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Brigitte Werner

Seitenblicke

Die Liebe zum Leben

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Inhalt

Vorwort

Wanze und Wal

Weit und blau

Botschaften

Lichtstreifen

Keinhorn-Reh

Vor Kurzem war ich noch jung

Shadow

Vergesslicher Engel

Augenblicke

Der Himmel, nur um die Ecke

Der Nase nach

Einfach magisch

Plötzlich ist alles anders

Schattenorte

Bad Girl

Genau jetzt

Shakespeare, das Schwein

To be or not to be

Von oben

Lalelu

Himmlisches Kind

Bitte so!

Red, red roses

Voll erwischt

Dona la Pace

Leuchttürme.
Ein biografischer Ausblick

Nicht, was wir erleben, sondern
wie wir empfinden, was wir
erleben, macht unser Schicksal
aus
.

Marie von Ebner-Eschenbach

Vorwort

Liebe Leserin, lieber Leser,

voller Freude habe ich diese Kolumnenreihe geschrieben. Das hätte ich vor einiger Zeit noch nicht gedacht. Den Horror des Zeitdrucks und des Ideenmangels hatte ich als riesige Angstblase im Kopf und auch im Bauch.

Alles falscher Alarm. Bei meinem ersten Kolumnenbuch, Zufälle, hatte sich bereits herausgestellt, dass das Leben ein gewaltiges Füllhorn ist mit einem überquellenden Schatz an funkelnden Geschichten, die man erleben kann, wenn man sie wahrnimmt. Ich bin sicher, dass ich leider aber auch bereits an einer großen Menge wunderbarer Erlebnisse und Begegnungen vorbeigerannt oder geschlurft oder gestolpert bin, weil ich unaufmerksam, träge, befangen, blind oder mein Blick eingetrübt war. Aber nun, als mein Verleger mit dem Wunsch an mich herantrat, ich möge für das Jahr 2017 jeden Monat eine Kolumne zu dem Thema «Seitenblicke» schreiben, hüpfte mein Herz voller Vorfreude. Ich wusste mit großer Sicherheit, dass ich genügend Seitenblicke, die erzählenswert waren, erleben würde oder aber aus der Erinnerung würde schöpfen können.

Und so war es tatsächlich. Für dieses Buch, das für 2018 geplant war, waren zwölf Kolumnen zu wenig; wie bei dem ersten Kolumnenbuch sollten es fünfundzwanzig werden, das fand ich wunderbar. Denn immer, wenn die zwölf Kolumnen für die Zeitschrift a tempo im Kasten waren, überfiel mich eine große Traurigkeit. Wie gut, dass ich noch weitere dreizehn schreiben durfte! Und ich bekam tatsächlich eine Fülle von wunderbaren Mails oder Briefen von Leserinnen und Lesern, sogar selbst gestaltete Karten zu meinen Beiträgen, die mich stets berührten, erfreuten und immer stärkten. Und die mir auch den Mut gaben, rücksichtslos ehrlich zu schreiben, vielleicht sogar manchmal fast zu privat, aber die Leser dankten es in ihren Zuschriften mit Verständnis, Freude und der Bitte, genau so weiterzumachen. Manchmal erfuhr ich auch, dass eine der Kolumnen gerade bei einem der Lebensprobleme geholfen habe. Darüber konnte ich nur staunen. Und dankbar sein.

Diesmal gibt es in diesem Buch sogar so etwas wie ein Nachwort. Ein Artikel von mir für a tempo zum Thema «Wendepunkte» passt deshalb so gut als Abschluss, weil er Ihnen vielleicht einen kleinen Schlüssel liefern kann, wie und warum ich manchmal so empfinde, wie ich es in meinen Erlebnissen tue …

Nun wünsche ich Ihnen beim Lesen von Herzen das Erkennen, dass das Leben tatsächlich jeden Tag ein kleines Innehalten braucht, um frohen Mutes und mit klarer Sicht geradeaus – und unbedingt immer mal wieder nach rechts und links – zu blicken. Manchmal auch erschauernd (voller Erinnerungsfreude) zurück. Denn oft sind es gerade die «kleinen» Begebenheiten, die im Herzen ganz groß werden.

Solche besonderen, beglückenden «Seitenblicke» wünsche ich Ihnen an jedem einzelnen Tag.

Herzlichst

Ihre Brigitte Werner

«Sie schubsen mich immer
herum», flüstert sie, «weil …
weil ich so dick bin. Sie schreien
Plumpskuh und …» Sie stockt.
«Und jetzt rufen sie immer:
fetter Wal!»

Wanze und Wal

Die Lesung ist vorbei. Alles ist gut gelaufen, die Kinder waren aufmerksam und von der Geschichte begeistert. Der dicke Elefant mit seinem Problem eroberte die Herzen im Nu, die kleine freche Ratte mit Namen Schnauze sowieso. Die Kinder haben sogar mit mir über das Thema «Depression» ernsthaft diskutiert. Denn Bommelböhmer war aus Trauer über den vermeintlichen Verlust von Schnauze in eine tiefe, ohnmächtige Melancholie gefallen.

