monsieur Cocquerel erriet mit einem Mal, worauf seine Frau hinauswollte.

»Natürlich«, nahm er den Faden unverzüglich auf. »Verglichen mit anderen habe ich Glück. Ich sprach von außergewöhnlichen Erfolgen!«

»Aber darum geht es doch nicht.«

Nachdem man eine Stunde lang in dieser Art herumgeredet hatte, ohne dass das Gespräch ein einziges Mal eine freundlichere Note angenommen hätte, führten die Cocquerels Madame Aftalion und ihren Sohn in das vorbereitete Zimmer.

»Du nimmst das große Bett«, sagte Thérèse zu ihrer Schwester. »Dein Sohn kann sich auf das Sofa legen. Meine Tochter hat lange Zeit darauf geschlafen.«

»Ihr entschuldigt mich«, sagte Benjamin. »Ich habe noch zu tun.«

Kaum war er fort, stellte Madame Cocquerel fest:

»Wie er schuftet, mein Benjamin! Hast du bemerkt, er fühlte sich gar nicht recht wohl. Heute Abend wird er besser aufgelegt sein. Wenn er morgens nicht zum Arbeiten kommt, ist er wie verloren. Und er arbeitet wirklich, weißt du? Er geht nicht nur hin, um sich sehen zu lassen. Er muss Anleitungen geben, Befehle erteilen. An ihm hängt die ganze Verantwortung. Früher rief man ihn sogar zu Hause an. Ich wollte das nicht mehr. Ich habe zu ihm gesagt: ›Arbeiten musst du natürlich, aber wenn du zu Hause bist, ruh dich aus.‹ Dein Sohn sollte sich ein Beispiel an ihm nehmen.«

»Hast du gehört, Nicolas?«, sagte Madame Aftalion, um ihrer Schwester zu gefallen.

»Natürlich.«

»Aber ja, nehmen Sie sich ein Beispiel an ihm«, sagte Thérèse kurz angebunden, denn die Antwort ihres Neffen hatte sie ein wenig gekränkt. »Er ist älter als Sie. Man kann sich an ihm ein Beispiel nehmen. Es gibt Leute, die tun das!«

»Ich behaupte ja nicht das Gegenteil.«

Diesen Satz hatte Nicolas vielleicht schon tausendmal in seinem Leben gesagt. Er kam ihm ebenso häufig über die Lippen wie »Danke schön« oder »Verzeihung«, er kam geradezu automatisch aus seinem Mund. Sprach man mit ihm, gab er alle Augenblicke diese Antwort.

»Es fehlte gerade noch, dass Sie das Gegenteil behaupten!«

Dann, sich ihrer Schwester zuwendend, fuhr Thérèse mit leiser Stimme fort:

»Wie hast du ihn bloß erzogen? Gestattest du ihm solche Antworten? Du wirst sehen, glaub mir: Ihr werdet noch Schwierigkeiten kriegen.«

* * *

Mit jedem Tag wurde das Leben bei den Cocquerels schwieriger. Bereits am Abend des Tages, als die Aftalions angekommen waren, hatte Thérèse nach dem Essen die Bemerkung fallenlassen: »Gehen wir schlafen. Das wird euch bestimmt guttun. Hier gehen die Leute früh zu Bett. Ihr seht, das Leben in Paris ist keineswegs so, wie ihr es euch vorgestellt habt.« Ab und zu nahm Madame Cocquerel ihre Schwester beiseite und flüsterte ihr ins Ohr: »Sag deinem Sohn, er soll sich besser benehmen. Zu Mittag hat er sich schon wieder vor uns an den Tisch gesetzt. Darf er sich denn alles erlauben, als wäre er hier zu Hause? Benjamin wird bestimmt böse werden. Ich kann ihm nicht alles verheimlichen, er bekommt es doch mit. Wenn man bei anderen Leuten ist, muss man etwas feinfühliger sein.« Auf die gleiche Weise verhielt sich Benjamin gegenüber Nicolas. »Ihre Mutter bildet sich wohl ein, sie wäre in einem Hotel. Sie sollten ihr klarmachen, dass nicht nur sie bedient werden will. Das Dienstmädchen kann nicht alles machen.« Derlei Bemerkungen häuften sich. Gingen die Cocquerels aus, schlossen sie stets die Schränke ab und riefen durch die Tür zum Zimmer der Aftalions (womit sie zu verstehen gaben, dass sie keinerlei Wert darauf legten, ihrer ansichtig zu werden): »Richtet euch darauf ein, dass ihr auswärts esst. Wir werden nicht da sein. Das Dienstmädchen hat heute Waschtag.« Wenn Nicolas zufällig einmal zu spät zum Essen kam, sagte Thérèse zu ihm: »Wir hatten angenommen, Sie würden nicht kommen!«

