E-Book-Ausgabe 2021

© 1944 by Vicki Baum, renewed by Valentina Lert & Peter S. Lert

© 2018, 2021 für die deutsche Ausgabe: Verlag Klaus Wagenbach, Emser Straße 40 / 41, 10719 Berlin

Aus dem amerikanischen Englisch von Grete Dupont

Covergestaltung Julie August unter Verwendung eines Aquarells von Lindegreen (Bildpostkarte um 1928)/akg-images. Reihenkonzept von Rainer Groothius. Das Karnickel zeichnete Horst Rudolph.

Datenkonvertierung bei Zeilenwert, Rudolstadt.

Alle Rechte vorbehalten. Jede Vervielfältigung und Verwertung der Texte, auch auszugsweise, ist ohne schriftliche Zustimmung des Verlags urheberrechtswidrig und strafbar. Dies gilt insbesondere für das Herstellen und Verbreiten von Kopien auf Papier, Datenträgern oder im Internet sowie Übersetzungen.

ISBN: 9783803142375

Auch in gedruckter Form erhältlich: 97 8 3 8031 2840 9

http://www.wagenbach.de/​

________ EINLEITUNG

Ich glaube, daß fast jeder Schriftsteller eine Geographie ganz persönlicher Art mit sich herumträgt, eine kleine Welt, in der Landschaften, Städte, Gärten, Häuser, Zimmer mit Wesen seiner eigenen Fantasie bevölkert sind. Über Wochen, Monate, Jahre hinweg verbringt der Schriftsteller sein Leben mit den Gestalten seiner Fantasie so an erdachten Schauplätzen, die er erst verlassen kann, wenn das Buch beendet ist.

Nun denn, vor fast zwanzig Jahren verbrachte ich einige Monate an einem solchen Ort meiner Fantasie, und ich taufte ihn ›Grand Hotel‹. Mein Hotel existierte nicht wirklich, es hatte nichts mit dem ›Adlon‹ oder dem ›Eden‹ zu tun, obwohl es ganz bestimmt in Berlin stand. Es war eine Mischung aus den europäischen Hotels, die ich kannte. Ich nannte mein Buch ›Menschen im Hotel‹, und späterhin wurde es als ›Grand Hotel‹ ein internationaler Erfolg. Man machte ein Theaterstück daraus, einen Film, und nebenbei war es auch der Anlaß meiner Auswanderung nach den Vereinigten Staaten im Jahre 1931, zu einer Zeit, da Hitler nichts war als ein fernes Wetterleuchten am Horizont.

Ich weiß nicht, wie andere Schriftsteller an die Arbeit gehen; für mich beginnt alles Schreiben mit einer Frage – einer Frage von der Hartnäckigkeit eines Bohrwurmes. Im Falle des vorliegenden Buches begann sich eine solche Frage um die Zeit in meinem Kopf festzusetzen, als die Alliierten in Sizilien landeten. Die Frage, die mich Tag und Nacht nicht in Ruhe ließ, war: Wie sieht es jetzt in Deutschland aus? Was denken, fühlen, fürchten und hoffen die Deutschen in einem Augenblick, da schon die ganze Welt das Menetekel an der Wand lesen kann? Mit anderen Worten: Was geht zu diesem Zeitpunkt in meinem ›Grand Hotel‹ vor?

Die Antwort darauf gab ich mir in diesem Buch, das damit also eigentlich der zweite Teil von ›Menschen im Hotel‹ ist. Wie zuvor war mir das Hotel mehr oder weniger das Symbol für einen Ort, wo alle möglichen Menschen einander begegnen, wo ihre Wege sich kreuzen und wieder trennen. Da es mir nicht möglich war, nach Deutschland zurückzukehren, wo ich ebensoviele Jahre gelebt hatte wie in meinem Geburtsland Österreich und in meiner neuen Wahlheimat, den Vereinigten Staaten, versetzte ich mich im Geist dorthin. Ich sammelte jedes Fetzchen Information, das ich mir über Deutschland verschaffen konnte; es ist überflüssig zu sagen, daß die meisten dieser Berichte auf verschlungenen Wegen zu mir kamen: durch Mitglieder verschiedener Widerstandsbewegungen; als Mitteilungen, die aus Deutschland herausgeschmuggelt wurden, in Briefen und Erzählungen deutscher Kriegsgefangener, in Gesprächen mit Menschen, die in Gestapokellern gefoltert, in Konzentrationslagern bis an den Rand des Todes gebracht worden und durch irgendein Wunder entkommen waren. Ich erinnerte mich all der Deutschen, die ich gut gekannt hatte, vom Diplomaten über den General bis zum Gassenjungen; ich verglich die trübselige Wahrheit der Lage Deutschlands mit der aufgeblasenen Propaganda und gedachte der hoffnungslosen Unwissenheit, in der das deutsche Volk gehalten wurde. All dies versuchte ich, in meinem Buch lebendig zu machen.

Es ist eine Handlung, die sich innerhalb von vierundzwanzig Stunden entfaltet und die unaufhaltsam der Katastrophe entgegentreibt. Heute, nachdem alles sich so tragisch erfüllt hat, was damals nur eine Ahnung war, scheint es mir bemerkenswert, daß zu der Zeit, da ich das Buch schrieb, nämlich im Frühsommer 1943, noch nichts von all dem geschehen war, was ich in meinem Buch schildere. Die schweren Fliegerangriffe auf Berlin, die Verschwörung der Generäle, der ganze Zerfall mit dem schließlichen Zusammenbruch des Dritten Reiches kamen erst später – aber sie kamen. Die ganze Welt sah die Vorzeichen und wußte, daß es so kommen mußte, nur die Deutschen glaubten nicht daran.

Ich möchte ein paar Worte zitieren, die ich diesem Buch voranschickte, als ich es mitten im Krieg in New York veröffentlichte. Damals schrieb ich: »Wie sehr auch die Nazis die äußere Lebensform der Deutschen verändert haben mögen, ich weiß, daß die Menschen im Grunde die gleichen geblieben sind. Der Nationalcharakter eines Volkes ist stärker als jene Veränderungen, die sich unter dem Einfluß irgendeiner zeitweiligen politischen Macht an der Oberfläche zeigen mögen. Zwar ist das Dritte Reich mit seinem seltsamen Gemisch aus Organisation und mystischem Schwulst, aus Sentimentalität und rücksichtsloser Brutalität eine Ausgeburt des deutschen Charakters. Aber zu denken, daß der Feind ausschließlich bösartig sei, ein bocksfüßiger Teufel sozusagen, das wäre eine gefährliche Simplifizierung. Ich gestehe, daß ich diese Simplifizierung, die eine Flut falscher Rückschlüsse hinsichtlich der Deutschen bewirkte, müde bin. Ich bin der Ansicht, daß man auch in einem Krieg nicht vergessen darf, daß es Menschen sind, aus denen eine Nation besteht, und daß die Menschen überall auf der Welt einander gleichen. Ausschließlich schlechte Menschen sind ebenso selten wie ausschließlich gute, hier sowohl wie im Feindesland.

Das politische Klima des gegenwärtigen Deutschland ist anti-revolutionär. Ich glaube nicht, daß die Deutschen – ihrer Natur und Tradition nach eher gewöhnt, zu gehorchen als zu rebellieren – die Energie und Entschlossenheit aufbringen, die nötig ist, um die Naziherrschaft zu brechen. Die Alliierten werden das für sie tun müssen.«

Auch heute habe ich dem wenig hinzuzufügen, es sei denn, daß ich wünschte, die Deutschen wie ihre früheren Kriegsgegner würden einen klareren Unterschied zwischen Schuld und Verantwortung machen. Die Schuld am Krieg lag und liegt bei den deutschen Führern, die ohne jeden Grund die ganze Welt in dieses entsetzliche Elend stürzten. Aber die Verantwortung für den vernichtenden Ausgang dieses Krieges liegt beim deutschen Volk, das weder den Mut noch den Wunsch hatte, diese Führer abzusetzen, solange es noch Zeit dazu war. Und mein Buch will nichts weiter sein als ein kleiner, vielleicht sogar etwas getrübter Spiegel, in dem sich das Antlitz Deutschlands spiegelt, so wie es zwei Jahre vor Kriegsende aussah.

Vicki Baum

Los Angeles, September 1946

________ HOTEL BERLIN

In ihren alten Männerstiefeln kam die Telegrafenbotin zur Hotelhalle hereingeschlurrt und nahm ihren Weg zum Empfangstresen. »Telegramme«, sagte sie und hielt Kliebert ihren Block zum Unterschreiben hin.

»Was gibt’s Neues?« fragte Kliebert.

»Es heißt, sie haben Bremen gestern nacht derartig zusammengebombt, daß kaum noch ein Haus steht. Sechzigtausend Tote. Die Züge sind gerammelt voll mit Verwundeten. Den Papst haben sie gefangengesetzt. Die Amerikaner haben Rom eingenommen. Unsere Soldaten in Rußland strecken die Waffen und wollen Kommunisten werden, aber Stalin hat sie alle erschießen lassen.«

»Ist das alles?«

»Den Richter haben sie noch nicht erwischt«, erklärte die alte Frau mit ihrer Totengräberstimme und schlurrte davon.

»Was hat sie gesagt?« fragte Ahlsen, der schweißgebadet zum Tresen zurückkehrte. Da Schmidt fehlte und der Fahrstuhl außer Betrieb war, hatte er sich widerstrebend herabgelassen, die Koffer der Gäste zu tragen.

»Die ist nicht ganz richtig im Oberstübchen«, sagte Kliebert, an seine Stirn tippend. Aber er wußte, und auch Ahlsen wußte, daß die absurden Gerüchte, welche die alte Frau abschnurrte wie eine zerbrochene Grammophonplatte, einen wahren Kern hatten. Mit anderen Worten: Gestern standen die Dinge gut, heute standen sie schlecht. In der Tat, an diesem hellen, sonnigen Morgen standen sie sehr schlecht. Im Hotel herrschte Sodom und Gomorrha. Es war, als ob sämtliche Hotelgäste sich zur gleichen Zeit an den Tresen drängten, alle vom gleichen Wunsch getrieben: fort, nur fort aus Berlin! Um jeden Preis nur weg aus dieser gefährdeten Stadt, aus diesem untergehenden Land. Da wurde nach Zügen gefragt, nach Flugzeugen, nach Fahrplänen, nach Abfahrtszeiten; von den beiden hilflosen alten Männern wurden Verbindungen für Ferngespräche nach Stockholm, Zürich, Ankara und Bukarest verlangt. Doktor Hüningen, der in seiner Ecke saß, diagnostizierte die Symptome und faßte bei sich zusammen: Die Euphorie ist vorbei; nun kommt das Ende. Er verließ seinen Tisch und stelzte zum Tresen.

»Telegramm für mich?«

»Nein. Ich habe Ihnen doch gesagt, daß ich Sie rufe, wenn es da ist«, schrie Ahlsen unhöflich.

»Überreizt?« fragte Hüningen nicht unfreundlich.

»Nein!« brüllte Ahlsen. »Aber ich kann nicht alles alleine machen. Wo stecken denn bloß die Pagen heute?«

»Beruhigen Sie sich, Mensch«, sagte der Arzt. »Nehmen Sie’s nicht so tragisch. Das ist nicht die erste Panik dieses Krieges, und es wird nicht die letzte sein.«

»Ich weiß nicht, wovon Sie reden. Wir haben keine Panik. Warum sollten wir auch eine haben?« erwiderte Ahlsen, Parteidisziplin wahrend.

»Ich könnte verschiedene Gründe dafür nennen«, meinte der Arzt leicht belustigt. Ich glaube, heute werden wir noch ein paar Nervenzusammenbrüche kriegen, sprach er zu sich selbst, als er zu seinem Tisch zurückging.

Schmidt erschien um zehn Uhr dreißig, sozusagen in Vitriollaune. Er rammte sich die Portiermütze mit einem hohlen Knall auf den Kopf, riß seine Schlüssel, seinen Bleistift und seine Liste an sich und stürzte sich wütend in die Verwirrung, die um den Tresen herrschte.

»Na, hat man Sie behalten?« fragte Ahlsen, vor Schadenfreude fast platzend.

»Jawohl! Und Sie werden se genauso bei die Hammelbeene kriegn, und bald, mit samt Ihrem Parteiabzeichen und allem, das lassen se sich von mir sagen. Nu werden se bald jeden schielenden lahmen alten Krüppel zusammenkratzen, genauso wie sie’s 1918 gemacht haben; alles Kanonenfutter. Nich mal so viel Zeit lassense ’nem Menschen, sich um seine Familie zu kümmern. Heute ist mein letzter Tag im Hotel. Morgen bin ich Soldat, und Sie können sich Ihre dumme Lache sonstwo hinstecken. Sie werden auch bald einer sein.«

»Ich wäre stolz, wenn sie mich nehmen würden, trotz meines Alters und meines Rheumatismus«, sagte Ahlsen großspurig.

»Rheumatismus! Die werden Ihnen zeigen, was Rheumatismus ist!« sagte Schmidt in heller Wut. Er fühlte sich so elend, daß er sich am liebsten über den Tresen geworfen und geweint hätte. Plötzlich fing er an, die Pagen anzuschreien: »Was ist denn hier los? Wo sind denn diese Lümmels? Kaum bin ich nicht da, faulenzen se rum. Zur Inspektion anstellen! Aufgepaßt! Wo ist Nummer vier? Wo ist Nummer sechs?« Sein Arm schnellte vor und fing Adolf ein. »Wo steckst du die ganze Zeit, du Rotznase? Kämm dir deine Haare. Nummer 63 will die Post aufs Zimmer, 47 verlangt nach dem Hausknecht. Als ob wir noch einen Hausknecht hätten! Ach ja! Monsieur Rougier ist im Rauchzimmer und will gerufen werden, wenn der Herr Gauleiter Plottke nach ihm fragt! Los! Mach dich auf die Socken, oder ich will dir das Laufen schon beibringen!«

Page Nummer sechs flitzte davon. Schmidt wischte sich den Schweiß vom Gesicht und setzte ein höfliches Lächeln auf wie eine Maske.

»Heil Hitler, Herr Baron. Schöner Morgen, Herr Baron. Was darf ich für den Herrn Baron tun?«

»Wenn Herr Kommissar Helm nach mir fragt: Ich bin im Konferenzzimmer mit Herrn Dahlin. Fahrstuhl noch immer außer Betrieb? Na, schon gut«, sagte von Stetten und ging hinauf zum Zwischenstock.

Keiner hatte mehr Grund, einem Nervenzusammenbruch nahe zu sein, als Baron von Stetten, und keiner zeigte sich in besserer Stimmung, unberührter und zuversichtlicher als er. An Tagen wie heute, wenn jedermann hysterisch wurde, wenn alle Plottkes den Kopf verloren, und wenn Flüsterberichte davon sprachen, daß sogar der Führer eine seiner manischen Depressionen erlitten hätte, war Baron von Stetten seinen Vorfahren für die starken Nerven dankbar, die sie ihm vererbt hatten, und seiner Erziehung auf Offiziersschulen, wo Haltung gelehrt wurde. Wie General von Dahnwitz, Herr Schmidt und Millionen andere Deutsche hatte der Baron unter drei verschiedenen deutschen Fahnen gedient: unter dem Schwarz-Weiß-Rot des Kaiserreichs, unter dem Schwarz-Rot-Gold der kurzlebigen Republik und unter dem Hakenkreuz des Dritten Reiches. Er hatte allen dreien die Treue geschworen und an keine Regierung geglaubt. Wenn er in seinem Zynismus überhaupt an etwas glaubte, so war es an sein Vaterland, das immer Bestand haben würde, mochte seine politische Form auch veränderlich und vergänglich sein. Auf jedem Posten, der ihm anvertraut worden war, hatte er sein Bestes geleistet, und trotzdem war er eher Zuschauer geblieben als Anhänger. Er war sich nicht bewußt, je charakterlos gehandelt zu haben. Er hatte reine Hände und ein gutes Gewissen. Er hatte immer seine Pflicht getan und würde weiter seine Pflicht für Deutschland tun, unter was für einer Regierung es nach dem Krieg auch wiedererstehen mochte. Er zweifelte nie daran, daß eine künftige Regierung, welcher Art sie auch sein möge, ihn brauchen würde. Deshalb blieb er unbeteiligt und ging seinen Geschäften nach wie gewöhnlich.

Um sieben Uhr früh hatte er auf seinem Schreibtisch im Auswärtigen Amt einen Auszug der letzten Rundfunksendungen vorgefunden, der legalen sowohl wie der illegalen, und sie mit den Nachrichten, die sein Büro während der Nacht direkt erhalten hatte, verglichen; sie übermittelten ihm ein ziemlich vollständiges Bild davon, wie die Dinge standen: Was gestern abend wie ein erfolgreich abgewendeter Luftangriff auf Berlin ausgesehen hatte, entpuppte sich als ein vernichtendes Bombardement von Bremen. Noch immer liefen Einzelheiten ein über eine Katastrophe. Die gleiche Geschichte wie in Hamburg und Köln. Fabriken zerstört; die Bevölkerung in panischer Furcht; überfüllte Spitäler; Züge, Eisenbahnen, Landstraßen mit Ausgebombten verstopft; dänische Arbeiter flohen in ihre Heimat. Die ganze musterhafte Organisation der Nahrungsmittelverteilung, der industriellen Produktion, des Transportes – alles unterbrochen. Das war das Schlimmste, denn die Maschinerie des Dritten Reiches war nicht auf Improvisationen eingestellt. Dies war Chaos – und Chaos war unerträglich für Deutschland. Von Stetten war froh, daß es nicht die Angelegenheit seines Amtes war, den tragischen Zusammenbruch im Nordwesten aufzuhalten. Mochten sich die Kollegen im Kriegsministerium den Kopf zerbrechen über den Zusammenbruch der Offensive in Rußland. Mochte sich die Gestapo um die wachsende Unruhe in den Großstädten kümmern, und mochten sich die alten Parteibonzen um den Gesundheitszustand von Hitler, Goebbels und Göring Gedanken machen. Sein drückendstes Problem und das Problem des gesamten Auswärtigen Amtes waren im Augenblick die Sturmsignale, die aus Italien kamen. Als verbündete Macht war Italien erledigt, ein nutzloser Kadaver. Für den Nachmittag war eine dringende Sitzung einberufen worden. Aber zwischen häßlichem Morgen und diesem stürmischen Nachmittag hatte von Stetten zum Überfluß noch verschiedene höchst unerfreuliche Konferenzen mit einigen Mitgliedern der Zentraleuropäischen Handelskommission anberaumt. Festreden halten und Banketten beiwohnen war ganz nett, aber von Stetten war ein Realist und wußte, daß die ernsthaften Verhandlungen mit den Männern aus der Türkei, Schwedens, Rumäniens und Hollands etwas ganz anderes waren. Als er das Konferenzzimmer betrat, wo er Dahlin absichtlich für zehn wohlberechnete Minuten hatte warten lassen, hätte indes niemand etwas anderes in seinem Gesicht lesen können als Selbstvertrauen und fröhlichen Optimismus.

»Guten Morgen, Dahlin, guten Morgen, meine Herren«, sagte er flott, die Männer musternd, die um den ovalen Tisch saßen. »Bedaure, ein paar Minuten zu spät zu kommen. Ich habe mich bei meinem Chef noch im letzten Moment unbeliebt gemacht, nur um ein paar Vorteile für Sie herauszuschlagen, Dahlin«, sagte er zu dem Schweden. Dahlin war ein großer, kräftiger Mann in den Fünfzigern, kahlköpfig, in dessen eigensinnigem Gesicht mit dem langen Kinn kalte, eisgraue Augen saßen. Er hatte einen Sekretär mitgebracht und einen schwedischen sowohl wie einen deutschen Rechtsanwalt. Stetten hatte keine andere Unterstützung als einen Dolmetscher, für den Fall, daß sich der perfekt Deutsch sprechende Dahlin der Juristensprache nicht gewachsen zeigen sollte, und einen Stenografen, um das Protokoll aufzunehmen. Dr. Kremer, einer der führenden Männer von Duisburg-Stahl, hatte ihn im Stich gelassen, hatte sich einfach telegrafisch entschuldigt. Das war ein schlechtes Zeichen. Des Führers Bild schaute hochmütig von der Wand herab.

»Ich komme in medias res«, sagte Stetten leichthin. »Es ist ein bedauerlicher Stillstand in den Erzlieferungen eingetreten, die von Ihren Minen für unsere Fabriken bestimmt sind, und ich bin hier, um herauszufinden, was wir tun können, um aus dem Weg zu räumen, was immer es auch sei, das den freien Fluß der Güter von Schweden nach Deutschland blockiert. Wir sind alte Freunde, Dahlin, und ich plaudere wirklich aus der Schule, wenn ich Ihnen sage, wie sehr wir Ihr Erz benötigen. Ich sage es ohne Umschweife: Wir benötigen es dringend. Vielleicht ist es nicht sehr schlau von mir, so aufrichtig zu sprechen, aber, Dahlin, alter Schwede, ich weiß, daß es keinen Zweck hat, Ihnen etwas vorzulügen. Also, wir brauchen Ihr Erz, und ich möchte, daß Sie mir sagen, was wir tun können, um regelmäßig beliefert zu werden, wie wir bis zum – warten Sie – bis zum 17. April dieses Jahres immer beliefert wurden.«