Ich bin erschöpft, weil man mir gegen unsere Absprache fast die doppelte Menge Kinder in einen engen Raum gezwängt hatte. Ich schleiche über den leeren Schulhof, die Mülltonen stinken, um den Betonboden stehen staubige, ungepflegte Büsche. Ich sehne mich nach meinem Lieblingscafé. Das ist aber noch 120 Kilometer weit weg.

Aus dem Gebüsch neben den Mülltonnen leuchten zwei Schuhspitzen in Neongrün. Jemand hat die Schuhe wohl verloren. Ich bücke mich danach, da zucken sie zurück. Ich erschrecke heftig. Da hockt jemand im Gebüsch und will nicht gesehen werden. Dumm gelaufen mit diesen Leuchtfischschuhen. Ich ahne, dass dort ein Problem versteckt ist. Ich ahne es einfach.

Ich biege die Zweige zur Seite und sehe ein rundliches Mädchen, vielleicht acht Jahre alt, das Gesicht kann ich nicht erkennen, sie presst es in ihre Arme, die sie um ihre Knie geschlungen hat. Traurigkeit steigt von ihr hoch. Verzweiflung. Wut. Eine dunkle Mischung.

«Kann ich dir helfen?», frage ich leise. Die Kleine schaut nicht auf, aber ich lasse nicht locker. «Wenn du rückst, kann ich mich hier auch eine Weile verstecken. Das wäre schön», sage ich. Sie rückt tatsächlich ein wenig zur Seite. Ich pfeife auf meine helle Hose, gehe in die Hocke und nehme mühsam auf dem Boden Platz. Bei solchen Aktionen spüre ich das verflixte Alter.

Wir schweigen. Da hebt sie den Kopf. Ihre Augen sind dunkel vor Kummer. Oder ist es Zorn? Oder beides zugleich? Was kann passiert sein? In ihren leuchtend grünen Schuhen stecken runde, stämmige Beine. Sie hat eine viel zu stramme rote Latzhose an und ein leuchtend gelbes T-Shirt. Sie liebt wohl Farben. Ich auch. Zur hellen Hose trage ich eine wild gemusterte, asiatisch anmutende Bluse. Sie schaut zu mir hoch. Ich lächle in ihr Kummergesicht. Sie schaut ernst in meine Augen.

«Wieso willst du dich verstecken?», fragt sie.

Shit, denke ich, jetzt hat sie mich erwischt. Was sage ich bloß, um nicht voll zu lügen?

«Hm», sage ich zögerlich, «manchmal will ich bloß meine Ruhe, dann sollen mich alle in Ruhe lassen, weißt du?»

Sie nickt heftig.

Ich wage es und frage: «Und warum hast du dich hier versteckt?»

Sie legt den Kopf wieder auf die Knie.

Überlegt sie, ob man mir Probleme anvertrauen kann? Man kann. Ich weiß das, aber weiß sie es auch?

«Sie schubsen mich immer herum», flüstert sie, «weil … weil ich so dick bin. Sie schreien Plumpskuh und …» Sie stockt. «Und jetzt rufen sie immer: fetter Wal!»

«Oje», sage ich leise. «Das ist eine echte Gemeinheit. Mich haben sie früher immer Wanze genannt. Das war so richtig eklig.»

«Warum?», flüstert das Mädchen.

«Ich war immer die Allerkleinste», antworte ich. «Immer. Und Wanzen sind auch klein. Und sie sind wirklich eklig. Da hast du mehr Glück.»

«Wieso?», fragt sie.

«Na ja, weißt du überhaupt, was für ein wunderbares Tier ein Wal ist? Er ist groß und mächtig, er ist ein Schwimm- und Springkünstler, er ist liebevoll zu seinen Kindern, er macht die allerwundersamsten Töne, die du dir nur vorstellen kannst. Er singt und kann mit seinen Freunden sprechen, die ganz weit weg sind. Warte mal», sage ich, «ich zeig dir was.» Ich krame nach meinem Handy – wie gut, dass ich seit einiger Zeit ein Smartphone habe –, ich hole mir ruckzuck eine Walmutter und ihr Kind auf den Bildschirm und ergänze meine Informationen. Sie staunt – ich staune. Welch großartige Geschöpfe!

«Weißt du was?», sage ich. «Immer wenn sie dicker Wal zu dir sagen, dann solltest du dich so groß und mächtig und wunderbar fühlen wie ein echter Wal. Die dich ärgern wollen, haben doch keine Ahnung, das sind richtige Blödaffen.»

Da nickt sie.

«Wanze ist schlimmer», sage ich, «das kannst du mir glauben.»

«Kannst du mir eine Wanze zeigen?», fragt sie.

Ich schlucke, aber ich google sie. Wir beugen uns übers Bild.

Da nimmt sie meine Hand. «Wal ist besser», sagt sie.

Ich nicke. «Da hast du Glück», sage ich.

Jetzt nickt sie.

Er lag auf dem Bauch, den
kleinen Kopf fast in der
lockeren Erde vergraben. Ich
bin erschüttert. Ich kann damit
nicht umgehen. Ich heule sofort
los
.

Weit und blau

Mittlerweile habe ich einen kleinen Privatzoo, in den die Tiere freiwillig kommen und aus dem sie frei wieder gehen, krabbeln, fliegen, springen, gleiten. Seit letzter Woche sind zwei große Schnecken mit einem wunderbar gezeichneten, milchfarbenen Haus hinzugekommen, die heftigst verliebt Stunden damit verbracht haben, trotz sperrigem Eigenheim auf dem Rücken sich umeinander zu schlingen und hin und wieder zart mit ihren Hörnchen zu stupsen und zu streicheln. Jetzt sind sie irgendwo auf Hochzeitsreise.

Zwei Eichhörnchen laufen mir fast über die Zehenspitzen, wenn ich morgens mit dem ersten Kaffee auf den Stufen vor meiner Terrassentür sitze, nachdem ich Futter ausgestreut habe. Eine winzige Maus huscht unter dem Strandkorb hervor und bedient sich blitzschnell. Vögel flattern schon ungeduldig über den Steinen, und wenn ich endlich sitze, landen sie und suchen aus. Sie sind wählerisch. Ein Buntspecht ist neu und beäugt mich misstrauisch aus dem Gebüsch. Es wird noch ein paar Tage dauern, bis er mir vertraut. Abends kommen zuerst die Schwalben, später die Fledermäuse und zum Schluss Monsieur Igel. Vielleicht ist es auch eine Madame. Erdnüsse findet sie okay.

Aber heute. Heute fand ich beim Rupfen des Unkrauts, das zwischen meinen Rosen wuchert, weil ich es damit nicht so genau nehme, einen Buchfinken. Er lag auf dem Bauch, den kleinen Kopf fast in der lockeren Erde vergraben. Ich bin erschüttert. Ich kann damit nicht umgehen. Ich heule sofort los. Wahrscheinlich ist er vor die Wohnzimmerscheibe geflogen und hat es nicht überlebt. Ich werde eine Schaufel holen und ihn beerdigen. Das bin ich meinen Freunden schuldig.

Ich beuge mich zu ihm hinunter, da sehe ich, dass sein kleiner Körper zittert. Er lebt noch. Ich ziehe scharf die Luft ein. Was kann, was soll ich jetzt tun? Ich liebe meine Vögel über alles, aber ich kann sie nicht anfassen, da bin ich irgendwie gestört. Ich hole meinen Gartenhocker und setze mich zu ihm. Ich rede mit ihm. Ich wünsche, dass er es schafft. Ich schließe die Augen und schicke ihm Heilenergie. Ja, daran kann man glauben oder auch nicht. Ich habe es in einem intensiven Seminar gelernt und wende es hin und wieder an.

Nach einer Weile öffne ich die Augen, da liegt er auf dem Rücken und streckt die Beinchen zum Himmel. Der ist blau und stumm und zurzeit ganz weit weg. Er ist erlöst, denke ich und tue das, was ich immer tue, wenn ich tote Tiere finde oder am Straßenrand entdecke. Ich stelle sie mir dann immer auf den Schultern oder in den Händen des heiligen Franziskus vor. Sie schmiegen sich an ihn, und er lächelt ihnen liebevoll zu. Warum ich das so sehe, weiß ich nicht. Aber es tröstet.

Da bemerke ich, dass sich der kleine Bauch hebt und senkt. Herr im Himmel, ich kann es nicht glauben, er lebt noch. Ich schicke Gebete in das weite Blau über mir, ich flüstere sanfte Worte in einer erfundenen Sprache, die immer in mir hochkommt, wenn ich mit Tieren rede. Katzen beginnen dann zu schnurren, Hunde werden schläfrig. Selbst erschreckte Igel beruhigen sich, und Babys hören auf zu schreien. Ich schließe wieder die Augen. Eine lange Zeit vergeht. Ich nehme ein Geräusch wahr. Der Buchfink hockt vor mir. Er schaut mich eindringlich an. Dann schließt er die Augen und atmet heftig. Ich rede weiter sanft und leise mit ihm. Es strengt mich an. Es ermüdet mich. Ich fühle mich schwer und matt. Das Visualisieren der blauen Heilenergie wird schwierig. Ich nicke wohl ein, keine Ahnung wie lange.

Plötzlich fühle ich mich sanft gerüttelt. Ich schrecke auf und schaue mich um. Niemand. Über mir flattert etwas, ich sehe eine Bewegung von mir weg in das nahe Gebüsch. Der Platz vor mir ist leer. Über mir ist der Himmel voll, voll mit meinem großen Danke.

Franziskus kann noch warten.

Ein hellgrauer Stein voll mit
Hieroglyphen wollte mir etwas
sagen. Als ich ihn in die Hand
nehme, beginnt er zu summen.
Ich erschrecke und drücke fest
zu. Stille. Keine Vibration
mehr. Öffne ich die Hand,
summt er
.

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