Eines Abends, als sie mit ihrem Sohn allein war, brach es aus Madame Aftalion hervor:

»Nein, ich will nicht mehr bleiben. Das ist ja die Hölle hier.«

Nicolas, der sich am Vorabend mit seiner Tante gestritten hatte, stimmte zu.

»Das kann so nicht weitergehen. Sie können uns nicht leiden. Wir werden ihnen zeigen, dass wir nicht auf sie angewiesen sind. Hör zu, Nicolas, morgen müssen wir Charles aufsuchen. Er hat mehr Charakter. Wir werden ihm unsere Lage schildern. Vielleicht kann er etwas für uns tun. Wenn wir hierbleiben, sind wir in einem Monat kein Stückchen weiter. Und du musst unbedingt eine Stelle finden. Sonst weiß ich nicht, was passiert.«

»Wenn’s dir Spaß macht.«

Das war ein Lieblingsspruch von Nicolas, so wie: »Ich behaupte nicht das Gegenteil.«

»Aber das sagst du mir schon seit einer Woche, und jedes Mal verschiebst du es auf den nächsten Tag.«

»Morgen gehen wir. Ich schwöre es dir, Mama.«

»Nicht doch, schwöre nicht, Nicolas. Du schwörst das Blaue vom Himmel. Nie weiß man, ob man sich auf dich verlassen kann.«

Kapitel II

Bei einem polnischen Bildhauer, Loukomski mit Namen, war Louise vorzeiten Alexandre Aftalion, Nicolas’ Vater, begegnet. Seitdem Bilia – mit richtigem Namen Billet – versichert hatte, der Bildhauer sei ein Genie, hatte sie diesen Loukomski bereits zweimal aufgesucht. Damals empfing er die unterschiedlichsten Leute in seinem Atelier in der Rue d’Alésia. Es war ein großer Raum, dessen Glasdach von völlig verstaubten Gemälden verdeckt war. Basreliefs mit allegorischen Szenen verstopften das Atelier, Büsten mit fratzenartigen Gesichtern, Statuen mit fliegendem Haar und mit Gipsgewändern, die wie Schals wehten, denn seine Spezialität war es, seine Werke mit einem heftigen Wind zu umgeben. Vom Hängeboden, der aussah wie eine mit schwarzem Samt drapierte Bühne, hörte man ein Harmonium, das Kirchenlieder spielte. Loukomski gefiel es, seine Geschichte zu erzählen. Wie Caruso, wie Inaudi war er einst Schäfer gewesen. Eines Tages waren einem englischen Bankier auf der Durchreise die holzgeschnitzten Nippsachen aufgefallen, und er hatte sie seinen Eltern gekauft. Seitdem überwies er ihm ein monatliches Gehalt unter der Bedingung, dass er nach Belieben aus dem bildhauerischen Werk auswählen dürfe. Loukomski beteuerte, er könne ausschließlich in einer Art Ekstase arbeiten. Er musste sich glitzernde Stickereien umhängen. Es kam vor, dass er, auf solche Weise herausgeputzt, seine Einkäufe machte und von den Kindern der Nachbarschaft verfolgt wurde, denen er alle zehn Meter ein paar Sou zuwarf. Ging ihm irgendein Gedanke durch den Kopf, setzte er ihn unverzüglich in die Tat um. Eines Tages bemalte er seinen Körper mit Goldfarbe und machte sich so an die Arbeit. An einem anderen Tag empfing er einige Bekannte und empfahl ihnen zu schweigen, um sie dann unvermittelt anzuschreien: »Macht schon … brüllt los … brüllt los … Das hier ist eine Arena. Seht euch Cäsar an …« Und er wies auf das Harmonium. Nicht nur, wenn Freunde um ihn geschart waren, verhielt er sich so. Auch wenn er allein war, kam es zu diesen Ausfällen. Nachts legte er sich tiefe Meditation auf, und das stundenlang, obgleich er sich dabei tödlich langweilte. Wenn ihn dann irgendein Bekannter in dieser Haltung überraschte, war er vor Freude ganz außer sich. Er richtete sich auf und sagte: »Adieu Inspiration. Guten Tag, Freund.« Und er begann, zu tanzen und herumzuspringen, so glücklich war er, bei seiner Meditation überrascht worden zu sein und sich nun erholen zu können.

