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Über dieses Buch

»Begegnung« ist die erste Komplettübersetzung der französischen Ausgabe, in der 1988, unter dem Titel »Monsieur Thorpe«, gesammelte Erzählungen Boves aus verschiedenen Schaffensphasen und aus dem Nachlass veröffentlicht wurden. Und auch in diesen Geschichten bewährt sich Bove als glänzender Psychologe, der mit einem ganz eigenen Humor Verschränkungen und Widersprüche freilegt. Dabei begegnet man überwiegend jungen Männern, die glauben, souverän zu handeln, sich dann aber in geradezu grotesker Weise in den Fallstricken des eigenen Begehrens verheddern. Die Begegnungen mit dem weiblichen Geschlecht zeitigen ein denkwürdiges Kuriosum: das gekonnte Sichhineinversetzen in das Denken des Gegenübers verschafft keinerlei Vorteil. Im Gegenteil: Die vermeintliche Gabe wird zum größten Hindernis …

Die 24 Erzählungen, 16 von ihnen bisher unübersetzt, zeigen erneut Emmanuel Boves berühmte Beobachtungsgabe und seinen »Sinn für das berührende Detail«, wie Samuel Beckett es nannte.

»Im Kleid einer geradezu lapidaren Sprache erschließt sich der hochpoetische Kosmos eines Klassikers der Moderne.« (Ingeborg Waldinger in der Neuen Zürcher Zeitung vom 5. März 2013)

Mehr zum Autor und seinem Werk unter www.emmanuelbove.de

Der Autor

1898 als Sohn eines russischen Lebemanns und eines Luxemburger Dienstmädchens in Paris geboren, schlug sich Emmanuel Bove mit verschiedenen Arbeiten durch, bevor er als Journalist und Schriftsteller sein Auskommen fand. Mit seinem Erstling »Meine Freunde« hatte er einen überwältigenden Erfolg, dem innerhalb von zwei Jahrzehnten 23 Romane und über 30 Erzählungen folgten.

Nach seinem Tod 1945 gerieten der Autor und sein gewaltiges Œuvre in Vergessenheit, bis er in den siebziger Jahren in Frankreich und in den achtziger Jahren durch Peter Handke für den deutschsprachigen Raum wiederentdeckt wurde. Heute gilt Emmanuel Bove als Klassiker der Moderne.

Der Übersetzer

Thomas Laux, geboren 1955 in Düsseldorf. Studium der Germanistik und Romanistik, Staatsexamen, Promotion 1987 in Romanistik. Literaturkritiker und Übersetzer aus dem Französischen (u. a. Bove, Henri Thomas, Hervé Guibert, Jacques Chauviré).

Begegnung
und andere Erzählungen

Aus dem Französischen
von Thomas Laux

Edition diá

Inhalt

E R S T E R  T E I L

Zu Lebzeiten veröffentlichte Erzählungen

Monsieur Thorpe

Begegnung

Eine Illusion

Die Rückkehr

Die Garantie

Das Geheimnis

Sie ist tot

Der kleine Bruder

Ein Missverständnis

Eine Kränkung

Kleine Märchen

Das ertappte Kind

Ein Tag in Chantilly

Unterhaltung

Lampenfieber

Ostern in Kozani

Z W E I T E R  T E I L

Posthum veröffentlichte Erzählungen

Der Strohhut

Doktor Aubin

Die Tante

Ein allzu netter Kerl

Ein romantisches Mädchen

Das Kind

Der kleine Diebstahl

Solange wir leben

Die Flucht

Impressum

E R S T E R  T E I L

Zu Lebzeiten veröffentlichte Erzählungen

Monsieur Thorpe, 1930

Begegnung, 1939

(Sammlung der Erzählungen Begegnung, Eine Illusion, Die Rückkehr, Die Garantie, Das Geheimnis und Sie ist tot im Anhang des Romans La dernière nuit, deutsch Die letzte Nacht, 1988)

Der kleine Bruder, 1928

(in der Juli-Ausgabe der satirischen Zeitschrift Le Crapouillot)

Ein Missverständnis, 1930

(in der Zeitschrift Les Œuvres Libres, Nr. 108)

Eine Kränkung, 1945

(in der Zeitschrift Livre des Lettres, Nr. 5)

Kleine Märchen, 1929

(Sammlung der Erzählungen Das ertappte Kind, Ein Tag in Chantilly, Unterhaltung, Lampenfieber und Ostern in Kozani)

Monsieur Thorpe

Die Geschichte, die ich Ihnen jetzt erzähle, ereignete sich im Jahre 1910 oder 1911, in dem Jahr, als, glaube ich, Massenet starb. Damals wohnte ich in Genf und ging dort zur Schule. Ich wurde 1894 geboren, war also sechzehn oder siebzehn Jahre alt. Ich erinnere mich sehr gut, dass ich vom Tod des Komponisten in der Rue de l’École de Médecine erfuhr und dass mich die Nachricht sehr beeindruckte, denn zu der Zeit trafen mich die Todesfälle von Leuten, um deren Existenz ich wusste, wie ein Schlag. Ich erinnere mich auch sehr gut daran, dass in jenem Jahr Védrines einen Absturz hatte, von dem man lange Zeit annahm, dass er tödlich ausgehen würde, und dass ich jeden Nachmittag um drei Uhr, bei Kollegschluss, die letzten Nachrichten über die Gesundheit des Fliegers dem Aushang der Zeitung La Suisse entnahm.

Meine Eltern hatten Genf verlassen und mich einer jungen Witwe, Madame Le Verrier, anvertraut. Sie leitete eine Pension in der Rue de Candolle, einer Straße in unmittelbarer Nähe des Jardin des Bastions, wo ich, wie ich mich erinnere, zum ersten Mal einer Kinovorstellung unter freiem Himmel beigewohnt habe. Von Menton aus, dem Ort ihrer neuen Bleibe, schickten meine Eltern mir das Geld für meine Pension und für meine bescheidenen Bedürfnisse, aber nie zu einem festen Zeitpunkt, das heißt: mal zu früh, mal zu spät, was mir, im letzteren Falle, oft Komplikationen bereitete. Ich musste ein Telegramm nach dem anderen aufgeben, um meine Gastgeberin zu beruhigen, musste meine Kameraden um Butterbrote und Hefte anpumpen. Doch um nichts in der Welt hätte ich gewollt, dass mein Vater meine Pension direkt bezahlte, was mir allen Ärger erspart hätte. Vor seiner Abreise hatte ich darauf bestanden, dass das Geld mir persönlich zugeschickt würde. Das gab mir eine Art Vorgefühl auf die Unabhängigkeit, die ich so sehr ersehnte. Ich kam mir schon wie ein Mann vor. Und diese Verzögerungen, die Erklärungen, die ich meiner Gastgeberin machen musste, bestärkten mich in dieser Meinung. Ich war stolz darauf, Sorgen zu haben, und spielte nicht ohne eine gewisse Befriedigung den gepeinigten Schuldner.