»Mein lieber Freund«, antwortete Dahlin, »Sie kennen die Tatsachen genausogut wie ich. Wir betreiben einen Tauschhandel. Wir geben euch Erz, ihr gebt uns Kohle. Ihr schickt uns Eisenbahnzüge mit Kohle, wir schicken eure Züge mit Erz beladen zurück. Nun habt ihr neuerdings Schwierigkeiten mit euren Transportmitteln. Ich habe hier die Zahl der Lokomotiven vor mir, die ihr während der letzten sechs Monate verloren habt, eine recht erschreckende Zahl; aber macht nichts. Wir sind eure Freunde. Wir verstehen. Wir laden unser Erz auf Schiffe und senden es via Rotterdam, und ihr schickt Schiffe mit Kohlenladungen zurück. Aber rums! Der Rotterdamer Hafen wird von der Landkarte weggebombt; gut, wir sind geduldig. Wir warten. Unsere Regierung wartet, unsere Banken warten, unsere Minen warten. Wir verladen unser Erz auf Schiffe und senden sie euch via Emden. Der Hafen von Emden wird von Bomben zerstört. Die Wasserwege der Ruhr sind ruiniert, das ganze Ruhrgebiet ist eine große Ruine. Hamburg ist zerbombt, Bremen ist zerbombt; es tut uns leid, daß ihr solches Pech habt. Aber so macht man doch keine Geschäfte! Wir sind ein geduldiges Volk, und wir geben euch Erz, auch wenn ihr uns weniger als die Hälfte der Kohle schickt, die uns zukommt. Wir geben euch Kredit. Aber unsere Banken spielen nicht mehr mit. Die Erzlieferungen liegen bereit, und ihr könnt sie haben, so viel Erz, wie ihr nur wollt: an dem Tag, an dem wir die Kohle empfangen, die ihr uns schuldet. Wir Schweden sind einfache Leute und handeln auf einfache Weise. Keine Kohle, kein Erz.«

»Aber mein lieber Dahlin, das ist doch ein circulus vitiosus. Wir können euch keine Kohle senden, weil wir, wie Sie vollkommen richtig bemerken, einige Verluste an Transportmitteln erlitten haben, wie es im Krieg unvermeidlich ist. Wir brauchen Stahl, um neue Lokomotiven zu bauen. Wenn ihr uns kein Erz sendet, sind wir nicht imstande, die Lokomotiven zu bauen, die wir brauchen, um euch Kohle zu schicken. Es ist an euch, den nächsten Schritt zu tun.«

»Sie sind es, die etwas wollen, nicht wir«, entgegnete Dahlin. Er hatte eine aufreizende Gewohnheit, an einem vorbeizublicken und den Dummkopf zu spielen, obgleich er als einer der gewiegtesten und rücksichtslosesten Männer auf seinem Gebiet bekannt war. Stetten schenkte ihm sein gewinnendstes Lächeln. »Zigarette?« fragte er liebenswürdig, indem er seine elegante flache Zigarettendose aufschnappen ließ und sie Dahlin anbot.

»Danke, ich rauche eine Zigarre«, sagte Dahlin, nahm eine von seinen Zigarren, biß die Spitze ab und gestattete seinem Rechtsanwalt, sie für ihn anzuzünden. Stetten schien es, als ob die Ablehnung damit besiegelt wäre. Wohin man schaute, überall die gleichen Symptome. Sogar das deutsche Kapital und die Großindustrie gaben den Nationalsozialismus als eine verlorene Sache auf. Sie hatten Hitler auf sein unechtes Thrönchen gehoben und machten sich bereit, ihn mitsamt seinen Mitläufern zu verstoßen. Stetten wußte, daß die deutsche Industrie die Fühler zu ihren früheren Freunden und Partnern in den Vereinigten Staaten ausstreckte. Dr. Kremer hatte ein Telegramm gesandt und bedauert, verhindert zu sein, an der Konferenz teilzunehmen. Jedermann versuchte, auf die andere Seite überzugehen. Alle Zeichen deuteten darauf hin: Der Krieg war verloren.

Aber wer glaubte dann noch daran, daß der Krieg gewonnen werden könne? Wer machte, daß die deutschen Soldaten an allen Fronten weiterkämpften? dachte Stetten. Das Volk, antwortete er sich selbst. Das Volk glaubte noch, und das Volk war Deutschland. Stetten richtete sich auf.

»Ich bin überzeugt, daß es nicht Ihre Absicht noch die Absicht Ihrer Regierung ist, eine vorübergehende Schwierigkeit zu einer dauernden zu machen. Ich muß Sie warnen, daß meine Regierung sich genötigt sehen würde, eine derartige Haltung als feindselig zu betrachten, als unvereinbar mit der Freundschaft, die zwischen unseren Ländern besteht. Es wäre höchst bedauerlich, wenn meine Regierung sich gezwungen sehen sollte, Maßnahmen zu ergreifen, die eine Lieferung von schwedischem Erz sicherstellen würde.«

Dahlin begann zu lachen; er lachte ein lautes, schallendes, gutartiges Lachen, legte seine Zigarre weg, nahm sein Taschentuch heraus, trocknete sich die Augen, steckte seine Zigarre wieder in den Mund und wurde ernst. »Mir fällt gerade ein altes schwedisches Sprichwort ein«, sagte er. »Wer den Hund schlagen will, muß den Stock dazu haben. Oder, wie die Chinesen sagen: Wer den Tiger reiten will, muß ihn erst satteln. Maßnahmen! Maßnahmen, mein Freund? Was für Maßnahmen hat Ihre Regierung getroffen, als Rumänien den Preis für Öl um fünfzig Prozent hinaufschraubte? Was für Maßnahmen ergreift sie, um die Türkei zu zwingen, ihr Chrom so wie früher auszuführen? Sie sprechen für Ihre Regierung, und ich bin bloß ein einfacher Geschäftsmann. Aber wenn Ihre Regierung Maßnahmen ergreift, dann kann meine ebenfalls welche ergreifen.«

Stetten schluckte die bittere Pille und fuhr fort zu lächeln. »Dahlin, alter Junge, wir wollen uns doch nicht streiten«, sagte er. »Lassen Sie uns nicht von unserem Thema abkommen. Sie erwähnten die Preiserhöhung des rumänischen Öls. Vertraulich gesprochen, ich glaube, daß wir zu einem Abkommen auf einer ähnlichen Basis gelangen könnten. Wir sind bereit, Ihnen zwanzig Prozent mehr in Devisen zu bezahlen, als wir in Kohle bezahlt haben. Es würde uns über diese vorübergehende Schwierigkeit hinweghelfen, bis die geringfügigen Reparaturen in den holländischen Häfen beendet sind und wir die alten Schiffsrouten wieder befahren können.«

»Mit Geld bezahlen?« sagte Dahlin.

»Ja. Ich bin unterrichtet, daß die Hauptschwierigkeit jetzt darin liegt, daß Ihre Banken es ablehnen, uns länger Kredit zu gewähren. Aber wenn wir den Preis erhöhen und bei Ablieferung bezahlen –«

»Devisen? Deutsche Devisen?« fragte Dahlin. Es klang, als ob er gesagt hätte: Deutsches Geld stinkt. Stetten entschloß sich, keine Notiz davon zu nehmen.

