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Christof Rapp

Aristoteles zur Einführung

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Junius Verlag GmbH
Stresemannstraße 375
22761 Hamburg
Im Internet: www.junius-verlag.de

© 2001 by Junius Verlag GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Covergestaltung: Florian Zietz
Titelfoto: Archiv Gerstenberg
E-Book-Ausgabe September 2018
ISBN 978-3-96060-049-7
Basierend auf Printausgabe
ISBN 978-3-88506-690-3
5., vollständig überarb. Aufl. 2016

Bibliografische Information der Deutschen Nationalnbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbiografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Inhalt

Vorbemerkung

1. Einleitung

2. Ethik

3. Theorie der Handlung

4. Politische Philosophie

5. Poetik

6. Semantik

7. Logik

8. Dialektik und Rhetorik

9. Physik

10. Theorie des Wissens und der Wissenschaft

11. Ontologie und Metaphysik

12. Theorie der Seele

13. Wirkung

Anhang

Anmerkungen

Literaturhinweise

Zeittafel

Über den Autor

Vorbemerkung

Eine einigermaßen befriedigende Darstellung eines so vielseitigen Denkers wie Aristoteles ist auf rund 250 Taschenbuchseiten kaum zu leisten, wenn man nicht in die bloße Aufzählung von Lehrsätzen verfallen will. Um aus dieser Not noch eine Art von Tugend zu machen, verzichte ich auf das gelehrte Drumherum und konzentriere mich ganz auf die für eine Auseinandersetzung mit dem Philosophen Aristoteles zentralen Argumente. U.a. erspare ich den Leserinnen und Lesern den Versuch, aus den dürftigen biografischen Informationen ein Charakterbild des Aristoteles zu erschließen. Auch fange ich gar nicht erst damit an, im Haupttext aus der fast unerschöpflichen Forschungsliteratur zu zitieren. Stattdessen gebe ich in den Anmerkungen jeweils Hinweise auf neuere und weiterführende Literatur; auch dabei wird keine Vollständigkeit angestrebt. Ein anderer Verzicht dagegen fällt schwerer: Aristoteles war nicht nur Philosoph, sondern als Zoologe, Astronom, Physiologe usw. ein vielfältiger Naturforscher; diese Seite des Aristoteles kann in der vorliegenden Darstellung aus Platzgründen nicht weiter berücksichtigt werden.

Zahlreiche Korrekturen zur ersten Auflage hat Tim Wagner beigesteuert. Bei den weiteren Auflagen kamen wichtige Anregungen und Korrekturen von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in Berlin und München hinzu. Zur vierten Auflage habe ich die Einleitung erweitert und eine Skizze der Wirkungsgeschichte ergänzt, in der fünften Auflage Kapitel 9 wesentlich erweitert. Wie bei den vorigen Auflagen wurden die Literaturhinweise aktualisiert.

1. Einleitung

Leben

Aristoteles wurde im Jahr 384 v. Chr. im makedonischen Teil von Griechenland, in Stagiros, geboren.1 In den Jahren 367 bis 347 war er – zunächst als Student, später als Lehrender – Mitglied der platonischen Akademie in Athen. Wahrscheinlich verfasste er schon in dieser Zeit eigene Schriften, die zwar meist an Platon und Lehrmeinungen der Akademie anknüpften, diese Lehren aber in origineller Weise umformten. Platon starb 347 im Alter von achtzig Jahren. Im selben Jahr noch verließ Aristoteles Athen. Kurz zuvor hatte Philipp II. von Makedonien die von den Athenern unterstützte Stadt Olynthos eingenommen, was zu wachsenden antimakedonischen Umtrieben in Athen geführt hatte; als Freund der Makedonier dürfte auch Aristoteles unter diesen Umständen um seine Sicherheit in Athen gefürchtet haben. Auf Einladung des Hermias von Atarneus gelangte Aristoteles nach Assos und später nach Mytilene auf der gegenüber von Assos gelegenen Insel Lesbos. Hermias war ein philosophisch interessierter Herrscher an der kleinasiatischen Küste, dessen Verbindungen zu Platons Akademie dokumentiert sind. Aristoteles fühlte sich ihm freundschaftlich verbunden; später heiratete Aristoteles dessen Schwester oder Nichte Pythias. Aus dieser Verbindung gingen die beiden Kinder des Aristoteles, ein Sohn namens Nikomachos und eine Tochter namens Pythias, hervor.

Auf die Zeit, die Aristoteles auf der Insel Lesbos verbrachte, geht offenbar auch die Freundschaft mit Theophrast zurück. Man nimmt an, dass sich Aristoteles in dieser Zeit zusammen mit Theophrast den naturwissenschaftlichen und vor allem den zoologischen Studien zuwandte. Wahrscheinlich aufgrund der Verbindung von Hermias mit dem makedonischen Hof wurde Aristoteles im Jahr 343/2 von Philipp II. zum Lehrer seines damals jugendlichen Sohnes Alexander bestellt. Da dieser wenig später ein Weltreich begründete und als Alexander der Große in die Geschichte einging, würde man gerne mehr über den Einfluss des Philosophen Aristoteles auf den späteren Feldherrn wissen. Allerdings sind nur wenige Details bekannt: Alexander begeisterte sich für die Epen Homers, und Aristoteles ließ für ihn eine Abschrift der Ilias anfertigen, die dieser auch später auf seinen Feldzügen mit sich geführt haben soll. Eine Verbindung zwischen Aristoteles’ politischem Denken und Alexanders Feldzügen lässt sich dagegen weniger leicht herstellen: In Aristoteles’ politischer Philosophie dreht sich alles um den griechischen Stadtstaat, die polis, die eine bestimmte Größe nicht überschreiten soll – ein politisches Gebilde von dem Ausmaß, wie es durch Alexanders Eroberungen zustande kam, findet hingegen bei Aristoteles keinerlei Berücksichtigung. In einem späteren Brief an seinen Freund Antipater kritisiert er den Feldherrn Alexander dafür, dass dieser von seinen Untergebenen Unterwerfungsgesten nach persischem Brauch einforderte.