Madame Le Verrier mochte um die dreißig Jahre alt gewesen sein. Sie war großgewachsen, blond und schlank. Sie war eine jener Frauen, die glauben, dass die französischen Männer an nichts anderes dächten, als bei den Frauen Gefallen zu finden und sie danach leiden zu lassen. Alle Pensionsgäste, überwiegend junge Leute wie ich, unterhielten eine geheime Liebe zu ihr. Sie widmeten ihr Gedichte und brachten ihr Blumen. Wenn sie sie in der Stadt trafen, grüßten sie sie – wobei sie blass oder rot wurden –, in der Hoffnung, dass sie stehen bliebe, um mit ihnen zu reden. Sie ging indes weiter ihres Weges, aber nicht ohne zuvor ein Lächeln gezeigt zu haben – sie, die in ihrer Funktion als Leiterin immer eine ernste Miene behielt. Vor allem wollte sie nicht, dass man sie für eine Geschäftsfrau hielt. Aber da sie auch nicht wollte, dass man ihre Selbstlosigkeit ausnutzte, nahm sie zwei Haltungen an: in der Pension streng, draußen ungezwungen. Sie führte ihr Haus übrigens wie eine Familie, aber wenn es auch etliche Kleinigkeiten gab, die diesen Eindruck vermittelten – wie die Möglichkeit, warme Backsteine zu bekommen, eine Diät zu halten, die Mahlzeiten im Krankheitsfalle auf dem Zimmer einzunehmen –, so fehlte doch die Herzlichkeit. Die Aufmerksamkeiten glichen eher denen großer Restaurants. Alles war komfortabel, dafür aber unterkühlt. Wenn man eine Beschwerde vorzutragen hatte, eine Bitte auszusprechen, so konnte man das nur tun, wenn etwas Schwerwiegendes vorlag, und selbst dann musste man mehrere Tage warten, bis Madame Le Verrier eine Audienz gewährte. Ihre eigene Wohnung lag eine Etage höher. Da sie niemals geruhte herunterzukommen, musste der Pensionär zu ihr hinauf. Sie empfing ihn wie einen Gast, stellte ihn den eventuell anwesenden Freunden vor. Er musste mitunter also die nicht selten lächerlichen Gründe seines Besuchs vor Dritten ausbreiten. Dann übertrug sie diese Beschwerde ins Allgemeine. Sie stellte ihrer Umgebung die Frage, ob man sonst irgendwo einem solchen Wunsch nachgekommen wäre. Hätte ein Pensionsgast aus England zum Frühstück Orangenkonfitüre gewünscht, so hätte sie ihre Freunde gefragt: »Glauben Sie wirklich, dass dies für junge, kräftige Menschen so unentbehrlich ist? Ich halte das für reine Naschhaftigkeit. Ich weiß, dass das in England Sitte ist, aber meinen Sie, dass sich das hier schickt? Orangenkonfitüre ist nicht so gesund, wie man meint. Sie nehmen sie doch nicht, oder? Ich auch nicht. Na ja, wir werden mal sehen.« Man ahnte, dass sie aus Selbstachtung alles vermied, was sie in die Situation einer tatsächlichen Pensionsleiterin gebracht hätte. Dieses Geschäft war in ihren Augen nur ein Besitz. Ihn Zinsen tragen zu lassen, darum wollte sie sich nicht kümmern müssen, nicht mehr, als sie es für eine Summe Geld getan hätte. Ihr Bankier war in diesem Fall eine alte Hausangestellte, die das Dienstpersonal leitete. Sie kümmerte sich um alles. Erst am Abend begab sie sich zu ihrer Herrin, die ihr, wie man sich denken kann, trotz ihrer augenscheinlichen Gleichgültigkeit eine Menge Fragen stellte.

Oft hatte ich wegen der Unpünktlichkeit meiner Eltern persönlicher mit ihr zu tun als die anderen Pensionsgäste. Äußerst peinliche Gänge sind mir im Gedächtnis haftengeblieben. Etwa, als ich zu ihr hinaufging, um sie um Geduld zu bitten und ihr zu versichern, dass ich jeden Tag mit Geld rechnete, und sie dabei von einer umso größeren Kälte war, weil sie eigentlich Empörung hätte zeigen wollen. Alles an ihr schien zu sagen, dass ich sie in eine schwierige Lage brachte, dass ich mich nicht wie ein gut erzogener junger Mann benahm, dass sie mich natürlich nicht vor die Tür setzen konnte und dass ich das wusste und es ausnutzte, um sie im Grunde zu erpressen. Dann verließ sie den Salon, ohne mich zum Gehen zu bitten – so als ob sie gleich wiederkommen würde. Mehrere Minuten wartete ich allein. Schließlich ging eine Tür auf, und die Hausangestellte führte mich hinaus, wobei sie mir mitteilte, dass mir Madame nach sachlicher Überlegung nichts mehr zu sagen hätte. Tags darauf ließ sie mich rufen und fragte mich schlicht und einfach – sicherlich weil sie sich während dieses zweiten Treffens besser fühlte –, wann ich voraussichtlich »diese kleine Angelegenheit aus der Welt schaffen« könnte. Wie immer nannte ich einen viel zu nahen Termin, wegen der mir innewohnenden Angst zu missfallen, und als ich dann am besagten Tag mein Versprechen nicht halten konnte, wiederholte sich die gleiche Szene. Kaum hatte ich sie gebeten, noch ein paar Tage zu warten, da wurde ihr Gesicht bereits streng, sie sah mich fast böse an, bewegte nervös ihre Finger und ging überstürzt hinaus wie eine Frau, die ihre Tränen nicht mehr zurückhalten kann.

Doch das Merkwürdigste war, dass alle anderen Pensionsgäste Madame Le Verrier Bewunderung zollten und mir böse waren, dass ich sie gewissermaßen auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt hatte. Sie behandelten sie wie ein rohes Ei. Wie ich schon sagte: Sie überreichten ihr Rosenbuketts, und im Frühling brachten ihr diejenigen, die über die Osterferien nach Les Avants gefahren waren, Narzissen mit. Nur ich holte unsere Gastgeberin in die Wirklichkeit zurück – ungewollt, wohlgemerkt. Von daher lebte ich in einer feindseligen Atmosphäre. Man betrachtete mich als einen schlechten Kameraden. Man redete praktisch nicht mit mir. Ich war ein wenig in der (komödienhaften) Situation desjenigen, der nicht zu der Gruppe von sportlichen Verehrern eines Mädchens gehört und am Ende heftige Prügel von ihnen einsteckt. Das Publikum schätzt die gute Laune all dieser jungen Leute, ihre Uneigennützigkeit, ihre Bemühungen, ein Mädchen zu erobern, ihre neidlose Zufriedenheit, die sichtbar wird, wenn Letztere ihre Wahl getroffen hat und wenn alle zusammenkommen, um dem glücklichen Rivalen von Herzen zu gratulieren. Ja, dieses Publikum ähnelte sogar ziemlich meinen Kameraden.

