Mami – 1924 – Warum glaubt mir denn niemand?

Mami
– 1924–

Warum glaubt mir denn niemand?

Nur Lara weiß, was Cindy empfindet

Susanne Svanberg

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Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

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Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74092-913-8

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Die Damen um den ovalen Tisch im Erkerzimmer Dorothea Klingers redeten lebhaft durcheinander. Es ging um den demnächst stattfindenden Weihnachtsbasar. Das war ein Ereignis, bei dem sich die Damen, ihrer Aussage nach völlig uneigennützig, in den Dienst einer guten Sache stellten. So ganz uneigennützig war das alles dann doch nicht, denn die »bescheidenen Samariterinnen« erwarteten, für ihre Bemühungen mit Lob und Ehre überhäuft zu werden. Im vergangenen Jahr waren sie namentlich in der örtlichen Tageszeitung erwähnt worden, und der Bürgermeister hatte ihnen die Hand geschüttelt. Heimlich hofften sie, daß sich diesmal noch eine Steigerung erreichen ließ.

»Ich bastle wieder die Sterne für die Tischdekoration«, erklärte Elsa Petrof, deren Mann Zahnarzt war und die sich gerne mit Frau Doktor anreden ließ.

»Ich stifte die Tannenzweige.« Dorothea Klinger, die Gastgeberin, sah durchs Fenster auf die serbischen Fichten, die ohnehin ausgedünnt werden mußten, weil sie mit ihrem üppigen Grün die Zimmer verdunkelten.

»Dann werde ich wieder fürs Gebäck sorgen«, erbot sich die Frau des Lebensmittelhändlers Müller, die zu diesem Zweck die überalterten und deshalb unverkäuflichen Packungen im Laden aussortierte. Sie nahm einen Schluck aus der zierlichen Kaffeetasse. Dabei hielt sie diese manierlich am Henkel und spreizte den kleinen Finger ab, was sie für vornehm hielt.

Adelheid Katalin, die Frau des Apothekers, war gerade dabei, die Kuchengabel mit einem Stückchen Sahnetorte zum Mund zu führen, als unerwartet und geräuschvoll die Tür aufgerissen wurde.

Die Köpfe der Damen ruckten hoch, die Hälse wurden länger. Zwischen Türrahmen und Türblatt wurde ein Männerkopf sichtbar. Natürlich wußten alle, daß dieser Kopf zu Nils Klinger gehörte, dem Sohn der Hausherrin.

Trotzdem ließ Frau Müller vor Schreck fast die Tasse fallen, und Adelheid Katalin verschluckte sich am Sahnekuchen.

»Entschuldigung, ich wußte nicht, daß du Besuch hast. Kann ich dich kurz sprechen, Mutter?« Klingers Stimme klang höflich und angenehm. Auch sein Anblick war es, und deshalb lächelten die Damen wohlwollend.

»Komm doch herein, mein Junge«, säuselte Frau Klinger, die stolz auf ihren Einzigen war. Er war erst siebenunddreißig und bereits Vorstand eines großen Versicherungskonzerns. »Du kannst eine Tasse Kaffee und ein Stück…«

Weiter kam Dorothea nicht. »Tut mir leid, ich habe keine Zeit«, bemerkte Nils hastig. Sein Kopf verschwand, der Türspalt blieb offen.

Was blieb Dorothea übrig, als ächzend ihr Übergewicht hochzustemmen und sich nach draußen zu bewegen? Sie war etwas ärgerlich, weil Nils die Damen nicht begrüßt hatte, wie es eigentlich schicklich gewesen wäre. Dieser Ärger spiegelte sich auf ihrem runden, faltenfreien Gesicht. »Konntest du nicht…«, begann sie, die in ihrem erwachsenen Sohn noch immer den kleinen Jungen sah.

Nils ging heute nicht darauf ein. »Marions Haushälterin hat mich angerufen«, berichtete er mit nervöser Gebärde. »Marion ist mit einem Privatflugzeug verunglückt. Drei Leute waren an Bord. Der Pilot, der Eigner und Marion. Man konnte alle drei nur tot bergen. Ich muß sofort hin. Meine Sekretärin hat mir bereits einen Flug reservieren lassen.«

Frau Klinger schüttelte den Kopf. »Du willst völlig überstürzt nach Madeira?« erkundigte sie sich mißbilligend.

»Das Kind ist in dieser Situation allein. Das ist… ist unvorstellbar.« Nils schlug die Hände vors Gesicht. Ihn hatte die Unglücksnachricht mehr bewegt, denn er hatte seine schöne Frau geliebt, auch wenn sie seit mehr als vier Jahren getrennt lebten. Damals war sie mit der kleinen Cindy aus dem Urlaub, den die beiden allein auf Madeira verbrachten, einfach nicht zurückgekehrt. Sie hatte erklärt, den Zwang und die Enge der heimatlichen Kleinstadt nicht länger ertragen zu können. Alle Be­mühungen ihres Mannes, sie zur Rückkehr zu bewegen, waren gescheitert.