Louise Perrier war zu diesem Zeitpunkt zweiundzwanzig Jahre alt gewesen. Ihr Vater leitete eine angesehene Gummiartikelfabrik. Seit der Mode mit den drehbaren Absätzen hatte er seine Maschinen umrüsten lassen und belieferte nunmehr ganz Frankreich. Ihre beiden Brüder Charles und Marc waren sieben beziehungsweise acht Jahre jünger als sie. Ihre ältere Schwester Thérèse war dreiundzwanzig Jahre alt. Durch bestimmte Charakterzüge unterschied sich Louise von den anderen Mädchen. Während Thérèse Sinn fürs Praktische zeigte, war Louise an allem desinteressiert und führte ein zurückgezogenes Leben. Wegen jeder Kleinigkeit fing sie zu lachen oder zu weinen an. Nervös und autoritär, wie sie war, konnte sie nicht die geringste Unannehmlichkeit ertragen. Sie spielte ein wenig Klavier, aber so abgehackt, dass ihre Lehrer die Hoffnung aufgaben, ihre musikalische Entwicklung zu fördern. Sie hatte etwas Reines und Wildes an sich. Wenn ein Mann sie etwas zu nachdrücklich ansah, drehte sie ihm blitzartig den Rücken zu und zuckte mit den Achseln. Wenn die Umstände es später mit sich brachten, dass sie mit diesem Mann reden musste, konnte sie sich an ihre Geste nicht einmal mehr erinnern. Nie vermochte ein Scherz oder eine geistreiche Bemerkung sie aufzuheitern. Was immer sie dazu brachte, laut aufzulachen, stets kam es unerwartet. Ihre Mutter, eine recht gewöhnliche Frau, ihre lärmenden und streitsüchtigen Brüder, ihre egoistische und kokette Schwester spöttelten in einem fort und kränkten sie. Ein Spiel in dem Haus bestand darin, wegen nichts einfach loszulachen.

Die Familie Perrier bewohnte einen Besitz auf dem Boulevard Jourdan, ganz in der Nähe der Porte d’Orléans und der Fabrik des Vaters in Montrouge. Dieser Boulevard verlief an den Befestigungsmauern, wo Louises Brüder auf den Böschungen spielten und vor den Kasernentoren die Soldaten um Kekse anbettelten. Louise war außerordentlich verschämt und besaß eine Schüchternheit, die mit der Ungeniertheit ihrer Familie stark kontrastierte. Bei der geringsten Ermahnung konnte sie tagelang schmollen. Am meisten Zuneigung empfand sie für ihren Vater. Wenn sie vor ihm stand, strahlte ihr Gesicht. Dann wurde sie sanft und zuvorkommend. Dennoch kam es mitunter vor, dass eine Gebärde oder ein Wort sie verletzte. Dann blitzten ihre Augen auf; sie sprach nicht mehr und dachte nur noch daran, in ihr Zimmer zu kommen. Aber die Liebe zu ihrem Vater überwog. Sie beherrschte sich und blieb an seiner Seite.