Mein Zimmer ging auf eine Art Hof, den ich mit keinem später gesehenen vergleichen könnte. Autos hatten hier keine Zufahrt, vielmehr verlief schräg durch ihn ein Trottoir, auf dem Fußgänger ununterbrochen hin und her liefen. Von dieser Funktion als Abkürzung abgesehen war dieser Hof so intim und versteckt wie ein abgeschlossener Ort. Mieter räumten ihr Mobiliar hinaus, um den Hausputz zu machen, aßen im Sommer dort zu Mittag, verbrachten ganze Nachmittage in ihren Sesseln und lasen oder strickten. Oft stellte ich mich ans Fenster und verharrte dort manchmal eine geschlagene Stunde lang, wobei ich dem Kommen und Gehen zusah, über meine Zukunft nachdachte und mir das Leben vorstellte, das ich führen würde, wenn ich einmal verheiratet wäre. Merkwürdig, ich sah mich immer nach Hause kommen und das Zimmermädchen, das mir öffnete, fragen: »Ist Madame zu Hause?« Zwei oder drei Jahre in meinem Leben hat es nicht einen Tag gegeben, an dem ich diese Frage nicht einem imaginären Dienstmädchen gestellt hätte, so dass ich heute, wenn es vorkommt, dass ich diese Frage wirklich stelle, nicht umhinkann, an diese weit zurückliegenden Jahre zu denken. In diesem Zimmer, das ursprünglich wohl das Esszimmer gewesen war und in das drei Türen mit doppelten Schwingflügeln führten, habe ich zwölf Monate meines Lebens zugebracht, Monate, die ich nie vergessen werde, Winter- wie Sommermonate. Ich wusste, was in diesem Zimmer zu tun war, wenn glühende Hitze oder eisige Kälte herrschte. Kaum eingetreten, schloss ich mich immer sogleich ein. Mein erster Gedanke war, den Schlüssel abzuziehen, damit die zurückfallende Metallscheibe das Schlüsselloch bedecken konnte. Denn es war einer meiner lebhaftesten Wünsche, mich in Sicherheit zu fühlen, an einem Ort, zu dem allein ich Zugang hatte, ein Wunsch nach Abkapselung, vergleichbar jenem anderen, den ich ebenfalls hatte, nämlich ein winziges Stück Land zu besitzen, das dennoch sehr ausgedehnt war, weil es mir bis zur Unendlichkeit in seiner Tiefe gehörte, ein Stück Land, in dessen Untergrund ich einen Palast gegraben hätte, selbst auf die Gefahr hin, bis unter die Nachbargrundstücke vorzudringen – denn niemand hätte es je erfahren. Aber das alles gehört der Jugendzeit an, und es würde zu lange dauern, wenn ich hier bei dem außergewöhnlichen Aufkeimen von Wünschen, die sie bei mir verursachte, verweilte. Wenn ich einmal älter bin und mich dann der Vergangenheit zuwende, wird es mir angenehmer sein als heute, diese Jahre wieder aufleben zu lassen. Jetzt aber möchte ich von Monsieur Thorpe sprechen und nicht von mir. In dieser Geschichte wird man an keiner Stelle diese Bitternis, diese Sehnsucht nach dem abgestorbenen Leben, die ich so gerne in Erinnerungen oder Memoiren nachfühle, finden. Wenn es in den folgenden Zeilen noch um mich geht, um den jungen Mann von sechzehn oder siebzehn Jahren, dann ausschließlich mit dem Ziel, Monsieur Thorpes merkwürdige Persönlichkeit begreiflicher zu machen.

Wenn ich mich recht entsinne, war ich damals maßlos und für jeden sichtbar schüchtern. Dass man mich verdächtigen könnte, einen bösen Gedanken zu hegen oder auf den eigenen Vorteil aus zu sein, machte mich krank. Der kleinste Vorwurf brachte mich aus der Fassung. Für nichts und wieder nichts errötete ich. Und dennoch, trotz all meiner Skrupel beging ich unaufhörlich Taktlosigkeiten. So fand ich mich andauernd in unangenehmen Situationen wieder, insbesondere in der, mich für eine Tat zu rechtfertigen, die ich hässlich fand und die ich trotzdem begangen hatte, um mich dann vor Leuten verteidigen zu müssen, denen ich tausendmal recht gab. Damit hatte ich mir nach und nach in meiner Umgebung den Ruf eingehandelt, ein falsches Spiel zu spielen. Diese Umgebung bestand vor allem aus Freunden meiner Eltern und jungen Leuten, die wie ich waren. Erstere traf ich ab und zu in der Stadt. Sie gehörten allen Gesellschaftsschichten, insbesondere aber dem Genfer Kleinbürgertum an. Ich erinnere mich sehr gut daran, dass mein Vater immer eine Vorliebe für die unscheinbarsten Leute gehabt hatte, für die Leute, die niemals die Wechselfälle des Lebens zu spüren bekommen hatten. Er gab sich Mühe, ihren Egoismus und ihre Mittelmäßigkeit zu ignorieren, um in ihrem Leben nichts als Ausgewogenheit zu erkennen. Er pries ihre Verdienste, beneidete sie, zitierte Sätze von ihnen, bewunderte ihren gesunden Menschenverstand. Später habe ich bemerkt, dass dieses Bestreben meines Vaters dem all jener Menschen entsprach, die große Entbehrungen erlitten hatten.

Also lebte ich ohne gute Ratschläge, ohne Familie, bereits auf mich allein gestellt. Mich dürstete deshalb aber nicht nach Freundschaft, denn ich kann mich nicht erinnern, auch nur ansatzweise unter meiner Isolation gelitten zu haben. Meine Phantasie war zu rege, »arbeitete mehr als der Rest«, wie einer meiner Lehrer meinte. Ich erwartete zu viel von der Zukunft, um auch nur zu bemerken, dass ich ein abseitiges Leben führte. Ich wartete einfach nur auf den Tag meiner Unabhängigkeit.

* * *

Bevor meine Eltern Genf verlassen hatten, wohnten wir in der sechsten Etage eines Neubaus in der Rue de l’École de Médecine. Kletterpflanzen zierten den Balkon vor den Fenstern unserer Wohnung. Meine Mutter hatte Blumen immer geliebt, und wie oft sind wir, als wir in Paris wohnten, in der Nähe des Kaufhauses La Samaritaine Saatgut kaufen gegangen! Es war in kleinen Tüten verpackt, auf denen die Blume, die daraus entstehen sollte, abgebildet war. Wie ungeduldig ich war, die Samenkörner einzupflanzen und, vor allem, sie aus dieser schwarzen Erde heraus keimen zu sehen, die mir, da ihr der Kontakt zur wirklichen Erde fehlte, so vorkam, als hätte sie nicht mehr Eigenschaften als das Wasser in einem Glas mit einem Fisch! In dieser Wohnung sah ich zum ersten Mal Monsieur Thorpe. Mein Vater hatte ihn zum Essen mitgebracht, freilich in der Weise, wie er es immer tat, nämlich ohne meiner Mutter vorher Bescheid gegeben zu haben. Ich schenkte diesem Gast nicht die geringste Aufmerksamkeit, und ohne die Beziehungen, die folgen sollten, wäre er, glaube ich, auf ewig aus meinem Gedächtnis verschwunden. Denn bei Tisch war ich mit meinen Gedanken immer woanders. Ich dachte nur an eines: das Essen schnell hinter mich zu bringen, um mich verdrücken zu können. Es war eine Folter für mich, zu warten, bis meine Eltern fertig waren. Von daher spürte ich, wenn wir jemanden zu Besuch hatten und das Essen sich hinzog, eine große Wut gegen den Gast in mir hochsteigen, der mich, ohne etwas zu ahnen, zwang, am Tisch sitzen bleiben zu müssen. Wenn ich schließlich aufstehen konnte, fühlte ich mich so erleichtert, dass ich fast unverzüglich denjenigen, der der Grund für das lange Essen gewesen war, vergaß.

Also hatte ich auch Monsieur Thorpe vollkommen vergessen, als ich ihn im Frühjahr des Jahres 1910 oder 1911 im Arianapark erblickte. Er saß am See und betrachtete in der Ferne den Mont Blanc, der von dieser Stelle aus dem Hut Napoleons gleicht – jedenfalls behaupten das die kleinen Werbebroschüren. Ich hatte ihn nicht wirklich wiedererkannt, doch sein Gesicht und seine gesamte Erscheinung kamen mir bekannt vor. Ich wollte gerade weitergehen, als er sich unversehens erhob, mich anlächelte und auf mich zukam. Ich hielt inne und wartete, dass er sich zu erkennen gab, aber er schien nicht zu merken, dass ich mich nicht mehr an sein Gesicht erinnerte. Ohne Umschweife erkundigte er sich nach meinen Eltern. Als ich ihm mitteilte, dass sie nach Südfrankreich gefahren seien, zeigte er ein solch überraschtes und beunruhigtes Gesicht, dass ich mit einem Schlag schon fürchtete, die Adresse meines Vaters verraten zu haben. Im selben Moment erinnerte ich mich an das Essen, an dem er teilgenommen hatte, und ich sah ihn vor mir, wie er mit meinen Eltern sprach. War er ihr Freund gewesen? Ich wusste es nicht. Kinder haben den Nachteil, dass sie den Grad der Freundschaft, der zwischen ihren Eltern und deren Bekanntenkreis besteht, nicht richtig einschätzen können. So ist es mir passiert, dass ich auf offener Straße Leute gegrüßt habe, die, ohne dass ich es wusste, Todfeinde meines Vaters waren. Und wenn ich dann später darüber aufgeklärt wurde, so erinnere ich mich, war ich verblüfft über das liebenswürdige Lächeln, das sie mir gezeigt hatten. Monsieur Thorpe fragte mich noch, in welche Stadt im Süden sich mein Vater zurückgezogen hätte. »Nach Menton«, antwortete ich, weil ich mich nicht zu lügen traute; denn was mich mit den meisten Kindern verband, die den Lebenskampf ihrer Eltern aus zu großer Nähe mitbekommen haben, war diese dauernde Furcht, ihnen zu schaden, sie zu verraten, sie auszuliefern, sie durch meine Schuld als Gefangene zu sehen, während sie andererseits mich, den Grund ihres Unglücks, traurig und ohnmächtig ansahen. Mich verfolgte die Vorstellung, dass mein Vater eines Tages zusammengeschlagen und von anderen Männern als Gefangener gehalten werden könnte. Das war krankhaft. Als ich ganz jung war, pochte mein Herz, wenn an unsere Tür geklopft wurde; ich war schweißgebadet, so sehr fürchtete ich, dass man ihn abholen kam. Und als ich einige Jahre später erfuhr, dass man gar nicht das Recht hat, nachts unbefugt in eine Wohnung einzudringen, da war ich, ohne mir genau darüber klarzuwerden, von dieser mysteriösen Furcht befreit.

»Und sie kommen nicht wieder zurück?«, fuhr Monsieur Thorpe fort.

Schroff, aus dem vielleicht zu sichtbaren Bedürfnis heraus, den Schnitzer wettzumachen, den ich glaubte begangen zu haben, indem ich den Aufenthaltsort meiner Eltern verraten hatte, antwortete ich: »Oh, nein, sie kommen nicht mehr wieder!« Auf diese Weise glaubte ich bei Monsieur Thorpe definitiv den eventuellen Wunsch abzutöten, sie wiederzusehen, um etwas von ihnen einfordern zu können, denn weil mein Vater seinen Freund nicht über seine Abreise informiert hatte, nahm ich sicher an, dass er sich etwas hatte zuschulden kommen lassen.

»Das ist sehr ärgerlich«, warf Monsieur Thorpe ein.

Eine gewisse Unruhe beschlich mich. Was konnte zwischen den beiden Männern wohl vorgefallen sein? Ich bedauerte jetzt, diesen Park durchquert zu haben, stehen geblieben zu sein. Weil ich ein sehr junger Mann war und soeben diese Wahrheit entdeckt hatte, kam es mir so vor, als ob es immer die scheinbar unbedeutenden Ereignisse waren, die die Katastrophen auslösten. Aber Monsieur Thorpe fuhr in sanftem Ton fort:

»Das ist sehr ärgerlich, weil ich Ihren Vater sehr mochte und weil die Tatsache, ihn so weit weg zu wissen, mir plötzlich ein Gefühl tiefer Vereinsamung gibt. Sie können sich glücklich schätzen, einen solchen Vater zu haben! Und er liebt Sie so! Er liebt Sie abgöttisch!«

Ich stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. Auf einmal verspürte ich für diesen alten Engländer eine Art Respekt, nicht etwa deshalb, weil er eine so große Freundschaft für meinen Vater bezeugte, sondern vielmehr, weil ich es als aristokratisch empfand, so ein Gesicht voller Falten zu haben, wie aus der Furcht entstanden, eine Schuld nicht getilgt zu bekommen, wobei es hier aber ein nobles Gefühl war, das die Gesichtszüge so entstellt hatte. Das war für mich das Indiz, dass dieser Mann niemals etwas auf diese niederen Angelegenheiten materieller Art gab, ja niemals geben konnte, unter denen ich in meiner Familie so sehr gelitten hatte, sonst hätte er nicht gerade diese Miene gemacht, wie aus Sorge, ich könnte ihn dessen verdächtigen. Wenn er auf seinen Vorteil bedacht gewesen wäre, hätte er gewusst, dass ein solches Zusammenpressen der Lippen ein völlig anderes Gefühl signalisierte als das, welches er tatsächlich verspürte. Er war also derartig ohne Falsch, dass sich in demselben Moment, da er einem Freund zutiefst nachtrauerte, in seinem Gesicht die schäbigsten Gedanken abzeichnen konnten. Solche Menschen ähneln Tieren, deren Spiel nach Kampf aussieht. Sie sehen nur scheinbar böse aus, und die Anziehungskraft, die sie auf mich ausgeübt haben, ist erst viel später erloschen, erst als mein Leben normal wurde und ich nichts mehr zu befürchten hatte.

»Und Sie?«, fuhr er fort. »Sie sind sicherlich in unserer Stadt geblieben, um Ihre Schule zu beenden?«

»Ja.« (Eine Art Hochmut hat mich lange daran gehindert, Monsieur oder Madame zu sagen. Heute habe ich diesen Fehler korrigiert. Dennoch, wenn ich einem Vorgesetzten gegenüberstehe, einem Direktor, einem Mann, der irgendeine wichtige Funktion bekleidet, hält mich ein dunkles Gefühl noch immer davon ab, den Titel auszusprechen.) »Ja. Mein Vater hat mich in eine Pension gegeben. Die Leiterin ist eine seiner Freundinnen.«

»Aha! Und von welcher Pension sprechen Sie?«

»Von der Pension Le Verrier.«

»Le Verrier? Le Verrier … Le Verrier … Der Name besitzt so etwas ungemein Klares …«

Er schien sein Gedächtnis daraufhin abzusuchen, ob ihm diese Pension etwas sagte, dann, nach einem Moment:

»Madame Le Verrier dürfte für Sie genau das Richtige sein, wenn sie die Freundin Ihres Vaters ist.«