Nach Abschluss der erzieherischen Tätigkeit am makedonischen Hof reiste Aristoteles unter anderem auch nach Delphi, wo er beauftragt wurde, eine Liste der Sieger bei den pythischen Spielen zu erstellen. Für diese Leistung wurde ihm ein Ehrendekret verliehen, das in einer bei modernen Ausgrabungen wiederentdeckten Inschrift dokumentiert ist. Erst im Jahr 355 kehrte Aristoteles nach Athen zurück; dies war wohl durch die uneingeschränkte Vormachtstellung Makedoniens nach der Schlacht von Chaironeia (338) und der Zerstörung Thebens (335) möglich geworden. Die philosophische Ausrichtung der platonischen Akademie hatte sich unter der Leitung von Platons Nachfolgern deutlich verändert. Nach Platons Tod hatte dessen Neffe Speusipp die Leitung der Akademie übernommen; dass Aristoteles dessen Philosophie nicht besonders schätzte, ist an mehreren Stellen seines Werks deutlich zu spüren. Als Aristoteles nach Athen zurückkehrte, war bereits seit einigen Jahren der ihm näherstehende Xenokrates Leiter der Akademie. Er war nach Speusipps Tod im Jahr 339/8 in einer formellen Wahl zum Schuloberhaupt bestimmt worden; dass – der philosophisch wohl deutlich überlegene – Aristoteles bei dieser Wahl nicht berücksichtigt wurde, erklärt eine antike Quelle damit, dass Aristoteles zu dieser Zeit eben nicht in Athen gewesen sei. Aristoteles gründete seine eigene Schule, das Lykeion; während der Jahre im Lykeion dürfte eine große Zahl seiner philosophischen und wissenschaftlichen Werke entstanden sein. Im Jahr 323 musste Aristoteles – nach dem Tod Alexanders – erneut aus Athen fliehen; er starb 322 in Chalkis auf Euböa. In einem Testament wünscht er, neben seiner verstorbenen Frau bestattet zu werden, regelt die Verheiratung seiner Tochter und trifft Vorkehrungen für die Versorgung seiner Wirtschafterin Herpyllis. Aristoteles’ Schule wurde zunächst von seinem Freund und Schüler Theophrast weitergeführt. Die Philosophen aus dem Umkreis von Aristoteles und Theophrast wurden als Peripatetiker bezeichnet.

Voraussetzungen

Prägend ist für Aristoteles natürlich die Philosophie seines Lehrers Platon. Das markanteste Lehrstück Platons ist die Ideenlehre: Neben den wahrnehmbaren Einzeldingen gibt es allgemeine, ewige Formen und Ideen, die nur durch vernünftiges Denken, nicht aber durch Wahrnehmung zugänglich sind. Weil die Ideen konstant und unvergänglich sind, stellen sie – verglichen mit den inkonstanten Dingen der Wahrnehmungswelt – das eigentlich Seiende dar; und nur durch Teilhabe an den ewigen Ideen werden die Dinge der Wahrnehmungswelt erkennbar. Aristoteles folgt seinem Lehrer zwar darin, dass man Formen, wie die Form des Menschen, des Pferdes usw., annehmen muss, um zu erklären, warum konkrete Dinge wie einzelne Menschen und Pferde existieren und Gegenstand von Erkenntnis sein können, doch betont er gegen Platon stets, dass diese Formen in den Dingen der Wahrnehmungswelt zu finden und nur vermittels der Wahrnehmung und Erfahrung, nicht aber (wie bei Platon) durch eine vorgeburtliche Bekanntschaft mit den Ideen zu erfassen seien.

In Fragen der Ethik lehnt Aristoteles Platons These ab, die Idee des Guten sei das höchste Strebensziel, jedoch versucht er wie Platon das Verhältnis von Glück und Tugend durch eine Seelenlehre zu erläutern, die die Tugend als geordneten oder harmonischen Zustand der Seele beschreibt. Verglichen mit Platon, wertet Aristoteles in der Ethik die Bedeutung des Charakters und der Gewöhnung gegenüber der Vernunft auf; in der politischen Philosophie scheint er mehr an Fragen konkret existierender Verfassungen interessiert. Während Platon die Philosophie als eine alle Teilbereiche integrierende Einheitswissenschaft auffasst, setzt Aristoteles den schon in Platons Akademie auszumachenden Trend fort, die Einzelwissenschaften als eigenständige Disziplinen zu konzipieren. Insgesamt ist Aristoteles viel stärker an einzelwissenschaftlichem Studium und an empirischer Forschung interessiert als Platon und bemüht sich mehr als dieser um eine Versöhnung zwischen philosophischen Thesen und den Intuitionen des Common Sense.

Eine zweite wichtige Voraussetzung für die Philosophie des Aristoteles stellen die Vorsokratiker dar. Die früheste Phase der Vorsokratik, die milesische Naturphilosophie, ist durch die Frage nach dem materiellen Ursprung der Welt geprägt. Parmenides von Elea dagegen kritisiert die Art, wie man gemeinhin über das Seiende spricht, denn das wahre Seiende schließe das Nichtsein aus. Deshalb könne das Seiende weder entstanden noch vergänglich und auch nicht von Seiendem verschieden sein, denn Seiendes wäre dann nicht Seiendes. Während Parmenides’ Schüler Zenon von Elea deshalb Vielheit und Bewegung als abwegige Annahmen zu erweisen sucht, halten die so genannten jüngeren Naturphilosophen zwar an der Einsicht fest, dass Seiendes nicht aus Nichtseiendem entstehen kann, ersetzen den eleatischen Monismus aber durch einen Pluralismus. So nimmt Empedokles vier unvergängliche Elemente an, durch deren Mischung und Trennung er das Entstehen und Vergehen von Gegenständen erklären kann. Auch der Atomismus des Demokrit setzt voraus, dass das wirklich Seiende nicht mit dem Nichtseienden vermischt sein darf und nicht entstehen kann; insofern verhalten sich die Atome, die unteilbar und unvergänglich sind, ähnlich wie das eleatische Seiende, obwohl es unendlich viele davon gibt.

Aristoteles kritisiert oft den Materialismus der Milesier und der jüngeren Naturphilosophen; er bemängelt daran, dass sie die Natur ohne Formal- und Finalursachen zu erklären versuchen und das Denken nicht von der Wahrnehmung zu unterscheiden verstehen. Seine eigenen Lehren zu den materiellen Elementen der Welt und zur Physiologie der Sinneswahrnehmung entwickelt er in enger Anlehnung an Philosophen wie Empedokles, Anaxagoras und Demokrit.

Werk und Überlieferung

Die antiken Schriftenkataloge nennen für Aristoteles eine fast unglaubliche Zahl von Schriften.2 Der Katalog des Diogenes Laërtius (V 21ff.) erwähnt über 150 Titel, die in etwa 500 so genannten Büchern abgehandelt werden, wobei wichtige der uns erhaltenen Werke (z.B. die Metaphysik sowie die naturwissenschaftlichen Schriften mit Ausnahme der Historia Animalium) in diesem Verzeichnis noch nicht einmal erwähnt werden. Nimmt man dieses Verzeichnis zur Grundlage, dann wäre von Aristoteles’ Werk nicht mehr als ein Drittel der dort erwähnten Titel erhalten. Unter den nicht erhaltenen Werken befinden sich u.a. die für ein breiteres Publikum bestimmten Dialoge. Die erhaltenen Schriften haben durchweg den Charakter von Abhandlungen (auch »Pragmatien« genannt); ihr trockener Stil und der Anschein von Unabgeschlossenheit haben den Eindruck erweckt, es handle sich dabei um Vorlesungsaufzeichnungen. Möglicherweise rührt dieser Zustand der aristotelischen Schriften auch daher, dass die Texte mehrfach überarbeitet, ergänzt oder umgestellt worden sind. Das Werk des Aristoteles umfasst neben den in dieser Einführung behandelten Themen, die zur Philosophie im engeren Sinn gehören, auch Arbeiten zur Philosophiegeschichte, Biologie, Zoologie, Physiologie, Meteorologie, Astronomie, zur Physiognomie, zur Homer-Exegese usw. Außerdem scheint er 158 Staatsverfassungen gesammelt und beschrieben zu haben.

Aristoteles’ Schriften sind immer argumentativ, problemorientiert, nüchtern und unprätentiös. Sein Werk enthält aber auch viele Inkonsistenzen, Wiederholungen und Brüche. Dies hat zu der These geführt, dass seine Philosophie eine Entwicklung durchlaufen hat, die für die vermeintlichen Widersprüche verantwortlich sein müsse. Der prominenteste Versuch dieser Art unterstellt, dass alle frühen Schriften des Aristoteles eine besondere Nähe zu Platon aufweisen und dass die übrigen Schriften umso später zu datieren seien, je weiter sie von Platons Denken entfernt scheinen.3Allerdings erweisen sich Projekte dieser Art als problematisch: Wie soll man wissen, ob Aristoteles eine kontinuierliche Abwendung von Platon vollzog? Er könnte sich der platonischen Philosophie ebenso gut nach einer Phase der Rebellion wieder angenähert haben. Außerdem ist in vielen Fragen der aristotelischen Philosophie das Verhältnis zu Platon einfach irrelevant.4 – Sicherlich ist richtig, dass Aristoteles in den Jahren seiner schriftstellerischen Tätigkeit eine Entwicklung durchlaufen hat, doch ist der Versuch, diese Entwicklung im Detail nachzuzeichnen, ebenso undurchführbar wie philosophisch nutzlos. Die Inkonsequenzen in seinem Werk haben nicht nur mit einer philosophischen Entwicklung zu tun, sondern spiegeln auch den Umstand wider, dass Aristoteles in seinen Abhandlungen dieselben Begriffe und Probleme immer wieder neu und aus unterschiedlichen Blickwinkeln diskutiert, ohne sich dabei allzu sehr um frühere Sprachregelungen zu kümmern. Das uns erhaltene Werk ist von ihm nie mit der Absicht publiziert worden, der Nachwelt ein lückenlos konsistentes Lehrgebäude zu hinterlassen; vielmehr gewährt es Einblick in das Denken eines Autors, der nie aufgehört hat, seine Grundgedanken zu modifizieren und zu erweitern.

Die Berichte über das Schicksal der aristotelischen Schriften nach dem Tod seines Schülers Theophrast muten zum Teil abenteuerlich an; sie sprechen davon, dass das Werk oder zumindest die Bücher des Aristoteles für mehrere Jahrhunderte in einem Keller verschwunden waren. Tatsächlich enthalten die Schriftenverzeichnisse dieser Zeit – nämlich das bereits erwähnte Verzeichnis des Diogenes Laërtius sowie das Verzeichnis der Vita Hesychii – auffallende Lücken, so dass vielleicht ein Teil seines Werkes in hellenistischer Zeit wirklich nicht zugänglich war.5 Jedenfalls wird die erste Edition der aristotelischen Schriften im 1. Jahrhundert v. Chr. von Andronikos von Rhodos vorgenommen; man geht heute davon aus, dass einige der Bücher, wie die Metaphysik oder die Physik, von Andronikos teilweise aus thematisch verbundenen Einzelbüchern zusammengestellt wurden. Das bedeutet nicht zwingenderweise, dass Andronikos selbst Eingriffe vorgenommen oder nicht vorhandene Zusammenhänge erst gestiftet hätte; jedoch gibt es in einigen Fällen begründeten Zweifel, dass die Zusammenstellung und die Anordnung gerade der aus mehreren Büchern bestehenden Werke auf Aristoteles selbst zurückzuführen ist.

Die Überlieferung des Aristotelischen Werks von Andronikos’ Erstausgabe bis zu den modernen Ausgaben und Übersetzungen ist verschlungen und voller Brüche. Die Abschriften des griechischen Originals wurden in so genannten Unzialhandschriften, d.h. in Großbuchstaben, ohne Akzente, Hauch- und Satzzeichen und ohne Wortzwischenräume vorgenommen. Irgendwann wurde diese Schreibweise auch unter den des Griechischen mächtigen Lesern unverständlich, so dass im 9. Jahrhundert in Konstantinopel Abschriften des Aristotelischen Werks in die damals gebräuchlichere Kleinschreibung mit Wortzwischenräumen und Satzzeichen vorgenommen wurden. Im Falle des Aristoteles wurden in der Regel wohl zwei solcher Abschriften angefertigt, so dass die direkte Überlieferung des griechischen Textes von diesen beiden Abschriften abhängig ist, während die älteren antiken Vorlagen nicht mehr zugänglich sind. Die beiden Abschriften aus dem 9. Jahrhundert beruhen wiederum auf zum Teil abweichenden antiken Überlieferungstraditionen, unterscheiden sich also in manchmal wichtigen Details. Zumindest eine dieser beiden Abschriften ist nicht selbst bekannt, sondern muss durch spätere Abschriften, die zwischen dem 10. und 15. Jahrhundert angefertigt wurden, rekonstruiert werden. Auf der Grundlage dieser Abschriften wurde in den Jahren 1495-1498 in Venedig die erste gedruckte (griechische) Gesamtausgabe des Aristotelischen Werks von Aldus Manutius veranstaltet (die so genannte »Aldina«). Die griechischen Abschriften stellen aber nur einen Weg der Überlieferung des Aristoteles dar. Ein kleiner Teil des Aristotelischen Werks, nämlich die logisch-methodischen Schriften (das »Organon« bzw. ein Teil davon), wurde bereits in der Antike durch Boethius ins Lateinische übertragen und konnte so im Westen Europas in lateinischer Sprache rezipiert werden, während die nur auf Griechisch erhaltenen Werke zwar im byzantinischen Osten rezipiert und kommentiert wurden, für den lateinischen Westen aber unzugänglich waren. Eine große Übersetzungswelle aus dem Griechischen ins Lateinische erfolgte erst im 12. und 13. Jahrhundert. Ein anderer Teil des Aristotelischen Oeuvres wurde in arabischen Übersetzungen überliefert und erst vermittels lateinischer Übersetzungen des Arabischen im lateinischen Westen bekannt. Seit dem 9. Jahrhundert hatte der Kalif von Bagdad systematisch Übersetzungen des Aristotelischen Werks ins Arabische anfertigen lassen, wobei die Texte in der Regel zunächst ins Syrische oder Aramäische und dann erst ins Arabische übertragen wurden.

Erst im 19. Jahrhundert erschien die erste kritische Gesamtausgabe des Corpus Aristotelicum; diese veröffentlichte Immanuel Bekker zwischen 1831 und 1837 im Auftrag der Preußischen Akademie der Wissenschaften. Von der Erstausgabe durch Aldus Manutius unterscheidet sich diese Akademie-Ausgabe u.a. dadurch, dass Bekker mehrere Handschriften vergleicht und die Varianten in einem kritischen Apparat dokumentiert. Auch die in der Aldina noch nicht enthaltenen Schriften Poetik und Rhetorik sind in Bekkers Ausgabe ediert. Neben der Edition des Corpus Aristotelicum stellt die Sammlung der verstreut erhaltenen Fragmente Aristotelischer Schriften eine wichtige Herausforderung für die philologische Forschung dar. So wurde 1870 die Bekker-Ausgabe um einen von Valentin Rose edierten Band ergänzt, der die Fragmente verlorener Werke des Aristoteles versammelt (dieser Band wurde 1987 durch Olof Gigons Fragmentsammlung ersetzt). Alle modernen Ausgaben sind im Grunde Weiterentwicklungen dieser Akademie-Ausgabe. Eine unverzichtbare Ergänzung dieser Gesamtausgabe stellt die Edition aller antiken griechischen Kommentare zu Aristoteles (Commentaria in Aristotelem Graeca) dar, die in den Jahren 1882 bis 1909 unter der Leitung von Hermann Diels – ebenfalls im Auftrag der Preußischen Akademie der Wissenschaften – veranstaltet wurde und gegenwärtig um die griechischen Kommentare aus byzantinischer Zeit (Commentaria in Aristotelem Graeca et Byzantina) ergänzt wird. Eine deutschsprachige Gesamtausgabe des Aristoteles wurde 1956 von Ernst Grumach begründet und nach Grumachs Tod von dem Gräzisten Hellmut Flashar fortgeführt.

2. Ethik

Praktische Philosophie

Aristoteles gliedert die Bereiche, in denen der Mensch überhaupt Wissen erlangen kann, in theoretische, praktische und herstellende Disziplinen. (Met. 1025 b 25 f.) Der Unterschied zwischen theoretischen Disziplinen einerseits und praktischen sowie herstellenden andererseits besteht darin, dass Erstere ausschließlich auf Erkenntnis der Wahrheit aus sind, während es bei den Letzteren nicht allein darum geht zu erkennen, wie die Welt ist, sondern auch darum, verändernd auf sie einzuwirken. Herstellende Disziplinen tun dies, indem sie untersuchen, unter welchen Bedingungen bestimmte Produkte auf gute Weise realisiert sind, und dann die Herstellung entsprechender Produkte anleiten. Auch praktische Disziplinen zielen auf eine Veränderung der Wirklichkeit ab, jedoch auf solche Veränderungen, die aus unseren Handlungen und Entscheidungen resultieren. Handlungen aber haben nach der aristotelischen Terminologie kein selbstständiges und vom Vollzug der Handlung ablösbares Produkt zum Ziel, so wie die Dichtkunst die fertige Tragödie und die Schuhmacherkunst den bequemen Schuh zum Ziel haben. (EN 1140 a 1 ff.) Bei Handlungen geht es vielmehr um das Gelingen, also um ein Ziel, das im Vollzug der Handlungen selbst liegt. »Gelingen der Handlung« wiederum heißt bei Aristoteles, dass das, was man tut, zu einem guten und glücklichen Leben beiträgt. Der »praktische« Teil der Philosophie hat es daher allgemein mit menschlichen Handlungen und dem guten Leben zu tun.

Aristoteles behandelt die praktische Philosophie in mehreren Schriften; die wichtigsten Werke sind die Nikomachische Ethik und die Eudemische Ethik. In den letzten Jahren neigt die Forschung zu der Ansicht, dass die Eudemische Ethik, die bislang weniger Beachtung gefunden hat als die Nikomachische Ethik, als die ältere der beiden Schriften anzusehen ist. Nach der überlieferten Form haben die beiden Ethiken insgesamt drei Bücher gemeinsam (EN V = EE IV; EN VI = EE V; EN VII = EE VI), womit gewisse Brüche im Gedankengang und in der Terminologie verbunden sind. Die Authentizität einer weiteren ethischen Schrift mit dem Titel Magna Moralia wird inzwischen überwiegend bezweifelt. Zur praktischen Philosophie gehört auch die Politik, die das Wesen einer Polis diskutiert und eine ausführliche Verfassungslehre entfaltet. Daran schließen sich Der Staat der Athener6, ein Bruchstück aus einer umfassenden Sammlung griechischer Verfassungen, und die Ökonomik als Teil der Politik an.

Praktische Philosophie umfasst neben der Ethik die politische Philosophie sowie als Teil der Ethik die Handlungstheorie. Etwas verwirrend ist, dass Aristoteles als gemeinsamen Oberbegriff für Ethik und Politik den Ausdruck »hê politikê – die politische Wissenschaft« gewählt hat. (EN 1094 a 27, Rhet. 1356 a 27) Diese Wortwahl führt leicht zu Missverständnissen wie demjenigen, dass für Aristoteles das Politische den Vorrang vor der individuellen Ethik genießen würde; tatsächlich aber rührt die Bezeichnung von der Vorstellung her, dass der wahre Staatsmann (griech.: politikos) jemand sei, der die Menschen besser machen könne (vgl. Platon, Gorgias 503 b, 516 e) und dazu über eine ethisch-moralische Kompetenz verfügen müsse. Daher ist der weite Begriff der »politikê«, der den gesamten Bereich der praktischen Philosophie umfasst, vom engeren Begriff der Politik im Sinne der Staats- und Verfassungslehre strikt zu unterscheiden.

Den Nutzen der praktischen Philosophie kann man leicht sehen: In der praktischen Philosophie geht es um das gute Leben; jeder versucht, eher ein gutes als ein schlechtes Leben zu verwirklichen. Dieses Ziel wird man mit größerer Zuverlässigkeit erreichen, wenn man zuvor eine gewisse Kenntnis davon erworben hat, wie das gute Leben beschaffen sein muss. Es verhält sich, so Aristoteles, ähnlich wie beim Bogenschützen, der sein Ziel vor Augen haben muss, um es treffen zu können. (EN 1094 a 23 f.) Der praktischen Philosophie kommt es nicht auf die Erkenntnis allein, sondern auf das Handeln bzw. das Gelingen des Handelns an. (EN 1095 a 5 f.)

Allerdings ergibt sich gegen das Projekt eines auf das Handeln und das gute Leben gerichteten Teils der Philosophie auch ein gewichtiger Einwand: Eine solche Disziplin muss sich mit der Frage auseinander setzen, welche Dinge als gut, gerecht usw. gelten. Darüber bestehen jedoch bekanntermaßen Meinungsverschiedenheiten; und es kommt auch vor, dass sich Dinge, die für den einen gut und nützlich sind, für den anderen schädlich auswirken. Man könnte demnach einwenden, dass solche Fragen nur auf wechselhaften Konventionen beruhen und dass eine Wissenschaft von solchen Dingen ausgeschlossen ist. Aristoteles macht sich diesen Einwand selbst und räumt ihn folgendermaßen aus: Erstens ist es durchaus richtig, dass ethische Fragen nicht mit derselben Exaktheit behandelt werden können wie etwa die der Geometrie; es wäre aber auch völlig unangebracht, einen derartigen Exaktheitsgrad von der Ethik zu verlangen und sie dann als unzureichend zu verwerfen, weil sie ihn nicht erfüllen kann. Vielmehr hat man es hierbei mit einem Bereich zu tun, in dem Ausnahmen immer möglich sind. Zum Beispiel gilt normalerweise der Reichtum als ein Gut, es gibt allerdings auch immer wieder Fälle, in denen jemand durch seinen Reichtum zu Schaden kommt. (EN 1094 b 18 f.) Praktische Philosophie zielt daher gar nicht auf strikt allgemeine und notwendige Aussagen; was von ihr zu erwarten ist, sind Sätze, die in der Regel (hôs epi to poly) wahr sind. Dass es die praktische Philosophie mit Aussagen zu tun hat, die nur in der Regel gelten, ist ein Merkmal, das die Möglichkeit echter Wissenschaft keineswegs ausschließt. (Met. 1027 a 20 f.) Sätze, die in der Regel gelten, sind für Aristoteles nicht nur Ausdruck einer statistischen Wahrscheinlichkeit, sondern sind am ehesten mit den notwendigen Sätzen verwandt, obwohl sie anders als diese den Vorbehalt möglicher Ausnahmen enthalten. Daher kann der Bereich, der es mit Inder-Regel-Sätzen zu tun hat, durchaus Gegenstand wissenschaftlicher Betrachtung sein. (An. post. 87 b 20 ff.) Zweitens kann praktische Philosophie natürlich nicht bestimmen, was für den Einzelnen in einer konkreten Situation das Richtige ist; solche konkreten Fragen sind für Aristoteles Sache einer besonderen Art von Tugend, der so genannten praktischen Vernünftigkeit (phronêsis). Die praktische Philosophie kann hierüber nur skizzenhaft handeln (EN 1098 a 20 ff.); diese grobe Skizze in Anbetracht bestimmter Gegebenheiten auszufüllen ist dann Sache des Handelnden, nicht des Philosophen. Drittens kann der Gegenstand der praktischen Philosophie nicht wie die Lehrsätze der Geometrie gelehrt werden; die Vermittlung solcher Überlegungen setzt vielmehr voraus, dass der Hörer schon eine gewisse Erfahrung mit Handlungen in der Wirklichkeit des Lebens hat. (EN 1095 a 3) Wer nicht von Kind auf gelernt hat, was es heißt, gut oder schlecht zu handeln, kann dies auch nicht in einer Ethikvorlesung lernen. Das heißt, dass praktische Philosophie immer an eine bestehende Praxis anknüpfen muss. Überhaupt ist die philosophische Ethik nur für jemanden nützlich, der bereits daran gewöhnt ist, sein Leben nach den Ergebnissen vernünftiger Überlegungen auszurichten und bei seinen Handlungen nicht nur Begierden und emotionalen Impulsen zu folgen.