In mancher Hinsicht ähnelte er seiner Tochter. Nachdem ihn der Ehrgeiz dazu getrieben hatte, diese drehbaren Absätze in Frankreich auf den Markt zu bringen, deren Patent er erworben hatte, war er traurig und sorgenvoll geworden. Ständig fürchtete er, der Verkauf dieser Absätze könnte ins Stocken geraten, und der Gedanke, sein Besitz, die Aussteuer seiner Töchter, das Glück der Seinen hingen von einem Modegeschmack ab, machte ihn krank. Vor Menschen hatte er eine Heidenangst, und ständig verfolgte ihn der Gedanke, er sei ihnen ausgeliefert und eine Laune ihrerseits könnte ihn ruinieren. Dauernd glaubte er bei seiner Kundschaft Zeichen abflauenden Interesses auszumachen. Kam er nach Hause, nahm er es hin, dass seine unschuldigen Kinder sich vergnügten und seine Frau ihn küsste. Gleich nach dem Abendessen schloss er sich in sein Arbeitszimmer ein. Dort leerte er seine Taschen, öffnete die Fenster, versteckte die Akten, verschloss Bücherschrank und Schubladen und legte die Schlüssel auf den Tisch im Flur. Zurück in seinem Büro, versuchte er dann zu vergessen, wer er war, und sich in seine Kunden hineinzuversetzen. »Wenn mich ein Gegenstand zufriedenstellt, kaufe ich ihn dann weiterhin, oder nicht? Wenn meine Federhaltertinte aufgebraucht ist, besorge ich mir neue, das ist klar. Aber gilt das auch für die Absätze? Ich bin zufrieden mit ihnen, das ja. Aber an sie gewöhnt habe ich mich deshalb noch nicht. Ich denke nicht daran, sie sofort auszutauschen. Und dann vergesse ich, dass es sie gibt. Im Grunde ist es nur eine Mode.« Dennoch ging das Geschäft bestens. Nirgendwo zeichnete sich ein Verkaufsrückgang ab. Die Depression, die in ihm schwelte, war freilich stärker. Es wurde ihm unerträglich, wie die Seinen ihr Glück zur Schau stellten. Ständig hatte er das Gefühl, sie zu täuschen, sie an der Nase herumzuführen und ihnen in nächster Zukunft ein Unglück zu bescheren. Wegen der daraus entstehenden Gewissensbisse konnte er ihren Anblick bald nicht mehr aushalten. Wenn er nach Hause kam, durfte kein Hausangestellter ihm über den Weg laufen. Denn erblickte er einen von ihnen, stellte er sich auch schon vor, der Tag sei nahe, an dem er dessen Gehalt nicht mehr bezahlen könne. Das Essen ließ er sich ins Büro bringen, und zwar von einem Dienstmädchen, das unverzüglich bezahlt wurde. Nachts tat er kaum ein Auge zu. Statt zu schlafen, ging er in seinem Arbeitszimmer auf und ab. Mitunter schlich er auf Zehenspitzen in die anderen Zimmer und berührte im Vorbeigehen all die Nippsachen. Hob er sie auch nur ein wenig an, ließ ihn seine Phantasie glauben, er würde sie fortnehmen. Dann blieb er vor dem erstbesten großen Spiegel stehen. Nachdem er sich davon überzeugt hatte, dass niemand ihn hinter einer Türe belauerte, zog er eine Zigarette aus seinem Etui, steckte sie sich in den Mundwinkel, vergrub die Hände tief in seinen Hosentaschen, krümmte den Rücken, verzog das Gesicht und betrachtete sich mehrere Minuten lang in dieser Haltung eines Apachen.

An dem Tag, an dem Louise bei Loukomski auf Alexandre stieß, war es nach dem Frühstück zwischen ihrem Vater und ihrer Mutter zu einem Streit gekommen. Die Mutter hatte ihm vorgeworfen, er würde das Leben unerträglich machen. Louise hatte ihren Vater verteidigen wollen. Doch Madame Perrier hatte sie barsch zurechtgewiesen. »Du bist meine Tochter … du hältst gefälligst den Mund …« Woraufhin Louise türeknallend hinausgegangen war. Nachdem sie draußen zunächst nicht gewusst hatte, was sie mit ihrer Zeit anfangen sollte, hatte sie sich plötzlich an den Bildhauer erinnert, bei dem sie bereits zahlreichen Leuten begegnet war und der emphatisch zu ihr gemeint hatte: »Bei mir ist das jeden Tag so!«

* * *

Alexandre Aftalion hatte die denkbar elendste Kindheit verlebt. Er war in einem Marktflecken etwa hundert Kilometer von Sofia entfernt zur Welt gekommen. Vier Jungen und zwei Mädchen füllten die elterliche Baracke bereits mit ihrem Geschrei. Die Kinder, deren kräftige Konstitution sie den Entbehrungen und dem rauen Klima trotzen ließ, wuchsen ohne Fürsorge auf. Einige Wochen nach der Geburt ihres Sohnes hatte die Mutter keine Milch mehr. Alexandre wurde mit einem klumpigen Brei aus Mehl und Wasser ernährt. Dieser köchelte in einem gusseisernen Topf, der für alles verwendet wurde und mit einer dicken Kruste beschichtet sowie außen von eingetrockneten Spuren überzogen war. Im Sommer wie im Winter war Alexandre mit einer Art Sack bekleidet, dessen Öffnungen seine Glieder freigaben. Bis zu seinem sechsten Monat heulte er fast ununterbrochen. Aber niemand kümmerte sich darum, obwohl sein Weinen aus Sturheit zu cholerischen Ausbrüchen anschwoll, die hernach zu Krämpfen wurden, die so lange währten, wie seine Kräfte ihn nicht im Stich ließen. Zu guter Letzt verlor er das Bewusstsein. Allein kam er wieder zu sich, auf Stroh im Stall oder auf abgetragenen Kleidungsstücken. Seine Hände fuchtelten in der Luft herum. Ein leichtes Zittern durchfuhr ihn. Verwundert hielt er Ausschau nach einem vertrauten Gesicht über sich. Dann stieß er unvermittelt Schreie des Entsetzens aus. Seine Finger mit den noch weichen Knochen verkrampften sich. Wie bei allein aufgewachsenen Kindern, die kein Mensch vor Manien bewahrt hat und denen man nicht unaufhörlich sagte: »Verzieh das Gesicht nicht so«, krümmte er einen Mundwinkel, was schlagartig daran erinnerte, wie zerbrechlich er war. Adern, so dick, wie man sie bei einem Säugling nicht erwartete, durchzogen seine Stirn. Und wieder durchzuckte es ihn. Da man sich nicht um ihn kümmerte, wurden diese Anfälle mit der Zeit jedoch seltener. Auf dem Rücken liegend schaute er stundenlang mit seinen traurigen Augen den Himmel an. Fliegen liefen über seine Haut, aber er weinte nicht; Kälte und Hitze machten ihm nichts aus. Sein zerknittertes Gesicht, seine Gebärden, die nichts Anmutiges hatten und bald wie die eines erwachsenen Mannes waren, erinnerten an einen gealterten Zwerg. Weinte er, so meinte man ein sanftes und monotones Wehklagen zu hören. Wehrlos auf Erden, schien er die Erlösung vom Himmel zu erwarten. Hunde leckten an ihm, schmiegten sich an seinen Körper oder legten sich auf seine Brust. Er hatte keine Angst vor ihnen. Mechanisch spielte er mit ihnen, und wenn ihr Gewicht ihm die Luft nahm, wehrte er sich, schob sie beiseite, ohne zu schreien, denn er verließ sich nur noch auf sich selbst. Sein erstes Lächeln hatte kein Mensch gesehen. Er hatte sich in einem ärmlichen, von Ungeziefer befallenen Bett aufgerichtet. Unversehens war sein Blick zum Fenster gewandert, wo der Himmel blau war, und ein kaum wahrnehmbares Lächeln, so leicht wie ein Hauch, war über sein mageres, schmutziges Gesicht gehuscht. Später stolperte man allenthalben über ihn. Äußerst behände lief er auf allen vieren, in einem Tempo, als würde er rennen, und erst einige Jahre darauf lernte er, aufrecht zu gehen, wobei er sich lange Zeit beim kleinsten Anlass wieder zu Boden warf. Er aß, was er gerade fand, lutschte an Steinen, trank brackiges Wasser. Wenn seine Mutter ihn überraschte, schlug sie derart auf ihn ein, dass er mehrmals bewusstlos liegen blieb. Heftige Streitereien zwischen den Elternteilen waren die Folge dieser Brutalitäten. Die Kinder machten sich aus dem Staub. Stundenlang waren aus der Baracke die gegenseitigen Beschimpfungen zu hören. Zu guter Letzt legte man Alexandre auf eine Art Bett, und sein Vater schüttete ihm Schüsseln voll Wasser ins Gesicht.