Am Tonfall erkannte ich, dass Monsieur Thorpe sich eine sehr kostbare Erinnerung an meinen Vater bewahrt hatte. Irgendetwas ließ mich allerdings aufhorchen. Wie hatten diese beiden Männer sich verstehen können? Ich hatte nämlich nicht den Eindruck, dass zwei so verschiedene Wesen unter einen Hut gebracht werden konnten. Während der eine kühl, distanziert, vernünftig und voller Respekt war, betrachtete der andere die meisten Menschen als Dummköpfe und gab sich nicht einmal die Mühe, diesen Gedanken zu verbergen. Seither ist mir aufgefallen, dass gewisse Engländer, insbesondere jene, die sich im Ausland niederlassen, nicht selten zu einer totalen Fehleinschätzung ihrer Umgebung neigen. Denn wie ich später erfahren sollte, wusste Monsieur Thorpe nicht einmal, wer mein Vater eigentlich war. Er war einfach von ihm angetan. Vielleicht ahnte er vage die Distanz, die zwischen ihm und seinem Freund lag, und fühlte sich nur von einem Leben angezogen, das so anders war als das seine.

Monsieur Thorpe zeigte steigendes Interesse an mir. Ich hatte den Eindruck, dass er bei mir das zu entdecken hoffte, was ihm bei meinem Vater entgangen war, dass es in seinen Augen leichter war, die Jugend zu durchschauen als das reifere Alter. Aber er bemühte sich ohne das geringste Talent für geschickte Erkundigungen, er merkte bloß an, dass ich größer war als mein Vater, dass ich einige seiner Gesten hätte. Beflissen stellte er unsere Ähnlichkeit heraus und fand gemeinsame Eigenschaften; er schien die seltsame und tief verwurzelte Illusion zu hegen, dass man bei den Kindern das wiederfinden könne, was man an deren Eltern geliebt hat. Das Merkwürdigste ist, dass diese Illusion, die ich niemals gehabt habe, die Basis unserer Beziehung gewesen ist. Könnte in diesem Ungleichgewicht nicht der Grund für alles Folgende zu suchen sein?

Monsieur Thorpe mochte etwa fünfzig Jahre alt gewesen sein. Er war großgewachsen und so mager, dass ich gegen meinen Willen nicht umhinkam, ihn mir unbekleidet vorzustellen. Seine Hände waren lang und dürr. Er hatte graues, sehr kurz geschnittenes Haar und Augen von solch leuchtendem Blau, dass sie an seiner gesamten Erscheinung als Erstes auffielen. Minutenlang sah man nur sie. Sie verliehen seinem Gesicht so einen schamhaften und zarten, arglosen Ausdruck. In meinem ganzen Leben bin ich nur selten auf ähnliche Wesen gestoßen. Aber jedes Mal, wenn dies passierte, fühlte ich so etwas wie ein Unbehagen. Ich kam mir dann so niederträchtig vor, so würdelos, dass ich darunter litt. Die ganze Wirrheit meines Lebens, all das Böse, das ich getan hatte, war mir ins Gesicht geschrieben. Die Laster, gegen die ich zunächst gekämpft hatte und mit denen ich in der Folge so sehr vertraut wurde, dass ich nicht mehr wusste, dass ich sie überhaupt besaß, erschreckten mich plötzlich wieder so wie beim ersten Mal. Selbst mein Aussehen widerte mich an. Ich kam mir grob, vulgär und hässlich vor. Wenn diese auserlesenen Wesen mir eine gewisse Freundlichkeit entgegenbrachten, beschlich mich irgendwie das Gefühl, sie in einer gemeinen Weise zu betrügen, oder, was noch peinlicher war, das Gefühl, dass es nur auf ihre extreme Feinfühligkeit zurückzuführen war, dass sie mir nicht wirklich zeigten, was sie über mich wussten. In diesem Park, vor Monsieur Thorpe, litt ich auch wegen meines Vaters. Ich fand es ziemlich ungehörig, dass er abgereist war, ohne seinem Freund Bescheid gesagt zu haben. Ich gab mir alle Mühe, ihn zu entschuldigen. Aber Monsieur Thorpe schien die Nachlässigkeit meines Vaters nicht einmal bemerkt zu haben. Er beugte sich der Tatsache dieser Abreise wie dem Schicksal, ohne im Geringsten nachtragend zu sein, ja, er fand sogar genauso viele Gründe, sich für mich zu interessieren, wie wenn mein Vater weiterhin in enger Beziehung zu ihm gestanden hätte. In diesem Akzeptieren lag etwas unendlich Berührendes. Monsieur Thorpe war nicht einmal verdrossen. Er schien in einer Traumwelt zu leben. Eine echte Freude war auf seinem Gesicht zu lesen, nämlich die, den Sohn desselben Freundes, der ihn aufgegeben hatte, wiedergefunden zu haben.

Ich gab Monsieur Thorpe schließlich zu verstehen, dass ich zurückmusste. Er hielt mich nicht einen Moment lang auf, und ich begriff, dass er wohl immer so war. Hätte er nach mehreren Jahren einen Freund wiedergesehen, der schon nach wenigen Gesprächsminuten den Wunsch geäußert hätte, sich wieder zu entfernen, er hätte ihn, da bin ich mir sicher, nicht weiter zurückzuhalten versucht. Dafür musste ich ihm versprechen, am darauffolgenden Samstag zu ihm zum Tee zu kommen. Danach trennte er sich von mir mit einem respektvollen Gebaren, das er auch für jemanden seines Alters aufgebracht hätte. Später bemerkte ich, dass er den sozialen Rang seiner Gesprächspartner in der Tat ignorierte, dass er zu jedem mit der gleichen Achtung sprach, dass er sich seine Freunde nicht aussuchte, dass es genügte, sich ihm unter irgendeinem Vorwand zu nähern, damit er sich in Freundlichkeiten erging. Aber im ersten Moment machte mich diese Höflichkeit so stutzig, dass ich, als ich mich erst einmal von ihm entfernt hatte, nicht anders konnte, als mich nochmals nach ihm umzudrehen. Er hatte sich wieder hingesetzt, und das ließ ihn mir noch feinsinniger erscheinen. Er war vorher also meinetwegen stehen geblieben.

Freilich sollte ich hinzufügen, dass ich dieser ersten Begegnung keine allzu große Bedeutung beimaß. Sie hatte bei mir zu unerwarteten Überlegungen geführt sowie meinen Geist in Bewegung gebracht, und deshalb dachte ich noch etwa eine Stunde daran zurück; indes verspürte ich keine Neugierde, diesen sonderbaren Mann näher kennenzulernen. Der Besuch, den ich versprochen hatte, kam mir schon wie eine Bürde vor. Mit siebzehn denkt man wirklich nur an sich selbst. Als ich durch die Rues Basses heimging, ertappte ich mich dabei, wie ich ein Schaufenster betrachtete. Ich hatte Monsieur Thorpe bereits vergessen.