Glück als das höchste Gut

Was die Menschen bewusst und absichtlich tun, das tun sie, so Aristoteles, um einer Sache willen, die ihnen als gut erscheint. Was gut ist, wird erstrebt, und so ist das Streben nach dem Guten oder den Gütern der eigentliche Antrieb für das Tun der Menschen. Daher beruht Aristoteles’ Ethik auf einer allgemeinen Theorie des Strebens und der Güter. Das gute Leben bzw. das Glück (eudaimonia) nimmt in dieser Theorie die Rolle des höchsten Gutes bzw. des höchsten Strebensziels ein.

Was ein Gut ist, lässt sich am einfachsten durch eine dreigeteilte Güterliste veranschaulichen, die zwischen äußeren Gütern, inneren Gütern des Körpers und inneren Güter der Seele unterscheidet. (Pol. 1323 a 24 ff.) Zu den äußeren Gütern gehören u. a. Reichtum, Freundschaften, gute Herkunft, gute Nachkommen, Ehre, günstiges Geschick, zu den inneren Gütern des Körpers gehören Gesundheit, Schönheit, Stärke, athletische Fähigkeiten, und als innere Güter der Seele gelten die verschiedenen Tugenden. (Rhet. I 5) Definiert wird ein Gut als das, wonach alle streben oder was um seiner selbst willen gewählt wird oder um dessentwillen man andere Dinge wählt. (EN 1094 a 2 f., Rhet. 1362 a 21 ff.) Alles, was man absichtlich tut, tut man, weil man ein bestimmtes Gut erstrebt und zu erlangen sucht. Güter sind demnach die Strebensziele aller absichtlichen Handlungen. Ein solches Ziel kann von der betreffenden Aktivität verschieden sein, so wie das fertige Haus das vom Bauen zu unterscheidende Ziel des Bauens ist, oder in der Aktivität selbst liegen, so wie das gute Leben zwar ein Ziel, jedoch nicht wie ein Produkt vom Vollzug des Lebens abtrennbar ist.

Viele der Strebensziele sind Glieder einer hierarchisch geordneten Reihe: Man lernt etwas um einer Prüfung willen, man absolviert die Prüfung um einer bestimmten beruflichen Qualifikation willen, man übt den Beruf um des Lebensunterhalts willen aus. Ließe sich nun die Reihe solcher Strebensziele ins Unendliche fortsetzen, dann wäre das Streben leer und nutzlos (EN 1094 a 21); also, schließt Aristoteles, müssen solche Reihen durch ein oberstes Ziel abgeschlossen werden, das um seiner selbst und nicht um einer anderen Sache willen gewählt wird. Nun gelangt Aristoteles von der Prämisse, dass keine dieser Güterreihen ohne Endziel bleiben darf, zu der Konklusion, dass es genau ein höchstes Endziel für alle möglichen Strebenshierarchien geben muss. Damit begeht er einen Fehlschluss, denn verschiedene hierarchisch geordnete Güterreihen würden auch dann noch abgeschlossen sein, wenn jede dieser Reihen über ein eigenes höchstes Ziel verfügte. – Trotz dieses logischen Fehlers ist Aristoteles’ Argument keineswegs abwegig, denn wenn man davon ausgeht, dass schon aus Gründen der begrenzten Zeit und Ressourcen verschiedene Strebens- und Güterreihen in einem Leben koordiniert werden müssen, dann setzt eine solche, nach Gründen erfolgende Koordination verschiedener Strebensziele einen einheitlichen Maßstab voraus, und einen solchen liefert nach Aristoteles unsere Vorstellung vom einen höchsten Gut, dem guten Leben.

Bevor aber das höchste Ziel mit dem guten Leben bzw. dem Glück identifiziert werden kann, bestimmt Aristoteles formale Kriterien, die ein höchstes Gut oder Ziel erfüllen muss (EN 1097 a 25 ff.): 1. Es gibt Dinge, die nur um anderer Ziele willen gewählt werden (wie eine Medizin), und Dinge, die sowohl um ihrer selbst als auch um anderer Ziele willen gewählt werden (wie Lust und Tugend). Das höchste Gut oder Ziel jedoch wird nur um seiner selbst und niemals um einer anderen Sache willen gewählt. 2. Das höchste Gut wird nicht dadurch vergrößert, dass ein anderes Gut hinzugezählt wird. Diese Kriterien werden nach allgemeiner Erwartung von der »eudaimonia« erfüllt: 1. Güter wie Gesundheit, Freundschaft, Wohlstand erstrebt man um eines guten Lebens willen, aber nicht umgekehrt das gute Leben um solcher Güter willen. 2. Es wäre abwegig zu sagen, dass das gute Leben zu einem größeren Gut würde, wenn ein anderes Gut, das sonst um des guten Lebens willen gewählt wird, hinzukommt: Wer insgesamt ein gutes Leben hat, der wird nicht noch glücklicher, wenn z. B. noch 100 Drachmen oder eine Flasche Wein zu seinem Glück hinzukämen.

Formal ist daher klar, dass das im Leben erreichbare Glück das höchste Gut und letzte Strebensziel darstellt.7 Allerdings ist die Frage kontrovers, worin das Glück besteht, und nicht alle Auffassungen über den konkreten Inhalt des guten Lebens erfüllen die formalen Kriterien eines höchsten Guts. So kann ein Leben, das ausschließlich auf die Anhäufung von Reichtum gerichtet ist, nicht nach dem gesuchten höchsten Gut streben, denn Reichtum ist immer das Mittel zum Zweck des Erwerbs anderer Dinge, und was um anderer Dinge willen da ist, kann nicht das höchste Gut sein. (EN 1096 a 5 ff.)

