Kapitel 2


Der Montag war windig und wolkenverhangen. Es hätte nur noch ein Gewitter gefehlt, um die Flugbedingungen noch weiter zu verschlechtern. Tarja durchquerte den Stützpunkt und steuerte den Flugplatz an. Die Hände in den Taschen, den Fliegerhelm auf dem Kopf und ein Kaugummi mit sogenanntem Mango-Geschmack im Mund, das mehr nach Zucker schmeckte, versuchte sie, seit sie losgelaufen war, mit verschiedenen Methoden ihre Aufregung in den Griff zu bekommen.

Es stand doch nur eine Übung an! Ein kleines Kräftemessen vielleicht, aber ansonsten bloß ein Manöver, das am Mittag wieder vorbei sein würde. Wie konnte man da aufgeregt sein? Tatsächlich aber war sie es. Und das ließ sich momentan leider ebenso wenig leugnen wie wegrationalisieren. Tarja knackte mit den Fingergelenken und produzierte eine misslungene Kaugummiblase.

Am Maschendrahtzaun vor dem Flugplatz standen sie bereits aufgereiht: die Schüler der Flotte in ihren dunkelblauen Uniformen. Ihre Helme zeigten unmissverständlich, dass heute ein wichtiger Tag bevorstand. Still und aufmerksam lauschten sie den Worten des Ausbilders Koroljov.

Tarja musste schlucken. Höchstwahrscheinlich war jeder längst angetreten, außer …

 

»Tarja Dragunova!«

Tarja erstarrte zu Eis, als der bullige Koroljov zu ihr herumfuhr. Jetzt hagelte es Ärger! Sie war darauf vorbereitet gewesen, hoffte aber trotzdem, dass die Standpauke so kurz wie möglich sein würde.

Wie üblich trug Koroljov seine ausgeblichene und für sein kräftiges Haupt viel zu enge Schirmmütze, mit der er vermutlich schon auf die Welt gekommen war. Entweder besaß Koroljov trotz seiner fast 50 Jahre ein bemerkenswert feines Gehör, oder die an ihm vorbeischielenden Blicke der Schüler hatten ihn auf Tarjas Ankunft aufmerksam gemacht. Tarja salutierte und hoffte, durch ihre perfekte Haltung einen Teil seines Ärgers abzuwenden.

Koroljov stapfte auf sie zu. Tarja brach der Schweiß aus. Drei verdammte Minuten, und schon drehte er am Rad! Dabei hatte sie es einfach nicht lassen können, als morgendliches Nervenfutter an einem solchen Tag ihren Lieblingssong zu hören, und dafür hatte sie das zu späte Erscheinen eben kühn riskiert.

Koroljov hielt unmittelbar vor der unpünktlichen Schülerin und baute sich drohend vor ihr auf. Seine durchgestreckte Haltung änderte nichts an seiner Körpergröße von 1,70 Meter, aber sie demonstrierte überdeutlich, dass er wütend auf Tarja war. Auch seine Mimik sprach Bände: Seine buschigen Augenbrauen waren eng zusammengezogen, und der zornig verkniffene Mund bog den schwarzen Schnauzer zu einem fast perfekten Halbkreis nach unten. Kleine Augen funkelten Tarja stechend an und verlangten nach einer unverzüglichen Rechtfertigung.

Tarja hielt seinem wütenden Blick tapfer stand. Nicht rot werden, befahl sie sich, bloß nicht rot werden, und spulte ihre zurechtgelegte Ausrede ab.

»Einen schönen guten Morgen, Herr Ausbilder Koroljov! Mir ist bewusst, dass es für mein Zuspätkommen an diesem wichtigen Tag keine Entschuldigung gibt. Dennoch bitte ich Sie, sich den Grund für meine kaum verzeihliche Verfehlung anzuhören.«

Kaum hatte sie den Satz vollendet, schlich ein verhaltenes Kichern durch die Reihen. Tarja war in der Flotte bekannt für ihre extravaganten Ausreden. Da sich jeder der restlichen 31 Schüler mindestens ansatzweise denken konnte, dass lediglich ein Bruchteil von Tarjas Geschichten stimmte, war Koroljovs gutartige Leichtgläubigkeit allen ein Rätsel. Dennoch war Tarja unsicher, ob die anderen Schüler eher mit ihr oder über sie lachten.

»Meine Zimmergenossin Yuri Tereschkova hat die Angewohnheit, ihre 7.62er-Patronen auf unserer Fensterbank zu lagern. Ich will Yuri nicht anprangern, aber es ist schon ein Fakt, dass die Patronen dort regelmäßig herunterrollen und sich im Zimmer verteilen. Daher habe ich Yuri gestern zum wiederholten Mal gebeten, sich endlich einen neuen Aufbewahrungsort für ihre wertvolle Munition zu suchen. Mein energischer Ton zeigte wohl Wirkung – jedoch musste ich vor wenigen Minuten feststellen, dass mein Fliegerhelm fehlte.«

Sie holte Luft, um Koroljovs Reaktion zu beobachten. Die Zeichen standen auf Grün, denn seine Augenbrauen kehrten langsam in ihre Ausgangsposition zurück.

»Nun denn«, sagte er, um strengen Ton bemüht. »Wo haben Sie Ihren Fliegerhelm gefunden?«

»Nach drei Minuten unter Yuris Bett. Hätte Yuri nicht vor mir die Baracke verlassen, hätte ich sie darauf hingewiesen, dass mein Helm als Munitionsdepot noch ungeeigneter ist als eine unebene Fensterbank. Das werde ich heute Abend nachholen.«

Koroljov nickte ernst. »Dann richten Sie Yuri Tereschkova von mir aus, sie könne sich ja selbst zu den Fliegern melden, wenn sie unbedingt einen Helm braucht, um ihren Kleinkram aufzubewahren. Würde sie unsere Maschinen nicht warten, sondern fliegen, würde sie die Heiligkeit eines solchen Helms besser zu schätzen wissen! Und zu derartigen Späßen nicht mehr aufgelegt sein.«

Koroljov drehte sich harsch um und ließ mit seinem Blick das Kichern in den Reihen ersterben. »Auf Ihren Posten, Dragunova! Ich kann nicht leugnen, dass Sie zu den Besten dieses Jahrgangs zählen. Deshalb werde ich meine Ansprache ausnahmsweise wiederholen.«

Tarja tat wie geheißen. Sie reihte sich ans rechte Ende der Aufstellung ein. Verzeih mir, Yuri, bat die Stimme ihres schlechten Gewissens. Zwar stimmte die Helm-Geschichte, hatte sich aber vor mehr als drei Wochen ereignet und ihr auch keine Verspätung eingehandelt. Tarja hatte das Ereignis ihrem Inventar für unverbrauchte Ausreden hinzugefügt, das noch nie zur Neige gegangen war.

Koroljov hob die Stimme. Da würde es wohl wieder eine seiner berüchtigten Reden geben, aber da der heutige Anlass wichtig war, spitzte ausnahmsweise sogar sie die Ohren.

»Schüler der Fliegerflotte 13, hört mir gut zu! Heute ist der entscheidende Tag in eurer bisherigen Ausbildung. Dieses Datum werdet ihr nicht vergessen. Die einen unter euch werden den 31. August 2071 als Tag in Erinnerung behalten, den sie lieber aus ihrem Gedächtnis verbannen möchten; die anderen werden mit Freude und Stolz auf ihn zurückblicken.«

Koroljov ließ seinen Blick prüfend durch die Aufstellung gleiten. Er versuchte vorab, von den Gesichtern abzulesen, wer sich für einen Vertreter welcher Gruppe hielt. Wer war Einzelkämpfer, wer hatte Teamgeist? Tarja schaute mit ernster Miene zurück.