* * *

Trotzdem begab ich mich am Samstag nach Grange-Canal, einer geschlossenen Ortschaft anderthalb Kilometer vor Genf, wo Monsieur Thorpe eine bescheidene Villa gemietet hatte, die verloren in einem weitläufigen Garten lag. Eine Seite des Gartens verlief parallel zur Straße. Die Hecken verdeckten ihn zwar für die Passanten, nicht aber für die Trambahnbenutzer. Von der Plattform aus konnten sie tief in den Besitz hineinblicken, wenn die Trambahn, die im Sommer so viel Staub hinter sich ließ, dass die Schienen fast unverzüglich mit der Straße verschmolzen, vorbeifuhr. Ich war ein wenig verlegen wegen meines Besuchs, umso mehr, als ich unterschwellig spürte, dass mein Vater sich Monsieur Thorpe gegenüber nicht richtig verhalten hatte, und ich fürchtete mich in der Situation eines Menschen wiederzufinden, auf den das Vergehen seiner Angehörigen zurückfällt, obwohl er unschuldig ist – eine äußerst unangenehme Situation, wenn man jung ist und die Mitverantwortung als etwas Natürliches erscheint. Nachdem ich am Gitter geläutet hatte, öffnete mir ein junges Dienstmädchen und führte mich über die Hauptallee bis zur Villa, oder besser gesagt bis ans Haus. Es war alt und machte beim ersten Anblick den Eindruck, verlassen zu sein. Sämtliche Fenster waren geschlossen. Obwohl keine Vorhänge vor den Scheiben waren, ließ sich im Innern absolut nichts erkennen. Die Hausangestellte ließ mich nicht eintreten. Sie ging um das alte Anwesen herum, und ich befand mich auf einmal auf einer Art Terrasse, in deren Mitte sich aus einer ausgesparten Stelle im Zement heraus eine gewaltige Eiche erhob. Monsieur Thorpe saß in einem »Liegestuhl«, wie Madame Le Verrier gesagt hätte. Er las Zeitung in einer Weise, wie man den Himmel betrachtet, wenn man auf dem Rücken liegt. Als er mich sah, lächelte er und warf seine Zeitung fort, die auf dem Boden allein so viel Platz einnahm wie der Tisch, aber er stand nicht auf. Sein Verhalten war ganz anders als im Arianapark, und das verblüffte mich. Ich verstand nicht, wie man sich innerhalb weniger Tage so ändern konnte. Ich ging jedoch auf ihn zu, um die Hand zu nehmen, die er mir, ohne sich auch nur aufzurichten, hinhielt. Doch kaum war ich an seiner Seite, da erhob er sich sofort.

»Oh, bitte verzeihen Sie«, sagte er dann gleich, »ich bin dermaßen kurzsichtig, dass ich meine Freunde nie wiedererkenne. Es ist wirklich nett von Ihnen, dass Sie mich besuchen. Ich wusste genau, dass Sie eines Tages einmal nach Grange-Canal hinauskommen würden.«

»Hatten Sie mich denn heute nicht erwartet?«, fragte ich überrascht.

»Nein«, antwortete er mit weit aufgerissenen Augen.

»Aber Sie hatten mich für heute, Samstag, zum Tee eingeladen. Störe ich Sie vielleicht?«

»Sie? Mich stören? Überhaupt nicht. Es ist für mich ein wahres Vergnügen, den Sohn eines großen Freundes – und das ist Ihr Vater ja – näher kennenzulernen.«

Das alles kam mir recht seltsam vor. Ich bereute es jetzt, gekommen zu sein. »Wenn ich das gewusst hätte«, dachte ich, »wäre ich nicht gekommen. Das ist ja lächerlich. Das passiert natürlich nur wieder mir. Ich hätte begreifen müssen, dass er bloß an dem Tag unserer Zusammenkunft liebenswürdig gewesen war.«

»Sie werden gleich Ihren Tee bekommen«, fuhr Monsieur Thorpe fort, »meine Tochter ist gerade hineingegangen, um ihn aufzusetzen.«

Bei diesen Worten hatte ich, ich weiß nicht, wieso, den Eindruck, dass das Dienstmädchen, das mich zu ihm hingeführt hatte, seine Tochter gewesen sein könnte, und dass er sich deshalb nicht gleich erhoben hatte, weil ich ihr überhaupt keine Beachtung geschenkt hatte; bestimmt war dieser sonderbare Empfang eine Vergeltungsmaßnahme gewesen. Ich war ganz durcheinander. Trotzdem geriet etwas in mir in Bewegung. Ich ertappte mich dabei, wie ich schnell redete, wie ich mich selbst dafür entschuldigte, mit dem brennenden Wunsch zu gefallen gekommen zu sein und nicht mehr, wie zuvor, aus purer Höflichkeit. Es fiel mir ein, wie ich manchmal an der Sekundarschule vorbeiging, gerade wenn die Mädchen herauskamen. Vermutlich hatte ich eins von ihnen kennenlernen wollen. Allerdings hatte ich von meiner Hoffnung nichts erkennen lassen.

»Da ist sie ja«, gab Monsieur Thorpe stolz von sich, so als ob er mir lang und breit von ihrer Schönheit erzählt hätte und es nun schon keiner Worte mehr bedurft hätte, mich zu überzeugen.

Tatsächlich trat ein junges Mädchen zu uns. Es war nicht besonders hübsch und hatte im Gesicht sogar Sommersprossen, welche aber glücklicherweise sehr blass und sehr klein waren. Ihre Wimpern waren blond und ihre Augen leuchtend blau wie die ihres Vaters. Sowie sie mich bemerkte, starrte sie mich verwundert an, um dann, nachdem man sich gegenseitig vorgestellt hatte, ihren Vater gleich zu fragen, ob sie den Tee bringen solle; dabei sah sie ihn mit festem Blick an, den Kopf starr geradeaus gerichtet, so als ob ich überhaupt nicht da gewesen wäre.

»Aber ja, Edith, bringen Sie den Tee, oder vielmehr: Sagen Sie Mary, dass sie ihn bringen soll. Das Mädchen muss das Bedienen lernen.«

Während Edith sich entfernte, betrachtete ich Monsieur Thorpe. Er erschien so verändert, dass ich nur mit Mühe glauben konnte, dass es sich um denselben Mann handelte. Er war nervös. Von Zeit zu Zeit warf er mir einen Blick zu, und wenn ich ihn dabei überraschte, setzte er ein Lächeln auf, als ob dieser Blick wohlwollend gemeint gewesen wäre. Ich hatte den Eindruck, unerwartet gekommen zu sein, und trotzdem, jedes Mal, wenn ich den Wunsch äußerte, aufzubrechen, hielt er mich zurück; seltsamerweise, ohne mir zu versichern, dass ich ihn nicht störte, sondern allein mit Sätzen wie diesen: »Nein, bleiben Sie. Sie können ohne weiteres bleiben. Wenn Sie so aufbrechen, tun Sie mir weh. Trinken Sie zunächst Ihren Tee. Danach können Sie ja entscheiden.«

Als seine Tochter zurückkam, betrachtete ich sie und versuchte, den Grund für die Nervosität ihres Vaters auf einem Gesicht auszumachen, das mir weniger gewandt in der Kunst der Verstellung zu sein schien.

Sie setzte sich und hörte dem Gespräch zu, das Monsieur Thorpe und ich über das Reisen begonnen hatten.

»Ich weiß nicht, ob Sie viel gereist sind«, sagte der alte Engländer zu mir, »aber seit meiner frühesten Kindheit habe ich nur davon geträumt, durch die Welt zu reisen. Wo sind Sie geboren, Edith?«

»In Bombay«, antwortete sie wie eine Komplizin, das heißt: sofort, obwohl die Frage doch unerwartet gekommen war.

