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Haftungsausschluss:

Die im Buch enthaltenen Übungen wurden von der Verfasserin und vom Verlag sorgfältig erarbeitet und geprüft. Eine Garantie kann dennoch nicht übernommen werden. Weder die Autorin noch der Verlag übernehmen die Haftung für Schäden irgendeiner Art.

Ebook-Ausgabe 2018

Umschlaggestaltung: Bunda Silke Watermeier, www.watermeier.net

Unter Verwendung einer Grafik von Regina Wittwer, www.regains.ch

Illustrationen im Buch: Regina Wittwer, www.regains.ch

Copyright© 2017 Innenwelt Verlag GmbH, Köln

Alle Rechte vorbehalten

Nachdruck und fotomechanische Wiedergabe, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung des Verlages

www.innenwelt-verlag.de

eISBN 978-3-947508-02-0

Notburga Fischer

Reifestufen
der sexuellen

Liebe

Wie Herkunft prägt
und intime Beziehungen
(dennoch) gelingen

Inhalt

Vorwort von Prof. DDr. Christian Köck

Einleitung

Zeitgeist und sexuelle Liebe

Unser sexuelles Erbe – Fluch oder Segen?

Sexuelle Liebe – ein lebenslanger Reifeprozess

Der feminine und maskuline Energiekreislauf in der sexuellen Liebesbegegnung

Wie alles beginnt

Zeugung

Schwangerschaft

Geburt - Willkommen sein als Mädchen, als Junge

Der Boden der ersten drei Jahre

Reifestufe 4 Jahre: Jungen sind anders – Mädchen auch

Ödipale Phase – ein überholter Mythos?

Neugier und unschuldiger Forschergeist

Spiegelung - innere Verankerung des Energiekreislaufs

Der kleine Unterschied

Das Mädchen

Der Junge

Die Bedeutung der Eltern als sexuelles Paar für die Kinder

Reifestufe 14 Jahre: Pubertät – der große Aufbruch als Teenie

Flüssigkeiten der Fruchtbarkeit – erste Menstruation, erste Ejakulation

Rausgehen in die Welt – ein Experiment mit Sex und Herz

Pubertät ist, wenn die Eltern peinlich werden

Bodyforming – zwischen Selbstzweifel und Selbstbewusstsein

Selbstliebe als Boden für unsere Liebesbeziehungen

Von der Fremdregulation zur Selbstregulation

Porno statt Bravo

Es ist nie zu spät für ein erstes Mal

Anatomie und Physiologie der Lust

Die weiblichen Liebesorgane

Die männlichen Liebesorgane

Die orgasmische Atemwelle und der Energiekreis als Selbstregulation

Reifestufe 24 Jahre: Trauen wir uns? – Einlassen mit Perspektive

Freiheitsillusion – aus „frei sein von“ wird „frei sein für“

Der ewige Tanz von Nähe und Distanz

Dyadisches Beziehen – „Ich und du und nichts dazwischen“

Hochzeit und Ehe – Eltern und Schwiegereltern sind mit im Boot

Sexuelle Kraft und Hingabe – nehmen und genommen werden

Das Potenzial der sexuellen Liebe

Reifestufe 34 Jahre: Das gemeinsame Dritte - 1 + 1 = 3

Liebe machen für ein Kind

Prozess von Zeugung – Schwangerschaft – Geburt

Sexualität nach der Geburt

Ganz der Opa, ganz die Oma - systemische Bedeutung der Großeltern

Trennung, Patchwork-Familien und Kindeswohl

Außenbeziehung – ein ungelöster ödipaler Konflikt?

