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Sophienlust
– 304 –

Dem Vater eine Last

Dabei ist Meike doch so entzückend

Susanne Svanberg

Impressum:

Epub-Version © 2019 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: https://ebooks.kelter.de/

E-mail: info@keltermedia.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74096-016-2

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»Bitte, helfen Sie mir. Ich bekomme Scotty nicht aus dem Wagen«, erklärte Eva Sander aufgeregt. Sie war einundzwanzig Jahre alt und eine auffallend zierliche Person. Alles an ihr wirkte zerbrechlich, fast durchsichtig. Und doch steckte eine ungeheure Energie in ihr.

Dr. von Lehn berührte den schönen Schäferhund auf dem Rücksitz ihres Wagens und stellte fest, daß er stocksteif war. Rasch zog er eine Spritze aus der Tasche seines weißen Kittels.

»Was ist das? Was hat Scotty?« fragte Eva ängstlich. »Er war doch noch am Morgen ganz munter.«

»Er wurde vergiftet«, antwortete der Tierarzt, ohne aufzusehen. »Ich gebe ihm ein Brechmittel. Außerdem injiziere ich ein Schlafmittel, um die Krämpfe zu stoppen.«

»Vergiftet? Aber wer vergiftet denn einen Blindenhund? Scotty gehört meinem Freund. Das habe ich Ihnen ja schon am Telefon gesagt. Sebastian ist durch einen Unfall erblindet. Es hat lange gedauert, bis er sich in seiner Umgebung wieder zurechtfand. Erst seit er den Hund hat, ist es besser geworden. Er hängt sehr an dem Tier. Bitte, helfen Sie Scotty. Er ist sehr treu und zuverlässig.« Eva sah, daß sich die Muskeln des gequälten Hundes entspannten, daß der Kopf zurücksackte.

»Er schläft jetzt tief und fest«, erklärte Hans-Joachim. Gleichzeitig schob er seine Hände unter den Körper des Tieres, hob ihn auf und trug ihn ins Haus.

Eva lief besorgt hinter ihm her. »Wenn er das Zeug nur ausspucken könnte«, seufzte sie.

Dr. von Lehn gab darauf keine Antwort. Er wußte, daß das Gift längst ins Nervensystem des Tieres gelangt war. Das Ende war, wie in den anderen Fällen, eine Lähmung des Atemzentrums. Eine wirksame Hilfe dagegen gab es nicht.

Im Nebenraum seiner Praxis legte Hans-Joachim den Tierkörper auf eine Liege, beugte sich über ihn, öffnete vorsichtig das Maul des Hundes. Als erfahrener Tierarzt sah er sofort, daß Scotty gut genährt und gepflegt war.

»War er allein draußen?« fragte Dr. von Lehn nebenbei.

»Sebastian ließ Scotty wie jeden Tag um diese Zeit in den Garten. Er blieb beim Haus stehen, wartete, bis der Hund zurückkam. Allerdings konnte er durch seine Behinderung nicht beobachten, ob das Tier etwas gefressen hat, ob jemand in der Nähe war oder ob irgendwo etwas Verdorbenes lag. Scotty benahm sich gleich darauf merkwürdig, und ich habe sofort bei Ihnen angerufen«, berichtete Eva hastig. Sie selbst hatte dieses schöne Tier ihrem Freund geschenkt und hing genauso an Scotty wie er.

»Hallo, Eva!« Andrea, die junge Frau des Tierarztes, betrat die Praxisräume. Mädchenhaft wirkte sie in

Jeans und Karobluse.

»Ihr kennt euch?« fragte Hans-Joachim erstaunt.

»Wir sind Schulkameradinnen«, erläuterte Andrea ihrem Mann. Erfreut musterte sie das Mädchen, mit dem sie viele Jahre lang in eine Klasse gegangen war. Eva hatte noch immer dieses glänzende Haar, das in der Farbe an frisch gefallene Kastanien erinnerte, und sie hatte noch immer den wachsamen Blick eines scheuen Rehs und dazu die Sommersprossen auf der kessen Stupsnase. Es war eine sonderbare und gerade deshalb sehr reizvolle Mischung.

»Hoffentlich kann dein Mann Scotty helfen«, seufzte Eva.

»Er tut bestimmt alles, um den Hund zu retten«, versicherte die junge Frau in jenem kameradschaftlichen Ton, der schon früher zwischen den beiden geherrscht hatte. »Magst du nicht mit hinüberkommen, Eva? Hier kannst du ohnehin nichts helfen. Trinken wir in der Zwischenzeit eine Tasse Kaffee.«

»Gern.« Eva sah noch einmal auf den wie leblos daliegenden Hund und nickte und folgte Andrea in die Privaträume des jungen Paares.