»Ich bin im Moment nicht in der Lage, Ihnen einen endgültigen Vorschlag zu machen. Aber ich bin sicher, daß wir einen Weg finden werden, sogar Ihre übervorsichtigen Finanzleute zufriedenzustellen«, sagte er. »Tatsächlich habe ich um halb zwölf eine Konferenz, die die Angelegenheit klären wird. Im Moment kann ich folgende Vorschläge machen …«

Zur selben Stunde, als Stetten das tat, was er sein ganzes Leben getan hatte, nämlich Kastanien für sein Ministerium aus dem Feuer zu holen, war Gestapokommissar Helm in eine ähnliche Aufgabe verwickelt. Der Unterschied war bloß, daß Helm ein gewisses Vergnügen an der Rolle empfand, die er in den komplizierten Verhandlungen mit Schweden spielte. Er saß unter einem Bild des Führers, in dem kleinen Büro, das die Gestapo im obersten Stockwerk des Hotels unterhielt. Da gab es nichts als einen Schreibtisch, Aktenschränke, ein Waschbecken und ein Sofa. Auf dem Stuhl Helm gegenüber saß Gauleiter Plottke, und sein Gesicht war so gelb, daß seine Sommersprossen wie Rost auf einem alten Topf aussahen. Helm beobachtete erfreut, wie der Schweiß aus Plottkes Poren hervorbrach, kleine Rinnsale bildete, die in seinen Kragen rannen.

»… wenn ich es nicht gut mit dir meinte, würde ich dir nicht diese Warnung zukommen lassen«, sagte Helm. Er hielt ein Lineal in der Hand, mit dem er jedes Wort unterstrich, indem er es scharf gegen die Kante des Schreibtisches schlug. »Unser Führer ist außer sich, und mit Recht; er würde dich gerne ohne alle Faxen erschießen lassen. Ich riskiere meinen eigenen Kragen, indem ich dir einen Ausweg vorschlage. Es steht dir frei, ihn abzulehnen. Aber du weißt, was dir dann passiert. Du wärst weder der erste noch der einzige, der durch einen Unfall umgekommen ist …«

»Aber was habe ich getan? Was habe ich denn getan?« stöhnte Plottke. »Ich habe nichts getan, was die andern nicht auch taten! Ich könnte dir Dutzende nennen, die viel mehr Geld auf ausländischen Banken liegen haben als ich.«

»Richtig. Nicht nur Dutzende, sondern Hunderte. Jeder einzelne von ihnen ist uns bekannt. Und sie sind alle in derselben Patsche wie du.«

»Zu Anfang hat uns der Führer ermutigt, unsere Taschen zu füllen. ›Ich will, daß meine alten Kameraden, die all diese bitteren Jahre mit mir durchgestanden haben, ihre Belohnung kriegen.‹– das waren seine eigenen Worte. Er kann sich jetzt nicht gegen uns stellen.«

»Er hat sich gegen Röhm gestellt, und Röhm war auch ein alter Kamerad und Mitkämpfer. Hier habe ich dein Dossier, Plottke, und da stehen Tatsachen drin. Soll ich sie dir vorlesen?«

»Paß auf, daß du keinen Fehler machst, Helm; zufälligerweise besitze ich dein Dossier. Du bist selbst nicht so engelrein. Wenn ich zum Führer gehe und ihm beweise, wie du dich von Mercereau hast bestechen lassen, möchte ich mal sehen, wer von uns einen Unfall haben wird, du oder ich!« schrie Plottke. Wann immer er in die Enge getrieben wurde, trompetete er wie ein verfolgter Elefant, und seine rostbraunen, kleinen Augen, sein rostfarbenes Haar und die rostfarbenen Sommersprossen hoben sich von der gelben Blässe seiner Haut ab.

»Wenn du so viel weißt, dann weißt du auch, daß nicht ich das Geld von Mercereau mit vollem Wissen und Einverständnis meines Chefs annahm. Du brauchst dich also um meinen Kragen nicht zu sorgen. Sorg dich um deinen eigenen. Hier habe ich die Tatsachen: Mai 1942 hast du von dem jüdischen Bankier Jacques Brancourt ein großes Aktienpaket der Société Anonyme des Chemieales Lyonnaise erhalten, dafür verschafftest du dem Bankier Reiseerlaubnis und Visa, um nach Lissabon zu gehen. Nachdem du gewisse Kommissionen an die Leute bezahlt hattest, die dir dieses dunkle Geschäft vermittelten, hast du die Aktien in einem Safe der Bank for International Settlements in Basel deponiert. Unserer Schätzung nach repräsentieren die Aktien einen Wert von zwei Millionen Dollar. Ich sage Dollar, weil du seit letztem März versucht hast, diese Aktien durch eine Mittelsperson in Bargeld umzutauschen. Du hast verschiedene Tricks benutzt, um in den Besitz amerikanischer Dollar zu gelangen. Du bist nicht nur ein Betrüger und ein Dieb, sondern ein Landesverräter. Du benimmst dich, als ob du nichts davon gehört hättest, daß wir gegen die Vereinigten Staaten Krieg führen.«

»Du brauchst mir keine große Szene vorzuspielen. Wenn du mich erpressen willst, wäre es besser, wenn du gleich damit rauskämst. Für wieviel Aktien wirst du die Schnauze halten?« fragte Plottke.

»Plottke, Plottke, was bist du für ein schlechter Psychologe! Wie wenig kennst du mich! Ich bin dein Freund, ich bin hier, um dir zu helfen! Ich will dir einen Ausweg zeigen, wie du dein verbrecherisches – jawohl, verbrecherisches – Vergehen wiedergutmachen kannst. Du willst diese Aktien verkaufen. Gut. Du kannst sie unserem Staat verkaufen und zur gleichen Zeit dem Reich helfen. Und ich will es auf mich nehmen, dich beim Führer reinzuwaschen.«

»Ach so, er will die Aktien für sich selber haben? Unser kleiner Liebling Adolf? Warum hat er mir das nicht gleich gesagt«, entgegnete Plottke mit dem rohen Zynismus eines altgedienten Parteihengstes, der den ganzen Schwindel kennt! Plötzlich durchschaute er die Sache; er trocknete sich das Gesicht ab, öffnete seinen Kragen und fuhr sich mit dem Taschentuch über den Hals. Es erschien Helm nicht nötig, die grobe Unterstellung zu widerlegen. Auch er hatte in der Partei ganz von unten angefangen.

»Wieder falsch! Das Finanzministerium braucht ausländische Valuten, um schwedisches Erz zu bezahlen. Da sind ein paar Schwierigkeiten mit den schwedischen Banken, und die Brüder im AA kratzen alle ausländischen Wertpapiere und Devisen, die sie kriegen können, zusammen, um die Schweden bei der Stange zu halten. Sie werden mit dir reden und dir auf Heller und Pfennig sagen, wieviel sie dir für deine französischen Aktien zahlen wollen. Mit diesem Teil der Sache hab ich nichts zu tun. Ich muß nur sehen, daß du deine Pflicht dem Reich gegenüber erfüllst – und dich nötigenfalls dazu zwingen. Verstehen wir uns?«

»Ja. Wir verstehen uns vollkommen, Helm. Eine kleine Erpressung. Du zwingst mich, meine guten, soliden ausländischen Aktien für schlechte deutsche Mark zu verkaufen und noch dazu zu einem völlig willkürlichen Kurs.«

»Du solltest mir dankbar sein, daß ich dir dazu verhelfe, dich nobel zu zeigen.«

»Das ist ja noch schöner! Jetzt, wo wir keine Juden mehr haben, um Geld aus ihnen herauszuquetschen, zapft die Partei ihren eigenen Leuten das Blut ab. Das ist ein schlechtes Zeichen, Helm, ein schlechtes Zeichen!«

»An deiner Stelle würde ich nicht so ein Geschrei machen, wenn du dem Staat etwas Geld vorschießt. Wenn der Krieg erst gewonnen ist, kriegst du deine Moneten zurück mit Zinsen und Zinseszinsen.«

»Wenn der Krieg erst gewonnen ist!« murmelte Plottke bitter, als er – ein gebrochener Mann – das Büro verließ. »Wenn der Krieg erst gewonnen ist!« Im Augenblick fürchtete er sich am meisten vor der Notwendigkeit, seiner Frau erklären zu müssen, daß er zwei Millionen Dollar auf einen Schlag verloren hatte. Er hatte noch ungefähr dreihunderttausend Dollar in Wertpapieren und Valuten auf verschiedenen ausländischen Banken liegen, aber das schien ein jämmerlicher, unzureichender Betrag im Vergleich zu seinem Verlust.