»Wir haben sechs Jahre in Indien gelebt«, fuhr Monsieur Thorpe fort, »dann sind wir nach Europa zurückgekehrt. Kaum hatten wir dort unseren Wohnsitz aufgeschlagen, da sind wir schon nach … wohin, Edith, sind wir noch gleich aufgebrochen?«

»Nach Kairo.«

»Nach Kairo. Wie gut doch Ihr Gedächtnis ist, Edith! Sie vergessen nicht, was Sie alles mit Ihrem Vater erlebt haben. Sie lieben ihn, nicht wahr?«

Sie senkte den Kopf. Monsieur Thorpe sah mich an. Da spürte ich auf einmal, dass dieser Mann sein Kind abgöttisch lieben musste. Alles wurde jetzt klarer. Seine so merkwürdige Haltung mir gegenüber wurde verständlich. Dieser gute Vater fürchtete, dass ich seiner Tochter gefallen könnte. Im Arianapark, unter dem Eindruck der Überraschung, hatte er nicht an die Blicke gedacht, die ich später mit seinem Kind wechseln könnte. Sicherlich war er auf jeden Mann eifersüchtig, der sich ihr näherte. Der bloße Gedanke, dass seine Tochter ihn eines Tages verlassen könnte, verdüsterte seine Stimmung. Man ahnte an der Art, wie er sie mit seinen Blicken verschlang, dass sie sein Lebensgrund war, dass er ohne sie allein gewesen wäre auf der Welt. Jedes Mal, wenn sie etwas sagte, unterbrach er sich mitten im Satz, um ihr zuzuhören. Und sie, an derlei gewöhnt, sprach weiter, ohne dass ihr der Gedanke gekommen wäre, sich für die Art und Weise, wie sie ihren Vater unterbrochen hatte, zu entschuldigen. Doch wenn Monsieur Thorpes Liebe mir jetzt auch augenfällig geworden war, so zeigte sich die ihre hingegen kaum. Ich durchschaute nur unzureichend ihren Charakter. Sie zog zeitweise einen frechen Schmollmund, zeigte einen Ausdruck der Überheblichkeit. Statt ihren Vater bedingungslos zu lieben, hatte man den Eindruck, dass sie ein klares Urteil über ihn hatte. Das überraschte mich nun doch, denn es ist sehr selten, dass sich bei Kindern, die immer mit ihren Eltern zusammengelebt haben und die keinerlei äußerlichem Einfluss unterworfen waren, ein solcher Scharfblick entwickelt. Fast hätte man meinen können, dass der Vater das Kind war. Er war es, der um Zärtlichkeiten bettelte, er war es, der seine Tochter belauerte, während sie wie eine Erwachsene von derlei Kindereien gelangweilt und mit weit wichtigeren Fragen beschäftigt zu sein schien.

»Edith, wie kommt es, dass Mary den Tee nicht bringt? Was ist da wohl los?«

»Was weiß denn ich?«, gab das junge Mädchen trocken zurück.

Innerhalb einer Sekunde verdüsterte sich Monsieur Thorpes Gesicht. Dennoch fügte er sanftmütig hinzu: »Aber weil Sie doch gerade aus dem Haus kommen …«

Edith blieb stumm. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte sie mir nicht einen einzigen Blick geschenkt. Sie wandte den Kopf, unsere Blicke trafen sich. Ich war verblüfft von der Härte ihres Gesichtsausdrucks. Wäre ich ein Ungeheuer gewesen – sie hätte nicht angewiderter aussehen können. Ich spürte, dass ich ihr zutiefst unsympathisch war. Und dies verletzte mich umso mehr, als ich bis dahin alles getan hatte, um ihr zu gefallen. Jedes Mal, wenn ich in dem Gespräch das Gefühl hatte, dass ein bestimmter Satz ihr Freude machen könnte, hatte ich ihn auch ausgesprochen. Obwohl sie mich nicht ein einziges Mal angesehen hatte, war ich immer in der Haltung eines Menschen verblieben, der Blicken ausgesetzt ist. Für einen Moment hatte ich den Eindruck, dass ihr das aufgefallen war und dass es genau das war, was ihr missfallen hatte.

Endlich brachte das Dienstmädchen den Tee. Monsieur Thorpe erhob sich. Ich beobachtete ihn. Genau da fiel sein Blick auf mich. Aber er lächelte nicht so wie zuvor, wenn sich unsere Blicke getroffen hatten. Er stellte das Tablett um, während seine Tochter zu schmollen schien.

»Edith«, sagte er, nachdem er in alle Tassen Zucker getan hatte, »Sie sollten eigentlich den Tee servieren.«

»Nein, ich serviere ihn nicht«, gab sie barsch zurück.

Ihr Vater schien nicht zu hören. Wenige Sekunden später dann brachte er ihr eine Tasse. Ohne ihm dafür zu danken, nahm sie sie entgegen. Daraufhin hellte sich das Gesicht Monsieur Thorpes auf, und ich merkte, dass er in dieser Geste so etwas wie eine Aussöhnung erkannt hatte, dass ihm durch die Bereitwilligkeit seiner Tochter ein Stein vom Herzen gefallen war.

Noch heute ist mir diese Szene im Gedächtnis. Ich sehe diese Terrasse wieder, sehe, wie in der Ferne, am Ende des Gartens, sich der Straßenstaub in der Luft verbreitet. Die Eiche, unter der wir saßen, war der bei weitem größte Baum in der Umgebung. Ich sehe auch nicht ohne Rührung die Gruppe vor mir, die wir drei, so winzig unter dem riesigen Baum, bildeten, und wie wir mit einer gewissen Zufriedenheit dem Staub zusahen, der sich auf das Gras legte, bevor er bis zu uns gelangen konnte.

* * *

Sechs Monate vergingen, ohne dass ich Monsieur Thorpe und seine Tochter wiedergesehen hätte. Wie ich später erfahren sollte, hatten sie Genf während der Ferien verlassen.

Ich für meinen Teil musste mich im Sommer auf zwei Prüfungen, bei denen ich durchgefallen war, vorbereiten, um sie bei Schulbeginn zu wiederholen. Dennoch dachte ich hin und wieder an diese Engländer, aber doch kaum mehr als an Leute, die man nie wiedersehen wird.

Als ich zu Winteranfang desselben Jahres gerade die Corraterie hinunterging, stieß ich erneut auf Monsieur Thorpe. Er war allein. Meine erste Regung war, auf ihn zuzugehen, doch dann überlegte ich es mir anders. Genau in dem Moment bemerkte er mich. Das war mir entsetzlich peinlich. »Bestimmt hat er gemerkt, dass ich ihm aus dem Weg gehen wollte«, dachte ich. Ich lächelte, so freundlich ich konnte.

»Guten Tag, junger Freund«, sagte er zu mir. »Es ist nicht nett von Ihnen, dass Sie mich so im Stich gelassen haben. Wir haben sehr oft Ihren Besuch erwartet. Aber so wie Schwester Anne im Blaubart-Märchen warteten wir vergebens. Und Ihr Herr Vater? Ist er noch immer in Menton? Sollten Sie ihn demnächst sehen, sagen Sie ihm doch, dass ich viel an ihn denke und dass ich vorhabe, ihn eines Tages zu besuchen.«

Die Tatsache, dass Monsieur Thorpe die Adresse meines Vaters keineswegs vergessen hatte, brachte mir meinen Schnitzer, den ich begangen zu haben glaubte, wieder ins Gedächtnis und versetzte mich in schlechte Laune.

