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Margo Wolf

Man braucht keine Augen um zu sehen

Teil 1 Liebe mit Hindernissen





BookRix GmbH & Co. KG
80331 München

Man braucht keine augen um zu sehen Teil 1

Man braucht keine Augen, um zu sehen

Teil 1

 

Eine Liebe mit Hindernissen

 

Kapitel 1

 

Müde ließ Michael seine Tasche auf die Couch fallen und im nächsten Augenblick fiel er selbst auf die Couch. Er fühlte sich total ausgepowert, denn er hatte seit dem Morgen im Operationssaal gestanden und als es endlich ruhiger zu werden schien, kam ein Unfallopfer herein und es forderte seine ganze Konzentration dessen Leben zu retten.

Obwohl er hier offiziell noch nicht Chefchirurg war, überließ ihm sein Chef gerne die kniffligen Sachen, da er überzeugt war, dass Michael durch seine Jahre in Amerika mehr konnte als er selbst.

 

Soeben wollte Michaels Geist ins Traumland abdriften, als ihn ein „Ping“ wieder hochschrecken ließ. Er suchte in seinen Hosentaschen nach seinem Handy, als dieses durch aufblinken auf sich aufmerksam machte.

Er hatte es samt seiner Wohnungsschlüssel auf den Couchtisch fallen lassen, in der Hoffnung, in den nächsten Stunden nichts von ihm zu sehen oder zu hören.

Kurz rang er mit sich, ob er es ignorieren sollte, aber das Pflichtbewusstsein siegte.

Wie immer!

Seufzend nahm er es in die Hand und scrollte die eingehenden Nachrichten durch.

Eine Nachricht, von seiner Mutter, sie wolle ihn unter keinen Umständen stören, aber er sollte sich doch hin und wieder melden, damit sie wisse, ob es ihm auch gut gehe.

Ein Lächeln huschte über sein Gesicht, aber sofort bekam er ein schlechtes Gewissen.

Seine Eltern hatten so viel für ihn getan und er fand nicht einmal die Zeit, sie regelmäßig anzurufen!

Er wollte schon eine Antwort eintippen, als er innehielt, nein, seine Mutter wollte er nicht mit einer SMS abspeisen, sie konnte wenigstens erwarten, dass er sie anrief!

Er wollte gerade wählen, als sein Telefon läutete. In Erwartung, seine Mutter zu hören, nahm er das Gespräch entgegen.

„Hey, altes Haus“, hörte er eine Männerstimme, „du hast hoffentlich nicht vergessen, dass wir uns heute treffen?“

Mit wem wollte er sich treffen?

„Äh, ja?!“

„Sag mal, pennst du?“ die Stimme seines Freundes Peter klang empört, „wir wollten uns doch heute treffen! Meinen Geburtstag feiern! Sag nicht, dass du das vergessen hast!“

Ohje!

„Nein natürlich nicht“, tat Michael empört, „ich bin schon fast auf dem Weg. Wo treffen wir uns gleich?“

Peter lachte leise.

„Schon gut“, wehrte er noch immer lachend ab, „wir treffen uns erst in zwei Stunden. Du hast also noch genug Zeit, deinen Krankenhausmief von dir zu waschen und einen starken Muntermacherkaffee zu trinken.“

Er nannte nochmal die Adresse des Lokals und nahm Michael das Versprechen ab, wirklich zu kommen.

Dieser sagte zu, denn Peter war sein ältester Freund und er wollte ihn wirklich nicht enttäuschen. Sie hatten sich während der Schulzeit im Sportclub kennengelernt und obwohl Peter zwei Jahre jünger war, verband sie bald eine sehr enge Freundschaft.

Auch diverse Freundinnen konnten ihre Freundschaft nicht beeinträchtigen und auch während Michaels Jahre in Amerika riss niemals der Kontakt ab.

Und es war unter anderem auch Peters Verdienst, dass Michael nach der Rückkehr nach Deutschland wieder auf die Füße kam.

Aber eben unter anderem, vor allem verdankte er es der unerschütterlichen Liebe seiner Eltern, dass er wieder seinen Platz in der Welt gefunden hatte. Der Gedanke an seine Eltern erinnerte ihn daran, dass er seine Mutter anrufen wollte.

Während er in die kleine Küche ging, in der er meist nur die Kaffeemaschine benutzte, wählte er die Nummer seiner Mutter.

„Ach Junge, du musst doch nicht gleich zurückrufen“, wehrte seine Mutter erschrocken ab, „ich weiß doch, wieviel du zu tun hast!“

„Mama, für dich habe ich immer Zeit“, erwiderte er liebevoll und während er die Kaffeemaschine einschaltete, in seinem Schlafzimmerschrank nach bequemen Ausgehklamotten suchte, wieder zurück in die Küche wanderte, sich den frischen Kaffee nahm, im Kühlschrank nach Milch suchte und im Stillen ein Dankgebet an seine Putzfrau schickte, die regelmäßig die sauer gewordene Milch durch eine frische ersetzte, sich hinsetzte, um mit Genuss den Kaffee zu trinken, erzählte er seiner Mutter von seinem Alltag und brachte sie mit einigen Anekdoten aus dem Spital zum Lachen.

„Wenn du deine Patientinnen genauso behandelst, wundert es mich nicht, dass sie alle weiche Knie bekommen, wenn sie dich sehen“, sagte seine Mutter und ihrer Stimme war der Stolz auf den tüchtigen Sohn anzuhören.

„Du siehst mich mit den Augen einer liebenden Mutter“, widersprach Michael, aber seine Mutter lachte.

„Ich weiß von einigen meiner Freundinnen, die du schon unter deinen Händen hattest, dass es genauso ist, und…“, seine Mutter stockte kurz, „von deren Töchtern.“

„Mama!“ Michael verdrehte die Augen.

„Schon gut, Michi“, sagte seine Mutter schnell, „ich sage ja auch nichts, aber Papa und ich werden auch nicht jünger und wir hätten schon noch gerne Enkel erlebt!“

„Soo alt seid ihr nun auch wieder nicht“, widersprach Michael, „ihr solltet euer Leben genießen und nicht an die Verpflichtungen denken, die das Großelternsein mit sich bringen.“

„Wir genießen unser Leben, aber trotzdem…“

„Du, ich treffe mich heute mit Peter in einer fröhlichen Runde, um seinen Geburtstag zu feiern. Da sind bestimmt auch tolle Frauen dabei, vielleicht ja auch etwas Passendes“, versuchte er zu scherzend abzulenken.

„Na, da wird die Richtige dabei sein“, murmelte seine Mutter, „aber trotzdem, gute Unterhaltung und lass Peter und seine Frau schön grüßen“, verabschiedete sie sich dann doch noch fröhlich.

 

Seine Eltern kannten Peter gut, denn dieser war während der Schulzeit oft vor seinem gewalttätigen Vater zu ihnen geflohen und hatte bei ihnen die Geborgenheit gefunden, die er zu Hause nicht hatte. Nur Michaels Eltern und den langen Gesprächen, die sie mit Peter führten, war es zu verdanken, dass er nicht abdriftete und seinen Weg ging. Heute war er ein erfolgreicher Anwalt mit schönem Haus, netter Frau und zwei Bilderbuch Kindern. Michaels Eltern hatten immer gescherzt, dass sie zwei pubertierende Söhne hätten und Peter hatte immer nur voll Dankbarkeit dazu genickt. Auch hatte er seine zukünftige Frau zuerst Michaels Eltern vorgestellt, bevor seine eigenen Eltern überhaupt wussten, dass er verliebt war.

Nun war es sein perfektes Leben, das Michaels Mutter diesem immer wieder mal vor Augen führte, oder besser gesagt, versuchte, ihn mit der Nase darauf zu stoßen. Aber Michael war noch nicht wieder soweit. Lockere Beziehungen, Spaß haben, ja, dafür war er jederzeit zu haben, aber an einer echten Partnerschaft hatte er vorerst kein Interesse.

Wie hieß es doch?

Ein gebranntes Kind scheut das Feuer?!

Und er hatte gebrannt, sogar sehr!

 

Entschlossen schüttelte er den Kopf und ging schnell ins Badezimmer, bevor in seinem Kopf noch mehr unangenehme Gedanken entstanden. Er wollte schon zum Rasierer greifen, als er innehielt. Sollte er vielleicht die Stoppeln stehen lassen? Nachdenklich fuhr er sich mit der Hand über die Wange. Was bei vielen Männern ein langwieriges behutsames rasieren und nicht rasieren war, um einen sogenannten Dreitagebart entstehen zu lassen, entstand bei ihm nach nur einem Nacht-und Tagdienst wie von selbst. Gedankenverloren fuhr er sich durch seine kurzgeschnittenen schwarzen Haare, die er seinen italienischen Vorfahren mütterlichseits verdankte.

Schwarze Haare? Er kniff die Augen zusammen und näherte sein Gesicht dem Spiegel.

War das etwa ein graues Haar, da an seiner Schläfe?

Und noch eines, und noch eines?!

Auch auf der anderen Schläfe waren einige Verräter in Form von grau zu sehen. Sollte er jetzt auch anfangen, sich die Haare zu färben? Er wusste von einigen Kollegen, dass diese das taten und jetzt im Alter dunklere Haare hatten, als jemals zuvor. Aber Frauen standen doch auf graue Schläfen, oder? Es gab da doch einige Schauspieler, die erst mit grauem Haupt wirklich Erfolg hatten. Ihm fiel jetzt zwar kein Name ein, aber er kannte die Titelseiten von etlichen Frauenzeitschriften, die sich auf fast allen Nachtschränkchen seiner Patientinnen stapelten und nicht selten waren ehrwürdig graue Häupter darauf zu sehen. Aber natürlich nur männliche, denn Frauen hatten auch im hohen Alter wie Teenager auszusehen, was oft zu den furchtbaren bis zur Unkenntlichkeit operierten Fratzen führte. Er hatte in Amerika selbst öfters solche Operationen vorgenommen und er hatte es fast immer gehasst, ein von Leben erfülltes Gesicht in eine steife Maske verwandeln zu müssen. Aber der Kunde ist König, vor allem, wenn er, oder besser gesagt sie, so viel dafür bezahlt!

Nein, er wird sich nicht die Haare färben, sondern das Grau mit Würde tragen!

Er würde in weniger als drei Jahren vierzig sein, da musste man mit so etwas rechnen!

Ja, graue Haare und dabei Augen, die so tiefblau wie die eines jungen Mädchens waren. Schon öfter hatte er überlegt, ob er dieses Strahlen nicht durch gefärbte Kontaktlinsen mindern könnte, aber die würden sein Sehen bei den Operationen behindern und so verwarf er diesen Gedanken immer wieder.

Er zeigte seinem Spiegelbild entschlossen den Stinkefinger und stieg dann, nachdem er sich entkleidet hatte, in die Dusche. Er ließ das heiße Wasser lange über seinen Körper rinnen, der sich dank des regelmäßigen Fitnesstrainings und den morgendlichen Joggingrunden sehen lassen konnte, wusch sich die Müdigkeit und die trüben Gedanken, die immer ganz hinten in seinem Kopf lauerten, um in einem schwachen Moment durchzubrechen, ab und begann sich langsam auf den Abend zu freuen.

 

Eilig, weil natürlich etwas zu spät, verließ Michael das Haus, in dem seine Wohnung lag. Hastig eilte er in Richtung U-Bahn, denn in der Innenstadt war es unmöglich, einen Parkplatz zu bekommen und außerdem wollte er mit seinem Freund feiern und das beinhaltete gewisse Mengen Alkohol und dieser vertrug sich mit Autofahren überhaupt nicht!

Ihm fiel ein, dass er gar nicht wusste, wo genau der Treffpunkt war und so zog er sein Handy aus der Hosentasche, um nachzusehen. Um die Adresse besser lesen zu können, blieb er mehr oder weniger abrupt stehen und eine Sekunde später prallte etwas so stark in seinen Rücken, dass er einen Satz nach vorne machte und fast gestürzt wäre.

Wütend drehte er sich um und wollte den Verursacher anschnauzen, aber alles was er sah, war sein eigenes zorniges Gesicht von riesigen Sonnenbrillen wiedergespiegelt. Nun, das war nicht ganz richtig, zuerst hatte er nur sein Hemd in Brusthöhe darin gesehen, erst als er seinen Kopf geneigt hatte, war sein Gesicht in der Spiegelung aufgetaucht.

„Können Sie nicht aufpassen?“ fragte er wütend.

„Selber“, kam eine ebenso zornige Frauenstimme zurück, „noch nie etwas von Rücksicht auf Mitmenschen gehört? Sie können doch nicht einfach mitten auf dem Weg stehen bleiben!“

„Das hier ist öffentliches Gebiet, da kann ich stehenbleiben, wo immer ich will“, wehrte er sich, nun schon weniger wütend. Er versuchte, die Augen hinter den dunklen Gläsern zu erkennen, leider vergeblich. Er sah nur eine kleine vorwitzige Nase unter dem unteren Rand des Ungetüms hervorlugen, welche sich redlich bemühte, dass ihr das Ding nicht runterrutschte. Allerdings war darunter ein bemerkenswerter Mund zu sehen, mit vollen Lippen, perfekt gezeichnet und im schönsten Naturrot leuchtend. Etliche amerikanische Schauspielerinnen gaben viel Geld aus, um solche Lippen zu haben!

Leider waren diese wunderbaren Lippen im Augenblick wütend verzogen, was ihn auch wieder zum Kernpunkt zurückbrachte.

„Vielleicht sollten Sie ihre Augen verwenden, wenn Sie sich auf der Straße unter die Menschen mischen“, fuhr er frustriert, ob des fehlenden Gesichtes seines Gegenübers, fort, „aber wenn man in der Dämmerung eine Sonnenbrille trägt, kann man natürlich nichts sehen.“

„Ob und wann ich eine Brille trage, geht Sie einen feuchten Kehricht an“, war die Frauenstimme noch immer wütend, „wenn Sie schon der Meinung sind, Sie können so plötzlich stehen bleiben, um wahrscheinlich irgendetwas für Sie ach so Lebenswichtiges in ihr verdammtes Handy rein zu klopfen, dann sollten Sie zumindest so viel Rücksicht aufbringen, es nicht mitten auf dem Gehweg zu machen, sondern zur Seite zu treten, um harmlose Fußgänger nicht zu gefährden.“

„Darf ich darauf aufmerksam machen, dass Sie in mich reingelaufen sind und mich damit fast zum Sturz gebracht haben? Also haben bestenfalls Sie mich gefährdet und nicht ich Sie“, gab er jetzt wieder wütend zurück.

„Vielleicht sollten wir die Polizei herholen, um zu klären, wer schuld am Blechschaden hat?!“ gab die Sonnenbrille spitz zurück.

Verdutzt sah Michael die Frau an, die mit jetzt vor Aufregung errötenden Wangen vor ihm stand. Erst jetzt sah er, dass das Gesicht von kinnlangen honigblonden Locken umtanzt wurde, die den Eindruck in ihm verstärkten, dass er einer sehr jungen Frau, oder besser gesagt, einen jungen Mädchen gegenüber stand. Das nahm ihm irgendwie den Wind aus den Segeln und sein Zorn verflog.

„Die Polizei werden wir wohl nicht bemühen müssen“, erwiderte er nun ruhig und ein kleines Lächeln stahl sich über seinen Mund, „ich werde mich bemühen, in Zukunft mehr Rücksicht auf meine Mitmenschen zu nehmen und du solltest vielleicht doch die Brille abnehmen, um etwas von deiner Umgebung wahrnehmen zu können.“

Sein Gegenüber holte tief Luft.

„Ich kann mich nicht erinnern, Ihnen das Du Wort angeboten zu haben“, schnappte die Frau empört, „ich suche mir meine Freunde selbst aus!“

Jetzt reichte es Michael endgültig.

„Dann freut es mich, Ihre Bekanntschaft NICHT gemacht zu haben“, erwiderte er grob und wandte sich zum Gehen.

„Arroganter Macho“, zischte die Sonnenbrille.

„Frustrierte Zicke“, gab er ebenso zurück.

Er trat beiseite und die Frau rauschte an ihm vorbei. Bisher war ihm noch gar nicht aufgefallen, dass das Mädchen in Begleitung eines Hundes war. Sichtlich war dieser sehr gut erzogen, denn er hatte die ganze Zeit keinen Muckser von sich gegeben. Michael liebte Hunde und es tat ihm leid, dass ihm dieser nicht früher aufgefallen war, denn dann hätte das Gespräch vielleicht eine andere Wendung genommen.

„Einen braven Hund hast du“, rief er der Gestalt nach, in der Hoffnung, noch einmal ins Gespräch zu kommen und vielleicht doch noch das ganze Gesicht zu sehen bekommen.

Aber das Mädchen setzte ihren Weg fort und zeigte ihm, ohne sich umzudrehen, nur wenig Ladylike ihren erhobenen Mittelfinger.

„Na, dann eben nicht, du blöde Kuh“, murmelte er und setzte seinen Weg frustriert fort.

Kapitel 2

 

„Was ist dir denn über die Leber gelaufen?“ fragte Tina, als Leni mit wütendem Gesicht an ihr vorbeilief und im Wohnzimmer mit dem Fuß aufstampfend stehenblieb.

Sie schien so wütend zu sein, dass sie sich nicht mal um Goldi, ihre Retriever Hündin kümmerte. Tina seufzte, sie wusste, wenn ihre beste Freundin und Mitbewohnerin, Leni, so wütend war, musste sie warten, bis diese von selbst zu reden anfing, sie jetzt nach dem Grund ihrer Wut zu fragen, wäre völlig sinnlos.

So befreite Tina die brave Hündin erst einmal von ihrem Brustgeschirr und stellte ihr eine Schale mit frischem Wasser hin, welches Goldi dankbar schlapperte. Dann schaltete sie schweigend den Wasserkocher ein und holte zwei Tassen aus dem Schrank. Als das Wasser kochte, goss sie Kräutertee auf, trug beide Tassen in das Wohnzimmer und stellte sie noch immer schweigend auf den Couchtisch. Sie setzte sich und sah Leni an, die in dem nicht gerade großen Raum herumtigerte.

„Wenn du so weiter herumläufst, wirst du den Teppich töten“, brach Tina ihr Schweigen, „komm, setz dich, ich habe Kräutertee gemacht.“

Leni hielt inne, dann setzte sie sich neben ihre Freundin, Goldi, die bisher vorsichtsheitshalber in der Küche geblieben war, kam herein und legte ihren Kopf auf die Knie ihres Frauchens. Tina reichte Leni eine Tasse.

„So, nun trink einen großen Schluck und dann erzähle mir, was so schreckliches passiert ist, dass du sogar Goldi vergisst.“

Leni nahm ihrer Freundin die Teetasse ab und streichelte entschuldigend über den Kopf ihrer treuen Gefährtin. Sie stellte die Tasse ohne zu trinken wieder zurück auf den Tisch.

„So ein Arsch!“ brach es aus ihr heraus, „erst bleibt er plötzlich stehen und dann beschimpft er mich auch noch!“

„Wer?“

„So ein…ich weiß nicht, wahrscheinlich ist er irgendein Banker, der uns nur das Geld aus der Tasche zieht, nein, er ist ein Autoverkäufer, du weißt schon, einer von diesen Betrügern, die dir alte Rostlauben als neuwertig andrehen, oder noch besser, ein Versicherungsagent, der dir irgendwelche Versicherungen andreht, oder…“, zum Glück musste Leni Luft holen.

„Autoverkäufer? Versicherungsagent?“ Tina sah Leni ratlos an, „willst du mir nicht genau erzählen, was passiert ist?“

Leni holte tief Luft.

„Ich bin auf dem Heimweg, ich komme um eine Ecke und plötzlich bleibt so ein Blödmann so abrupt vor mir stehen, dass mich nicht mal Goldi warnen konnte“, berichtete sie noch immer vor Wut schnaubend, „natürlich bin ich in ihn hineingelaufen! Und dann hat der Blödmann noch gemeint, ich wäre selbst schuld!“

Sie fuhr fahrig mit der Hand über den Tisch, ergriff ihre Tasse, nahm einen Schluck und verbrannte sich prompt die Zunge.

„Autsch!“ rief sie nun noch wütender.

„Du musst blasen“, sagte Tina, „leider gibt es noch kein kalt kochendes Wasser“, sie sah ihre Freundin auffordernd an, „warum meinte der Heini, dass du selbst daran schuld bist?“

„Er hat gesagt, ich soll die doofe Sonnenbrille abnehmen, dann würde ich schon was sehen und nicht mehr unschuldige Menschen über den Haufen rennen!“

Tina sagte nichts darauf, sondern sah Leni an. Noch immer hatte diese das Ungetüm auf der Nase sitzen. Sie nahm Lenis Hand in ihre.

„Süße, woher sollte er denn wissen, dass es dir nichts nützt, wenn du die Brille abnimmst?“ sagte sie vorsichtig.

„Du meinst…?“ fragte Leni, ihre Wut verrauchte.

„Du hast gesagt, du bist in ihn hineingelaufen“, überlegte Tina, „dann dreht er sich um und was sieht er? Eine Sonnenbrille! Und dass in der Dämmerung! Versetz dich doch mal in seine Lage!“

Leni dachte nach, dann nickte sie langsam.

„Du hast ja recht“, seufzte sie dann, „aber trotzdem…“

„War es ein alter Mann? Vielleicht hatte er Angst vor einem Sturz, denn alte Knochen heilen schlecht.“

„Ein alter Mann?“ Leni tippte sich überlegend mit einem Finger an die Lippe, „nein“, schüttelte sie dann den Kopf, „die Stimme war jünger, so vielleicht um die dreißig Jahre.“

Sie hielt inne, dann lächelte sie plötzlich.

„Eine sehr schöne Stimme“, sagte sie dann etwas verträumt, „und er war schlank und sichtlich sportlich, denn er hatte einen harten Körper.“

Tina sah ihre Freundin erstaunt an.

„Das konntest du alles in der kurzen Zeit feststellen?“

Nun wurde Leni rot.

„Du weißt doch, dass die Sinne von Leuten wie mir viel feiner ausgeprägt sind“, erwiderte sie hastig, um dann nach einer kleinen Pause fortzufahren, „trotzdem hätte der Idiot nicht so abrupt stehen bleiben dürfen. Aber typisch Mann, denkt nur an sich, schert sich einen Dreck um seine Mitmenschen.“

„Männer sind eben so“, lachte nun Tina, sie stand auf, „ich sehe schon, Kräutertee ist jetzt nicht das richtige für uns.“

Sie ging in die Küche und kam mit zwei geöffneten Bierflaschen zurück. Sie drückte Leni eine in die Hand.

„Auf alle männlichen Idioten“, sagte sie und stieß gegen Lenis Flasche, „leider können wir nicht auf sie verzichten und sie können so verdammt sexy sein!“

Leni lachte und hob ihre Flasche hoch.

„Auf alle sexy Idioten!“ erwiderte sie den Trinkspruch ihrer Freundin.

„Genau“, bekräftigte diese, dann sah sie Leni an, „und tu endlich dieses hässliche Ding von Brille weg. Es irritiert mich, dass du hier im Zimmer mit dem Monstrum auf der Nase herumsitzt!“

Zögernd griff Leni zur Brille, aber dann nahm sie sie entschlossen ab. Sie wusste selbst, dass die Brille ein altmodisches Ungetüm war, aber sie war ihr Schutzschild, hinter der sie sich gegen die Welt der Sehenden schützte. Seit sie in der Pubertät innerhalb weniger Jahre ihre Sehkraft auf Grund einer Krankheit verloren hatte, waren fast acht Jahre vergangen, und dank ihrer besten Freundin Tina hatte sie nach Jahren der Verzweiflung wieder ihren Platz in dieser hektischen Welt gefunden. Was nicht zuletzt auch ihrer treuen Hündin zu verdanken war.

Nur wenn so ein Schnösel sie blöd anmachte, stieg die alte Verbitterung wieder in ihr hoch!

 

Im Lokal herrschte schon eine ausgelassene Stimmung und Michael wurde mit lautem Hallo begrüßt.

„Ich habe schon geglaubt, dass du doch nicht kommst“, sagte Peter vorwurfsvoll, als er ihn begrüßte.

„Ich wurde nur etwas aufgehalten“, wehrte Michel ab.

„Doch hoffentlich nichts in der Klinik?“ fragte Andrea, Peters Frau besorgt.

Michael begrüßte die hübsche Dunkelhaarige mit einem Kuss auf die Wange.

„Nein“, lachte er, „da lief alles wie immer, hektisch und ein Notfall nach dem anderen. Ich hatte einen Zusammenstoß auf der Straße.“

Nun erzählte er mit einigen Worten, was gerade passiert war.

„Die Frau war nicht hin und weg von dir?“ Andreas Augen wurden groß, „sie hat dich beschimpft? Dann muss sie blind gewesen sein!“

Was Andrea nur so daher gesagt hatte, ließ Michael erstarren.

Die große Brille, der Hund, der Zusammenprall?!