Zähneknirschend bezahlte Nils das Haus, das sie auf der Insel gekauft hatte, und überwies ihr regelmäßig die Unterhaltszahlung.

Frau Klinger konnte eine gewisse Genugtuung nicht unterdrücken. Sie hatte die Schwiegertochter nie gemocht. Außerdem war es schwierig gewesen, den Nachbarn und Bekannten zu erklären, weshalb Marion Klinger nicht zurückkam. Die Schwiegermutter hatte ein Hotel erfunden, das Marion angeblich verwaltete und sie unabkömmlich machte. »Hast du die Haushälterin überhaupt richtig verstanden?« fragte sie mißtrauisch. »Diese Frau sprich nur Portugiesisch und ein paar Brocken fürchterlich klingendes Englisch.«

»Es gibt keinen Zweifel, Mutter«, antwortete Nils sachlich. »Ich werde rasch ein paar Sachen zusammenpacken und zum Flughafen fahren.«

»Soll ich das kleine Köfferchen holen, das du immer mitnimmst, wenn du auf Geschäftsreise gehst?«

»Nein. Ich wollte dich ja nur informieren.« Die Stimme des sonst so ruhigen und beherrschten Nils klang ungeduldig.

Frau Klinger ignorierte es. Seit sie Witwe war, konzentrierte sich ihre Zuwendung auf den erwachsenen Sohn, zumal ihn seine Frau böswillig verlassen hatte. »Du wirst ja nicht lange bleiben«, meinte sie und lief Nils nach.

»Das… das weiß ich noch nicht. Vermutlich gibt es allerhand zu regeln.« Nils nahm ein paar Hemden aus dem Schrank in seinem Schlafzimmer und warf sie achtlos in eine Reisetasche.

»Wenn das alles stimmt, kannst du froh sein«, schnaubte Frau Klinger, vom raschen Laufen etwas außer Atem. Sie stemmte die Hände in die fülligen Seiten und sah Nils zu. »Marion hat dich Jahr für Jahr ein Vermögen gekostet, und das wäre noch endlos so weitergegangen. Regelrecht ausgenommen hat sie dich. Du verdienst ganz bestimmt gut, konntest dir aber keine eigene Wohnung mehr leisten, geschweige denn eine Urlaubsreise.«

Nils schnitt eine Grimasse. Er bekam das alles fast täglich zu hören, weshalb er immer später aus dem Büro kam und oft auch die Wochenenden in dem rundum verglasten Verwaltungsgebäude der Versicherung verbrachte. Er seufzte tief. Eigentlich war er nicht in der Stimmung, mit seiner Mutter über das alles zu diskutieren. Doch er ahnte, daß ihre Schimpferei kein Ende fand, wenn er schwieg. »Du weißt genau, daß ich nach Vaters Tod hierher gezogen bin, weil das Haus für dich viel zu groß ist und weil ich dich nicht alleine lassen wollte. Mit Marion hat das nichts zu tun. Ebensowenig die Tatsache, daß ich nicht in Urlaub fahren mag. Ich habe ganz einfach keine Lust dazu.«

»Sie hat dir alles verdorben«, schimpfte Dorothea weiter. »Das Kind hat sie dir entfremdet, die Freude am Leben hat sie dir genommen.«

Nils hob abwehrend die Hände. »Mutter, du hast mir das alles schon so oft gesagt. Können wir nicht wenigstens heute darauf verzichten?«

Dorothea ignorierte die Bitte ihres Sohnes. »Wer weiß, was sie aus der armen kleinen Cindy gemacht hat. Diese Marion hat doch nur an sich gedacht.«

»Sie war eine gute Mutter«, entgegnete Nils heftig. »Wir hätten Cindy niemals das bieten können, was Marion ihr gab.«

Gekränkt zog Dorothea den etwas zu kurz geratenen Hals zwischen die Schultern. Es kam kaum vor, daß Nils ihr widersprach. Und wenn er es tat, war sie beleidigt. So auch jetzt. Sie drehte sich um und verließ wortlos die Wohnung im Obergeschoß, die sie ihrem Sohn überlassen hatte.

Verärgert kehrte sie zu ihrem Damenkränzchen zurück.

Am ovalen Tisch war inzwischen eifrig getuschelt worden. Wenn Dorothea Klinger auch vehement alle Gerüchte dementierte, so sickerte doch nach und nach durch, daß etwas in der Ehe von Nils und Marion Klinger nicht stimmte.

Die Gespräche im Erkerzimmer verstummten, als Dorothea zu­rück­kam. Alle Damen beschäftigten sich auffallend eifrig mit den Kaffeetassen und den Kuchentellern.

»Ausgezeichnet, die Apfeltorte«, lobte Elsa Petrof.

So verärgert Dorothea auch war, den Schein wußte sie zu wahren. Sie machte ein zerknirschtes Gesicht.

Mit dem Spitzentaschentuch wischte sie sich über die Augen. »Eben hat mein Sohn eine sehr schlechte Nachricht erhalten. Deshalb war sein Benehmen so sonderbar. Ich bitte Sie, das zu entschuldigen.« Frau Klinger schnupfte betrübt.