Das für den Menschen gute Leben

Worin besteht für den Menschen das gute oder glückliche Leben? Wenn es sich dabei um das höchste Strebensziel handelt, auf das mittelbar oder unmittelbar alle Handlungen eines Menschen ausgerichtet sind, dann ist klar, dass sich die philosophische Ethik an erster Stelle um eine Bestimmung der menschlichen »eudaimonia« bemühen muss. Wie aber kann man allgemein das für den Menschen gute Leben bestimmen, wenn es doch unter den Menschen ganz unterschiedliche Vorstellungen vom Glück gibt? Aristoteles versucht diese Schwierigkeit zu umgehen, indem er erstens eine nur umrisshafte Bestimmung des menschlichen Glücks gibt, diese Bestimmung zweitens auf Merkmale gründet, die allen Menschen gemeinsam sind, und drittens auch innerhalb dieser Bestimmung einen gewissen Spielraum für unterschiedliche individuelle Fähigkeiten lässt.

Entscheidend für die Bestimmung des menschlichen Glücks ist das so genannte Ergon-Argument, das sich bei Aristoteles in mehreren Versionen findet. (EE 1218 b 32 ff., EN 1097 b 22 ff., 1106 a 15 ff.) Das Wort »ergon« bezeichnet die spezifische Funktion, Aufgabe oder Leistung einer Sache. Was mit Blick auf eine jede Sache gut ist, hängt von ihrer besonderen Funktion oder Leistung ab, so wie über das Gutsein des Messers seine Fähigkeit zu schneiden und über das Gutsein des Auges seine Fähigkeit zu sehen entscheidet. Eine jede Sache ist in einem guten Zustand, wenn sie ihr spezifisches »ergon« auf gute Weise verwirklicht. Hat nun ein jedes Ding eine spezifische Leistung oder Fähigkeit, dann muss es auch möglich sein, ein solches »ergon« für den Menschen allgemein zu bestimmen. Und wenn sich der gute Zustand einer jeden Sache aus ihrem »ergon« bestimmen lässt, muss auch das für den Menschen gute Leben, seine »eudaimonia«, auf diese Weise bestimmt werden können.

Worin besteht die spezifische Fähigkeit des Menschen? Um diese Frage zu beantworten, greift Aristoteles auf die verschiedenen Fähigkeiten der menschlichen Seele zurück. Zunächst verfügt der Mensch bzw. die menschliche Seele über die lebenserhaltenden Fähigkeiten der Ernährung und des Wachstums. Ist dies auch die spezifische Leistung des Menschen, sein »ergon«? Nein, denn die genannten Fähigkeiten kommen auch allen anderen Lebewesen und Pflanzen zu. Wie steht es dann mit der Sinneswahrnehmung? Auch sie ist nicht das spezifische »ergon« des Menschen, denn sie findet sich auch bei den übrigen Lebewesen. Somit bleibt nur noch eine Fähigkeit: die Fähigkeit des Menschen, zu denken und zu überlegen, seine Vernunft (logos).

In der menschlichen Seele gibt es zwei verschiedene Teile oder Funktionen, die mit der Vernunft zu tun haben. Einerseits ist da der Teil, der selbst vernünftig ist bzw. Vernunft besitzt; er ist das »oberste« Seelenvermögen, insofern er die Impulse der restlichen Seelenteile soweit wie möglich zu kontrollieren versucht. Andererseits gibt es auch noch einen Teil der Seele, der zwar nicht selbst vernünftig ist, jedoch auf die Vernunft zu hören und ihr zu gehorchen vermag. Gemeint ist damit offenbar der für die Emotionen und bestimmte nichtrationale Begierden zuständige Seelenteil. Er kann dem vernünftigen Seelenteil »gehorchen«, insofern er seine Impulse den »Anordnungen« der Vernunft entsprechend zurücknehmen kann. – Spezifisch für den Menschen ist also seine Vernunftfähigkeit, und diese liegt auf zwei unterschiedliche Weisen vor: Der Mensch besitzt erstens Vernunft, und zweitens verfügt er über Emotionen und Begierden, die sich von der Vernunft leiten lassen.

Die Aussage, dass der Mensch als einziges Wesen über Vernunft verfügt, ist richtig, aber noch nicht hinreichend genau, denn es macht einen wichtigen Unterschied, ob man etwas nur besitzt oder auch gebraucht. Bei Aristoteles wird dies zu der bekannten Unterscheidung von Möglichkeit bzw. Potenzialität (dynamis) einerseits und Wirklichkeit, Aktualität, Aktivität (energeia) andererseits ausgebaut. Weil der Mensch auch während des Schlafs Vernunft besitzt, sie allerdings nicht ausübt, kommt es für das Ergon-Argument darauf an, den aktualen Vollzug des Vernunftvermögens gegenüber dem bloßen Besitz zu betonen: Das gesuchte »ergon« des Menschen ist daher die Aktivität des vernünftigen und des auf die Vernunft hörenden Teils der Seele.

Jede Aktivität kann besser oder schlechter ausgeführt werden. Der gute Zustand einer Sache ist dann gegeben, wenn sie ihre spezifische Aktivität auf gute Weise ausübt. Für diese Vortrefflichkeit einer jeden Sache verwenden die Griechen den Ausdruck »aretê«, der zugleich die Tugend bzw. die Tugenden im Sinne von Tapferkeit, Besonnenheit usw. bezeichnet. Ein Kitharaspieler z.B. erreicht seine »aretê« als Kitharaspieler dann, wenn er seine spezifische Leistung, das Spielen der Kithara, auf gute Weise vollbringt. Entsprechend kann man die »aretê« des Menschen als Menschen dadurch beschreiben, dass er die ihm eigentümliche Leistung, also die vernünftige Aktivität der Seele, nicht nur irgendwie, sondern auf gute Weise ausübt. – Schließlich spricht man von einem »glücklichen« oder »guten Leben« nicht mit Blick auf zeitlich beschränkte Episoden oder ein zeitweiliges Glücksgefühl, sondern mit Blick auf ein ganzes Menschenleben. Daher muss man zu den bisher genannten Merkmalen ein Stabilitätskriterium hinzufügen: Die gemäß der »aretê« erfolgende Aktivität der vernünftigen Seelenteile muss konstant sein und das ganze Leben prägen. (EN 1098 a 18 f.)