Es war nicht wegen der Brille, dass die Frau in ihn hineingelaufen war, es hätte ihr nichts genützt, wenn sie das Monstrum von Brille abgenommen hätte. Sie war wirklich blind! Und der wohlerzogene Hund war nichts weiter als ein abgerichteter Blindenhund! Was war er nur für ein miserabler Arzt, dass er das nicht erkannt hatte? Am liebsten hätte er die Zeit zurückgedreht, um sich gebührend entschuldigen zu können. Andrea bemerkte seinen frustrierten Gesichtsausdruck und hakte sich bei ihm unter.

„Lass dir deswegen keine grauen Haare wachsen“, sagte sie fröhlich, „was geschehen ist, ist geschehen und du wirst die Frau wahrscheinlich ohnehin nie mehr treffen.“

Sie zog ihn mit sich und bald wurde er von der ausgelassen Stimmung mitgerissen und er vergaß die Begegnung mit der jungen blinden Frau. Es wurde ein vergnüglicher Abend und da Michael am nächsten Tag frei hatte, konnte er ganz entspannt mitfeiern. Einige der ehemaligen Studienkollegen waren auch anwesend und bald war er umgeben von neugierigen Leuten, die ihn über seine Berufserfahrung in den USA ausfragten. Er berichtete auch gerne darüber, nur wehrte er jede auch noch so kleine Frage über sein Privatleben in dieser Zeit ab.

 

„Nun aber Schluss mit dem Fachsimpeln“, wurden sie energisch von Andrea unterbrochen, „das hier ist kein Ärztekongress und auch keine Anwaltskanzlei!“

Sie wandte sich direkt an Michael: „Komm, ich stell dich einer Freundin vor.“

„Verkupple den armen Michael nicht schon wieder“, wehrte Peter ab, aber Andrea winkte ab.

„Irgendwann kriege ich ihn schon noch unter die Haube“, grinste sie und zog Michael mit sich, worauf Peter Michael einen entschuldigenden Blick zuwarf.

 

Kurz darauf fand er sich in einer Unterhaltung mit einer wunderschönen, schwarzhaarigen Frau, Mitte dreißig, die auf angenehme Art selbstbewusst und intelligent war. Als er anbot, etwas zu trinken zu holen, bekam er beim Zurückkommen unfreiwillig ein Gespräch mit, das Andrea mit der Frau führte.

„Wo hast du denn diese Sahneschnitte von Mann aufgegabelt?“ fragte die Schwarzhaarige, „wie konntest du mir so ein Exemplar von Mann so lange vorenthalten?“

„Ich habe dir doch versprochen, dass dieser Abend noch eine Überraschung bereit hält“, gab Andrea grinsend zur Antwort, dann wurde sie ernst, „aber spiel nicht mit ihm. Er hat eine schwere Zeit hinter sich und ich will nicht, dass ihn jemand verletzt. Er ist Peters bester Freund und auch meiner.“

„Spielen?“ Christine lachte, ihre grünen Augen blitzten, sie warf ihr langes schwarzes Haar über die Schulter zurück, „ich will ihn nicht heiraten, sondern nur ein wenig Spaß haben und wenn er es auch will, umso besser!“

Sie sah Andrea forschend an.

„Und du bist dir sicher, dass er ungebunden und frei ist?“ fragte sie nach.

„Er ist geschieden und momentan ungebunden“, nickte Andrea, „und er hat, soviel ich weiß, auch kein Interesse an einer engeren Beziehung.“

Unwillkürlich seufzte Andrea, denn sie hatte Michael wirklich gerne und hätte ihm auch von Herzen eine so glückliche Beziehung gewünscht, wie sie und Peter sie führten.

„Hab ich auch nicht“, erwiderte Christine schroff, „auch ich habe meine Zeiten hinter mir. Außerdem fahre ich morgen Abend zurück nach Berlin, also erübrigen sich deine Sorgen um deinen Schützling“, sie machte eine Pause, dann seufzte sie, „ich kann es gar nicht glauben, dass er keine Freundin hat, diese blauen Augen! Diese Figur! Arzt ist er auch noch! Und ich muss nach Berlin zurück!“

 

Michael war fast versucht, sich umzudrehen, um hinter sich nachzusehen, von wem Christine so schwärmte. Er war es zwar gewöhnt, dass Frauen ihn anhimmelten, aber das waren fast immer Patientinnen, die in ihm den Gott in weiß sahen und nicht den Mann, das glaubte er zumindest. Und seine Exfrau Lisa war von ihrer eigenen Schönheit so überzeugt gewesen, dass sie es für selbstverständlich hielt, einen attraktiven Mann an ihrer Seite zu haben.

 

Michael zog sich etwas zurück, um von einer anderen Seite auf die Frauen zuzugehen, denn er wollte nicht, dass sie mitbekamen, dass er ihr Gespräch belauscht hatte.

Ihm gefiel diese Christine und wenn sie Spaß haben wollte, gut! Dagegen hatte er nichts, im Gegenteil! In weiteren Gesprächen versuchte er auszuloten, für wieviel Spaß Christine zu haben war und sie stieg auf seine Flirtversuche sofort ein.

Als Michael zu später Stunde das Lokal verließ, ging Christine wie selbstverständlich mit.

„Bist du mit dem Auto hier?“ fragte sie ihn, als sie auf dem Gehsteig standen.

„Nein, wenn ich vorhabe, zu trinken, fahre ich nie selbst“, antwortete Michael, er sah Christine an, sie erwiderte seinen Blick, Erwartung sprach aus ihren Augen.

Michael senkte seinen Kopf und ihre Lippen trafen aufeinander.

Sofort öffnete Christine bereitwillig ihren Mund und erwiderte seinen Kuss voller Leidenschaft.

„Zu dir oder zu mir?“ fragte sie danach mit vor Leidenschaft heiserer Stimme.

„Wir können gerne zu mir fahren“, antwortete Michael, „aber ich kann dir morgen früh kein Frühstück bieten, ich habe kaum Lebensmittel im Haus.“

„Wer braucht schon ein Frühstück, wenn er etwas anderes haben kann?“ hauchte Christine verführerisch.

Michael nickte ebenfalls grinsend und gemeinsam gingen sie die paar Schritte zu einem Taxistand. Bevor Christine in ein Taxi steigen konnte, hielt Michael sie zurück.

„Ich möchte vorher noch etwas klären“, er zögerte, „du bist eine tolle, wunderschöne Frau und ich möchte sehr gerne mit dir schlafen, aber wenn du mehr erwartest, sollten wir es beenden, bevor es begonnen hat.“

Er sah sie ernst an, aber Christine lachte.

„Du bist ein sehr attraktiver Mann“, erwiderte sie noch immer lachend, „und ich möchte auch sehr gerne mit dir schlafen“, sie wurde ernst und legte eine Hand an seine Wange, „Andrea hat mich schon gewarnt, dass du keine Beziehung willst. Keine Angst, auch ich will keine Beziehung, denn auch ich trage meine Vergangenheit mit mir herum. Vergessen wir doch einfach alle, die uns in der Vergangenheit wehgetan haben und lass uns ganz einfach miteinander Spaß haben.

Einverstanden?“

Einverstanden“, nickte Michael erleichtert und beide setzten sich ein Taxi, um in Michaels Wohnung zu fahren.

Kapitel 3

 

Michael war zufrieden mit seinem Leben, so wie es gerade lief.

Er hatte eine wirklich tolle Nacht mit Christine verbracht, die Frau war eine Wucht! Und da er am nächsten Tag freihatte und sie auch erst am Abend nach Berlin zurückkehren musste, hatten sie noch den halben Tag miteinander im Bett verbracht. Hatten Pizza bestellt und sich gegenseitig damit gefüttert, er hatte den Wein von ihrem Körper geleckt und sie hatte ihn mit ihren freizügigen Ideen überrascht. Mit dem vagen Versprechen, sich wieder zu melden, hatten sie sich im besten Einvernehmen getrennt.

Im Laufe der nächsten Wochen hatte es sich eingebürgert, dass sich Christine meldete, wenn sie wieder in der Stadt war und sie beide sich entweder bei ihm, oder bei ihr im Hotel trafen. Auch war er schon während eines freien Wochenendes in Berlin bei ihr gewesen und sie hatten immer sehr viel Spaß miteinander, aber nicht mehr.

Kurz hatte Michael überlegt, ob er sich eine echte Beziehung mit Christine vorstellen konnte, aber er liebte sie nicht. Er begehrte sie, aber nicht mehr. Da sie immer offen zueinander waren, hatte er ihr von seinen Überlegungen erzählt und Christine hatte gestanden, dass es ihr genauso ginge. So hatten sie beschlossen, so lange miteinander Spaß zu haben, wie es eben dauerte und nicht mehr. Sollte einem von ihnen die echte Liebe begegnen, dann sollte er so ehrlich sein und es dem anderen gleich mitteilen. Aber Michael hatte für sich selbst ohnehin schon ausgeschlossen, dass ihm jemals die echte Liebe begegnen würde.

Einmal, da hatte er geglaubt, sie gefunden zu haben, die echte, wahre Liebe, aber das hatte sich als schmerzlicher Irrtum herausgestellt. Nein, entschlossen schüttelte er den Kopf. Er musste sich auf den kommenden Tag konzentrieren und verbannte alle Gedanken an die Vergangenheit ganz weit hinten in seinem Gehirn.

 

Er eilte, ganz vertieft in den Befunden eines seiner Kummerpatienten lesend, durch die Gänge des Krankenhauses, als ihn ein Aufjaulen stocken ließ. Ein Hund sah ihn empört an, denn er war diesem sichtlich auf den Schwanz getreten. Nach einer Schrecksekunde fasste er sich wieder.

„Hunde sind hier nicht erlaubt!“ sagte er aufgebracht.

„Meiner schon“, kam es schnippisch zurück und als er die Sprecherin ansah, sah er sich in bekannten Sonnenbrillen wiedergespiegelt.

„Die frustrierte Zicke“, entfuhr es ihm.

„Der arrogante Macho“, kam es ebenso zurück.

Michael räusperte sich.

„Ich muss mich entschuldigen“, versuchte er dann freundlich zu sein, „ich habe mich unlängst wie ein Flegel benommen. Sie hatten recht, ich hätte mehr Rücksicht auf meine Mitmenschen nehmen müssen, aber ich wusste nicht, dass Sie…“

„Was?“ zischte die Sonnenbrille zurück, „dass ich blind bin, ein Krüppel bin? Ich pfeife auf ihr Gutmenschgetue!“

„Na dann eben nicht, sichtlich sind Sie wirklich ein frustrierte Zicke“, zuckte Michael mit den Schultern.

Er beugte sich zum Hund runter.

„Ich entschuldige mich bei dir“, er strich dem Hund liebevoll über den Kopf, „ich mag Hunde und du scheinst ein besonders nettes Exemplar zu sein. Ganz im Gegensatz zu deinem Frauchen, aber man kann sich seinen Chef nicht aussuchen, nicht wahr?“

„Lassen Sie das!“ fauchte die Sonnenbrille, „meinen Hund anzuschleimen nützt Ihnen auch nichts!“

„Ich hoffe sehr, dass Sie zu ihrem Hund netter sind, als zu ihren Mitmenschen“, antwortete Michael nun auch zornig.

„Mein Hund ist auch netter, als so arrogante Är…äh…Exemplare wie Sie es sind“, die Wangen der Sonnenbrille waren jetzt hochrot, ob wegen des im letzten Moment nicht ausgesprochenen Schimpfwortes, oder vor Wut, konnte Michael nicht feststellen.

„Wenn Sie alle ihre Mitmenschen so behandeln, dann tun Sie mir leid, denn dann müssen Sie sehr einsam sein“, erwiderte Michael, er wandte sich zum Gehen.

„Es geht Sie gar nichts an, ob ich Freunde habe oder nicht, Sie…Sie…“

„Arroganter Macho?“ half Michael aus, fast hätte er über die absurde Situation gelacht, aber stattdessen drehte er sich um und ging, ohne sich weiter um das Mädchen zu kümmern, seiner Wege.

 

„Was war denn das?“ fragte Tina verblüfft.

Sie hatte sich extra freigenommen, um ihre Freundin zu deren Routinekontrolle in die Augenambulanz zu begleiten.

„Das war dieser Idiot, in den ich damals hineingelaufen bin“, grollte Leni, sie war wütend, aber auch über sich selbst entsetzt, dass sie diesen Kerl fast einen Arsch genannt hätte.

Wo blieb ihre, von ihrer Mutter ihr so mühsam eingebläute gute Erziehung?

Aber an diesem Mann war etwas, das sie schon hochgehen ließ, wenn sie ihn nur atmen hörte, seinen Geruch wahrnahm. Eine Mischung nach teurem Duschgel, Bergen, Sonne, Wäldern… Nein, er war ein arroganter A…und sonst nichts!

„Ich wollte, ich wäre in ihn hineingelaufen“, sagte Tina und ihre Stimme klang verdächtig schwärmerisch.