»Einige von euch haben wohl gedacht, dass dieses Manöver wie jedes wöchentliche ablaufen wird.« Die Arme hinter dem Rücken verschränkt, begann Koroljov, entlang der Reihe auf und ab zu gehen. »Jeder, das das glaubt, wird gleich eines Besseren belehrt werden! Viele werden sich jetzt fürchten. Doch seid gewiss, dass der Ernst der Realität, die jederzeit, und ich betone, jederzeit über uns hereinbrechen kann, selbst das härteste Manöver in den Schatten stellt. Habt ihr das verstanden?«

»Verstanden, Herr Ausbilder«, sagte die Gruppe im Chor. Doch der Antwort fehlte es an Elan. Tarja vermutete, dass Koroljov bereits an diesem Punkt seiner Rede gewesen war.

Die Augen des Ausbilders wurden schmal. »Ich habe euch gefragt, ob ihr das verstanden habt!«

»VERSTANDEN, HERR AUSBILDER!«

»Gut …« Koroljovs Blick schwenkte zum großen Materialschuppen. »Bevor ich die Ausrüstung verteile, stelle ich euch nacheinander eine Frage. Ihr werdet nicht nachhaken, sondern einfach antworten!«

Er zog ein Plastikklemmbrett hervor. »Ich notiere eure Antworten. Sie haben keinen Einfluss auf eure Bewertung. Doch eure Wahl könnte den Ausgang heute Abend beeinflussen.«

Ein Raunen ging durch die Reihen – hauptsächlich, weil niemand damit gerechnet hatte, dass sich das Manöver bis in die Abendstunden ziehen würde. Das hieß: kein Mittagessen in der Kantine.

»Scht!« Koroljovs scharfer Laut brachte die Runde zum Schweigen. Seine Wangen nahmen feurige Röte an. »Was bringt man euch hier bei?! Tuscheln wie die Schulmädchen? Zeigt mir eure Disziplin und haltet den Mund, während ich rede!«

Andrei Popowitsch Koroljov, der für sein hitziges Temperament bekannt war, wirkte auf Tarja anders als sonst. Noch barscher und lauter. Er machte geradezu einen nervösen Eindruck.

Ob für ihn irgendwas auf dem Spiel steht?

Zielgerecht visierten Koroljovs Augen den alphabetisch Erstplatzierten an, Jegor Antonov.

»Antonov! Wie möchten Sie das Manöver bestreiten? Allein? Oder im Team?«

Antonov brauchte einen Moment, um seine Antwort zu geben. »Im Team.«

Jegor Antonov war ein netter Kerl. Er stach in der Fliegerflotte durch seine Bescheidenheit und Sorgfalt hervor, die auch von Vorgesetzten gelobt wurde. Wenn sicher wäre, dass ich mit Jegor in einer Gruppe bin, wäre ich vielleicht bereit, im Team anzutreten. Doch ich weiß weder, wie groß die Gruppen sind, noch, wie sie zusammengesetzt werden. Es ist im Zweifelsfall sicherer, allein zu sein.

Die nächsten zwei wollten ebenfalls im Team antreten. Koroljov kam nun zu Tarja, und sein Gesicht verriet wenig Überraschung, als sie kundgab: »Einzeln.«

Er nickte und setzte sein Kreuzchen.

Die meisten entschieden anders und suchten die Sicherheit in der Gruppe. Nur selten setzte sich der Wunsch nach Unabhängigkeit durch.

Tarja spitzte die Ohren, als der Name Artjom Koslovski fiel. Unwillkürlich verengten sich ihre Augen zu Schlitzen.

Artjom! Wenn es jemanden gab, den sie wirklich nicht leiden konnte, dann war er es. Koslovski konnte nichts als prahlen und nerven. Trotzdem stellte er sich sehr geschickt darin an, naivere Kameraden in seinen Bann zu ziehen, in deren Bewunderung er sich sonnen konnte.

Aber leider musste Tarja zugeben, dass Artjom in der Tat zu den besten Schülern zählte. Es gab Tage, an denen sie sich regelrecht vor seiner Konkurrenz als Flieger fürchtete.

»Bitte im Team, Herr Ausbilder«, verkündete Koslovski, der darauf konditioniert war, auch die banalsten Dinge voller Überheblichkeit zu sagen. Tarja riss sich zusammen, um nicht auffällig die Augen zu verdrehen.

Gregor Kuzmin wurde aufgerufen. Tarja grinste herablassend in sich hinein, als er, wie vorausgesehen, »Team« antwortete.

Gegen Ende kam der 20-jährige Eldar Sokolov dran. Einzeln, dachte Tarja, und »Einzeln«, sagte Sokolovs kühle Stimme. Die Frage war bei Eldar überflüssig gewesen.

 

Die hohen Wände des Materialschuppens waren mit Regalen und Spinden zugestellt.

»Im Team: 22 Leute. Allein: 10«, tat Koroljov kund. »Die Team-Kandidaten dahin – die Einzelkämpfer nach dort.«

Man gruppierte sich wie angewiesen. Koroljov zog aus seiner Hosentasche ein Skat-Spiel und verteilte die Karten verdeckt. »Da man aus 22 Leuten nicht nur Viererteams bilden kann, wird es zwei Gruppen von drei Personen geben. Der Zufall entscheidet, wer mit wem zusammenkommt.«

Die Schüler ließen es sich kaum anmerken, doch Tarja spürte, dass die meisten mit dieser Regelung unzufrieden waren. Nicht zu Unrecht, wie sich herausstellte: Viele Gruppen wurden eher suboptimal gebildet.

Anschließend ging es ans Verteilen der Ausrüstung: ausgeschlachtete Modelle der AK-74 mit modifiziertem Innenleben. Die Waffen verschossen Übungsmunition mit zwei Dutzend Metern effektiver Reichweite. Die Kapseln platzten beim Aufprall und verspritzten eine blutrote Flüssigkeit.

Jeder erhielt zwei Magazine, eine Schutzbrille und eine großzügige Ration Schokolade.

»Die Feldflaschen füllt ihr euch dort hinten am Hahn auf. Seid sparsam mit eurem Wasser, ihr werdet es bis zum Abend nicht nachfüllen können. Und achtet auf die Helmpflicht. Sonst schlägt unter Umständen die natürliche Auslese zu.«

Tarja grinste.

»Ihr ahnt wohl, dass es heute keinen simulierten Luftkampf gibt.« Damit bestätigte Koroljov die allgemeine Vermutung. »Wir werden uns stattdessen ins Sperrgebiet begeben. Im Großen Vaterländischen Krieg stand dort eine Kaserne. Für heute stellt diese Ruine einen feindlichen Stützpunkt dar.«

Ins Sperrgebiet? Tarja staunte.

»Euch stehen folgende Informationen zur Verfügung: Ein gekapertes Transportflugzeug vom Typ Antonov An-24 soll hochgefährliches, feindliches Waffenmaterial befördern. Abends wird die Maschine den feindlichen Stützpunkt überqueren. Davor werden die Amis Flieger hochschicken, um der Antonov Begleitschutz zu liefern. Das müsst ihr verhindern! Ihr steigt stattdessen in die amerikanischen Flugzeuge und vernichtet die Antonov.