Trennung – Scheitern oder Gelingen

Die Kunst des Patchworks

Regenbogenfamilien

Reifestufe 44 Jahre: Lebensmitte – jetzt oder nie

Nicht mehr jung, noch nicht alt

Balance von maskulin und feminin

Wechseljahre – auf neue Weise fruchtbar

Reifestufe 54 Jahre: Abschied von den Eltern als sexueller Quelle

Das letzte Lernen von den Eltern

Anti-Aging - ewige Jugend als Idealvorstellung

Singles – Phasen des Alleinlebens

Reifestufe 64 Jahre: Lebensüberblick und Verfeinerung

Das gemeinsame Dritte neu definieren

Gereifte Sexualität - von der Quantität zur Seins-Qualität

Reifestufe 74+: Essenz und Würde

Position des Weisen: Bewusstsein für die nächsten sieben Generationen

Vorbereitung auf das Sterben

Amphitheater des Lebens – eine innere Reise zum Lebensrückblick

Anhang

Sexual Grounding® Therapy (SGT)

Über die Autorin

Danke

Literaturliste

Für Amira und Clarice –

und die Söhne und Töchter der nächsten Generationen

Vorwort

„Auf halbem Weg des Menschenlebens

fand ich mich in einen finstern Wald verschlagen,

weil ich vom rechten Weg mich abgewandt.“

Mit diesen Worten beginnt ‚Inferno‘ in Dantes ‚Divina Commedia‘. Psychologisch interpretiert, wird darin eine der wesentlichen Herausforderungen des Erwachsenenlebens beschrieben. Irgendwann, meist um die biographische Lebensmitte wird deutlich, dass die selbst gebaute Konstruktion eigener Identität brüchig wird und dass alle Versuche, Probleme durch Projektionen zu bewältigen, scheitern müssen. Das provisorische Selbst, die Persona, welche wir in der ersten Lebenshälfte entwickelt haben wird unbrauchbar, kann die Spannung zwischen dem was wir meinen sein zu müssen und dem was wir wirklich sein wollen, nicht mehr ertragen. Damit finden wir uns am Beginn eines tiefen Veränderungsprozesses. Das Leben zwingt dazu und bietet gleichzeitig die Chance, erwachsen zu werden.

Scheidung, Krankheit, Depression, Impotenz, Energielosigkeit oder Affären sind mögliche Symptome. Wer wachsam ist, kann dies als Aufforderung verstehen, einen Dialog zwischen der Persona und dem Schatten, also allem was bisher nicht gelebt werden durfte, aber unseren Kern ausmacht, zu eröffnen und in den Prozess der Individuation einzutauchen.

Liebe und Sexualität sind wesentliche Themen für jeden und werden oft zur Bühne, auf der das Drama der Lebensmitte aufgeführt wird. Kaum ein Bereich unserer Existenz ist mehr mit Lebensenergie, Hoffnung, Scham und Angst verknüpft wie dieser. Kaum anders wo spielen Projektionen eine so große Rolle, sind wir nachhaltiger von dem geprägt, was uns unsere Eltern vorgelebt haben. Wer sich offen mit Sexualität und Liebe beschäftigt, wird gezwungen Projektionen zu hinterfragen, muss aufhören, die Schuld beim Anderen zu suchen und die Hoffnung begraben, ein Anderer könne einen heilen oder erlösen.

Aus eigener Erfahrung und aus der Beobachtung anderer Männer weiß ich, dass uns das Eingeständnis nicht weiter zu wissen, besonders schwerfällt. Es widerspricht dem was Männer von sich selbst und die Umwelt von ihnen erwartet: die Dinge im Griff haben, hart im Nehmen sein, die Zähne zusammenbeißen, wenn das Leben schwer ist. Es scheint, als wäre all dies leichter zu ertragen, als den Mut zu fassen und dem eigenen Gefühl von Unzulänglichkeit ins Auge zu schauen oder sich einzugestehen, dass man ratlos ist.

Karl Popper hat einst gemeint, es gäbe nichts Praktischeres als eine gute Theorie. Notburga Fischer legt in diesem Buch ein fundiertes theoretisches Model psychosexueller Entwicklung dar, welches als ganz praktischer Wegweiser im Urwald der Lebensmitte dienen kann. Es beschreibt die wesentlichen Elemente und Herausforderungen jeder Entwicklungsstufe, von denen jede spezielle Erfahrungsräume und Anforderungen eröffnet und die Chance bietet, den Schritt von kindlicher Projektion zum Erwachsensein zu machen. Es kann die Augen für die neuen Anforderungen öffnen. Es kann Mut machen, die Krisen des Lebens als Chance zu sehen und ein erster Halt, wenn man verstanden hat, dass man sich im Leben neu orientieren muss.

Als Vater zweier Söhne erinnere ich gut, wie oft ich im Leben mit ihnen von meiner Vaterrolle gefordert, manchmal überfordert war. Wie gut wäre es gewesen einen Wegweiser zu haben, der mir erlaubt hätte, die Bedürfnisse der beiden tiefer zu verstehen und ihre psychosexuelle Entwicklung besser zu unterstützen.

Die Lektüre eines Buches, kann den inneren Prozess der Veränderung und Reifung niemals ersetzen. Dieses Werk kann jedoch, auf Grund klar und zugänglich dargelegter Theorie und anschaulicher Fallbeschreibungen ein erster Schritt auf dem Weg zu einer wesentlichen Veränderung sein.

Wer sich der Aufgabe innerer Entwicklung stellt, braucht irgendwann gute Begleitung. Dies bedeutet etwas kategorisch Anderes als Ratschläge oder Techniken. Vorschläge zum Management der ‚midlife crisis‘, Potenzmittel, Botox oder plastische Chirurgie helfen nicht. Wer durch die Lektüre des Buches von Notburga Fischer angeregt ist, einen Schritt zu bewusster Auseinandersetzung mit diesen Herausforderungen zu machen, findet in den von ihr gemeinsam mit ihrem Mann Robert angebotenen Seminaren ein Angebot, welches eine intensive Arbeit auf Basis der dargestellten Konzepte ermöglicht. Ich kenne diese therapeutische Arbeit aus unterschiedlichen Perspektiven. Ich habe erlebt, wie gut es den beiden gelingt einen sicheren und zugleich fordernden Raum zu gestalten, der eine tiefe innere Entwicklung möglich macht.

Wer im ‚finstern Wald‘ zu diesem Buch greift, für den kann sich ein Tor öffnen und sich ein sicherer Weg auftun. So kann aus einer Krise Befreiung und ein Schritt zum Selbst werden.

Ich wünsche dazu Mut und Glück auf dem Weg.

Prof. DDr. Christian Köck
Geschäftsführer | HCC Health Care Company GmbH |

Einleitung

Seit über 25 Jahren begleite ich auf internationaler Ebene Frauen und Männer als Singles und Paare in verschiedenen Altersstufen und Lebensphasen, bei ihren zentralen Anliegen rund um die sexuelle Liebe und Beziehungsentwicklung. Ich durfte Menschen aus verschiedensten Kulturen in ihren sexuellen Prägungen und unterschiedlichen Gestaltungen von Beziehung erleben. Ihnen gemeinsam ist die Suche nach Erfüllung in ihrem sexuellen Liebes- und Beziehungsleben.

Nach der sexuellen Befreiungsbewegung der 68er und dem inzwischen unendlich scheinenden Angebot im virtuellen Dschungel des Internets scheinen die großen Themen rund um die sexuelle Liebe noch immer nicht erlöst zu sein. Trotz der vielfältigen Möglichkeiten verschiedener Beziehungsformen wünschen sich viele Menschen nach wie vor, in einer authentischen Liebesbeziehung mit Perspektive und Dauer gemeinsam zu wachsen.

Ich empfinde es immer wieder als Geschenk, in dieser Arbeit einen tiefen Einblick in berührende Lebensgeschichten und intime Begegnungsräume zu erhalten. