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Iris Paxino

Brücken zwischen
Leben und Tod

Begegnungen mit Verstorbenen

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Inhalt

Einleitung

Der Tod im Wandel der Zeit

Der Sterbeprozess

Der Augenblick des Todes

Schwierigkeiten des Schwellenübergangs

Die Zeit in der Ätherwelt

Bei der eigenen Beerdigung

Gefangen zwischen den Welten

Wenn Kinder sterben

Der Äthertod

Die Begegnung mit dem Christus-Wesen

Die Zeit in der unteren Astralwelt

Auswirkungen unerlöster Seelenanteile

Die Zeit in der höheren Astralwelt

Der Astraltod

Die Zeit in der Devachansphäre

Die dunklen Geisteswelten

Wie lernt man, Verstorbene wahrzunehmen?

Übungswege

Methodisches in der Erlösungsarbeit

Schlusswort

Literatur

Meiner geliebten Großmutter Elena gewidmet

Mit einem herzenswarmen Dank

an Philipp und Thomas auf dieser Seite

sowie an Markus und Stefan, Ajra, Albert und Grigore

auf der anderen Seite

Einleitung

Das Geheimnis des Lebens

und das Geheimnis des Todes

sind verschlossen in zwei Schatullen,

von denen jede den Schlüssel

zum Öffnen der anderen enthält.

Mahatma Gandhi

«Was möchten Sie nun nach Ihrem Studium machen, junge Dame?», fragte mich der Psychologieprofessor unmittelbar nach meiner mündlichen Abschlussprüfung. Er war ein älterer Herr mit wachen, runden Augen und freundlichem Gesichtsausdruck. Er kannte mich nicht aus der Studienzeit, sondern war lediglich als externer Prüfungsbeisitzer hinzugezogen worden. Nun war er nach der Prüfung gerade dabei, seine Tasche zusammenzupacken, und führte mit mir noch beiläufig eine Konversation.

«Ich möchte gerne über das Thema ‹Nahtoderfahrungen› promovieren», antwortete ich, ohne lange überlegen zu müssen.

Bei meiner Antwort drehte sich der Professor fast erschrocken zu mir um und riss die Augen auf. «Nahtod? Sie werden doch nicht lebensmüde sein, junge Dame! Sie haben eine ausgezeichnete Prüfung hingelegt. Ihnen stehen alle Türen offen, das wissen Sie doch, oder?»

Ich war amüsiert über seine Sorge und musste lachen. «Lebensmüde? Keinesfalls, ganz im Gegenteil, ich liebe das Leben! Gerade deswegen finde ich dieses Thema so spannend: Es geht nach dem Tod doch offensichtlich weiter.»

Der Professor schüttelte den Kopf, sein Gesichtsausdruck war prüfend und besorgt, und er schien mich nicht zu verstehen. «Ja, aber über den Tod zu schreiben? Sie sind so jung und voller Lebenskraft, wollen Sie nicht etwas anderes machen? Es gibt doch ganz andere Themen für eine Promotion!»

Ich versuchte, ihm zu erklären, wie faszinierend Nahtoderfahrungen sind und dass dieses Phänomen vom wissenschaftlichen Standpunkt her ein hochinteressantes Forschungsfeld ist. Doch während ich sprach, konnte ich beobachten, wie die Sorge in seinem Gesicht einer immer größeren Enttäuschung wich. Ich erkannte, dass er eigentlich gar nicht das hörte, was ich sagte. Der Begriff «Tod» glich für ihn einer existenziellen Bedrohung, es war, als ob sein Denken bei diesem Wort regelrecht aussetzen würde.

In der Zwischenzeit hatte der Professor kopfschüttelnd seine Tasche zugemacht und drehte sich ein letztes Mal zu mir um. «Also, auf jeden Fall alles Gute für Sie. Ich gratuliere Ihnen zu Ihrer Prüfung. Und ich hoffe, dass Sie sich das mit dem Promotionsthema noch einmal gut überlegen. Wirklich, wer will sich schon mit dem Tod beschäftigen!» Mit diesen Worten verabschiedete er sich. Ich rief ihm noch lachend hinterher: «Ich!»

Diese Reaktion von Unverständnis in Bezug auf die Thematik des Todes sollte mir von da an wiederholt und in allen möglichen Variationen begegnen. Immer wieder stieß ich auf Verwunderung oder Skepsis, auf Abneigung oder Angst. Für mich ging der Weg allerdings geradeaus weiter: Ich stürzte mich in die Nahtodforschung.

Der Tod war für mich bereits in meinem achtzehnten Lebensjahr zum Lebensthema geworden. Meine Großmutter starb damals überraschend an einer Hirnblutung infolge eines Autounfalls. Für mich brach eine Welt zusammen, denn sie war mir von frühester Kindheit an der liebste Mensch gewesen. In meiner Seele blieb eine klaffende Wunde zurück. Diesem Menschen nicht mehr begegnen zu können war für mein Empfindungsvermögen schier unfassbar. Ich fühlte mich allein zurückgelassen, mit einem nicht enden wollenden Schmerz und mit der Frage: Wie kann ich Brücken bauen zwischen Leben und Tod?

Kurze Zeit nach ihrem Tod erschien mir meine Großmutter im Traum; und dies wiederholte sich in regelmäßigen Abständen. Die Traumbilder hatten teilweise symbolischen Charakter, gleichzeitig hatte ich die unerschütterliche Gewissheit, dass mir hierbei ihr reales Wesen entgegentrat. Der Bereich des Traumes schien nur ein Zwischenraum der Begegnung zu sein, in dem ihre Seele mein Bewusstsein erreichen konnte. Diese Übergangserlebnisse waren ein großes Geschenk für mich, doch nach einigen Monaten verdeutlichten mir die Traumbilder, dass meine Großmutter nicht mehr auf dieser Ebene erscheinen würde. Und so war es auch: Sie nahm Abschied, und seitdem kam sie nicht mehr in meinen Träumen vor.

Was mir jedoch blieb, war eine kostbare Erkenntnis: Wenn sie als Verstorbene in der Lage gewesen war, ihre Aufmerksamkeit und Liebe so stark auf mich zu fokussieren, dass sie mein Bewusstsein erreichen konnte, dann müsste es doch möglich sein, dass auch ich mein Bewusstsein in der Weise ausrichten könnte, sie von mir aus zu erreichen. Mir wurde klar, dass mein Tagesbewusstsein noch nicht geschult war, sich zwischen den Welten hin- und herzubewegen. Die Traumebene, also das Reich des Halbbewussten, war zum damaligen Zeitpunkt meine einzige Möglichkeit, eine Begegnung mit einem Verstorbenen zu erleben. So wurde die Suche nach einem konkreten Weg, die Welt der Verstorbenen selbst intendiert und wachbewusst zu erleben, zu meiner neuen zentralen Frage.

Ich begann zu lesen und las in den folgenden Jahren so ziemlich alles, was ich zum Thema Tod finden konnte: Religionsgeschichte und Philosophie, Psychologie und Theologie, wissenschaftliche Abhandlungen und sogenannte Fachliteratur. Vieles empfand ich als recht dürftig und enttäuschend, denn das, was sich «wissenschaftlich» nannte, vertrat im Grundtonus lediglich das herkömmliche materialistische Dogma unserer Zeit: Das Absterben der Körperfunktionen bedeute zugleich die Auslöschung des menschlichen Bewusstseins. Ich fand jedoch auch viel Spannendes und Interessantes. Dies basierte allerdings lediglich auf Theorien und Hypothesen und half mir in meiner konkreten Fragestellung nach einem wachbewussten Umgang mit der Welt der Verstorbenen wenig weiter.

Dann fand ich in der Anthroposophie Rudolf Steiners ganz konkrete Schilderungen des menschlichen Entwicklungsweges nach dem Tod, hier – endlich – in einem zeitgemäßen Kontext und in einem weit umfassenderen Gesamtbild als in allen anderen Darstellungen. Die Beschreibungen Steiners waren überaus komplex geformt, gedanklich glasklar nachvollziehbar und dem Geistigen gegenüber weit offen. Da begegnete ich einem modernen Denker, der aus eigenem Erleben heraus eine zutiefst spirituelle Sprache sprach. Hier fand ich die ersten greifbaren Antworten auf meine Fragen.

Parallel dazu stieß ich auf Beschreibungen von Nahtoderfahrungen. Menschen, die klinisch tot oder dem Tod sehr nahe gewesen waren, berichteten über eigene Erlebnisse im Zustand eines vom Körper freien Bewusstseins. Es war mir klar, dass es sich hier lediglich um die ersten Augenblicke, also um die allerersten Schritte in der nachtodlichen Welt, handelte; aber es war zumindest der Anfang des Weges, den ich suchte. Für mich wurde somit das Phänomen der Nahtoderfahrungen zu einem eigenen Forschungsfeld. Ich suchte Menschen auf, die solche Erfahrungen an der Schwelle des Todes gemacht hatten, führte mit ihnen Gespräche und Interviews, fertigte eine wissenschaftliche Studie an und schrieb – entgegen der Empfehlung meines Professors – meine Doktorarbeit zu diesem Thema. Dabei berührte es mich ganz besonders, wenn die Menschen über ihre Erlebnisse an der Todesschwelle sprachen und sich ihr ganzes Wesen veränderte: Etwas Sanftes leuchtete in ihren Augen auf, wie aus einer geheimnisvollen inneren Quelle heraus strömte etwas Klares, Lebendiges, Liebegetragenes durch sie hindurch, was für mich real spürbar und wahrnehmbar war.

In diesen Jahren begann ich auch meditativ zu üben, und mit der Zeit bemerkte ich, dass ich immer wahrnehmungsfähiger wurde. Empfindungen formten sich langsam zu erklärenden Bildern, innere Zwiegespräche wurden zu geistigen Begegnungen, auf Fragen stellten sich konkrete Antworten ein. Ausgangspunkt solcher Übungen war, das eigene Innere ganz still und vorurteilslos zu halten. Ich lernte also, dass man das Reich der Verstorbenen Schritt für Schritt übend betreten kann. Der Weg dahin ist ein Herzensweg, denn liebende Verbundenheit und waches, aufrichtiges Interesse am anderen bilden der eigenen Seele die Brücke über die Schwelle. Meine Erlebnisse mit Verstorbenen, erst intuitiv und mit der Zeit immer klarer und bewusster, häuften sich. Und so führte mich mein Weg dann weiter zu einer über Jahre anhaltenden Beschäftigung mit der Thematik des Todes.

