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Der Arzt vom Tegernsee
– 45 –

Gefangen in falschen Schuldgefühlen

Laura Martens

Impressum:

Epub-Version © 2019 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: https://ebooks.kelter.de/

E-mail: info@keltermedia.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74095-934-0

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»Sie werden sich leider etwas gedulden müssen, Frau Philipp«, meinte Tina Martens bedauernd zu der jungen Frau, die vor ihr an der Anmeldung stand. »Im Moment ist nur Frau Doktor Bertram hier. Doktor Baumann ist vor einer halben Stunde zu einem Notfall gerufen worden. Wollen wir hoffen, daß er bald zurückkommt.«

»Auf ein paar Minuten mehr oder weniger kommt es auch nicht an«, meinte Amanda.

»Ich wünschte, alle unsere Patienten würden so denken«, bemerkte die Sprechstundenhilfe aufseufzend und wandte sich einem älteren Herren zu, der zur Ozontherapie gekommen war.

Amanda Philipp betrat mit einem Gruß das freundlich eingerichtete Wartezimmer, griff nach einer Zeitschrift und nahm neben Heinz Seitter Platz, der mit einem Buch auf einem Stuhl am Fenster saß. Sie wußte, daß der frühere Steuerinspektor lange krank gewesen war. »Wie geht es Ihnen, Herr Seitter?« erkundigte sie sich.

Heinz Seitter wandte sich ihr zu. »Langsam aufwärts, Frau Philipp«, erwiderte er. Im Frühjahr war er im Keller seines Hauses von einer Schwarzen Witwe gebissen worden und hatte danach wochenlang im Krankenhaus gelegen. »Vermutlich wird es noch einige Zeit dauern, bis meine Gesundheit wieder völlig hergestellt ist«, fuhr er fort. »Man sollte das Halten giftiger Tiere gesetzlich verbieten. Es kann nicht angehen, daß Nachbarn Giftspinnen züchten und dann nicht einmal in der Lage sind, auf sie aufzupassen. Stellen Sie sich nur vor, eine meiner Enkelinnen wäre gebissen worden.«

»Nein, lieber nicht«, erklärte Amanda erschauernd.

»Ja, das ist wahr.« Er holte tief Luft. »Zum Glück ist Herr

Schneck inzwischen ausgezogen. Es wäre mir unerträglich gewesen, weiter in seiner Nähe zu leben.«

»Herr Seitter, bitte ins Sprechzimmer zwei«, tönte es durch den Lautsprecher.

Der Inspektor a. D. steckte sein Buch ein, wünschte Amanda noch einen schönen Abend und verließ mit unsicheren Schritten das Wartezimmer. Obwohl er noch immer unter Gleichgewichtsstörungen und Schwindelanfällen litt, bestand er darauf, allein zum Arzt zu fahren. »Ich bin kein kleines Kind«, hatte er wütend erklärt, als ihm seine Frau ihre Begleitung angeboten hatte. »Also, behandle mich auch nicht so.« Sabine Seitter war nichts anderes übriggeblieben, als ihm nachzugeben.

Es dauerte noch gut dreißig Minuten, bis auch Amanda Philipp aufgerufen wurde. Die junge Frau besaß ein Geschäft für Diabetikerbedarf nahe dem Tegernseer Krankenhaus. Wie es aussah, würde ihre Angestellte an diesem Abend das Geschäft abschließen und die Geldbombe mit den Tageseinnahmen zur Bank bringen müssen.

Gut, daß ich mich auf Gerda verlassen kann, dachte sie nach einem Blick auf die Uhr. Allerdings war es nicht ganz einfach, mit Frau Pohl auszukommen. Die junge Verkäuferin besaß keinen Humor und nahm leicht etwas übel. Im Laufe der letzten beiden Jahre hatte Amanda es jedoch gelernt, Gerdas schlechte Laune einfach zu ignorieren.