Inzwischen setzte Kommissar Helm den Namen Plottkes zu verschiedenen anderen auf eine Liste und malte einen sauberen kleinen Kreis drum herum, als Zeichen dafür, daß die Unterhaltung erfolgreich beendet worden war.

Als der Gauleiter wieder etwas zu sich gekommen war, war es ihm, als ob er schneller und schneller aus großer Höhe in einen tiefen Abgrund fiele. Er ergriff den Arm des kleinen Monsieur Rougier, der den ganzen Morgen in der Halle auf ihn gewartet hatte, und schleppte ihn in den Wintergarten hinter dem leeren gelben Pavillon, wo niemand ihre Unterhaltung hören konnte. Unter den vernachlässigten Palmen und ausgetrockneten Farnkräutern dieser abgelegenen Insel gab er Rougier den Auftrag, sofort den Kauf eines kleinen Chalets am Westufer des Vierwaldstätter Sees abzuschließen. Der Preis betrug achtzigtausend Schweizer Franken. Als Plottke die verwickelten, komplizierten und absolut ungesetzlichen Transaktionen begriffen hatte, die zur Erwerbung von Landbesitz in einem sicheren, neutralen Land nötig waren, stöhnte er. »Sie sind ein Blutsauger, Rougier, ein Blutsauger!« Aber Rougier blieb hart. Über diesen dunkelhaarigen Schurken hatte der Gauleiter keine Gewalt. Er konnte ihn nicht ins KZ stecken oder ihm mit Verhaftung oder Verhör drohen, und er fühlte sich hilflos. In welch dunkler Balkanecke Monsieur Rougiers Wiege auch gestanden haben mochte, jetzt war er ein Schweizer Bürger, ein Neutraler, ein freier Mann. Trostlos starrte Plottke auf Rougiers bläuliche Backen. »Wie oft müssen Sie sich rasieren?« fragte er ihn. Aber was er meinte, war: Sie sind dunkel und stark behaart und ein Fremder, und ich traue Ihnen nicht. Vielleicht sind Sie sogar Jude; Sie sind verdammt schlau in Geldsachen.

»Zweimal täglich, Herr Gauleiter. Warum fragen Sie?« antwortete Rougier erstaunt.

»Ich vertraue Ihnen wirklich enorm«, sagte Plottke.

»Und ich gehe ein großes Risiko für Sie ein«, antwortete Rougier spitz.

Plottkes nächste Tat an diesem unheilvollen Tag bestand darin, sich um Plätze für seine Frau und seine beiden Kinder im nächsten Zug nach der Schweiz zu bemühen. Die erforderlichen Dokumente, Pässe und die Reiseerlaubnis lagen schon seit einer ganzen Weile bereit.

Aber als der Gauleiter zum Empfangstresen ging und einen Fahrplan zu sehen wünschte, entdeckte er, daß viele Leute von demselben Drang nach der Ferne erfaßt waren. Züge und Flugzeuge waren bis auf den letzten Platz ausgebucht, und Herr Schmidt war der schräge Turm von Pisa inmitten des Sturms von Fordernden, die sich um ihn herum drängten und stießen und schrien. Plottke konnte ebensogut seine Ellbogen gebrauchen wie die anderen, aber es war eine neue Erfahrung für ihn, daß er überhaupt ins Gedränge kam. Er war daran gewöhnt, daß sich aus Hochachtung für seinen Titel und seine Macht eine respektvolle Gasse für ihn öffnete, wo immer er ging. Wie dem auch sein mochte, nun trat er auf mehrere Zehen, stieß seine Ellbogen in etliche Rippen und erteilte Schmidt den Auftrag, die Reservationen anderer zu streichen, um ihm drei Plätze für den Morgenzug nach Zürich zu belegen.

»Der Herr Gauleiter verreisen?« fragte Mazhar Cevdet Onar, der an seiner Seite auftauchte. Der weiße Schnurrbart des alten türkischen Großgrundbesitzers zitterte so vergnügt, wenn er lachte, daß man sich nie darüber im klaren war, ob er sich nicht über einen lustig machte.

»Meine Familie. Den Mädels hat man die Mandeln rausgenommen, und der Arzt sagte mir, daß für sie die Luft in den Bergen wichtiger als alles andere sei.«

»Selbstverständlich. Sie haben ganz recht, Herr Gauleiter. Alle sollten ihre Kinder aus den Städten wegschaffen«, sagte Onar mit undurchdringlicher Höflichkeit, machte eine kleine Verbeugung und trat zurück. Plottke murmelte einen Fluch hinter ihm her. Auf dem Weg zur Telefonzelle traf Plottke auf Stetten, der mit Vanderstraaten aus dem Konferenzzimmer kam. Stetten wirkte, nach stundenlangem Feilschen, etwas erschöpft, und Vanderstraatens sandfarbenes Gesicht sah aus wie die Wüste Gobi.

»Gut, daß ich Sie hier treffe, Plottke«, sagte Stetten. »Der Chef erwartet Sie um vier Uhr im AA, um ein paar Einzelheiten mit Ihnen zu besprechen. Sie wissen, es hängt mit der Angelegenheit zusammen, die Helm heute früh mit Ihnen behandelte. Wir werden die nötigen Dokumente bereithalten.«

»Ich hatte vor, nach dem Mittagessen auf meinen Landsitz zu fahren«, stammelte Plottke.

»Also, um vier Uhr«, sagte Stetten ungerührt. Es war so gut wie ein Befehl.

»Telegramm für Mynheer Vanderstraaten!« rief einer der Pagen, einen Zickzackkurs durch die überfüllte Hotelhalle steuernd. Es war beinahe Mittagszeit. Leute, die zur Elite gehörten und sich die Preise für die nichtrationierten Delikatessen des Hotels leisten konnten, begannen hereinzuströmen, für ein paar Minuten herumzustehen, ein Getränk an einem der kleinen Marmortische zu nippen, Klatsch auszutauschen, Geschäfte zu machen, eine Karriere zu verfolgen, eine Liebschaft – oder auch eine Kombination von beidem – und sich langsam nach dem Speisesaal zu verziehen. »Mynheer Vanderstraaten – Telegramm für Mynheer Vanderstraaten!«

»Hier«, sagte der Bankier und hob zwei Finger. Der Page händigte ihm das Telegramm aus, wartete auf seine Unterschrift, wartete auf sein Trinkgeld und verschwand.

»Entschuldigen Sie mich«, sagte Vanderstraaten zu Stetten; er nahm seinen Kneifer heraus, riß das Kuvert auf und machte sich ans Lesen. Er las es zweimal. Dann setzte er sich. Er legte das Telegramm auf die Marmorplatte des Tisches vor sich hin, glättete es und las es noch einmal. Er wirkte plötzlich sehr alt.

Vanderstraaten war ein ängstlicher Mann. Aus übergroßer Angst hatte er sich mitsamt seiner Bank nach der Zerstörung von Rotterdam, im Frühjahr 1940, den Nazis ausgeliefert. Angst um seine Familie, sein Leben, sein Geld, sein Geschäft, seine Position, sein Heim, Angst vor Gefangenschaft und Mißhandlung, Angst vor einer Umwälzung in seiner Lebensweise, die Angst vor Menschen, die Mühsal nie gekannt haben und deshalb ihre eigene Widerstandskraft unterschätzen, hatte ihn dazu getrieben. Für eine Weile war er überzeugt, daß er die richtige Seite gewählt habe. Wie alle Mitläufer hatte er sich selbst glauben gemacht, daß er zum Nutzen seines Landes gehandelt habe. Er gehörte zu denen, deren Motto durch die Jahrhunderte war: lieber Sklave als tot! Aber seit Monaten fand dieser ängstliche Mann sich nun bedroht von unsichtbaren Kräften. »Der Tag der Axt wird kommen«, war auf die Seiten der Zeitungen gekritzelt, die er am Frühstückstisch aufschlug. »Der Tag der Axt wird kommen«, stand auf dem Löschblatt, das auf seinem Schreibtisch im Büro lag. »Der Tag der Axt wird kommen«, tönte es aus dem Telefon, das mitten in der Nacht klingelte. Er las es in den verschlossenen Gesichtern seiner Angestellten, er hörte es aus den Stimmen seiner Kinder. Seine Freunde mieden ihn, seine Frau sprach kaum mehr mit ihm. Der Tag der Axt wird kommen …

»Unangenehme Nachrichten, Vanderstraaten?« fragte von Stetten. Vanderstraatens Kinn zitterte, und er mußte zweimal ansetzen, bevor er antworten konnte.

»Ja«, sagte er, »es ist von unserem Vertreter in Antwerpen; wir haben da bestimmte Kodeworte. Er deutet an, daß ein Attentat auf Laval versucht wurde. Das ist das Ende. Erst Darlan, dann Mussolini, nun Laval. Einer nach dem andern, Herr von Stetten –«

»Ach, das!« sagte von Stetten gleichgültig. »Da ist nichts dran, Vanderstraaten. Das ist das Gerücht der vorigen Woche Darüber würde ich mich nicht aufregen, wenn ich Sie wäre. Wollen Sie mich jetzt bitte entschuldigen, ich muß mit einem Freund sprechen.«

»Fräulein Tilli! Fräulein Tilli Weiler wird verlangt! Fräulein Tilli wird verlangt!« rief Page Nummer sechs; er schlängelte sich durch die Halle, steckte seinen Kopf in die Bar und kam zum Empfangstresen. »Bedaure, ich kann sie nicht finden«, erklärte er. Eine kleine alte Dame stand da und wartete auf das Ergebnis seiner Suche. Sie hatte weißes Haar und große blaue Augen in einem runzligen, blutlosen Gesicht. Ihre Haut sah wie zerdrücktes Seidenpapier aus. Sie trug ein schwarzes Jackenkleid und hatte einen schwarzen Hut auf, beides recht unmodern und abgetragen. Mit ihren blütenweißen Zwirnhandschuhen sah sie aus wie Tausende von alten Damen, die bessere Tage gesehen haben.

»Ich bedaure, gnädige Frau«, sagte der erschöpfte Herr Schmidt zu ihr. »Wir können Fräulein Tilli nicht finden.«

»Nein?« sagte die alte Dame. Ihre rechte Wange zuckte nervös. »Aber Sie glauben nicht, daß sie ausgegangen ist?«

»Ihr Schlüssel ist hier«, sagte Schmidt ungeduldig. Wäre die alte Dame nicht so offensichtlich eine feine alte Dame gewesen, hätte er sich nicht weiter um sie gekümmert. Sie stand da und sah sehr niedergeschlagen aus. Ihr Gesicht zuckte, und sie hatte keine Gewalt darüber. Niemand hätte verstehen können, was es sie gekostet hatte, dieses Hotel zu betreten. Page Nummer sechs beobachtete sie mit berechnender Aufmerksamkeit. Sie sah nicht reich aus; andererseits gaben Leute, die nicht reich waren, gewöhnlich größere Trinkgelder. Sie sah so wie die Sorte von Damen aus, die mitunter ein sehr großes Trinkgeld gaben.

»Wünschen die Dame, daß ich noch mal das Zimmer anrufe?« bot er ihr an.

»Ja. Bitte, wenn Sie so gut sein wollen.«

»Wer, soll ich sagen, will sie sprechen?«

»Frau Müller. Ja, Frau Müller. Es ist möglich, daß sie sich nicht an meinen Namen erinnert, aber wir sind alte Freunde. Nein, sagen Sie lieber: Sims Mutter.«

»Frau Müller, Sims Mutter«, wiederholte Adolf und nahm den Hörer von einem der Haustelefone. »Keine Antwort«, berichtete er. »Vielleicht schläft sie noch.« Sie wird ’nen Kater haben so groß wie ’n Elefant, dachte er, behielt das aber taktvoll für sich.

»Nummer sechs, bring dieses Paket nach 88 rauf«, befahl Herr Kliebert mit einiger Schärfe. »Jawoll«, sagte Adolf, auf sein Trinkgeld wartend. Die alte Dame begriff, und ihre zuckende Wange begann schamvoll zu erröten. Ich habe keinen einzigen Groschen, dachte sie verzweifelt.

»Ich danke Ihnen; ich danke Ihnen herzlichst«, sagte sie ein wenig zu überschwenglich.

»’n bißchen plemplem«, dachte Nummer sechs, als er das Paket nahm und damit zur Treppe ging. Herr Kliebert, dem die alte Dame, die bessere Tage gesehen hatte, ein wenig leid tat, fragte: »lrgendeine Bestellung für Fräulein Tilli?« Er nahm den Bleistift hinter seinem Ohr hervor.

»Nein. Nein, ich glaube nicht. Nein. Ich komme später zurück. Danke schön.«

General Dahnwitz, der in diesem Augenblick zum Empfang kam, trat höflich beiseite, um die alte Dame vorbeizulassen. Sie quittierte die kleine Höflichkeit mit einem ebenso höflichen Kopfnicken. Ihre linke Hand mit dem weißen Handschuh war in der Tasche ihrer Jacke vergraben und zerknüllte den gelben Stern, den sie abgenommen und während ihrer Expedition in diese auserlesenen Gefilde, die für Juden verschlossen waren, versteckt hatte.

»Ist Fräulein Dorn vom Theater zurück?« fragte der General.

»Noch nicht, Exzellenz.«

»Guten Tag, Dahnwitz«, sagte von Stetten. »Gutes Wetter heute.«

»Sehr gut, Stetten. Ein bißchen zu warm, aber trotzdem angenehm.«

Dann kam eine Pause, in der Stetten nicht fragte, was er fragen wollte, und Dahnwitz Stettens Gegenwart vergaß.

»Ich bin zum Mittagessen mit Lisa verabredet«, sagte er, als er sich wieder seinen früheren Kameraden vergegenwärtigte. »Hast du etwas dagegen?« fügte er mit preußischer Schärfe in der Stimme hinzu.

»Aber, mein bester Dahnwitz –«

»Vergnügen kommt vor Pflicht, nicht wahr. Nach dem Mittagessen werde ich meine Angelegenheiten ordnen.«

Er salutierte und marschierte etwas steif zum Speisesaal. Stetten seufzte und ging in die Herrentoilette, um sich die Hände zu waschen; er fühlte sich plötzlich beschmutzt. Die alte Dame mit dem gelben Stern in der Tasche ging furchtsam am Gestapoagenten Hinrichs vorbei, hinaus durch die Drehtür und vorbei an den beiden SS-Männern, die dort standen. Ich muß Tilli sehen, sagte sie zu sich selbst, als sie in dem erbarmungslosen Sonnenlicht auf der Straße stand. Ich muß sie heute sehen. Ich habe keine Wahl. Ich muß sie sehen.

Tilli, die lange geschlafen hatte und noch mit ihrem Katzenjammer kämpfte, stand in diesem Augenblick in der offenen Tür von Nummer 69.

»Ich sage Ihnen, Fräulein Tilli, so was haben Sie noch nicht geseh’n«, sagte das Zimmermädchen Kätchen. »Nicht zwei oder drei neue Kleider – nee, ein ganzes Dutzend! Und was für Kleider! Wie eine Prinzessin. Man sollte nicht glauben, daß die Franzosen noch all das Zeug haben. Es macht einem den Mund wäßrig.«

»Neue Schuhe auch?« fragte Tilli.

»Und ob sie neue Schuhe hat! Silberne sogar! Die sind für das silberne Abendkleid, nehme ich an.«

»Ich würde ja zu gerne auch mal einen Blick riskieren«, sagte Tilli überwältigt von Neugier.

»Na –«, sagte Kätchen zögernd. Sie hatte einen Besen in der Hand und einen Eimer. Hastig überblickte sie den Korridor nach allen Seiten. Die Etagenaufsicht war nirgends zu sehen. »Es ist verboten, aber es schadet ja niemandem was, wenn ich Sie reinlasse, um sich die Modenschau mal anzugucken«, sagte sie, indem sie über die Schultern nach dem großen Kleiderschrank deutete. Tilli sog die Luft des Zimmers ein und schaute neugierig umher. Parfüm, gute Seife, Zigaretten, verwelkte Rosen – und was noch? Sie schnitt dem Bild des Generals eine Grimasse. »Ist das der Herr, der für das alles blecht?« fragte sie.

»Dazu gehört ’ne ganze Aktiengesellschaft, um all diese Pariser Kleider zu kaufen«, bemerkte Kätchen. Sie nahm das blaue Chiffonnachthemd vom Bett und hielt es Tilli entgegen. »Sehn Se sich das bloß an«, sagte sie. »So was finde ich nur unanständig! Richtig unanständig!«

Tilli nahm es und hielt es vor dem Badezimmerspiegel an ihren Körper. »Was für eine Größe trägt sie? Größe vierunddreißig?« fragte sie. Kätchen schob die Türen des Kleiderschranks zurück. »Da ham Se den ganzen Klimbim«, sagte sie.

Sorgfältig nahm Tilli ein Kleid nach dem anderen heraus, prüfte das Material zwischen den Fingern und schleppte es vor den Spiegel. Aber anstatt Vergnügen bereitete ihr der Anblick von so viel Luxus nur Übelkeit. Es war wie ein flacher, schaler Geschmack, den sie nicht loswerden konnte. Kätchen stand kritisch dabei. »Die Farben stehen Ihnen nicht zu Gesicht«, sagte sie fachmännisch, »dazu gehört eine andere Haut, um so was zu tragen. Sie sind nu mal ’ne auffallende Type, Fräulein Tilli. Sie seh’n am besten in schwarzem Atlas aus.«

Sie nahm den Eimer und verschwand im Badezimmer. »Gott, was für ’n Saustall!« hörte Tilli sie dort brummen. Sie hängte die Kleider wieder in den Schrank und untersuchte aufgeregt die Reihen von Schuhen, die da in den Fächern standen. Ganze Reihen von Schuhen! Das war es, was manche Frauen hatten: ganze Reihen von Schuhen.

»Ich weiß es immer, wenn ’ne Dame Herrenbesuch gehabt hat«, verkündete Kätchen, indem sie ihren Kopf zur Badezimmertür heraussteckte. »Die Herren machen immerzu viel mehr Geplansche. Die haben’s Vergnügen, und ich hab’ die Arbeit. Aber so ist das Leben nun mal.«

Sie verschwand wieder, und Tilli nahm ein Paar schwarze Lackschuhe mit hohen Absätzen heraus; ihre Hände zitterten und ihre Knie wurden merkwürdig weich, während sie die Schuhe untersuchte. Es waren Traumschuhe. Es waren genau die Schuhe, für deren Besitz sie mit Freuden ihre ewige Seligkeit hergegeben hätte. Sie setzte sich schnell, mit dem Rücken zum Badezimmer, auf einen Stuhl, schlüpfte aus ihren Pantoffeln und versuchte, in die Lackschuhe hineinzukommen.

»Was machen Sie denn da?« fragte Kätchen vom Badezimmer her. Sie war dabei, den gekachelten Fußboden zu scheuern und versuchte gleichzeitig, durch den Spalt der Türe zu schauen.

»Ich spiele nur so ein bißchen«, erwiderte Tilli mit erstickter Stimme. Sie zog und preßte und versuchte auf Biegen und Brechen, in die Schuhe zu kommen. Und dann schlug eine graue Welle der Enttäuschung über ihr zusammen. Zu klein! Na, wenn schon? sagte sie zu sich selbst. Es sind ihre Schuhe, nicht meine! Ich würde sie ja doch nicht stehlen, auch wenn sie gepaßt hätten, bestimmt nicht. Aber sie wußte, daß sie es getan hätte. Sie stand auf, leer und deprimiert nach der kurzen, flackernden Aufregung, und trug die glänzenden Dinger zum Schrank zurück. Schlechtgelaunt spielte sie mit den Straßenkleidern. Jacke und Rock, und noch einmal Jacke und Rock, und noch einmal … viel zu viele für eine Person. Plötzlich erregte etwas ihre Aufmerksamkeit. Es war ein schwarzes Kleidungsstück, anscheinend ein Jackenkleid, im strengen Herrenschnitt; ihr Gesicht nahm einen überraschten Ausdruck an, als sie entdeckte, daß es sich um den Frack eines Mannes handelte. Was für komische Sachen Schauspielerinnen in manchen Rollen tragen müssen, dachte sie zuerst, aber dann fiel ihr auf, daß die Jacke viel zu lang für Lisa war. Als ob plötzlich ein Schalter angedreht worden wäre, begann Tillis Gehirn zu arbeiten. Möchte wissen, wieviel das dem Herrn Kommissar Helm wert ist? dachte sie. Vielleicht nicht viel. Andererseits