»Hübsch und geschmackvoll hast du es«, meinte sie dann bewundernd.

»Komm, mach es dir gemütlich.« Andrea wies auf die Sitzecke mit den hübschen Möbeln und den prächtig gedeihenden Pflanzen. »Ich schalte rasch die Kaffeemaschine ein.«

»Wo ist denn Peterle?« Eva schaute sich suchend um.

»Im Moment hält er seinen Mittagsschlaf. Aber sicher nicht mehr lange. Diese Zeit müssen wir nutzen. Denn wenn mein Sohn erst munter ist, hält er alle in Trab.«

Man hörte aus diesen wenigen Worten deutlich den Stolz der jungen Mutter heraus. Andrea liebte ihren kleinen Jungen und empfand es als ihre schönste Aufgabe, ihn zu betreuen und zu versorgen.

Während Andrea rasch in die Küche ging, nahm Eva Platz. Sie sah bewundernd auf die farblich wundervoll abgestimmte Einrichtung und die vielen kleinen Kostbarkeiten, die hier liebevoll zusammengetragen waren. »Schön, wirklich schön«, murmelte sie voll Überzeugung.

»Es freut mich, daß es dir gefällt. Wir fühlen uns auch sehr wohl hier«, bestätigte Andrea mit glücklichem Lächeln. »Aber nun mußt du mir ein wenig von dir erzählen. Wir haben uns so lange nicht mehr gesehen Eva. Erinnerst du dich noch, über was wir früher alles geredet haben? Es gab keine Geheimnisse zwischen uns. Und jetzt? Was weiß ich über dich?« Andreas tiefblaue Augen blitzten Eva an.

»Oh, so viel hat sich in der Zwischenzeit gar nicht geändert. Ich bin noch immer Arzthelferin bei Dr. Assenheim. Keine große Karriere, aber eine Aufgabe, die mir Spaß macht. Ich habe innerhalb der Praxis einen eigenen Wirkungskreis. Ich gebe Massagen, Bestrahlungen, Bäder, mache Röntgenaufnahmen und arbeite Diätpläne aus.«

»Ganz schön vielseitig. Aber du warst schon immer zu bescheiden, Eva. Ich habe den Eindruck, daß du nicht nur Dr. Assenheims Helferin bist, sondern fast seine Kollegin. Soviel ich weiß, arbeiten noch zwei jüngere Assistentinnen nach deinen Anweisungen. Das finde ich großartig. Aber das alles wollte ich eigentlich gar nicht hören. Was machst du privat?«

Andrea stellte die Kaffeetassen auf den kleinen Couchtisch.

»Ich wohne noch zu Hause und würde gern Tennis spielen wie früher, aber dazu reicht die Zeit nicht mehr. In der Praxis haben wir oft bis sieben Uhr zu tun, und danach...« Eva sah auf das hübsche Geschirr, das in seinen Farben die Harmonie des Raumes ergänzte.

»Was ist danach?« fragte Andrea sehr direkt und ohne Scheu.

»Ich kümmere mich abends um Sebastian. Er ist durch einen Verkehrsunfall blind geworden und braucht jemanden, der ihm den Haushalt in Ordnung hält, für ihn einkauft und kocht. Mehr als ein Jahr mache ich das nun schon.« Eva verschwieg, daß sie manchmal das Gefühl hatte, ausgenutzt zu werden.

»Ein Verkehrsunfall?« Andrea zog die Augenbrauen hoch.

»Es war ein Transporter, der Glasscheiben geladen hatte. Durch zu hohe Geschwindigkeit kam er in einer Kurve ins Schleudern, kippte um und überschwemmte die Straße mit Glasscherben. Sebastian fuhr auf seinem Motorrad unmittelbar hinter ihm. Er stürzte und zog sich Schnittwunden am ganzen Körper zu. Unglücklicherweise drangen Glassplitter auch in beide Augen. Ich kam gerade dazu, leistete erste Hilfe.«

»Entsetzlich«, murmelte Andrea erschrocken. Sie war ein sehr mitfühlender Mensch, ertrug es nicht, wenn jemand in ihrer Nähe unglücklich war. Sie holte den Kaffee und einen Teller Kuchen aus der Küche, schenkte ein.

»Wollt ihr heiraten?« fragte sie in die Gesprächspause hinein.

Eva atmete tief durch, bevor sie antwortete. Diese Frage hatte sie sich selbst schon mehrmals gestellt und noch keine Antwort darauf gefunden.