„Warum?“ neugierig sah Leni in Tinas Richtung.

Sie hatte darin nun schon so eine gute Übung, dass es Fremden nie auffiel, dass sie ihr Gegenüber gar nicht sehen konnte.

„Warum?“ wiederholte Tina ihre Frage, „du hast dich mit dem wahrscheinlich bestaussehendsten Mann der ganzen Stadt, was heißt Stadt, des ganzen Landes, angelegt.“

„Ja, ich dachte mir schon, dass er ganz passabel aussehen könnte“, erwiderte Leni nachdenklich, „bei dieser Stimme!“

„Naja, nicht jeder Radiomoderator sieht so aus, wie seine Stimme klingt“, gab Tina lachend zur Antwort, „da ist es manchmal wie eine kalte Dusche, wenn man dann ein Bild sieht.“

„Und hatte ich recht mit der Schätzung seines Alters?“ versuchte Leni nicht zu neugierig zu klingen.

„Ich schätze ihn auf Anfang dreißig“, antwortete ihre Freundin, „genau das Alter, wo Männer beginnen, besonders sexy auszusehen!“

Sie sah ihre Freundin forschend an, rechnete mit einer schnippischen Antwort aber Leni antwortete nicht darauf, sie hatte den Kopf in die Richtung gewandt, in der seine Schritte verklungen waren.

„Was er wohl hier macht?“ sagte sie mehr zu sich selbst, „hoffentlich ist er nicht krank.“

Tina sah ihre Freundin verblüfft an, dann grinste sie in sich hinein, sichtlich war ihre Freundin an diesem Mann mehr interessiert, als sie je zugegeben hätte.

„Das glaube ich nicht“, berichtigte sie Leni, „er hatte einen Arztkittel an.“

„Ein Arzt?“ Empörung wallte wieder in Leni auf, „nie im Leben ist der ein Arzt! Höchstens ein Pfleger“, sie begann zu kichern, „nach außen durch und durch arrogant und in Wirklichkeit wäscht er alten Leuten den Hintern.“

Tina fiel in ihr Lachen mit ein, war aber nicht der gleichen Meinung, dazu wirkte der Mann zu selbstbewusst. Er war genau der Arzt, von dem in den Groschenromanen immer geschwärmt wurde!

 

Der von ihr in Gedanken so umschwärmte, betrat gerade das Schwesternzimmer und sofort wurde ihm von einer eifrigen Schwesterschülerin mit einem anhimmelnden Augenaufschlag ein Kaffee gereicht. Er dankte ihr lächelnd, was einen roten Kopf bei dem jungen Ding zur Folge hatte. Michael wusste, dass fast alle Schwestern und auch Ärztinnen ihn anhimmelten, aber es war sein eigenes eisernes Gesetz, fang nie etwas mit Kolleginnen an! Zu oft hatte er schon erlebt, wie sich zumeist ältere Arztkollegen zum Affen machten, wenn so ein junges Ding ihnen schöne Augen machte. Dann das Lügen und betrügen losging und wenn die Affäre vorbei war, es nur noch peinlicher wurde! Einige Male wurden die Ärzte dann sogar erpresst und konnten die nächsten 18 bis 20 Jahre brav Alimente für Kinder zahlen, die sie kaum zu Gesicht bekamen und ihre eigene Familie nicht selten dabei auseinanderbrach. Deshalb hatte er sich schon während seiner Anfangsjahre geschworen, sich nie auf so etwas einzulassen und hatte sich bis jetzt auch eisern daran gehalten.

So war er immer gleichbleibend freundlich zu allen, hatte manchmal ein Scherz auf den Lippen und hatte auch schon so manche überforderte Schwesternschülerin aufgemuntert. Alles Handlungen, aus purer Freundlichkeit gesetzt, wie es seiner Meinung nach zwischen Kollegen sein sollte, aber ohne dass er es bemerkte, schürte er dadurch die Hoffnung auf mehr in so manchem Frauenherz. Wenn er gewusst hätte, in vielen Träumen er Nacht für Nacht vorkam, er hätte wohl kaum ein Auge mehr zugemacht!

 

Zufrieden summte Michael zu dem Lied aus dem Radio mit. Es war ein sonniger Junitag und er war bester Laune, denn er war endlich auf dem Weg in den Urlaub und hatte zwei Wochen ohne jede Verpflichtungen vor sich.

Er grinste in sich hinein, als er an eines der letzten Gespräche mit seinen Kollegen dachte. Natürlich war sein Urlaub auch zur Sprache gekommen.

„Wohin treibt es dich denn diesmal hin?“ fragte ein älterer Kollege neugierig.

Selbst fuhr dieser in seinem Urlaub seit Menschengedenken an die Nordsee, da dessen Frau von dort stammte und diese immer Sehnsucht nach dieser kalten windigen Gegend hatte.

„Ach, Michael reist bestimmt in die Ferne“, warf eine junge Ärztin voller Neid ein, selbst konnte sie sich noch keinen Urlaub leisten, musste noch einen Studienkredit abstottern.

„Du hast recht, ich fliege auf die Malediven“, gab Michael zur Antwort.

„Malediven“, schwärmerisch verdrehte sie die Augen, „das muss toll sein. Du musst unbedingt Fotos machen, damit wir wenigstens Bilder von dort zu sehen bekommen.“

„Ich bleibe nicht an Land“, wehrte Michael ab, „ich mache mit ein paar ehemaligen amerikanischen Kollegen einen Segeltörn.“

„Du machst immer so tolle Reisen“, versuchte es eine andere mit verführerischen Augenaufschlag, „und immer so allein.“

Sollte das eine Aufforderung sein, sie einmal einzuladen, mit ihm zu kommen?

Das musste er sofort abblocken!

„Wer sagt denn, dass ich allein fahre“, grinste er geheimnisvoll, worauf alle weiblichen Anwesenden die Augen aufrissen und alle männlichen Kollegen grinsten.

„Du Schwerenöter“, schlug ihm einer auf die Schulter, „hier spielst du den Eisblock und in Wirklichkeit bist du längst gebunden.“

„Man tut, was man kann“, gab er lächelnd zurück.

Zufrieden bemerkte er die enttäuschten Gesichter der Frauen, vielleicht ließen sie ihn jetzt in Ruhe!

„Da wirst du braungebrannt zurückkommen“, seufzte ein weiterer Kollege, dieser hatte im Sommer zwar auch immer eine tolle braune Farbe, aber diese holte er sich auf seiner Baustelle, wo er mit viel eigener Arbeit ein Haus baute.