Dr. Eric Baumann kam der jungen Frau an der Tür seines Sprechzimmers entgegen. »Tut mir leid, daß Sie warten mußten«, meinte er. »Auf der Leebergstraße hatte es einen Verkehrsunfall gegeben.«

»Schlimm?«

»Zum Glück nur zwei Leichtverletzte.« Eric reichte der jungen Frau die Hand. »Sie sehen aus wie das blühende Leben«, stellte er fest. »Also scheint es Ihnen gutzugehen.«

»Ja, es geht mir sehr gut«, bestätigte Amanda lächelnd. »Ich bin auch nur wegen meiner letzten Blutuntersuchung hier.«

»Mit der ich überaus zufrieden bin«, antwortete Eric. »Bitte, nehmen Sie Platz, Frau Philipp.« Er wies auf den Stuhl, der vor seinem Schreibtisch stand. »Sie gehören zu den wenigen Patienten, deren Diabetes so gut eingestellt ist, daß es nur selten Probleme gibt.«

»Da ich seit meiner frühesten Kindheit Diabetes habe, ist mir nichts weiter übriggeblieben, als damit zu leben«, sagte Amanda. Sie stellte ihre Tasche neben den Stuhl. »Durch meine Arbeit weiß ich jedoch, wieviel Schwierigkeiten manche Leute mit ihrer Krankheit haben. Zu mir kommen oft Diabetiker, denen es auch nach Jahren noch nicht völlig bewußt ist, was sie essen dürfen und was nicht.«

»Ein Problem, das ich sehr gut kenne«, bemerkte der Arzt. »Manchmal scheint es, als würden die Leute gewissentlich ihr Schicksal herausfordern. Davon abgesehen, ist es auch sehr schwer, plötzlich liebgewordene Gewohnheiten aufgeben zu müssen.« Er schmunzelte. »Wir sind alle nur Menschen, und jeder hat so seine Schwächen.«

Amanda nickte. »Vielleicht würde es mir auch schwerfallen, auf Gummibärchen und dergleichen zu verzichten, wenn ich schon als Kind damit gefüttert worden wäre. Zum Glück standen Gummibärchen von Anfang an auf meiner Verbotsliste. Also habe ich mich niemals an ihren Geschmack gewöhnen können.«

»Was in diesem Fall wirklich ein Segen ist«, meinte Dr. Baumann und besprach mit der jungen Frau die Ergebnisse ihrer Blutuntersuchung, dann erkundigte er sich nach ihrem Vater, der seit über zehn Jahren in Spanien lebte und dort zum zweiten Mal geheiratet hatte.

»Meinem Vater geht es gut«, sagte Amanda. »Als wir das letzte Mal miteinander telefonierten, planten er und seine Frau eine Reise nach Florida. Ich werde

ihn vermutlich im Herbst besuchen.«

»Grüßen Sie ihn von mir, wenn Sie wieder mir ihm sprechen«, bat Dr. Baumann. Er stand auf und brachte seine Patientin zur Tür. »Bis zum nächsten Mal.«

»In spätestens vier Wochen«, antwortete Amanda und verabschiedete sich von ihm.

Als die junge Frau die Praxis verließ, begegnete ihr Erika Bohn, die zum Putzen kam. Sie blieb stehen und wechselte ein paar Worte mit ihr, bevor sie in ihren Wagen stieg und auf die Straße hinausfuhr.

Erika Bohn schloß laut die Praxistür hinter sich. »Ist noch ein Patient im Wartezimmer?« erkundigte sie sich bei Tina Martens, die gerade ihre Sachen zusammenpackte.