In den Augen der Damen glitzerte die Neugierde. Frau Müller, die im Laden ihres Mannes mehr Neuigkeiten verbreitete als die örtliche Zeitung, schluckte erregt. Sie spürte förmlich, daß es da etwas zu erfahren gab, das die Kundinnen in Scharen in ihr Geschäft locken würde.

»Ihre Schwiegertochter oder das Kind werden doch nicht erkrankt sein?« fragte sie scheinheilig.

»Schlimmer«, bekannte Dorothea und versuchte, so traurig zu wirken, wie es eigentlich angebracht gewesen wäre. Doch sie war keine besonders gute Schauspielerin. Weil sie das wußte, bedeckte sie das Gesicht mit dem Spit­zentüchlein.

»Schlimmer?« wiederholte Adel­heid Katalin und hielt den Atem an.

»Es ist entsetzlich«, stöhnte Dorothea leise. »Meine arme Schwiegertochter… Sie war so tüchtig, überall so beliebt und so erfolgreich…« Genau genommen stimmten diese Attribute, und das ärgerte Frau Klinger ganz besonders.

»War?« fragte Frau Müller. Dieses eine Wort drückte eine solche Scala von Vermutungen aus, daß alle sofort Bescheid wußten.

»O Gott«, murmelte Elsa Petrof halb pflichtschuldig, halb sensationslüstern.

*

Bei frostigen Temperaturen war Nils in Stuttgart abgeflogen. Um so mehr empfand er die Wärme, die auch Ende November auf der Sonneninsel im Atlantik herrschte. Ein warmer Wind blies ihm ins Gesicht, als er das Flugzeug verließ. Blumen blühten in den Kästen auf der Terrasse des Flughafengebäudes. Die Palmen am Rand des Geländes bewegten sanft ihre gefächerten Blätter. Was Nils aber am meisten beeindruckte, war der strahlend blaue Himmel, an dem ein paar Schönwetterwölkchen gemächlich dahinzogen.

Er verstand, daß die sonnenhungrige Marion die heitere Insel ihrer um diese Zeit tristen grauen Heimat vorzog. Eigentlich hatte er seine Frau schon immer verstanden, hatte aber nicht den Mut gefunden, ihr zu folgen. Anfänglich war er versucht gewesen, seine Stellung aufzugeben, um hier neu anzufangen. Doch die Überlegung, daß er, der nicht einmal Portugiesisch beherrschte, wenig Chancen hatte, hielt ihn schließlich zurück. Er war damals hierher gekommen, um seine Frau umzustimmen, doch sie blieb stur. Aus Verbitterung hatte er sie nie mehr besucht.

Daß die Insel mit ihren bewaldeten Bergen und ihren reizvollen Tälern, mit ihren schroffen Steilküsten und stillen Buchten wunderschön war, wußte er. Heute schaute er sich nicht um, sondern fieberte der Begegnung mit seinem Töchterchen entgegen.

Mehr als vier Jahre lang hatte er Cindy nicht gesehen. Nicht einmal Fotos hatte ihm Marion geschickt, obwohl er sie immer wieder darum bat. Sieben Jahre war seine kleine Tochter inzwischen. Seit mehr als einem Jahr besuchte sie eine deutsche Schule. Das wußte Nils von der Haushälterin.

Viel zu langsam empfand Klinger die Paß- und Gepäckabfertigung. Er trat unruhig von einem Fuß auf den anderen, während er in der Schlange wartete.

Zur gleichen Zeit drückte sich draußen in der Wartehalle ein kleines Mädchen die Nase an der Glasscheibe platt. »Wann kommt er denn endlich?« fragte sie immer wieder ihre Begleiterin. Sie bediente sich dabei der portugiesischen Sprache, die sie mühelos beherrschte.

»Gleich«, antwortete Maria Terceira, die den Vater aus Deutschland ebenso ungeduldig erwartete wie das Kind. Sie hatte selbst eine große Familie und ging deshalb normalerweise abends heim. Aus Mitleid war sie in der vergangenen Nacht bei Cindy geblieben. Maria war etwas verunsichert, weil sich das kleine Mädchen ganz anders benahm, als man es von ihr erwartete.

So schonend wie möglich hatte die einfache Frau der Kleinen erzählt, was geschehen war. Sie hatte Cindy erklärt, daß die Mami nicht zurückkommen würde. Doch das Kind schien sie nicht verstanden zu haben. Es weinte und jammerte nicht, sondern behauptete mit allem Nachdruck, daß die Mami nur etwas länger weg sei, daß sie aber auf jeden Fall wiederkomme.

Maria widersprach mehrmals, was Cindy allerdings nicht beeindruckte. Jetzt fühlte sich die Frau hilflos und überfordert. Vielleicht hatte sie nicht die richtigen Worte gefunden. Der Vater würde Cindy sicher alles besser erklären. Schon früher bedauerte Maria die Kleine, die in merkwürdigen Verhältnissen aufwuchs. Jetzt tat ihr das Kind noch viel mehr leid.