* * *

Mehrere Jahre später, an einem Abend gegen elf Uhr, hielt ein Auto vor der Baracke der Aftalions. Die Bäche waren zugefroren. Eine dicke Schneedecke lag über der Landschaft. Der Himmel funkelte von tausend Sternen. Ein beleibter Mann im Pelzmantel, die Augen beinahe zur Gänze von einer Mütze verdeckt, entstieg mühsam dem Wagen und trat in die Behausung. Er war ein Händler, sein Name: Léon Seelig. Ihm gehörte ein großes Lebensmittelgeschäft in einem dichtbewohnten Viertel Sofias. Wie er Alexandre erblickte, der aufgestanden war, um aus einer Art Schuppen Holz herbeizuholen, rief er: »Was? Der ist noch in keiner Lehre? Dann wird er nie Geld nach Hause bringen!« Daraufhin wandte er sich Vater Aftalion zu und meinte: »Vertrau ihn mir an, deinen Sohn. Er sieht kräftig aus. Mit dem, was er bei mir verdient, kann er dich und die Deinen ernähren.«

Alexandre war damals fünfzehn Jahre alt. Er konnte weder lesen noch schreiben, vermochte sich kaum auszudrücken. Wie ein Tier wich er zurück, sobald man ihm näher kam. Während seine älteren Geschwister allesamt auf Bauernhöfen oder in den umliegenden Marktflecken dienten, war er in einem Zustand geistiger Dumpfheit zu Hause bei den Eltern geblieben.

Als er in Sofia ankam, war ihm, als betrete er ein Paradies. Vor lauter Bewunderung kam er gar nicht zum Nachdenken. Wie einem Kind, dem in einem einzigen Augenblick alles Spielzeug der Welt in den Schoß fällt, war er wie vor den Kopf gestoßen. Auf jede Statue, jede Straßenbahn, jedes Schaufenster heftete sich sein Blick wenigstens eine Sekunde lang. Diese von Licht und Abertausenden Schneekristallen glitzernde Stadt war für ihn wie jene Welt, die jenseits des Himmels lag und von der er so viele Stunden geträumt hatte, als er noch rücklings mitten auf einem Feld gelegen hatte. Paläste, Kirchen, Dome, Glockentürme erhoben sich um ihn herum wie leere Stätten ohne Innenraum, als hätte man sie nur zu dem Zweck errichtet, den Betrachter in Staunen zu versetzen. Unter Holzarkaden spazierten vermummte Passanten. Uniformen, Gärten, farbig lackierte Pferdegespanne, die unter Glöckchengebimmel dahintrabten, ließen ihn in Verzückung geraten. Alles, was bis zu diesem Tag sein Leben hatte lindern können – der blaue Himmel, die Blumen, die Sonne –, schmolz in seiner Erinnerung dahin, um einem beherrschteren Glück Platz zu machen, von dem er spürte, dass es manch einem zufiel, und das ihm als Menschenglück erschien. Es war die Offenbarung einer Freude, die er jenseits des heißen und formlosen Lebens der Natur vermutet hatte. An der Seite des Händlers drang er in ein vibrierendes Getümmel aus Schreien und Glockengeläut, er ließ Brücken aus weißem Stein hinter sich und schneebedeckte Plätze, die von zahllosen Fußspuren durchquert waren. Seine vor Entzücken weit geöffneten Augen nahmen nur noch eine blaue Fläche wahr, über die manchmal, geradlinig wie eine Rakete, ein blendender Widerschein ging. Diese Stadt schien kein Ende zu nehmen, und er stellte sich jenseits des Horizonts noch schönere, immer schönere Bauwerke vor.

Der Händler indes bog in ein Gewirr enger Straßen ein. Kurz darauf hielt er vor einem niedrigen Haus, dessen Wandverputz abblätterte; vor der Tür schaukelte ein Schild. Er erhob sich, machte ein paar kleine Hüpfer, um sich die Beine zu vertreten, und öffnete dann an einer Seite des Hauses eine große Tür mit zwei Flügeln. Da Alexandre ausgestreckt liegen geblieben war, rief er ihm zu: »Steh auf, du Nichtsnutz. Worauf wartest du? Hilf mir …« Léon Seelig war ein Mann von fünfzig Jahren. Er misstraute jeder kleinsten Regung. Wenn einer ihn ansprach, hatte er vor allem die Absicht, ihn übers Ohr zu hauen. Oft ging ihm der Gedanke durch den Kopf: »Selbst wenn ich sein Bestes will und ihm Geld verspreche, wird er das Doppelte verlangen. Und selbst wenn ich ihm das Doppelte gebe, wird er versuchen, mir das Doppelte vom Doppelten abzuknöpfen.« Er handelte nur aus persönlichem Interesse. Seelig war der Ansicht, dass es kein Wesen auf Erden gab, das nicht auf ein bestimmtes Ziel hinarbeitet. Wenn es darum ging, hinter jeder Handlung ein egoistisches Motiv ausfindig zu machen, war niemand geschickter als er. Bettler waren ausnahmslos gerissene Schlauköpfe, Verliebte betrachtete er als Dummköpfe, beherzt Auftretende als Spaßvögel, und die anständigen Leute hatten Leichen im Keller. Als ein Nachbar ihm einmal heulend den Tod eines Verwandten kundtat, lächelte er, ohne mehr als ein paar einsilbige Laute zu wagen: »Na, na, na …« Ein Vater erzählte ihm, er würde sein Kind abgöttisch lieben, und er lachte nur hämisch: »Denkst wohl schon an deine alten Tage, was?«

Von diesem Tag an begann für Alexandre ein Sklavendasein. Lange vor Morgendämmerung stand er auf, verrichtete alle Schwerarbeiten und ging spät zu Bett. Wenn er zwischen den Mahlzeiten um ein Stück Brot bat, gab Seelig ihm zur Antwort: »Was, du hast schon Hunger? Verdien dir erst einmal dein Brot, bevor du es isst.« Wenn es zufällig eine Verschnaufpause gab, setzte er sich in eine Ecke und schlief ein. Wenige Minuten später ließen ihn Schreie und Flüche hochschrecken. Noch halb schlafend taumelte er in den Hof, und da er in seiner Kopflosigkeit nicht wusste, welche Arbeit er verrichten sollte, begann er, die erstbeste Kiste, die erstbeste Tonne, die vor ihm stand, fortzuschieben. Doch Seeligs Zorn setzte ihm weiter zu: »Doch nicht das, du Idiot!« Erschrocken stürzte er zum Brunnen und füllte einen Eimer mit Wasser, während der Händler rief, auch dies sei nicht das Richtige, und den Gehilfen zwang, seine Arbeit selbst zu finden, was mitunter eine lange halbe Stunde in Anspruch nahm. Seine Frau und sein Sohn taten das Ihre, um Alexandre zu beschimpfen, der am Ende vollkommen den Kopf verlor und sich nacheinander auf alle Aufgaben stürzte, die auszuführen ihm vorbehalten waren, und er verharrte bei keiner einzigen, aus Angst, seine Herrschaften würden wieder rufen: »Nein, das doch nicht.« Wenn die Pumpe gefroren war, holte Alexandre Wasser aus dem Fluss. Aus heiterem Himmel musste er den Hof säubern oder den Fußboden im Laden aufwischen. Wenn er einen Eimer ausließ, um sich einen Gang zu ersparen, sagte Seelig zu ihm: »Wasser kostet wohl Geld, was?« Er striegelte die Pferde, räumte den Schnee vor dem Haus. Wenn er endlich wieder ins Haus trat, fand er den Sohn des Händlers, einen jungen Mann seines Alters, am Feuer sitzend vor, der ihm ein Stück geröstetes Brot zeigte und sagte: »Das ist nicht für dich.«

Ein unerwartetes Ereignis sollte diesem Martyrium ein Ende machen. Ein Jahr nach seiner Ankunft in Sofia beauftragte Léon Seelig Alexandre damit, Einkäufe zu tätigen und am Ende der Woche kleinere Beträge einzukassieren. Eines Samstags, nach beendetem Rundgang, bemerkte Alexandre bei seinem Rückweg plötzlich, dass er ein Geldstück im Wert von fünf Franc verloren hatte. Zunächst wollte er es nicht glauben. Er zählte sein Geld, zählte es wieder und wieder. Es fehlte tatsächlich. Als es dunkel wurde, machte er sich schließlich auf den Weg zum Haus des Händlers.