Damit sind alle Momente eingeführt, die Aristoteles für die Bestimmung des menschlichen Glücks braucht: »Das für den Menschen Gute ist die Aktivität (energeia) der Seele gemäß der Vortrefflichkeit (aretê) bzw., wenn es mehrere Arten der Vortrefflichkeit (aretê) gibt, gemäß der besten und vollkommenen – und dies während eines kompletten Lebens.« (EN 1098 a 16 ff.) Der Hinweis auf eine vollkommenere Art von »aretê« bezieht sich offenbar auf den Seelenteil, der selbst Vernunft besitzt. Die Mehrdeutigkeit des Worts »aretê« als »Vortrefflichkeit/Bestzustand« einerseits und »Tugend« andererseits ist gewollt. Wenn die vernünftigen Teile der Seele auf vortreffliche Weise aktiv sind, dann verfügt der betreffende Mensch über »aretê«, und das bedeutet zugleich, dass er über Tugend oder Tugenden verfügt.

Philosophischer und populärer Glücksbegriff

Aristoteles’ Bestimmung der »eudaimonia« hat auf den ersten Blick vielleicht nicht allzu viel mit populären Vorstellungen vom Glück zu tun; in diesen dürften vielmehr das Angenehme, das Lustvolle und der Besitz äußerer Güter eine wichtige Rolle spielen. (Rhet. 1360 b 14 ff.) Aristoteles meint, dass seine Bestimmung des Glücks diese Momente durchaus integrieren kann. Dass Lust zum glücklichen Leben gehört, wird von ihm nie infrage gestellt, jedoch soll dieser Aspekt vor allem durch die Arten von Lust erfüllt werden, die der Tugendhafte aus der tugendhaften Betätigung entnimmt (EN 1099 a 7 ff.); so wie der Pferdefreund Lust aus dem Umgang mit Pferden schöpft, wird auch der Freund der Tugend Lust an seinen tugendhaften Handlungen haben. Den äußeren Gütern werden zwei verschiedene, aber jeweils untergeordnete Funktionen zugewiesen. In der ersten Funktion sind sie Werkzeuge oder Hilfsmittel der Tugenden (EN 1099 a 32 ff.); wer z.B. nichts zu verschenken hat, kann auch nicht die Tugend der Großzügigkeit ausüben. Die zweite Funktion setzt die Unterscheidung zwischen Glück und uneingeschränktem Glück voraus: Wer bestimmter Güter bzw. jeglichen Besitzes entbehrt, kann auch nicht uneingeschränkt glücklich sein. (EN 1099 b 2 ff.)

Eine weitere Spannung zu populären Vorstellungen deutet sich dadurch an, dass im populären Tugendbegriff solche Tugenden besondere Wertschätzung genießen, die dem Wohl des anderen bei gleichzeitiger Aufopferung des Eigeninteresses dienen (Rhet. 1366 b 3 ff.), wodurch sich ein Konflikt zwischen dem eigenen Glücksstreben und der Ausübung altruistischer Tugenden abzeichnet. Doch Aristoteles sieht diesen Konflikt auf der Ebene philosophischer Ethik als entschärft an. Erstens nämlich ist das Streben nach wohlverstandener »eudaimonia« als ein langfristiges und reflektiertes Interesse strikt von einer kurzfristigen Vorteilsnahme auf Kosten anderer zu unterscheiden; zweitens erkennt der philosophisch reflektierte Begriff der »eudaimonia« an, dass bis zu einem gewissen Grad das Wohl des Einzelnen vom Wohl der Gemeinschaft und insbesondere einiger ihm nahe stehender Personen nicht zu trennen ist; drittens gelten die als Vortrefflichkeit (aretê) der menschlichen Seele verstandenen Tugenden nicht nur als Instrument zur Beförderung des eigenen oder fremden Wohlergehens, sondern auch als an sich selbst erstrebenswerte, konstitutive Bestandteile der »eudaimonia«.

Vortrefflichkeit des Verstandes

Glück besteht in der Betätigung der Seele gemäß ihrer Vortrefflichkeit. Der Vernunft besitzende Teil der Seele weist eine solche Vortrefflichkeit auf, wenn er bestimmte intellektuelle Fähigkeiten praktiziert; dies sind die so genannten dianoetischen Tugenden (aretai). Im sechsten Buch der Nikomachischen Ethik nennt Aristoteles als solche Tugenden das Wissen (epistêmê), die Weisheit (sophia), den Geist/die Einsicht (nous) sowie die Kunst (technê) und die praktische Vernünftigkeit (phronêsis). Während sich die letzten beiden Vermögen auf die veränderliche Welt richten, haben es Wissen, Weisheit und Geist mit dem Unveränderlichen und Notwendigen zu tun. Von besonderer Bedeutung für das praktische Leben ist dabei die Tugend der »phronêsis«. Sie ist das für das gute Handeln verantwortliche Vermögen und scheint von Aristoteles als die intellektuelle Fähigkeit betrachtet zu werden, die man braucht, um Einzelentscheidungen so zu treffen, dass sie der »eudaimonia« zugute kommen. Sie ist die Fähigkeit, das Nützliche und Gute abzuwägen, aber nicht mit Blick auf einen partikularen Nutzen, sondern mit Blick auf das Leben im Ganzen. (EN 1140a 25 ff.)

Um im Sinne der »phronêsis« vernünftig zu sein, genügt es nicht, dass man über Allgemeinwissen verfügt, man muss vielmehr das Einzelne kennen, d. h., man muss Erfahrungen8 Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass in Aristoteles’ praktischer Philosophie die Rede von »Mitteln und Wegen zu einem Ziel« nicht unbedingt ein Mittel meint, das ein davon verschiedenes Ziel herbeiführt, sondern auch etwas meinen kann, was man insofern »im Hinblick auf ein Ziel« wählt, als es selbst das Ziel, nämlich das gute Leben, zu konstituieren hilft10