Später, als Psychologin in einem Krankenhaus, begleitete ich unter anderem auch Patienten, die an der Todesschwelle standen. An den Krankenbetten dieser sterbenden Menschen durfte ich eindrückliche Erfahrungen machen. Ich bemerkte, dass bei zahlreichen Patienten geistige Erfahrungen während des Sterbeprozesses auftraten. Manche von ihnen erlebten den eigenen Schutzengel, der ihnen in dieser Übergangsphase zwischen Leben und Tod liebend und geduldig beistand. Andere nahmen zuvor verstorbene Familienangehörige oder Freunde wahr, die sie nun an der Schwelle erwarteten. Als Begleitperson kann man lernen, das geistige Geschehen um einen sterbenden Menschen recht genau wahrzunehmen. Die Stimmung, die im Zimmer herrscht, ist anders als die Stimmung in anderen Patientenzimmern. Licht und Dunkel scheinen viel eindringlicher zu sein, die Haltung der Schutzengel ist ernster und trägt eine ganz besondere Qualität des Sakralen in sich. Auch der Doppelgänger des sterbenden Menschen macht sich in manchen Fällen deutlich bemerkbar, was sowohl für den Sterbenden als auch für die ihn umgebenden Menschen zu einer Herausforderung werden kann. – So verstand ich, dass Sterbebegleitung sich nicht lediglich auf die Organisation der letzten Angelegenheiten und auf das Annehmen und Loslassen des gewesenen irdischen Lebens beschränken kann. Diese Arbeit sollte ebenfalls eine bewusste Begleitung des Schwellenübertritts und eine Vorbereitung auf das danach Kommende umfassen.

Eine weitere Erfahrung, die ich in dieser Krankenhauszeit machte, war, dass einige der Patienten auch noch nach ihrem Tod für mich erlebbar waren. Manche kamen, nun als geistige Gestalt, um sich zu verabschieden oder um sich für die gemeinsame Arbeit zu bedanken. Andere hatten noch eine Bitte oder ein Anliegen und benötigten hierbei Hilfe aus der physischen Welt. Es wurde mir immer deutlicher, dass diese Arbeit nicht an der Schwelle endet, sondern unweigerlich über diese hinausgeht.

Anschließend an die Kliniktätigkeit lag der Schwerpunkt meiner Arbeit in einer eigenen psychologischen Beratungspraxis. Hier galt es, vorwiegend krisenhafte Lebensthemen zu begleiten, wie beispielsweise berufliche und persönliche Selbstfindungsprozesse, Paar- und Beziehungsprobleme, Trennungs- und Verlusterlebnisse, Depressionserkrankungen usw. Mit Sterbenden hatte ich zwar nicht mehr zu tun, dafür aber immer mehr mit Verstorbenen. Manche erschienen als Geistgestalt im Zusammenhang mit einem Klienten und waren Teil eines bestimmten zu bearbeitenden Problemkomplexes; andere hafteten dauerhaft an einem Klienten und bereiteten ihm unbemerkt Schwierigkeiten. Es handelte sich dabei um Seelen, die nach dem Tod bestimmte irdische Zusammenhänge nicht loslassen konnten und somit in der erdennahen Zwischenwelt stecken geblieben waren.

Mit der Zeit stellte ich auch außerhalb der Praxisarbeit fest, dass es viele solcher hängen gebliebenen Seelen gibt, die erhebliche seelische Belastungen, soziale Schwierigkeiten bis hin zu schweren psychischen Erkrankungen verursachen. Sie können Menschen, Institutionen und soziale Zusammenhänge wie auch Lebensräume, Häuser und Landschaftsorte durch ihre Einwirkung belasten. Hier sind mir viele verunsicherte und desorientierte, leidende und verzweifelte Gestalten begegnet. Ihre Anzahl ist bestürzend hoch, und ihre Not ist erschütternd groß. Sie sind eine Bürde für unsere Welt und bilden ein regelrechtes therapeutisch-soziales Arbeitsfeld. Diese Verstorbenen sind auf Hilfe angewiesen, sie benötigen Aufklärung über ihren eigenen Zustand und eine bewusste Anbindung an die geistige Wirklichkeit, in der sie sich befinden. Erst durch eine solche «Erlösungsarbeit» können sie ihren nachtodlichen Entwicklungsweg weitergehen.

Gleichwohl sind mir in dieser Arbeit auch Verstorbene begegnet, die ihrerseits Hilfe leisten. Das sind lichte, kraftvolle, selbstlose Verstorbene, die impulsierend und inspirierend wirken, sowohl innerhalb der nachtodlichen Bereiche als auch in unsere Welt hinein. Sie können wertvolle Stützen für unsere persönliche Entwicklung wie auch maßgebliche Mitwirkende an der Gestaltung der Erde sein. Ich verdanke ihnen erhellende Erkenntnisse und eine überaus erfüllende Zusammenarbeit.