»Ich glaube aber, dass er drauf und dran ist, Südfrankreich zu verlassen«, erwiderte ich.

»Wie schade! Dieses Fleckchen Erde ist doch so schön. Und wo will er hin?«

»Ich weiß es nicht.«

»Er macht einen Fehler. Ich versichere Ihnen, dass ich, wenn mich hier nicht so viele lächerliche Gewohnheiten davon abhielten, nicht zögern würde, es ihm nachzumachen und zu diesen ›berückenden Stätten‹ zu fliehen.« (Obwohl er unsere Sprache perfekt beherrschte, kannte Monsieur Thorpe gewisse Nuancen nicht, und so hatte er diese letzten Worte mit allem nur möglichen Ernst ausgesprochen.) »Die Schönheit der Landschaft verschönert auch das Leben. Was erzählt denn Ihr Vater in seinen Briefen darüber? Sicherlich duften sie nach Sonne und Blumen. Ihr Herr Vater liebte ja so sehr das helle Licht.«

Als am Theaterplatz eine Trambahn abfuhr, schob ich einen dringenden Einkauf vor, um mich von ihm losreißen zu können und auf die Plattform zu springen. Doch noch bevor die Bahn weitergefahren war, hörte ich Monsieur Thorpe rufen:

»Kommen Sie heute Abend … kommen Sie … ich erwarte Sie … nach dem Essen werden Freunde da sein … Sie müssen auf jeden Fall kommen … sonst bin ich Ihnen böse.«

Mir blieb nicht einmal die Zeit, nein zu sagen. Die Bahn war losgefahren, und der Schaffner stand wartend vor mir. Als ich mich kurz danach umdrehte, sah ich den alten Engländer, der noch an der Stelle stand, an der ich ihn stehengelassen hatte, und wie er mir von weitem nachwinkte. »Verstanden!«, rief ich mechanisch. Ich bemerkte die anderen Fahrgäste. Einige lächelten. Ich begriff, dass Monsieur Thorpe bereits damit begonnen hatte, mir nachzuwinken, als ich noch meine Fahrkarte löste. »Und heute Abend«, dachte ich, »wird er mir kaum die Hand geben.« Damals übertrieb ich alles. »Was für ein Ungeheuer!«, murmelte ich.

Wie ich es versprochen hatte, begab ich mich abends nach Grange-Canal. Vom See her wehte eine kalte Brise durch die Straßen. Letztes totes Laub tanzte weiter durch die Dunkelheit. Der Mond tauchte mehrmals in der Minute auf und verschwand wieder. Ich bereute es, dieser Einladung gefolgt zu sein. »Das ist unangenehm, aber da muss man eben durch«, sagte ich laut. Als ich an das Gitter der Villa gelangte, hatte ich einen ganz anderen Eindruck als erwartet. Ich hatte einen Garten im Frühling und einen sonnenüberfluteten Nachmittag in Erinnerung behalten, und jetzt befand ich mich vor einem Gitter, durch das hindurch ich deutlich ein viereckiges Haus bemerkte, das von zahllosen geschlossenen und lichtundurchlässigen Fensterläden übersät war. Ich weiß nicht, warum es auf mich einen Moment lang den Eindruck machte, als sei es von der Polizei oder von Soldaten umstellt. Ich zog an der Klingel. Die Hausangestellte öffnete mir und führte mich, ohne ein Wort zu verlieren, zum Wohnsitz ihres Herrn. Es war klar, dass sie über mein Kommen unterrichtet war, und ich konnte nicht umhin zu denken, dass sie mich, ohne sich weiter nach meiner Identität zu erkundigen, auch genauso hineingeführt hätte, wenn ich ein anderer, beispielsweise ein Dieb, gewesen wäre. Kaum eingetreten, ließ sie mich mit zur ersten Etage hinaufgehen, wo sie vor einer Tür stehen blieb. Ein Nachtlicht beleuchtete den Flur. Sie musterte mich von Kopf bis Fuß wie eine Mutter, die sicher sein will, dass ihr Kind präsentabel ist, und klopfte an die Tür. Niemand antwortete. Eine dumpfe Beklommenheit stieg in mir auf. Wie eine Frau, die sich zum ersten Mal zu einem Mann begibt, versuchte ich mich zu erinnern, ob die Eingangstür abgeschlossen worden war. Die Hausangestellte klopfte erneut. Fast sogleich ertönte die Stimme von Monsieur Thorpe: »Herein.« Er war allein in einem weiten, seltsam möblierten und von drei Petroleumlampen erhellten Raum. Immer wenn eine von ihnen zu räuchern begann, machte er mehrere Male hintereinander »tss«, erhob sich und justierte sie neu. Wenn dann alles wieder in Ordnung war, machte er erneut »tss« – wahrscheinlich hatte dieser Vorfall in ihm einen versteckten Tick wieder wachgerufen. Ein tiefer Frieden ging von den Dingen in seiner Umgebung aus. Kein Vorhang verdeckte die beiden Fenster, so dass man durch die Scheiben hindurch die Fensterläden erkennen konnte, die, da sie tagein, tagaus der Luft ausgesetzt waren, ganz angegriffen aussahen. So ohne Tüll hatten die Scheiben etwas Grobes an sich. Der Fußboden war nicht gebohnert. Teppiche bedeckten, wie Gemälde an einer Wand, das heißt mit dem größten in der Mitte, den halben Raum. Vor einer Wand stand ein Diwan, der von einer Reisedecke verhüllt war, die ihn ein wenig wie ein schweres Paket aussehen ließ. Ein Wandschirm verbarg die Ecke des Zimmers, in der Monsieur Thorpe wohl seine Toilette machte. In der Tat konnte man an der Seitenwand einen Spiegel herausragen sehen. Doch das Überraschende waren die ganz mit Krakelee übersäten Chinavasen, die Kunstgegenstände, die an den Wänden befestigten Dreieckstücher, die kleinen Lackmöbel, die diesem heruntergekommenen Interieur eine luxuriöse Note gaben. Das Ganze war eine Mischung aus Campingplatz, Empfangszimmer und Künstleratelier. Wegen der Kälte lebte Monsieur Thorpe sicherlich einzig und allein in diesem Raum, in dem zwar keine Holzscheite, dafür aber im Garten aufgesammelte Zweige brannten.

»Wie nett von Ihnen, dass Sie gekommen sind«, sagte er sogleich zu mir und kam auf mich zu. »Ist es Ihnen hier drin auch warm genug? Soll ich mehr Feuer machen? Sie haben richtig daran getan, den Überzieher nicht im Erdgeschoss zu lassen. Dieses Haus gleicht einem Eisschrank … Schauen Sie, das Wasser rinnt die Wände herunter. Kommen Sie, kommen Sie … fassen Sie mal diesen Stoff an. Er ist ganz feucht. Furchtbar ist das. Deshalb schließe ich mich, sobald der Winter beginnt, hier ein und rühre mich nicht mehr von der Stelle. Nur in diesem Zimmer kann man sich zu Hause fühlen.«

»Und Edith?«, dachte ich bei mir.