Infiltriert den Stützpunkt und schaltet die Piloten aus. Nicht jeder von euch wird die Möglichkeit bekommen, in die feindlichen Flieger zu steigen. Kämpft euch zum geheimen Zielort durch – wer zuerst kommt, mahlt zuerst. Der Gesamterfolg dieser Mission hängt von dem Können derjenigen ab, die als erste durchkommen!«

Schon als Koroljov den letzten Satz zu Ende gesprochen hatte, wusste Tarja, dass die Botschaft eine Sache der Auslegung war. Die Schwierigkeit dieser Prüfung bestand unter anderem darin, die erhaltenen Informationen zu interpretieren. Tarja ahnte, dass es nicht auf das hinauslaufen würde, was sich Koroljov als Idealergebnis wünschte.

»Nun zu den Regeln. Die Regeln sind leicht: Bei zwei Schüssen an Armen oder Beinen scheidet ihr aus. Wird eurer Kopf oder Rumpf getroffen, genügt ein Schuss. Die Helme schützen euch nur im Sinne der Übung. Wenn ihr die Uniform des Feindes tragen wollt, tragt sie über eurer eigenen. Wir müssen am Ende feststellen können, dass niemand geschummelt hat.«

Prüfend sah er sich um. »Alles soweit verstanden?«

»Was ist das für ein ›geheimer Ort‹, zu dem wir finden müssen?«, fragte jemand.

»Das ist der Vorraum zum Flugplatz. Ihr müsst erst an einigen Amis vorbei, um ihn zu erreichen.«

»Können sich die Gruppen auflösen und neu zusammenfinden?«, wollte ein anderer Schüler wissen.

»Nein«, bellte Koroljov streng. »Geht davon aus, dass ihr mit eurer Gruppe ein eingeschworenes Team bildet und euch ansonsten nicht kennt. Kommunizieren dürft ihr untereinander.« Er ließ eine bedeutungsschwere Pause. »Ist nun alles klar, seid ihr bereit?!«

»Ja, Herr Ausbilder!«, brüllten alle.

 

Koroljov führte seine Schüler ans nördlichste Ende des Stützpunkts, das durch einen umgestürzten Stacheldrahtzaun markiert wurde. Tarja war noch nie hier gewesen und war gespannt, was draußen auf sie wartete.

Routiniert umging Koroljov den Zaun und gab auf einem Trampelpfad den Weg vor. Sie stapften ein Stück durch einen dichten Tannenwald. Hinter einer Lichtung erreichten sie das Sperrgebiet, das Tarjas Erwartungen überstieg: Die verwilderte Wiese war riesig, und riesig war auch der Gebäudekomplex, der sich auf ihr erhob. Er hatte drei Stockwerke und, soweit sie sehen konnte, zwei Flügel. Links erhob sich drohend ein schwarzer Wachturm.

Die Architektur des Komplexes ähnelte in nichts der sowjetischen Bauart, in der die Kasernen der Basis errichtet waren. Das Mauerwerk war dunkelbraun und unverputzt. Die Fenster waren kleiner und ließen das Innere dunkel und abgeschottet wirken. Ihre Scheiben waren rissig und zersplittert, die Mauern löchrig und das Dach teilweise eingestürzt.

Uralte Kriegswunden einer anderen Zeit. Tarja erschauderte.

Das Gelände wurde umrahmt von dichtem Nadelwald, der sich laut der Landkarte, die Tarja im Kopf hatte, kilometerweit in nördlicher Richtung erstreckte.

»Nehmt die Übung so wichtig, als ginge es um euer Leben«, riss Koroljov sie in die Gegenwart zurück. »Wer ihr nicht mit ausreichendem Ernst begegnet, fliegt raus.«

Sein Arm schnellte in die Höhe. »Die Mission beginnt.«

Koroljovs Signal versetzte Tarja den finalen Adrenalinstoß. Gruppen und Einzelkämpfer verteilten sich um das Gebäude. Tarja sprintete los und warf sich im Schutz der hohen Gräser auf den trockenen Boden. Sie fummelte die Schokolade aus ihrer Gürteltasche und biss knackend ein Stückchen ab. Erst mal Energie sammeln und nichts überstürzen.

Viele Schüler waren schon nicht mehr zu entdecken. Einige Gruppen hatten sich sofort dem Gebäude angenähert, was Tarja leichtsinnig vorkam: Die Informationen über den Feind waren extrem unvollständig. Man wusste weder über dessen Anzahl, Bewaffnung noch Organisationsweise Bescheid. Hinzu gesellte sich, dass die Mission unrealistisch war – doch über diesen Punkt konnte man großzügig hinwegsehen, da die Bewertung nicht davon abhing.

Eine Viertelstunde war um, als die ersten Schüsse fielen. Sie hallten geisterhaft durchs Gemäuer und ließen Tarjas Alarmbereitschaft wieder steigen. Als das Feuer kurz darauf verebbte, ahnte sie, dass es bereits erste Verluste unter den Schülern gegeben hatte.

Eine Stunde verstrich. Wiederholt beobachtete Tarja, wie Schüler versuchten, durch die Seitenflügel ins Gebäude einzudringen. Allmählich mussten sich die Feinde gegen Angriffe von dieser Seite gerüstet haben, dachte sie.

Ihr eigener Plan nahm langsam Form an. Die Schiedsrichter, die die Feinde mimten, rechneten vermutlich mit den verschiedensten möglichen Strategien der Prüflinge, sich Zutritt zu verschaffen: mit einem Einstieg über das Dach, einem Angriff über die Rückseite oder auch über die Seitenflügel. Doch ob schon ein Schüler versucht hatte, den Haupteingang zu nehmen?

Um sich nicht wie ein Reh auf freier Flur zu nähern, pirschte sie sich am Waldrand entlang. In minutenlanger Kleinarbeit arbeitete sie sich kriechend zum Gebäude vor. Wenn die Gegner Infrarotsicht hatten, wäre sie am Arsch. Doch damit, dass die Prüfer die Bedingungen derart erschwerten, war kaum zu rechnen.

Ein letzter Ausfallschritt, und sie stand vor der Haupttür. Doch bevor sie die Tür aufdrücken konnte, registrierte sie eine Bewegung über sich.

Die Salve verfehlte sie um Sekundenbruchteile. Ein oliv gekleideter Schütze war an der Gebäudemauer aufgetaucht. Tarja wusste, dass sie keine zweite Chance bekommen würde. Sie stemmte die Tür auf und stürzte sich hinein.

In Windeseile versuchte sie sich zu orientieren. Sie sah sich im Eingangsbereich um – und entschied sich für die Kelleretage.

Sie schlich die steinernen Stufen hinab und zog die Tür hinter sich zu. Sofort fand sie sich in vollkommener Dunkelheit wieder.

Die Orientierungslosigkeit dauerte Sekunden, die ihr wie Minuten erschienen. Modriger Geruch verursachte ihr Unwohlsein. Ihre Hände trafen auf feuchten Stein. Wo führte der Gang entlang?

Glücklicherweise hatte sie an ihre Taschenlampe gedacht. Im gelblichen Lichtkegel inspizierte sie ihre nähere Umgebung: Vor ihr lag ein enger, moosiger Gang. Alte Farbe blätterte von den Wänden. Ihre Sichtweite lag unter zehn Metern. Die Angst vor Verfolgern saß Tarja wie ein Dolch im Nacken. Als kleines Kind hatte sie große Angst im Dunkeln gehabt. Angst, für die dieser unberechenbare, verrottende Ort der ideale Nährboden gewesen wäre. Zum Glück lagen solche Tage weit zurück.