Die Welt der Verstorbenen ist uns also in ihrer Vielfalt Aufgabe und Unterstützung zugleich. Sie umgibt und durchdringt unsere Welt ganz unmittelbar. Wir bedingen einander in all unserem Wirken und bilden gemeinsam das große Ganze des Menschseins. Eine Entwicklung ohne ein bewusstes Miteinander wird immer schwieriger. Noch ist es in unserer Gesellschaft nicht geläufig, den Umgang mit Verstorbenen als Bestandteil unseres sozialen Zusammenhangs zu erkennen. Mit großer Freude begegne ich allerdings zunehmend mehr Menschen, die ein waches Interesse daran entwickeln und aktiv Erlösungsarbeit leisten. «Wir» sind also schon nicht mehr wenige. Von daher schaue ich vertrauensvoll in eine Zukunft, in der die Freundschaft und die Verbundenheit mit der Welt der Verstorbenen für immer mehr Menschen eine Lebensrealität sein wird.

Wenn ich auf meinen persönlichen Entwicklungsweg in der Arbeit mit Verstorbenen blicke, entfaltet sich vor mir der Verlauf einer spannenden, lehrreichen und wundervollen Reise. Davon möchte ich hier berichten. Unterwegs durfte ich eindrucksvolle seelische und geistige Landschaften erleben, unerwartete Begegnungen mit zahlreichen Verstorbenen haben und neue Geistesfreundschaften schließen. Ich habe verstanden, dass uns im Grunde genommen lediglich ein kleiner Bewusstseinsschritt von der Welt der Verstorbenen trennt. Ich hoffe, dass immer mehr Menschen diesen Bewusstseinsschritt wagen, sodass ein lebendiger und immer bewussterer Austausch zwischen Diesseits und Jenseits möglich wird. Die Verantwortung für die Gestaltung unserer gemeinsamen Welt kann uns wahrhaftig Brücken zwischen Leben und Tod bauen lassen.

Allen, denen ich auf diesem Weg begegnet bin, auf dieser und auf der anderen Seite des menschlichen Seins, und von denen ich so viel Kostbares lernen durfte, danke ich von Herzen! Meiner geliebten Großmutter, die mir die allerersten Einblicke über die Schwelle ermöglicht hat, widme ich, in inniger Schicksalsverbundenheit und tiefster Dankbarkeit, dieses Buch.

Der Tod im Wandel der Zeit

Es gibt mehr Ding’ im Himmel und auf Erden,

Als Eure Schulweisheit sich träumt (…)

William Shakespeare: Hamlet, Erster Akt, 5. Szene

Leben und Tod bilden die Grenzdimensionen der menschlichen Existenz auf Erden. Durch alle Menschheitskulturen und Zeitepochen hindurch begleitet uns die Frage, was Leben und Tod bedeuten. Zum menschlichen Sein dazugehörig, bedingen sie sich gegenseitig; und doch bedeuten sie für unsere Welt die größtmöglichen Gegensätze, die der menschliche Geist in der Lage ist zu erfassen. Religion, Geschichte und Philosophie, Kunst, Literatur und Wissenschaft kreisen seit jeher um diese größten Rätsel. Neue Antworten lösen alte Fragen ab, neue Fragen entstehen aus den bereits gefundenen Antworten. Können Leben und Tod als Sein und Nichtsein verstanden werden? Was ist die Dimension der Ewigkeit, zu der der Mensch stets als Ideal hingestrebt hat? Was geschieht mit dem Menschen, wenn er aus dem Leben scheidet? Ist das Phänomen des Todes ein Rätsel für die Menschen aller vergangenen Kulturen gewesen?

Die geschichtlichen Quellen offenbaren uns, dass in den verschiedenen Zeitaltern und Kulturen unterschiedlichste Vorstellungen über das Schicksal des Menschen nach dem Tod geherrscht haben. Das, was wir Antlitz des Todes nennen, hat früher eine andere Bedeutung gehabt als heute. Das Verständnis von der Wesensnatur des Todes hat somit zahlreiche Umwandlungen erfahren. Alle Dokumente, die uns erhalten geblieben sind, zeugen davon, dass die Menschen vergangener Zeiten sich nicht die Frage stellten, was der Tod ist, sondern was mit der Seele des Menschen nach dem Verlassen der physischen Welt geschieht.

Der Mensch der altindischen Hochkultur erlebte sich eingebettet in den Schutz der ihn umgebenden geistigen Wirklichkeit. Er spürte in sich die Sehnsucht nach dem Geistigen, welches er als Ursprung und Wirklichkeit des eigenen Daseins anerkennt. Dort ist für ihn das wahre Licht; die Existenz auf Erden wird als nebelhafte, illusorische Maya empfunden. Die Pforte zum Jenseits ist nicht verschlossen, gerade der Tod ermöglicht dem Menschen die Befreiung aus der irdischen Welt und somit die Erlösung der leibgebundenen Seele. Dieses uralte Wissen wird durch Gesänge und rhythmisch-poetische Verse über lange Zeiten hinweg in mündlicher Form überliefert. Später fließt es dann in die Vedenphilosophie, in die Sankhya- und in die ursprüngliche Yogaströmung ein.