So ging es weiter und man konnte den Neid der Kollegen deutlich heraus hören. Fast alle hatten Familie und ihre Urlaube beschränkten sich meist auf einen Badeurlaub in Norditalien oder Kroatien.

 

Genau dieses Gespräch, ließ Michael nun in sich hinein lächeln. Ja, er würde braungebrannt zurückkommen, aber nicht die Sonne der Malediven wird ihm zu dieser Farbe verhelfen, sondern ganz profan die österreichischen Alpen. Denn er war nicht auf dem Weg zum Flughafen, sondern düste auf der Autobahn in Richtung Süden. Und er würde den Urlaub auch nicht allein verbringen, sondern in sehr angenehmer, liebevoller Gesellschaft. Bei seinen Eltern!

Immer war er voller Liebe und Dankbarkeit, wenn er an sie dachte. Sie hatten ihm alles gegeben, selbst auf so vieles verzichtet, hatten ihn immer unterstützt, ihm während des Studiums so viel Geld gegeben, dass er es nie nötig hatte, nebenbei arbeiten zu müssen. Das dankte er ihnen, indem er überall Bestleistungen gezeigt hatte und sein Studium mit der bestmöglichen Note abschloss. Er hatte seine Arbeit als Allgemeinmediziner geliebt, aber er wollte mehr und so begann er mit der Facharztausbildung zum Chirurgen. Dann machte ihm sein damaliger Klinikchef eines Tages das Angebot, einen Teil seiner Facharzt Ausbildung in Amerika bei dessen Freund, einem namhaften Schönheitschirurgen, der eine Privatklinik in Beverly Hills hatte, zu machen. Michael zögerte, aber da er plastischer Chirurg werden wollte, meinte sein Chef, dass Schönheitschirurgie nicht so weit entfernt davon sei.

 

Seine Eltern waren sofort Feuer und Flamme dafür und seine Einwände, er würde ihnen zumindest am Anfang wieder auf der Tasche liegen, wischten sie mit einer Handbewegung weg.

„Diese Gelegenheit musst du unbedingt nutzen!“ bestärkten sie ihn, „nur die wenigsten bekommen eine solche Gelegenheit! Dafür wirst du später umso mehr verdienen!“

Sie nahmen einen Kredit auf, sein Vater, Lehrer, gab zusätzlich Nachhilfestunden und seine Mutter Filialleiterin eines Supermarktes, nahm noch Putzstellen an. Er bekam zwar aufgrund seiner guten Leistungen ein Stipendium, aber das reichte natürlich bei weitem nicht!

So war er mit viel Glückwünschen und genauso viel schlechten Gewissen nach Amerika gegangen.

Als er es geschafft hatte, und gutes Geld verdiente, konnte er endlich seine Dankbarkeit zeigen und ihnen jeden Monat Geld überweisen, damit sie sich auch etwas mehr leisten konnten.

Nun erfüllten sie sich ihren geheimen Traum, denn sie hatten sich, als sie zum wiederholten Male einen Wanderurlaub in den Bergen Tirols verbracht hatten, in ein kleines Haus verliebt, das schon seit längerer Zeit zum Verkauf stand. Es war sehr reparaturbedürftig und deshalb niedrig im Preis. Trotzdem hatten seine Eltern gezögert, denn sie wollten sich nicht noch zusätzlich in Unkosten stürzen, aber Michael, der zu der Zeit in Amerika schon sehr gut verdiente, beschwor sie, endlich an sich zu denken und das Haus zu kaufen. Er bot an, ihnen das Geld dafür zu geben, aber sie lehnten entsetzt ab, denn er schickte ihnen ohnehin jeden Monat Geld und sie wollten ihn nicht noch mehr belasten.

Sie kauften nach längerem Überlegen doch das Haus und in mühevoller Kleinarbeit in ihrer Freizeit setzten sie es nach und nach instand.

Bald sah es aus wie aus einem Werbeprospekt für einen Urlaub in Tirol. Üppige Blumenkästen zierten fast alle Fenster und auch in dem kleinen Garten, der das Haus umgab, grünte und blühte es.

Stolz hatten sie Michael damals Fotos nach Amerika geschickt und als er einmal bemängelte, dass das Grundstück doch eher klein wäre, schickte ihm sein Vater ein Foto, wo dieser mit der Hand auf die umliegenden hohen Berge zeigte. Darunter stand:

Das nennst du klein? Also ich nenne es gewaltig!“

Als seine Eltern in Rente gingen, gaben sie ihre Wohnung in der Stadt auf und zogen ganz in das Haus nach Tirol.

Und zu diesem Schmuckkästchen von Haus war Michael jetzt unterwegs, denn auch er hatte sich in das Haus und dessen Umgebung verliebt. Nach seiner Rückkehr aus Amerika war es zu seinem Rettungsanker geworden. Eingehüllt von der unaufdringlichen Liebe seiner Eltern und in der Stille der Tiroler Berge konnten seine Wunden heilen, die das Leben ihm geschlagen hatte und er neuen Mut fassen. Seither war es ihm zur lieben Gewohnheit geworden, dass er zumindest einen Teil seines Urlaubs bei seinen Eltern verbrachte, was diese sehr glücklich machte. Seine Mutter konnte ihren Sohn so richtig von Herzen verwöhnen, was sich Michael nur zu gerne gefallen ließ und er wiederum liebte die langen Wanderungen mit seinem Vater und die dabei entstehenden besinnlichen Gespräche.

 

Als er vor einiger Zeit einmal in der Klinik verlauten ließ, dass er seinen Urlaub bei seinen Eltern verbringen würde, hatten die Kollegen nur die Augen verdreht. Die Alten besuchte man zu Geburtstagen und zu Weihnachten, aber man verbrachte doch nicht seinen schwer erkämpften Urlaub bei ihnen! So hatte es Michael aufgegeben und berichtete jedes Mal von irgendwelchen Fernreisen, die er in seinen Urlauben machte. Zum Glück kannte er all diese von ihm genannten Ziele, denn er war schon dort gewesen, aber da war er ein anderer gewesen, in einer anderen Zeit. Eine Zeit, an die er zumindest zum Teil nicht mehr gerne zurückdachte und die doch die ganze Zeit in seinem Kopf war, immer bereit an die Oberfläche zu drängen.

Während er auf der Autobahn dank Tempomat entspannt dahinglitt, schweiften seine Gedanken wieder einmal ab und tauchten in seine Vergangenheit ein.