Wenige Meter vor ihr teilte sich der Gang. Tarja hielt wie versteinert inne: Von vorn näherten sich Stimmen.

Das Licht einer Taschenlampe tanzte von rechts durch den Gang. Tarja presste sich an die feuchte Wand und schaltete ihre Lampe aus.

Scheiße. Die Chancen standen 50:50, dass die Leute in ihren Gang bogen. Flach atmend überschlug sie, wie sie die Situation meistern konnte.

Doch sie hatte Glück: Die Stimmen ließen sich Schülern zuordnen. Als sie nicht in den Gang traten, in dem sie stand, atmete Tarja erleichtert auf. Vermutlich hätte sie ihre Kameraden derart zu Tode erschreckt, dass sie aus Versehen geschossen hätten.

Der Keller brachte, abgesehen davon, dass er sich unterhalb des gesamten Komplexes erstreckte, keine Erkenntnisse. Der geheime Raum musste sich an einem anderen Ort befinden. Nach sorgfältigem Abwägen und Lauschen entschied sich Tarja, im Erdgeschoss weiterzumachen.

 

Kaum angekommen, vernahm sie Schritte. Tuschelnde Stimmen unterhielten sich auf … Amerikanisch? Tarja staunte nicht schlecht: Die Darsteller scheuten keinen Aufwand, den imperialistischen Feind zu mimen. Das warf natürlich die Frage auf, wie hoch der Stellenwert der Mission tatsächlich war.

Was hing alles davon ab? Wieso war sie erst letzte Woche bekanntgegeben worden? Normalerweise erfuhr man von Manövern, gerade denen, die gleichzeitig Prüfungen waren, mindestens drei Monate im Voraus. Wie auch immer – Tarja blieb nichts anderes übrig, als ihr Bestes zu geben.

Sie verbarg sich hinter der Tür und hielt die AK im Anschlag. Sie atmete tief durch und fuhr lehrbuchgemäß herum.

Ein stabiler Stand, sicheres Zielen und ein Fingerkrümmen – und die Sache war beendet. Tarja traf die Gegner in Kopf, Hals, Brust. Die Darsteller gingen, wie es ihre Rolle verlangte, mit erstickten Schreien zu Boden.

Die rote Farbe befleckte lebensecht die amerikanischen Parkas. Tarja schoss die Frage durch den Kopf, ob ihr das Töten auch im Ernstfall so leicht gefallen wäre.

Zwei amerikanische M4-Karabiner lagen in den erschlafften Händen. Tarja beschloss, dass ihr die AK-74 genügte. Auch die Munition ließ sie liegen, denn real unterschieden sich die Projektile im Kaliber.

Sie durchsuchte die Ausrüstung der Erschossenen, fand aber keinen Hinweis auf den speziellen Zielort.

 

In zwei Verstecken begegnete sie später Mitschülern und tauschte sich mit ihnen aus. Zahlreiche Feinde waren erschossen worden; doch niemand wusste, wo der Zielort lag. Noch blieb viel Zeit bis zum Abend, aber allmählich breitete sich Nervosität aus. Tarja verputzte den Rest ihrer Schokolade. Trotz ihrer Unruhe nahm sie sich fest vor, aus der Ungeduld heraus keine dummen Fehler zu begehen.

Aber um zum Ziel zu kommen, musste sie aktiver werden.

 

Seit einer halben Stunde hielt sie sich im Treppenbereich versteckt. Die Feinde patrouillierten wieder verstärkt. Nach ihren schweren Verlusten hatten sie sich neu geordnet und waren anscheinend fest entschlossen, die Eindringlinge endgültig zu eliminieren.

Das Warten zahlte sich aus. Ein Team aus zwei Amis lief ihr vor die Mündung. Tarja handelte automatisiert. Einen streckte sie mit einem Brusttreffer nieder. Sichtlich überrascht klappte der Darsteller pflichtschuldig zusammen. Der andere kassierte einen Schuss in den Oberschenkel und ließ schreiend seine Waffe fallen.

»Alert! Alert!«, gellte sein Ruf durch die Gänge.

Tarja blieb für ihren Plan nur ein winziges Zeitfenster. Sie sprintete aus ihrem Versteck und bedrohte den Feind mit der Waffe. »Wo ist der Raum, in dem sich eure Flieger treffen?«

Schreckgeweitete Augen starrten sie durch das Schutzbrillenglas an. Eine Antwort blieb aus. Tarja hatte ihre Geduld in der letzten Stunde aufgebraucht. Sie kratzte ihre Sprachkenntnisse zusammen und wiederholte die Frage auf Englisch.

Jetzt wurden die Augen des Feindes schmal. Er begann zu grinsen – er lachte ihr mitten ins Gesicht! »I'd rather die than tell you!«

Verzweifelt presste Tarja die Mündung an den behelmten Kopf des Amis.

»Where?!«, brüllte sie lauter als gewollt.

Doch ehe der Feind reagieren konnte, hatte sich lautlos ein anderer genähert. Tarja gefror das Blut in den Adern. Sie hatte ihn viel zu spät bemerkt.

Eine Hand packte sie am Kragen und riss sie zurück.

Der Ankömmling beschäftigte sich aber nicht weiter mit ihr. Ohne zu zögern, stürmte er vorwärts und trat den gespielten Feind heftig in die Seite. Der Mann krümmte sich schreiend.

Tarja erkannte, dass der Angreifer ein Schüler war. Er hämmerte dem Ami den Kolben in den Brustkorb und begrub ihn unter sich auf dem Boden.

Tarja rappelte sich auf und verkroch sich erschrocken in ihrer Nische. Welcher Schüler brach die ungeschriebenen Regeln und begegnete den unechten Feinden mit echter Gewalt?

Der Einzige, den Tarja auch für fähig dazu gehalten hätte: Eldar Sokolov.

Sokolov kniete auf seinem Opfer und schnürte ihm mit der AK die Luftzufuhr ab. Das Röcheln des Unterlegenen bezeugte Atemnot und machte Tarja unsicher, ob sie eingreifen sollte.

Doch der Feind war redselig geworden. Auf die barsche Frage Eldars, wo der Treffpunkt lag, keuchte er: »Im Mittelflügel ist eine alte Halle. Du erreichst sie über eine Falltür in Raum … 3-23.«

Eldar stand auf und erschoss den Mann. Dabei nahm er keine Rücksicht darauf, dass die Übungspatronen aus nächster Nähe durchaus schmerzhaft waren.

Tarja hielt den Atem an, als Eldar zu ihr herumfuhr. Er blickte sie aus kalten, blauen Augen an.

»Dragunova, welch ein Glück du hast.«

Sein Unterton erinnerte an das Knurren eines Wolfs, der jederzeit zum Angriff ansetzen konnte. »Was ist deine Gegenleistung?«

Tarja warf ihm ihr zweites Magazin zu. Damit blieben ihr noch etwa 20 Schuss, womit sie aber locker auskommen sollte.

Eldar akzeptierte das Magazin. »Wage es nicht, mir nachzulaufen«, zischte er, ehe er durch den Gang verschwand.

 

3-23, dachte Tarja. Das finde ich auch allein. Sie warf dem scheintoten Darsteller einen mitleidigen Blick zu. Dann musste sie grinsen. Die 3 stand für den zweiten Stock. Da sie sich in eben diesem und zugleich im Mittelflügel aufhielt, erreichte sie Raum 3-23 schon nach wenigen Minuten.

Die ausgeblichenen Ziffern waren kaum noch lesbar, die morsche Tür nur angelehnt. Tarja schlüpfte hindurch, zog sie lautlos zu und sah sich aufgeregt um. Ihr Herz machte einen freudigen Sprung: Direkt vor ihr lag die Falltür.

Fingerabdrücke in der dicken Staubschicht bezeugten, dass sie nicht die Erste war, die hierher gefunden hatte. Mit viel Kraft zerrte sie die Holzplatte hoch und fand eine Leiter, die nach unten führte.

Der geheime Raum. Ohne ihre Vorsicht zu verlieren, stieg sie die Leiter herab und schloss die Luke über ihrem Kopf.

Ein letzter Sprung, und sie landete auf rissigem Boden. Erst jetzt, als alle Spannung von ihr abfiel, bemerkte sie, dass die Sonne, die durch die Fensterreihe fiel, bereits tief stand. Aufgewirbelter Staub bildete eine vom Sonnenlicht angestrahlte Schräge.

»Willkommen, Tarja!«

An der Wand lehnte gemütlich einer ihrer Kameraden, Boris Sacharov.

»Ah, Boris! Wie lange bist du schon hier?«

»Och, 'ne Weile.« Er grinste sie freundschaftlich an.

Tatsächlich freute sich Tarja, Boris hier zu treffen. Der 20-Jährige, der in der Flotte einerseits für seine Intelligenz, andererseits aber auch für seine immense Faulheit bekannt war, war ihr von Anfang an sympathisch gewesen. Die Zufriedenheit in seinem rundlichen Gesicht färbte auf Tarja ab.

»Glückwunsch – Nummer drei«, kommentierte Eldar. Er stand ein wenig abseits von Boris und nickte Tarja unbeeindruckt zu.

»Ich hätte auch ohne dich hergefunden«, stellte Tarja klar.

Seine Arroganz ging ihr auf den Keks. Denn in diesem Fall war sie nahezu unberechtigt.

Mit Schrecken kam ihr ein Gedanke: Wie viele Flugzeuge gab es überhaupt zu besetzen? Waren es am Ende nur zwei, und Tarja gehörte überhaupt nicht mehr zu den Gewinnern?

»Wie viele Piloten dürfen fliegen?«, fragte sie nervös und wandte sich dabei absichtlich an Boris.

»Siehe dort.« Boris zeigte aufmunternd auf eine Notiz, die auffällig an der Wand haftete. FÜNF ZUGELASSEN, stand mit Textmarker darauf.

Tarja schlurfte zur Wand, und mit einem erleichterten Seufzer ließ sie sich auf dem Boden gleiten. Sie konnte sich nicht erwehren, über beide Ohren zu grinsen. Sie hatte es tatsächlich geschafft!

 

Der Nächste, der eintraf, war Jegor Antonov. Er wurde fröhlich von Boris empfangen, der sein Freund und Zimmergenosse war.

»Wo ist deine Gruppe?«, fragte Boris ahnungsvoll.

Jegor zuckte betreten die Schultern. »Die sind schon seit zwei Stunden weg vom Fenster.« Doch sein Bedauern konnte seine Freude nicht überdecken.

Tarja gesellte sich dichter zu Boris und Jegor. Sie lauschte ihrem Gespräch über die vergangenen Stunden und gab gelegentlich einen Kommentar dazu ab.

 

Eine halbe Stunde später knarzte die Falltür erneut. Tarja sah gespannt nach oben – und stöhnte halblaut vor Wut!

Gegen alle ihre Stoßgebete hatte es auch Artjom Koslovski geschafft.

Einer seiner Mitstreiter erreichte nach ihm den Boden. Artjom sah sich energisch um.

»Nichts los hier, oder was?«

»Ist doch schöner als das Rumgeballere«, kommentierte Boris gelassen. Tarja bewunderte ihn dafür, nicht schärfer auf die Provokation zu reagieren.

Tarja grinste in sich hinein: Artjom hatte die Notiz entdeckt. Nun wusste er, dass nur noch einer fliegen durfte – sein Kamerad oder er. Sie wusste, dass er diesen Platz für sich beanspruchen würde. Mit Genugtuung erwartete sie, dass Artjom vor seinem Kameraden und den vier Siegern sein wahres Gesicht zeigte.

Und der 19-Jährige begriff rasch. Die erst aufkeimende Missbilligung schwand schnell aus seinen Augen, als er harmlos zu seinem Kameraden sagte: »Tja. Tut mir leid für dich. Wer zuerst kommt, mahlt zuerst. Die Prüfer geben dir bestimmt einen guten Eintrag in die Akte.«

Der andere schwieg einen Moment. Leise Wut blitzte in seinen Augen. »Das ist unfair. Ich war von uns derjenige, der den Raum gefunden hat.« Obwohl Ivan auch außerhalb der Prüfung zu Artjoms engeren Vertrauten zählte, tat er Tarja leid.

»Ach ja?«, giftete Artjom. Seine kameradschaftliche Fassade war gefallen. »Und wer hat die ganze Zeit die Gruppe angeführt? Wer war derjenige, dem du die Ehre verdankst, überhaupt hier zu sein?«

»Deinetwegen ist Grischa ausgeschieden«, wehrte sich der andere zurückhaltend, aber nicht kleinlaut. Mit Grischa war Gregor Kuzmin, die Nervensäge gemeint.

»Grischa hatte selbst schuld, der Trottel!«

Artjom kam drohend zwei Schritte auf Ivan zu. Die Luft knisterte geladen. Tarja wünschte sich plötzlich, in Ivans Haut zu stecken, um Artjom mal richtig aufs Maul zu hauen. »Der ist denen geradewegs in die Arme gerannt.«

»Weil du ihn vorgeschickt hast!«, konterte Ivan. »Er war nur der Lockvogel, stimmt's?«

Artjom schien fast zu explodieren. »Willst du wirklich fliegen?! Du mit deinem durchschnittlichen Können würdest unsere gesamte Mission gefährden!«

Tarja ahnte, dass er mit diesem Argument die Zustimmung der vier bereits feststehenden Sieger gewinnen wollte. Dabei hatte er auch nicht einmal unrecht, denn er war ganz klar der bessere Flieger. Trotzdem hätte Tarja alles daran gesetzt, statt seiner Ivan dabeizuhaben.

Ivan sah sich hilflos unter den Anwesenden um. Er schätzte offenbar ab, wie es um sein Können im Vergleich zu den anderen bestellt war … und schnitt anscheinend auch in seinen eigenen Augen nicht sonderlich gut ab. Seufzend ließ er den Kopf hängen und verzog sich an eine einsame Stelle.

Tarja hatte keine Zeit, um wütend zu sein. Eine Tür ging auf, ein schriller Pfiff ertönte. Drei Unteroffiziere marschierten in die Halle und salutierten.

»Der erste Teil der Übung ist beendet. Wir gratulieren! Ihr fünf habt die Zwischenprüfung bestanden.«

Die Sieger folgten ihnen ins Freie, und Ivan trottete ihnen hinterher. Warme Sonnenstrahlen und frische Luft begrüßten Tarja, als sie aus der Parallelwelt zurück in die Wirklichkeit trat. Sie streckte die Arme von sich und atmete tief durch. So gelöst und frei hatte sie sich lange nicht gefühlt.