»Ich weiß es noch nicht. Sebastian ist sehr unzufrieden. Er wollte Techniker werden, mußte sein Studium abbrechen und arbeitet nun als Telefonist beim Fernsprechamt. Er ist damit nicht ausgelastet und hadert mit seinem Schicksal.«

»Liebst du ihn?«

Eva schüttelte leicht den Kopf, lächelte schmerzlich. »Fragen stellst du…?«

»Du bist doch hoffentlich nicht böse, Eva? Früher haben wir immer über alles gesprochen. Weißt du noch, wie wir alle für den jungen Englisch-Lehrer schwärmten?«

»Hm. Vielleicht liegt es an meinem Beruf, daß ich mich an diese Dinge schon fast nicht mehr erinnere. Weißt du, in einer Arztpraxis bekommt man Kenntnis von so vielen schweren Schicksalen…«

»Du lenkst ab, Eva. Wie stehst du zu deinem Sebastian?« forschte Andrea unnachgiebig.

Die junge Frau unterdrückte einen Seufzer. »Das ist schwer zu beantworten«, gab sie ehrlich zu. Nach und nach griff die frühere Vertrautheit auch auf sie über. Mit keinem anderen, nicht einmal mit ihren Eltern, hätte sie über ihre persönlichen Gefühle gesprochen. »Sebastian und ich sind ein Liebespaar. Aber ich bin nicht sicher, ob es von seiner Seite aus nicht vielleicht Berechnung und bei mir nicht hauptsächlich Mitleid ist…«

»Arme Eva«, murmelte Andrea betroffen. »Ich wünsche dir, daß ihr so glücklich werdet wie Hans-Joachim und ich.«

*

»Munzi darf nicht raus!« schrie die kleine Heidi und stürzte zur Tür, um das Katzentier zurückzuholen. Vorwurfsvoll schaute sie dabei auf Irmela, die gerade das Portal geöffnet hatte.

»Warum?«

Heidi schlang ihre kurzen Ärmchen um den graugetigerten Kater und drückte ihr Gesichtchen an dessen weiches Fell. »Weil ich nicht will, daß er vergiftet wird.«

»Aber bis jetzt sind doch nur Hunde vergiftet worden«, rechtfertigte sich Irmela. »Für Katzen besteht keine Gefahr.«

»Weißt du das so genau?« piepste Heidi schlagfertig. Noch fester drückte sie Munzi an sich.

Der Kater ließ die Prozedur über sich ergehen, ohne sich zu wehren. Er war an Kinder gewöhnt, denn er war in Sophienlust groß geworden. Fast zwanzig Buben und Mädchen hatten das Wochenbett seiner Mama umstanden. Und als er größer geworden und aus dem Körbchen gekrochen war, war er immer wieder von kleinen Händchen zurückgebracht worden. Inzwischen war er fast erwachsen, hielt sich aber noch immer gern in der Nähe seiner jungen Freunde auf.

»Heidi hat recht. Es ist besser, wenn wir die Tiere vorerst im Haus behalten«, mischte sich jetzt Nick ein, ein großer, ausgesprochen hübscher Junge mit vernünftigen Ansichten.

Deshalb richteten sich alle gern nach ihm. Daß er auch der künftige Erbe von Sophienlust war, davon sprach er nie. Später einmal würde er das Kinderheim, das seine Mutti gegründet und zu einer einzigartigen Institution ausgebaut hatte, weiterführen. Denn auch in Zukunft sollten Kinder in Not hier eine Zufluchtsstätte, in vielen Fällen sogar eine Heimat finden.

»Wenn wir nur endlich wüßten, wer in unserer Gegend harmlose Hunde vergiftet«, meinte Henrik, Nicks jüngerer Halbbruder. Obwohl die Familie von Schoenecker drüben auf Gut Schoeneich wohnte, waren die beiden Jungen halbtags immer in Sophienlust.

»Hans-Joachim hat die Polizei verständigt. Aber bis jetzt hat man keinerlei Anhaltspunkte.« Nick schaute besorgt auf Barri, den prächtigen Bernhardiner, der faul auf einer Decke lag, den Kopf auf den breiten Pfoten. Er war nicht nur besonders intelligent, sondern auch sehr kinderlieb. Irgendwie gehörte er zu Sophienlust, war der beste Freund seiner Bewohner.

»Die Polizei hat andere Aufgaben«, meldete sich jetzt Fabian, ein schmächtiger Junge mit mittelblondem Haar und graugrünen Augen. Durch ein Zugunglück hatte er die Eltern verloren und in Sophienlust ein neues Zuhause gefunden. Nick und all die anderen Kinder von Sophienlust waren wie Geschwister für ihn, Frau Rennert, die Heimleiterin, wie eine Mutter und Denise von Schoenecker eine mütterliche Freundin. Wie die vielen anderen Kinder, so fühlte sich auch Fabian wohl in Sophienlust.