Eine weitere prägende Menschheitsepoche, die sumerischbabylonische, hinterlässt uns als Essenz ihrer Geisteshaltung das bewegende Gilgamesch-Epos. Es handelt sich hier um das erste schriftlich verfasste literarische Werk der Menschheit und zugleich um den ersten uns überlieferten Totengesang. Ab dem 25. Jh. v. Chr. zunächst mündlich überliefert, wird dieses Epos im 18. Jh. v. Chr. in Keilschrift niedergeschrieben. Es zeugt davon, dass der Mensch, Gilgamesch, das Sterben des schicksalsverbündeten Enkidu als Verlust an den Tod empfindet. Er macht sich auf den Weg, um den verlorenen Freund wiederzufinden und zurückzuholen. Der Tod bedeutet hier eine einschneidende, schmerzhafte Trennung, doch keine unpassierbare Grenze. Er ist kein Rätsel, er stellt eine Herausforderung für den Menschen dar.

Eine der darauffolgenden Hochkulturen, die uns Zeugnisse ihrer Lebensart hinterlassen hat, ist die ägyptische Epoche. Das ägyptische Totenbuch, der Mythos von Isis und Osiris, die Funde der Gräber in den Pyramiden sprechen eine Sprache, die den Tod kennt und seine Wurzeln inmitten des Lebens platziert. Der Kult der Mumifizierung hat nicht lediglich den Sinn der Erhaltung des Leichnams, sondern ist als eine Brücke zwischen dem physischen Körper und der sich in die geistige Welt erhebenden Seele zu verstehen. Der Tod ist nicht das Ende des Lebens, er wird als erhabenes Tor zu einem jenseitigen Entwicklungsweg erlebt. Lediglich in der dekadenten Spätphase der ägyptischen Kultur verlagert sich das Verständnis für das Wesen des Menschen immer stärker ins Diesseits. Mit dem Untergang dieser zivilisatorischen Hochkultur entartet auch der Kult der Mumifizierung zum Versuch, das Irdische festzuhalten und zu konservieren.

Die nächste große Epoche der Menschheitsentwicklung ist das antike Griechenland. Dieses hinterlässt uns überaus kostbare Werke auf dem Gebiet der Philosophie, der Dichtung, der plastischen Kunst und der Architektur. Diese Kultur ist inhaltlich so reich, dass in ihrem Schoß unterschiedliche geistige Strömungen entstehen können. Homer plastiziert uns dichterisch in seinen Meisterstücken Ilias und Odyssee das Bild des griechischen Menschen in seinem Weltzusammenhang. Das Reich des Todes ist Hades’ Welt: Es ist eine Schattenwelt, in der die Seelen der Verstorbenen in einer körperlosen, rauchigen Gestalt als Abbild ihres ehemals physischen Körpers für sich leben. Der griechische Mensch fürchtet diese Unterwelt; nur noch der «Held», also der mit besonderen Fähigkeiten Begabte, der Geschulte, der Muterfüllte, kann, von Liebe und Schmerz getragen, in diese Welt eindringen und sie als lebender Mensch wieder verlassen. Heraklit stellt die Verkettung von Leben und Tod in einem für den damaligen Menschen klaren Bild dar: Alles, was lebt, hat durch den durchlaufenden Strom des Werdens den Tod in sich. Der Tod hat wiederum stets das Leben in sich. Leben und Tod weben beide im menschlichen Leben und Sterben, nur so kann das ewige Werden alles durchströmen.

Doch auch ein anderer philosophischer Ansatz entstand in der griechischen Antike, und zwar durch Demokrit, den Vater der griechischen Atomisten. Seiner Anschauung nach setzt sich alle Materie der Welt aus unteilbaren Stoffteilchen, Atomen, zusammen. Durch die Bewegung der Stoffteilchen zueinander entstehen die Naturvorgänge. Somit wird die Natur hier entseelt. Der Mensch fühlt sich nicht mehr als Teil des Göttlichen, welches Natur und Mensch mit seinem Ewigkeitshauch durchströmt. Zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit entsteht nun die Frage, ob die Seele, die gemäß dieser Anschauung ebenfalls aus Atomen besteht, beim Tod des physischen Körpers den Weg der Auflösung geht. Der Tod, der bisher durch alle Kulturen den Menschen als Teil des Lebens begleitet hat, wird nun – und erst jetzt – zum Rätsel! Der Keim der materialistischen Weltanschauung wird durch diese Kulturströmung geboren. Obwohl die Philosophie der großen Denker Heraklit, Plutarch, Sokrates, Platon, Aristoteles u.v a. das Ferment der gesamten weiteren geistigen Entwicklung Europas darstellt, hat sich der Strom Demokrits, auch wenn erst unmerklich, aufrechterhalten. Der Boden der Aufklärung war dann fruchtbar für diesen Keim, denn ab da hat er sich zum gewaltigen Gebilde des Materialismus entfalten können.

Die neue christliche Kultur brachte ein in anderer Hinsicht verwandeltes Todesverständnis mit sich. Der Mensch hatte zwar nicht mehr das Empfinden, dass er während seines Lebens in das Reich der Toten eindringen könnte, doch die Toten bekamen Platz inmitten des alltäglichen Lebens. Die Friedhöfe wurden direkt neben den Kirchen, im Herzen der Dörfer und Städte gebaut. Der Tod wurde als zum Leben dazugehörig akzeptiert, sein Herannahen wurde von den Menschen oft erspürt. Der Sterbeprozess wurde häufig von einem Priester und von der anwesenden Familie begleitet, der Sterbende segnete dabei seine Angehörigen und nahm feierlich Abschied von ihnen.