Auf der verwilderten Wiese kamen alle Darsteller und Schüler zusammen. Die Gewinner trafen auf die Verlierer. Tarja bemerkte sowohl deprimierte als auch neidische, aber auch viele respektvolle Blicke der ausgeschiedenen Mitschüler. Die mit Kunstblut verschmierten Pseudo-Feinde, die dabei standen, erinnerten Tarja an auferstandene Tote aus einer Zombie-Apokalypse.

Auch Ausbilder Koroljov war eingetroffen. Er strahlte Stolz und Zufriedenheit aus.

»Es waren sieben lange Stunden«, verkündete er, als er seine Rednerposition auf einem abgesägten Baumstumpf eingenommen hatte.

»Viele von euch haben es nicht geschafft. Doch ich vertraue darauf, dass jeder hier sein Bestes gegeben hat. Und darauf dürft ihr alle stolz sein!«

Die Unteroffiziere und Darsteller nickten beipflichtend und klatschten in die Hände.

»Hören Sie schon auf«, kam es missmutig von Gregor Kuzmin. »Sagen Sie endlich, was der ganze Kram sollte.«

Tarja achtete darauf, ob Gregor Artjom wütende Blicke zuwarf, doch er hielt sich zurück.

Koroljov sah großzügig über die Missachtung seiner Autorität hinweg.

»Dass das Manöver nicht den Anspruch hatte, realistisch abzulaufen, dürftet ihr mindestens an der miserablen Planung erkannt haben. Zwar ging es auch darum, erlernte Fähigkeiten anzuwenden. Aber der hauptsächliche Sinn dieser Mission war eine Prüfung eures Charakters.«

Nach einer langen, rhetorischen Pause fuhr er fort: »Vernunft. Innere Ruhe. Die Fähigkeit, alleine zu kämpfen, ohne den Kameradschaftsgeist aufzugeben. Darauf kommt es in dieser Garde an! Jeder von euch sollte das nicht nur wissen, sondern diese Tatsachen so verinnerlicht haben, dass sie zur Grundlage seines Handelns geworden sind!

Früher hieß es, dass Dumme am besten in der Armee klarkommen. In der Russischen Garde, und ganz besonders in der Fliegerflotte, sind nicht nur stumpfes Anpassungsvermögen, sondern Intelligenz und individuelle Fähigkeiten gefragt!

Die meisten von euch haben demonstriert, dass sie dem Anspruch der Russischen Garde gerecht werden. Allerdings habe ich auch nichts anderes erwartet.«

Seine Stimme wurde schneidend.

»Was mich jedoch enttäuscht hat, war die Kopflosigkeit einiger weniger! Die Kopflosigkeit, mit der sie diese Werte fallen gelassen haben, sobald sie sich von den Vorgesetzten unbeobachtet wähnten. Tatsächlich wart ihr das aber nie: unbeobachtet!«

Ein aufgeregtes Tuscheln erwachte, verstummte aber gleich darauf.

»Eure Helme waren mit Sendern und Wanzen versehen, und im Kontrollzentrum wurden die übertragenen Daten laufend ausgewertet. Es haben sich erfreuliche, aber auch unschöne Bilder ergeben!«

Tarja bemerkte schadenfroh, wie Koroljovs Blick zu Artjom schwenkte. Endlich kam er einmal nicht ungeschoren davon!

»Einige verhielten sich derart unkameradschaftlich, dass es Zweifel an ihrer Charaktereignung zulässt!«

Nun griff die allgemeine Unruhe auch auf Tarja über. Die Prüfer wussten also genau, mit welch geduldigem Kalkül sie warten konnte – allerdings auch, wie oft sie im Kreis gelaufen war und pures Glück gehabt hatte.

»Kommen wir nun zur Ehrung unserer Sieger.« Koroljov lächelte versöhnlich und verließ seinen Baumstumpf, um sich wieder auf Augenhöhe zu begeben. »Der Reihe nach erfahrt ihr, was ihnen zum Erfolg verholfen hat.

Boris Sacharov. Du warst der Erste im Ziel, und das absolut verdienterweise! Herausragend an dir ist deine unerschütterliche Ruhe. Du hast jede Situation realistisch eingeschätzt und nichts übereilt. Hektik ist für dich ein Fremdwort, nicht wahr? Dein präzises Urteilsvermögen macht dich zu einem der talentiertesten Schüler unserer Flotte.«

Boris verbeugte sich unter wohlverdientem Applaus.

»Eldar Sokolov! Nummer zwei. Deine Vorzüge liegen neben taktischem Vorgehen in der Skrupellosigkeit und Unerschrockenheit, mit der du den Feinden begegnet bist. Meine Anordnung, dieses Manöver absolut ernst zu nehmen, hast du restlos befolgt. Als einer der wenigen hast du effektiv körperliche Gewalt eingesetzt. Letztlich hat dich deine Geradlinigkeit zum Gewinner gemacht.«

Eldar lächelte dünn. Die Schülerschaft applaudierte respektvoll.

Als Tarjas Name fiel, reckte sie stramm den Kopf.

»Tarja Dragunova. Neben mehreren strategischen Lichtblicken war bei dir zu beobachten, dass du meist ohne rechte Orientierung warst. Doch deine Unorganisiertheit hast du damit kompensiert, alle Informationen genau auszuwerten und nichts zu überstürzen. Du konntest in jeder Lage einen kühlen Kopf bewahren. Deine Schläue führte dich letztlich zum Ziel. Herzlichen Glückwunsch.«

Tarja grinste breit und freute sich über den Beifall, der nicht leiser als Eldars erklang.

Jegor Antonov wurde außerordentliche Solidarität zugeschrieben. Der 19-jährige wurde während seines Applauses beinahe verlegen.

Und dann lachte sich Tarja ins Fäustchen: Artjom Koslovski war an der Reihe. Da sie sein verdorbenes Wesen kannte, war sie auf Koroljovs Kritik gespannt.

»Artjom Koslovski.«

Tarja registrierte ein gestresstes Zucken von Koroljovs Augenbraue. »Du weißt mit deinen Fähigkeiten und Ressourcen sehr gut umzugehen. Du kämpfst dich geradlinig durch Hindernisse und Schwierigkeiten.«

Der Typ ist eine einzige Schwierigkeit, dachte Tarja gehässig.

»Allerdings scheinen auch deine Kameraden, denen du unter anderem deinen Sieg verdankst, nicht mehr als eine Ressource für dich gewesen zu sein. Du solltest überdenken, ob du ihnen nicht künftig einen höheren Status beimessen solltest.«

Tarja schielte zu Ivan und stellte stille Zustimmung fest.

»Allerdings«, fügte Koroljov hinzu, »lassen sich dir dein Können und dein außerordentliches Durchsetzungsvermögen nicht absprechen. Du darfst unter den fünf Siegern sein, die für die morgige Flugprüfung qualifiziert sind. Ich gratuliere.«

Der Beifall war zu Tarjas Missgunst nicht gering – doch zu ihrer Freude schwächer als Jegors.

Als der Applaus verebbte, schwappte Gemurmel nach vorn.

»Von welchem Luftkampf ist denn hier die Rede?«, fragte Boris Sacharov.