»Du bist es, du Dieb?«, rief der Händler, als er seinen Gehilfen sah. Alexandre ging auf ihn zu. »Wo hast du gesteckt?« Das Licht, das vom Innern des Ladens kam, erhellte Alexandres blasses Gesicht. Er war bereit, alles zu ertragen. »Gib das Geld her!« Er reichte ihm die Umhängetasche. Als er sie in den Händen des Kaufmanns sah, war ihm wohler ums Herz, er fühlte sich wie gestärkt und stammelte: »Da fehlt eine Münze … Ich habe sie verloren.« Léon Seelig sah seinen Gehilfen verdutzt an: »Halt das Maul. Du weißt nicht, was du sagst.« In diesem Moment betrat Ida Seelig den Laden. Als er sie erblickte, vergaß der Händler, der das Geld zählte, wie weit er gekommen war, und brachte die Münzen durcheinander. »Dieser Nichtsnutz behauptet, Geld verloren zu haben … Ich werde ihm wohl glauben müssen.« Sie sah Alexandre an: »Wo kommt er her?« – »Sei still … ich zähle«, sagte Léon Seelig, der wieder begonnen hatte, die Geldstücke vor sich zu stapeln. Seine Frau setzte sich auf die Bank, die für die Kundschaft bestimmt war. Im Laden war es still. Nach kurzer Zeit wandte sich der Händler seinem Gehilfen zu, der Mühe hatte, zu atmen: »Es fehlt eine Münze.«

Alexandre hob die Augen. Er sah, wie die Wangen seines Herrn rot wurden und anschwollen. Er sah, wie er aufstand und auf ihn zukam; er war so verändert, dass er ihn einen Moment lang nicht wiedererkannte. Der Zorn hatte seine Züge entstellt. Es sah so aus, als seien seine Augen größer geworden und sein Gesicht gealtert, und sein Gang sei nicht mehr derselbe, den er im täglichen Leben hatte, sondern der eines Mannes, der im selben Augenblick sterblich wurde, als das in zwanzig Arbeitsjahren errichtete Gebäude zusammenstürzte. Eine schreckliche Angst schnürte Alexandre die Kehle zu. Instinktiv wich er zurück. Im Bruchteil einer Sekunde wurde ihm bewusst, dass der Sohn seines Herrn, der ihn hätte einfangen können, wenn er davonlief, nicht da war. Er wich noch ein Stück weiter zurück. Die Tür stand leicht offen. Noch bevor der Händler ein Wort sagen konnte, rannte er wie ein Verrückter auf die Straße hinaus. Gebrüll und Geschrei folgten ihm. Er vernahm es immer undeutlicher, und als er in eine dunkle Gasse einbog, fand er sich von tiefer Stille umgeben.

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Nach zwei Jahren des Vagabundierens gelangte Alexandre nach Wien. In dieser Stadt sollte er eine Begegnung haben, die sein Leben veränderte. Blass stand die Sonne am Himmel. Es war einer jener tristen Nachmittage, an denen man spürt, dass die Erde sich langsamer dreht, dass kein Fieber sie schüttelt, dass die bewegtesten Existenzen kurz innehalten. Den ganzen Tag über hatte Alexandre Säcke voll Korn abgeladen. Mit zerschlagenem Rücken, fühllosen Händen, die Fingernägel eingerissen vom Zuschnüren der Säcke, die er dann schultern musste, folgte er auf der Suche nach einem Zimmer einer bevölkerten Straße, als ein etwa dreißigjähriger, schwarzgekleideter Mann den Blick auf ihn heftete. Unter dem Arm trug er ein paar Bücher. Ein blonder Bart umgab ein Gesicht, das zwei blaue, unschuldig dreinschauende Augen beherrschten. »Du weißt wahrscheinlich nicht, wo du hinsollst?« Alexandre sah den anderen unverwandt an. Ein Ausdruck von Redlichkeit und Sanftmut in dessen Blick beruhigte ihn. »Ich suche einen Platz zum Schlafen.«