»Nein, Frau Philipp ist die letzte Patientin für heute gewesen«, erwiderte die Sprechstundenhilfe. »Und ich verschwinde auch gleich.«

»Ich will Sie keineswegs rauswerfen«, versicherte Erika Bohn. »Davon abgesehen muß ich zugeben, daß mir das Putzen bedeutend leichter fällt, wenn keiner mehr in der Praxis ist. Ich hasse es, wenn mir ständig jemand zwischen die Füße läuft.«

»Das kann ich sehr gut verstehen«, sagte Frau Dr. Bertram, die in diesem Moment aus einem der kleinen Behandlungsräume kam. »Nur noch ein paar Minuten, Frau Bohn.« Sie klopfte an die Tür vom Sprechzimmer Dr. Baumanns und trat ein, ohne auf sein »Herein« zu warten.

Erika Bohn holt den Staubsauger aus der Abstellkammer und wandte sich dem Waschraum zu, um dort mit ihrer Arbeit zu beginnen. Hinter sich hörte sie, wie Tina Martens die Praxis verließ.

»Triffst du dich heute abend mit Martin, Mara?« erkundigte sich Eric, als er sich von seiner Kollegin verabschiedete. »Wenn ja, grüß ihn bitte von mir und erinnere ihn daran, daß ihr nächsten Freitag zum Essen eingeladen seid.«

»Das werden wir ganz bestimmt nicht vergessen, Eric«, versprach seine Praxisassistentin. »Wir…«

Ein lauter Aufschrei ließ die beiden Ärzte zusammenzucken. »Das war Frau Bohn!« Eric riß die Tür seines Sprechzimmers auf und eilte zum Waschraum, von wo der Schrei gekommen war. »Was haben Sie denn angestellt, Frau Bohn?« fragte er erschrocken, als er seine Putzfrau mit schmerzverzerrtem Gesicht auf das Waschbecken gestützt vorfand.

»Ich weiß es nicht. Es ist mir unmöglich, mich aufzurichten«, jammerte Erika Bohn. »Ich wollte mich bücken, um das Abflußrohr abzustauben, als ein schneidender Schmerz durch meinen Rücken fuhr. Und jetzt kann ich mich nicht aufrichten. Sie ahnen nicht, wie weh das tut.«

»Das sieht mir nach einem Hexenschuß aus«, meinte Mara, die ihrem Kollegen gefolgt war.

»Ja, ich bin auch überzeugt, daß es sich um einen Hexenschuß handelt«, bestätigte Eric. Gemeinsam brachte sie Erika Bohn in sein Sprechzimmer und halfen ihr, sich hinzulegen. Vorsichtig tastete er ihren Rücken ab.

»Was soll denn nun werden?« fragte Erika Bohn unter Ächzen und Stöhnen. Ich habe erst mit dem Putzen der Praxis angefangen und morgen muß ich zu den Richters. Sie geben am Abend eine Party, deshalb habe ich ihnen versprochen, am Vormittag ihre Wohnung auf Hochglanz zu bringen. Und…«

»Tut mir leid, die nächsten Tage werden Sie im Bett verbringen müssen, Frau Bohn«, fiel ihr Dr. Baumann ins Wort und zog eine Spritze auf. »Ich fahre Sie nachher nach Hause. Was Sie momentan brauchen ist Ruhe, Ruhe und nochmals Ruhe.«

»Das kann ich mir gar nicht leisten. »Es ist unmöglich«, behauptete Frau Bohn. »Ein, zwei Spritzen und ich werde bestimmt weiterarbeiten können.«

»Nein, das werden Sie nicht«, widersprach der Arzt resolut. »Sie werden sich strikt an meine Anweisungen halten.« Behutsam injizierte er das Medikament. »So, nun bleiben Sie einen Augenblick liegen, und in der Zwischenzeit sage ich Katharina Bescheid, daß ich Sie nach Hause bringe.«

»Und meine Arbeit? Wer putzt die Praxis?«

»Machen Sie sich darüber keine Gedanken. Ich bin überzeugt, daß wir da eine Lösung finden.« Eric zwinkerte seiner Kollegin zu. »Paß auf, daß unsere Patientin nicht das Weite sucht.«

»Darauf kannst du dich verlassen«, versprach Mara. »Ich werde sie mit Argusaugen bewachen.«