»Morgen geht die Prüfung in die zweite Runde. Ihr werdet euer Können in einer simulierten Luftschlacht unter Beweis stellen. Dabei werdet ihr es mit drei Gegnern aufnehmen müssen, und es werden keine leichten Gegner sein. Während die Ausbildung für die Ausgeschiedenen wie gewohnt weitergeht, finden sich die fünf Sieger um 10 Uhr bei den Simulatoren im Hauptgebäude ein.«

Der Druck in Tarjas Magengegend war gestiegen. Simulatoren: Das bedeutete hohen Stromverbrauch, der auf Sokolskaja so gering wie möglich gehalten wurde. In Kauf genommener Stromverbrauch stand für höchste Priorität.

Doch die folgenden Worte Koroljovs verdrängten Tarjas Bauchgefühl mit einer erfreulicheren Botschaft: »Den Rest des Tages habt ihr frei. Ruht euch aus und schiebt keinen Kummer, wenn ihr nicht bestanden habt. Es wird noch andere Möglichkeiten geben, zu demonstrieren, was ihr könnt.«

Aber der gut gemeinte Trost half nicht wirklich, und die meisten der Schüler wollten nur noch weg von diesem unwirklichen Ort, der für viele von ihnen mit schlechten Erinnerungen besetzt war.

 

 

Kapitel 3


Eigentlich war das Besteigen des alten Geräteschuppens verboten. Außerdem war es im Laufe des Nachmittags stark genug abgekühlt, um jeden, der nicht eine Erkältung riskieren wollte, zum Tragen einer Jacke zu nötigen. Keines von beidem hielt Tarja davon ab, sich im T-Shirt auf dem Wellblechdach zu sonnen und den kühlen Wind zu genießen, der feine Wolken über den pastellblauen Himmel schob. Seit einer halben Stunde nippte sie an ihrem Bier, das sie sich zur Feier des Tages im Schuppen gekauft hatte.

In wenigen Minuten, um 18 Uhr, hatte Yuri Dienstschluss. Tarja konnte es kaum erwarten, ihrer Schwester von ihrem Triumph zu berichten.

Auf allen vieren kroch sie zum Rand des Dachs. Sie blickte auf eine Glatze, in der sich die Abendsonne spiegelte. Der ranghöchste Mechaniker zog genüsslich an einer Zigarre und würde Tarja auf jeden Fall entdecken, sobald sie hinunterkletterte.

Angestrengt arbeitete ihr Verstand an einer Lösung. Sie wollte Yuri nicht verpassen, sondern gebührend zum Feierabend empfangen. Es würde noch mindestens fünf Minuten dauern, bis der Mechaniker seine Zigarre zu Ende geraucht hatte. Tarja entschied, dass die Auseinandersetzung mit Brennnesseln und Disteln einer deftigen Standpauke vorzuziehen waren.

Vorsichtig schob sie sich zum anderen Ende des Dachs. Auf der abgewandten Seite begann sie ihren waghalsigen Abstieg. Nach einem Meter griff sie versehentlich in eine scharfe, rostige Kante der Regenrinne; sie löste reflexartig die Finger und fiel.

Zwei Meter tiefer landete sie rücklings in harten Sträuchern. Das Bier ergoss sich über ihren Hals, Dornen stachen sie in Arme und Nacken, und der Teil ihrer Haut, der nicht von Disteln misshandelt wurde, kam in den Genuss der Brennnesseln.

Verfickte Scheiße!

Tarja brauchte jeden Rest Selbstbeherrschung, um nicht lauthals drauflos zu fluchen. Ächzend rappelte sie sich auf. Sie ignorierte nach Kräften das penetrante Brennen und war trotz ihrer Qualen noch sozial genug, die leere Bierflasche aufzulesen.

Der Blick des Chefmechanikers traf sie mit harter Skepsis, als sie es vermasselte, sich ungesehen vorbeizuschleichen. Er klemmte seine Zigarre zwischen Daumen und Zeigefinger und stieß wie ein lauernder Drache den Rauch aus der Nase. Sie spürte seine Augen im Rücken, als sie betont leger zum Eingang schlenderte; doch sie konnte durchatmen, denn er hielt sie nicht auf.

Die Aktion hatte sich trotz allem gelohnt. Yuri kam soeben mit einer Gruppe anderer ölverschmierter Mechaniker zum Tor heraus. Ihr Blick verriet wenig Überraschung, als sie auf Tarja stieß, in deren Gesicht ein Lächeln stand.

»Die Regenrinne ist zu gefährlich«, bemerkte Yuri nüchtern. »In der Mauer gibt es Kerben, an denen du runterklettern kannst, wenn du geschickt bist. Sonst kann es passieren, dass du in die Brennnesseln fällst.«

Zu spät, dachte Tarja leidend. »Woher –«

»Das Poltern auf dem Dach konnte kein Tier sein«, beantwortete Yuri Tarjas halb gestellte Frage. »Ich habe gehofft, du würdest nicht durch das Wellblech brechen.«

»Ich hatte an anderer Stelle Pech«, entgegnete Tarja und konnte inzwischen über sich selbst lachen.

 

Heute war ein besonderer Tag. Durch eine günstige Fügung fiel die bestandene Prüfung auf den letzten meteorologischen Sommertag. Das schrie geradezu nach einer Feier.

Auch, wenn sie nur zu zweit waren. Tarja hatte Jegor und Boris gefragt, doch die hatten schon andere Pläne. Also musste sie den größtmöglichen Spaß mit Yuri allein haben. Und dazu hatte Tarja eine Idee.

Wie tragischerweise zahlreiche ihrer Pläne war auch dieses Vorhaben eines, das an der Grenze des Verbotenen kratzte. Um Sokolskaja scharten sich noch weitere Sperrgebiete als der alte Komplex, in dem die Übung stattgefunden hatte. Bei einigen bestand das Zutrittsverbot ohne für Tarja ersichtlichen Grund, was sich damit paarte, dass ebendiese Gebiete interessantes Gelände enthielten. Eines davon war ein mittelgroßer See, der hinter vorgehaltener Hand als beliebter Badeort galt. Noch war die Sonne nicht untergegangen, und Tarja hatte vor, zur Feier des Tages einen Grenzübertritt zu wagen.

 

Die Bikinis unter der Uniform und die Handtücher in den Jacken versteckt, spazierten die Schwestern über den Stützpunkt. Auf Sokolskaja machte sich Abendstimmung breit. Tarja erzählte der gespannt lauschenden Yuri ausschweifend vom Manöver.

»Wieso ist Artjom nicht disqualifiziert worden?«, wunderte sich Yuri. »Es gab ja keine Regeln, aber die Charakterprüfung kann er doch unmöglich bestanden haben.«

»Tja, wenn ich das wüsste!« Tarja war mit Artjom als fünftem Flieger im morgigen Geschwader ausgesprochen unzufrieden.

»Vielleicht hat Koroljov übertrieben, und es ging doch hauptsächlich um das Können von euch Schülern.«

»Das Können sollte eher Gegenstand der Endprüfung sein. Ich frage mich ehrlich gesagt ein bisschen, wofür nun dieses komische Manöver gut sein sollte.«

Die beiden gelangten ungesehen zum südöstlichen Stützpunktrand, der fernab der Geschehnisse der Basis lag. Durch ein klaffendes Loch, das andere abenteuerlustige Regelbrecher einmal in den alten Stacheldraht geschnitten hatten, schlüpften sie in einen dichten Tannenwald. Den Weg kannten sie. Raschelnd stapften sie durchs Unterholz, in dem sich bereits ein Trampelpfad abzuzeichnen begann. Nach wenigen Minuten lichtete sich der Wald. Er offenbarte den Anblick einer Wasseroberfläche, die lockend im Abendlicht glänzte. Geschafft!