Im Verlauf der Jahrhunderte verliert der Mensch jedoch immer mehr den Bezug zum Tod und beginnt, diesen als Bedrohung des Lebens zu erleben. Man ringt mit der Gestalt des Todes, die in der religiösen Kunst als furchteinflößende, skelettartige Gestalt des Knochenmanns dargestellt wird. Bis zum beginnenden 20. Jahrhundert hat sich diese Tendenz so weit verstärkt, dass der Tod in den westlichen Gesellschaften immer mehr aus dem Leben ausgeschlossen wird. Der Prozess des Sterbens wird in Krankenhäuser verlegt, das medizinische Personal und die Angehörigen verschweigen dem Sterbenden häufig seinen kritischen Zustand. Was sein Empfinden angeht, ist der Mensch nun sich selbst überlassen. Die zahlreichen Opfer der zwei Weltkriege veranschaulichen das Bild des gefallenen und einsam sterbenden Soldaten. Hier entsteht ein Symbol für den allein sterbenden Menschen der neuen Zeit, der weit von der Familie und vom heimatlichen Boden, oft gar als Namenloser dieser Welt entschwindet. Die Anonymität seines Lebens wird zur Anonymität seines Todes. Das Sterben ist somit ein «entsubjektivierter» Prozess, der als «unmenschlich» grausam und unpersönlich empfunden wird. Der Tod gehört nicht mehr zum Leben dazu, er wird lediglich zum Abbruch des Lebens. Die ursprüngliche Zusammengehörigkeit ist gespalten, Leben und Tod werden nun zu zwei nicht miteinander zu vereinenden Gegensätzen.

So ist eine Kultur entstanden, die den Glauben an eine Seele des Menschen, die nach dem Tod vom Körper unabhängig fortbesteht, als irrational ansieht. Die Vorstellung, dass das Bewusstsein des Menschen vom Gehirn produziert wird und mit diesem natürlich auch erlischt, dominiert weitgehend alle Lebensbereiche. Der Tod wird als endgültige Auslöschung der menschlichen Existenz deklariert. Die praktischen und intellektuellen Resultate der modernen Natur- und Geisteswissenschaften sind von so großer Tragweite, dass diese neue Weltanschauung eine totalitäre Allgemeingültigkeit beansprucht. Politische Systeme werden auf dieser Grundlage errichtet, schulische und universitäre Bildungseinrichtungen wachsen auf diesem Boden. Der Tod als Erscheinung, als Wesenhaftigkeit des Lebens wird hinwegdiskutiert. Die fehlende Auseinandersetzung mit diesem Bestandteil unseres Seins führt zu einer wachsenden Angst und zu einer Tabuisierung des Todes.

Doch diese Anschauung, obwohl sie unsere westliche Kultur noch durchdringt, hat ihren Zenit bereits überschritten. Bereits im Laufe des 20. Jahrhunderts vermehren sich Phänomene wie außerkörperliche Erfahrungen, Jenseitskontakte und vorgeburtliche Erinnerungen. Immer mehr Menschen berichten von eindrücklichen Engel- und Christus-Begegnungen, von Erlebnissen mit Elementarwesen und mit Verstorbenen. Meditationserfahrungen, die konkrete geistige Erlebnisse implizieren, häufen sich. In Bezug auf den Tod taucht – ausgerechnet als Ergebnis der medizinischen Wissenschaft – ein Phänomen auf, welches das moderne Weltverständnis erneut infrage stellt: Es handelt sich um Nahtoderfahrungen. Mithilfe von notfallmedizinischen Maßnahmen werden Menschen vom Rande des Todes ins Leben zurückgeholt. Diese Menschen erleben sich außerhalb ihres Körpers als waches und klares Bewusstsein, obwohl sie vom medizinischen Personal als klinisch tot deklariert wurden. Sie sprechen weiter von Einblicken in eine andere Realität, in der sie Begegnungen mit Verstorbenen und geistigen Wesenheiten haben. Der entsetzte Versuch der Wissenschaft, diese Erlebnisse als hirnorganische Prozesse, als angstinduzierte oder psychopathologische Abwehrreaktion einzustufen, scheitert. Abertausende Menschen bezeugen, solche Erfahrungen gemacht zu haben; dabei handelt es sich um psychisch gesunde Menschen. Diese Erlebnisse bestätigen sich gegenseitig, denn sie folgen einem gemeinsamen Muster, obwohl Essenz und Inhalt der Erfahrung von individueller Qualität sind.

Es findet also ein Paradigmenwechsel statt. Die Gesellschaft beginnt, darauf zu reagieren, es entstehen neue medizinische und psychosoziale Fachbereiche, neue Institutionsformen. Der Sterbeprozess erhält erneut Beachtung und Würdigung, in nur wenigen Jahrzehnten entsteht eine weltweite Hospizbewegung. Die Sterbebegleitung und die Palliativmedizin halten Einzug in Kliniken und Krankenhäuser und werden in kürzester Zeit zu anerkannten Disziplinen. Nicht nur die körperlichen Belange des Patienten werden hier berücksichtigt, man ist bestrebt, auch seine psychischen, sozialen und spirituellen Bedürfnisse in diese Konzepte einzubinden.

Somit befinden wir uns inmitten eines weltanschaulichen Umbruchs und können sehenden Auges wahrnehmen, wie die Zeit des materialistischen Denkens bereits abgelöst wird. Wie jede geschichtliche und geistige Ära zuvor, hat auch diese Kulturepoche einen zeitlichen Verlauf gehabt, in welchem sie gewisse Denksysteme, Inhalte und gesellschaftliche Formen entwickelt hat. Doch das Bewusstsein des Menschen verändert sich stetig und ermöglicht neue Wirklichkeitserfahrungen. Die bereits angebrochene Zeit bringt ein neues Verständnis für die Dimensionen von Leben und Tod mit sich, sie ermöglicht neue Erlebnisfähigkeiten hinsichtlich einer geistigen Realität und erschafft somit auch einen neuen Bezug zur Ganzheit des Menschseins als ein sich durch unterschiedliche Seinszustände entwickelndes physisch-seelisch-geistiges Wesen. Das, was zuletzt kontrovers als Glaube oder Nichtglaube an eine Existenz nach dem Tod diskutiert wurde, wird nun immer deutlicher von einer Spiritualität abgelöst, die auf persönlicher Erfahrung basiert. Bewusstseinsdimensionen, die unser Tagesbewusstsein überragen, erschließen sich immer mehr Menschen und eröffnen ihnen Einblicke in eine überaus vielschichtige, wundersam komplexe Komposition von übersinnlichen Ebenen.

Der Bereich der Verstorbenen stellt lediglich eine Sequenz dieses umfassenden Sinngefüges dar. Die Frage, ob es eine Existenz nach dem Tod gibt, scheint für eine große Mehrheit unserer Gesellschaft bereits geklärt zu sein: ja! Nun geht es überdies darum zu erfahren, wie es nach dem Schwellenübertritt weitergeht. Wir können uns also auf den Weg machen und die nachtodlichen Welten Schritt für Schritt erkunden.

Der Sterbeprozess

Wenn du bei Nacht den Himmel anschaust,

wird es dir sein, als lachten alle Sterne,

weil ich auf einem von ihnen wohne,

weil ich auf einem von ihnen lache. (…)

Und wenn du dich getröstet hast (…),

wirst du froh sein, mich gekannt zu haben.

Antoine de Saint-Exupéry:
Der kleine Prinz

Die Thanatopsychologie unterteilt den Prozess des Sterbens in drei Stufen: Sterben, Tod und Danach. Das verweist sachgemäß auf die Tatsache hin, dass der Tod ein dynamisches Geschehen ist, welches einen fortschreitenden Verlauf impliziert. Dementsprechend ist auch zu erklären, dass der Tod nicht erst im Augenblick des physischen Absterbens wahrgenommen werden kann, sondern in vielfältiger Weise bereits schon im Voraus.

Als Sterbeerlebnisse werden diejenigen Erlebnisse betrachtet, die in der gesamten Phase vor dem Tod stattfinden. Sie beziehen sich zunächst auf Zustände, die mit dem körperlichen Zerfall und mit der psychischen Beschäftigung mit dem Tod in dieser letzten Phase zu tun haben. Hier setzt die klassische psychologische Sterbebegleitung ein. Das Regeln noch ungelöster Dinge, das Abschiednehmen von Familie und Freunden gehört unmittelbar zu dieser Arbeit. Den meisten Sterbenden ist es auch ein Bedürfnis, ihr Testament und den Nachlass zu regeln. Manche möchten ihre Beisetzung abklären, andere wiederum scheuen sich gerade davor, diese Thematik anzugehen. Diese Angelegenheiten bilden den äußeren Rahmen und somit die erste Ebene dieser Arbeit.

Eine zweite Ebene in der Begleitung Sterbender ist die Auseinandersetzung des betroffenen Menschen mit der eigenen Lebensgeschichte. Falls sein Zustand es erlaubt, ist eine abrundende und verständnisbildende Gesamtschau über seine irdische Biografie ein überaus wichtiger Prozess. Dieser biografische Blick ermöglicht es ihm, seinen Selbstbezug zu klären, den großen Bogen seines Lebenswegs zu erkennen und den Übergang über die Schwelle annehmend vorzubereiten.

Eingebettet in diesem Geschehen der Klärung und Loslösung tauchen bei einigen Menschen geistige Erlebnisse auf, die durch die Anwesenheit von Engeln und bereits Verstorbenen ihren herannahenden Tod vorzeichnen. Diese Erlebnisse bilden die dritte und innigste Ebene des Sterbeprozesses eines Menschen. Sie zeigen auf, dass der Tod geistig vorbereitet wird und sich übersinnlich ankündigt.

Ich erinnere mich an eine siebenundsechzigjährige Patientin im Krankenhaus, die einen äußerst schwierigen Krankheitsverlauf gehabt hatte. Ihr Wesen war liebevoll und mild, sie nahm die Hilfe der Pflegenden bescheiden und überaus dankbar an. Eines Tages betrat ich ihr Zimmer, und das Erste, was sie sagte, war: «Ich werde erwartet, wissen Sie? Ich werde erwartet», und ein Lächeln erhellte ihr grau gewordenes Gesicht. Ihr Körper war stark von der Krankheit gezeichnet, sie atmete schwer, die Schmerzen wurden von Tag zu Tag unerträglicher. «Ja, ich werde erwartet», wiederholte sie. Ihre Augen leuchteten dabei, und von ihrem Wesen ging ein freudevoller Glanz aus. «Möchten Sie mir davon erzählen?», fragte ich sie.

«Es ist mein Engel. Ich weiß, dass er es ist. So liebend ist er, er wartet geduldig. Meistens am Kopfende steht er, sehen Sie? Hier …», sagte sie und deutete auf die Wand hinter ihrem Bett. «So liebend ist er … Und manchmal sehe ich ihn in der rechten Ecke des Zimmers, dort am Fenster, neben dem Vorhang, sehen Sie? Aber das ist seltener. Meistens spüre ich ihn hier hinten, bei mir. – An manchen Tagen sind es auch andere Gestalten, die im Zimmer auftauchen. Meine Mutter ist darunter. Oh, es ist so lange her, dass sie starb …» Der Blick der Patientin wandte sich wie nach innen, Kindheitserinnerungen aus einer längst vergangenen Zeit wurden in ihr lebendig. Sie berichtete von der Mutter, von den gemeinsamen Jahren, vom Tod der Mutter. «Und wissen Sie, sie ist so jung jetzt, viel jünger als damals, und so schön, so strahlend! – Es wird Zeit für mich zu gehen. Ich werde dort erwartet. Ich habe auch keine Angst mehr, es ist nur ein Übergang. Das weiß ich jetzt.»

Wenige Tage später verstarb die Patientin im Beisein ihres Lebensgefährten, ruhig, gefasst und bei klarem Bewusstsein.

Szenenwechsel, ein anderes Patientenzimmer: eine Dame, Mitte fünfzig, die noch sehr mit ihrer Erkrankung hadert. Es fällt ihr schwer zu akzeptieren, dass ihr Leben nun schon so früh zu Ende gehen sollte. Eines Tages flüstert sie mir unerwartet zu:

«Ich sehe ständig eine Gestalt am Fenster. Ich habe nie an so etwas geglaubt, aber sie ist immer wieder da. Ich bin zwar krank, aber nicht verrückt. Können Sie sie auch sehen?»

Ich sehe hin und schaue ihren Engel. «Ja, da ist jemand. Können Sie selbst erkennen, wer das ist?»

«Sie kommt mir so vertraut vor, die Gestalt, als ob ich sie schon immer kennen würde. Aber ich habe sie bisher noch nie gesehen.» Sie dachte und spürte nach, und nach einem langen Schweigen erhellte sich das Gesicht der Patientin. Ganz leise sagte sie: «Es ist meine ‹Engelin›. Man spricht sonst immer von Engeln, aber für mich erscheint sie wie eine Engelin.»

Es war ein ganz besonderer, inniger Augenblick. Der Ausdruck «Engelin» klang für mich selbst überraschend, umso wichtiger fand ich es, dass die Patientin ihre Wahrnehmung zulassen und entsprechend auch ganz authentisch bezeichnen konnte. Ab diesem Augenblick veränderte sich ihr seelischer Zustand. Es war für sie wie ein Aufatmen, sie begann, ihre Erkrankung anzunehmen, und wir konnten bis zu ihrem Tod intensive verarbeitende Gespräche führen.

Eine andere Patientin, eine recht ruppige und wenig freundliche ältere Frau, die schon seit längerer Zeit bettlägerig war, empfing mich eines Tages zwar wie immer in ihrem Bett, aber wie zum Ausgehen fertig angezogen. Sie hatte ihren Schmuck angelegt, ihr schön gestricktes Wolljäckchen angezogen, die Schuhe standen fein nebeneinander direkt am Bett.

«Was ist denn los?», fragte ich sie, «wo möchten Sie denn hin?»

«Wissen Sie, ich werde abgeholt. Meine Mutter ist gekommen.»

Mein Verstand fing kurz an nachzurechnen: Die Patienten ist Anfang achtzig, die Mutter müsste mindestens hundert Jahre alt sein, das kann sie also nicht gemeint haben. Mir wurde klar, um was es ging, ich wollte aber nicht vorgreifen und fragte:

«Wie meinen Sie das? Lebt Ihre Mutter noch?»

«Nein, natürlich nicht», antwortete sie barsch, «aber sie ist trotzdem gekommen! Heute Morgen, da …» und zeigte auf das Eck des Zimmers, «da stand sie. Ich habe sie ganz deutlich gesehen.»

«Ach ja? Und was hat denn Ihre Mutter gesagt?»

«Sie hat gesagt: ‹Ich komme dich holen. Wir warten schon auf dich.› Und sie war so schön und so jung, meine Mutter. Wissen Sie, sie hat so jung ausgesehen wie zu meiner Kinderzeit, und sie hat so lieb ausgeschaut und war ganz aus Licht.»

Und nach einer Pause fügte die Patientin wieder in ihrer ruppigen Art hinzu: «Also, das heißt: Ich gehe jetzt! Ich muss jetzt gehen, oder?»