Zwanzig Minuten später saß Erika Bohn neben Dr. Baumann auf dem Beifahrersitz seines Wagens. Trotz ihres Hexenschusses genoß sie es, mit ihm durch Tegernsee zu fahren. Sie hoffte, von möglichst vielen ihrer Bekannten gesehen zu werden. Immerhin wurde sie nicht alle Tage von ihrem Chef nach Hause gebracht. Die Schmerzen hatten dank der Spritze ein wenig nachgelassen. Erika war überzeugt, daß sie bis Montag wieder auf dem Posten sein würde. Ihre Arbeit einmal für längere Zeit zu unterbrechen, konnte sie sich überhaupt nicht vorstellen.

»So, da wären wir.« Eric hielt vor dem Zweifamilienhaus, in dem sie lebte. Er wies auf den roten Wagen, der am Straßenrand stand. »Sieht aus, als wäre Ihre jüngste Tochter zu Hause. Das trifft sich gut. Sie wird sich bestimmt ein bißchen um Sie kümmern.«

Frau Bohn schüttelte den Kopf. »Das kann ich Michaela nicht zumuten«, meinte sie. »Meine Tochter ist den ganzen Tag auf der Arbeit. Sie hat ein Recht, ihre Freizeit zu genießen. Und von Thomas kann ich auch keine Hilfe erwarten. Abgesehen davon, daß er auch von morgens bis abends arbeitet, ist er ständig unterwegs.«

»Nun, wir werden sehen.« Dr. Baumann half ihr beim Aussteigen. »Vorsichtig«, warnte er. »Zum Glück wohnen Sie im Erdgeschoß und müssen keine Treppen steigen.«

Gestützt auf den Arzt ging Erika Bohn zur Haustür. Sie wollte ihren Schlüssel aus der Tasche ziehen, doch Eric hatte bereits auf den Klingelknopf gedrückt.

»Ja, bitte?« tönte es durch die Wechselsprechanlage.

Dr. Baumann nannte seinen Namen. »Ich bringe Ihre Mutter nach Hause, Michaela«, fügte er hinzu.

Mit einem lauten Summen öffnete sich die Haustür.

Michaela Bohn eilte ihnen entgegen. »Was ist denn passiert, Mutti?« fragte sie erschrocken. »Bist du hingefallen?«

»Ihre Mutter hat einen Hexenschuß und muß sofort ins Bett«, antwortete Eric an Stelle seiner Putzfrau. »Und sie darf sich während der nächsten Tage nicht allzuviel bewegen.« Er sah die junge Frau eindringlich an. »Das wird sich doch machen lassen? Sie und Ihr Bruder werden sicher am Wochenende etwas Zeit erübrigen können.«

Michaela gab ihm keine Antwort. Stumm half sie ihm, ihre Mutter in die Wohnung zu bringen. Erst, als diese auf dem Bett im Schlafzimmer saß, meinte sie: »Ich bin für das Wochenende verabredet. Hoffentlich hat sich Thomas noch nichts vorgenommen.«

»Ich komme schon allein zurecht«, sagte Erika Bohn unglücklich, bevor Dr. Baumann antworten konnte. »Mach dir darum keine Gedanken, Kind.«

»Das kommen Sie nicht, Frau Bohn«, erklärte Eric ärgerlich. Er wandte sich an die junge Frau: »Es ist wirklich nicht zuviel verlangt, wenn Sie sich auch einmal um Ihre Mutter kümmern, Michaela. Ab und zu sollten Sie darüber nachdenken, was Ihre Mutter im Laufe der letzten Jahre alles für Sie getan hat.«

»Aber, Herr Doktor…«

»Es ist wahr, Frau Bohn. Im Moment sind Sie es, die Hilfe braucht. Sie haben vier Kinder. Keinem von ihnen wird ein Stein aus der Krone fallen, wenn es sich Ihrer einmal annehmen muß, statt stets nur Forderungen zu stellen.«