»Wer soll denn den Tierfeind finden, wenn nicht die Polizei?« fragte Vicky Langenbach. Auch sie und ihre beiden Geschwister waren Waisen, die in Sophienlust liebevolle Aufnahme gefunden hatten.

»Warum suchen wir ihn nicht?« Angelina Dommin, ein Mädchen, das Pünktchen genannt wurde, schaute Nick herausfordernd an.

Wie immer, wenn in diesem großen Haus einige Kinder diskutierend beisammenstanden, gesellten sich auch der Rest der Kinder hinzu. Eifrig tauschte man Meinungen aus. Denn die Kinder von Sophienlust waren eine große Gemeinschaft. Eine Gemeinschaft, mit der sich jedes einzelne Mitglied eng verbunden fühlte, weil sie allen Geborgenheit schenkte.

Nick fühlte sich sofort angesprochen. »Ja, warum eigentlich nicht? Wir müssen versuchen herauszufinden, wer so etwas Scheußliches tut.«

»Hm. Damit verhindern wir vielleicht, daß noch mehr Hunde vergiftet werden…«

»...und so qualvoll sterben«, ergänzte Angelika, Vickys ältere Schwester.

Enger rückten die Kinder zusammen. Heidi, die Jüngste im Kreis der Kinder, ließ den Kater Munzi nicht aus ihren Armen. Eng drückte sie sich an Pünktchen, weil sie wußte, daß sie bei diesem kinderlieben Mädchen immer Schutz fand.

»Aber wo sollen wir suchen?« Treuherzig schaute ein pausbäckiger blonder Junge in die Runde. Er hieß Norbert und war vorübergehend in Sophienlust, weil seine Mutter schwerkrank war.

»Wo wohl? Natürlich dort, wo es Hunde gibt. In Wildmoos, in Bachenau, in Rimstein und Maibach.« In Irmelas blauen Augen blitzte der Schalk. Sie wollte den Kameraden mit ihrer Aufzählung zeigen, daß es unmöglich war, ein so großes Gebiet zu durchkämmen. Da sie das älteste Mädchen war, hatte ihre Meinung Gewicht.

»Natürlich gibt es unheimlich viele Möglichkeiten, wo so ein Verbrecher sein Unwesen treiben kann«, räumte Nick ein. »Aber bis jetzt sind zwei Hunde in Bachenau vergiftet worden und nur einer in Wildmoos. Deshalb schlage ich vor, daß wir in Bachenau beginnen.« Wie immer, wenn sich Nick etwas vorgenommen hatte, war er eifrig bei der Sache.

»Ich weiß gar nicht, wie ihr euch das vorstellt«, schnaubte Henrik. »Sollen wir jeden auf der Straße fragen, ob er jemanden gesehen hat, der Hunde vergiftet? Oder sollen wir in die Häuser gehen und nachsehen, ob jemand Gift hat?«

»Weder das eine, noch das andere«, belehrte Nick seinen Halbbruder. »Wir sehen uns nur um, beobachten. Und wenn wir einen Verdacht haben, dann beschatten wir den Kerl.«

»Beschatten, was ist das?« wollte Heidi wissen.

»Das wirst du schon noch erfahren. Außerdem kannst du ohnehin nicht mitkommen. Du bist zu klein«, gab Norbert dem Mädchen mit den blonden Schaukelzöpfchen zu verstehen.

Heidi verzog sofort das Gesichtchen und schnupfte. »Ich will… will auch mit«, stotterte sie. Schon kamen die Tränchen.

Pünktchen ging neben der Kleinen in die Knie, legte beschützend den Arm um sie. »Wir brauchen auch jemanden, der hierbleibt und auf die Tiere achtet«, erklärte sie ernst. »Das ist eine sehr wichtige Aufgabe. Genauso wichtig, wie in Bachenau durch die Straßen zu laufen. Möchtest du diese Pflicht übernehmen, Heidi? Du müßtest verhindern, daß Barri oder Anglos hinauslaufen.«

Und Munzi darf auch nicht aus dem Haus.« Stöhnend hob Heidi den Kater höher. Mit der Zeit wurde ihr die Last doch zu schwer.

»Keiner. Und deshalb ist es ganz wichtig, daß wir uns auf dich verlassen können.« Auch Nick verstand es ausgezeichnet, mit kleinen Kindern umzugehen. Er wußte genau, wie man sie umstimmen konnte, ohne ihren ausgeprägten Willen zu verletzen.

»Ja, das mach ich«, versicherte die Kleine und wischte sich die Tränchen von den Wangen.

»Fragen wir doch rasch Tante Ma«, schlug Angelika vor.