 

Bevor sie völlig aus dem Schutz des Dickichts trat, spähte Tarja einmal ums Ufer herum: Sie waren allein. An einer passenden Stelle legten sie ihre Uniformen ab. Barfuß huschten sie über den steinigen Strand. Sie benetzten ihre Haut mit Wasser, ehe sie die ersten Schritte ins kühle Nass wagten. Tarja überwand ungeduldig ihre Scheu und warf sich mit einem Bauchklatscher in den See. Sie atmete scharf und schnell. Mit ihren hastigen Bewegungen hatte sie sich rasch an die Wassertemperatur gewöhnt und tauchte ihren Kopf in das relativ klare Wasser, auf dem bereits die Schatten erster Dämmerung lagen. Früher hatte Tarja oft mit Gleichaltrigen gewettet, wer sich als Erster überwand, ins Wasser zu springen. Das hatte sie auch im Herbst getan. Und manchmal selbst im Frühling, wenn gerade die ersten Blumen aus der gefrorenen Erde gesprossen waren. Ihre Gewinnquote war nicht schlecht gewesen.

Mit Yuri lohnten sich derartige Wetten nicht. Yuri sprang entweder sofort ins Wasser oder gab einfach zu, wenn es ihr zu kalt war. Zögern gab es für sie nicht. Und eben das machte sie ein Stück erwachsener.

Tarja gab sich ihrem Naturell als Wasserratte hin. Sie paddelte zur Mitte des Sees, tauchte dabei weite Strecken und beobachtete die aufgeschreckten Fische, die in kleinen Schwärmen auseinanderstoben. Bis auf den Grund zu tauchen, lohnte sich der tief stehenden Sonne wegen nicht mehr. Außerdem ekelte sich Tarja vor den Wasserpflanzen.

An Badetagen wie diesen kamen ihr manchmal dunkle Erinnerungen. Sie wusste, dass sie in ihrer frühen Kindheit vor Seen und dem Meer eine irrationale Angst gehabt hatte. Glücklicherweise hatte sich diese Angst im Laufe ihrer Jugend verflüchtigt.

Dazu hatte vor vielen Jahren ein Besuch am Meer beigetragen. Das ruhige Meer, das sich endlos vor ihr erstreckte, hatte nichts mit Tarjas Träumen gemein gehabt, in denen sie von schwarzen Riesenwellen heimgesucht wurde. Solche Träume hatte sie noch heute beängstigend oft.

Ob die Aversion vor tiefen Gewässern nur ins Unterbewusstsein abgedrängt worden war? Tarja hielt es für wahrscheinlich, dass die Wellen in ihren Alpträumen eine eher metaphorische Bedeutung hatten. Sie vermied es zumeist jedoch, sich genauer mit den Abgründen ihrer Psyche zu beschäftigen.

Lieber mochte sie den Himmel, den sie stundenlang beobachten konnte, wenn ihr danach war. Wann immer sie in den Himmel sah, dankte sie dem glücklichen Zufall, der sie zur Flotte geführt hatte.

So wie auch jetzt, als sie rücklings auf der Oberfläche trieb. Der klare Himmel hatte einen violetten Schimmer angenommen. Unterschwellig erwartete Tarja, dass sich Yuri zu ihr gesellen würde. Aus dem Augenwinkel hatte sie bereits entsprechende Bewegungen registriert. Sie legte den Kopf nach rechts und bemerkte, dass Yuri vergnügt in ihre Richtung paddelte. Auf einmal hörte Tarja durch die dämpfende Wasserdecke Yuris Stimme.

Yuri rief nach ihr?

Tarja richtete sich auf. Yuris ernste Miene irritierte sie. Sie erkannte, dass ihre hastigen Schwimmbewegungen kein Vergnügen, sondern Hektik gewesen waren.

 

»Tarja!« Yuris unterdrückte Stimme ließ befürchten, dass es jemanden in der Nähe gab, der nicht mithören sollte.

»Was ist los?«, zischte Tarja erschrocken. »Ist da jemand?«

Yuri spähte in den Wald. »Ich bin nicht sicher«, gestand sie, »aber ich glaube, ich habe eine Uniform gesehen.«

Tarja nahm die Warnung ernst. Sie tauchte bis zur Nase ein und bedeutete Yuri, ihr zurück zum Ufer zu folgen. Auch, wenn Yuri behauptete, sie könnte sich getäuscht haben – Tarja kannte den außerordentlichen Spürsinn ihrer Schwester. An Yuris letzten falschen Alarm konnte sie sich nicht einmal mehr erinnern. Und wenn sich hier ein Gardist aufhielt – vermutlich noch dazu ein Offizier – und sie entdeckte, würde das eine deftige Strafe für die beiden geben.

Kurz erwog Tarja, sich am entgegengesetzten Ufer zu verbergen und auf reine Luft zu warten. Doch das war zu riskant, denn wenn der Fremde ihre Uniformen fand, würde er auch ihre Namen darauf sehen.

Sie paddelten zum Ausgangsufer zurück, schlichen hastig ins Gebüsch und rafften ihre Stiefel und Uniformen zusammen – hier konnten sie sich nicht umziehen. Und es blieb keine Zeit, das frühzeitige Ende des Badeabends zu bedauern, denn ein flaues Gefühl hatte sich in Tarjas Magen breitgemacht.

Wenn man mich hier sieht, könnte das bedeuten, dass ich von der morgigen Prüfung ausgeschlossen werde.

Der kritische Ort, an dem Yuri jemanden zu sehen geglaubt hatte, lag ungünstigerweise nahe bei dem Pfad, der zur Zaunöffnung zurückführte.

Tarja verzog sich ins dichtere Gebüsch, ging in die Hocke und spähte hinüber. »Wo hast du ihn gesehen?«

»Es war sogar mehr als einer. Vielleicht drei«, wisperte Yuri. »Gleich da vorne. Aber vielleicht sind sie auch schon wieder …«

Yuri stockte. Denn beide sahen es: Vier Männer. Keine zwanzig Meter entfernt standen sie zwischen Tannen und Fichten. Drei von ihnen trugen schwarze Jacken ohne Abzeichen und Dienstgrade. Es war lange her, dass Tarja jemanden in anderer Kleidung als einer Uniform gesehen hatte. Kamen die Männer von außerhalb?

Ihr stockte der Atem, als sie den vierten erkannte. Er trug einen dunkelgrauen Offiziersmantel und eine blutrote Tellermütze. Der Mann, der sich hier zwischen drei Zivilisten in der verbotenen Sperrzone aufhielt, war kein geringerer als der Kommandant der 13. Kompanie.

»Kirov ist hier!«, flüsterte Tarja ungläubig.

Yuri beobachtete die Situation schweigend. Tarja verharrte angespannt in ihrer Stellung. Es blieb ihnen nichts übrig, als abzuwarten, bis sich die merkwürdige Gesellschaft verzog. Dass es allmählich kühl wurde, registrierten sie kaum.

Die Stille des Waldes machte es möglich, den Männern zu lauschen. Tarja schnappte mehrere Wortfetzen auf. Doch die Entfernung verschluckte die Stimmen, ehe sich die Worte zu sinnhaften Sätzen fügen konnten. Aber das, was Tarja mitbekam, irritierte sie.

»… bestätigter Verdacht … baldige Maßnahmen … Unausweichliche Konsequenzen … streng vertraulich.«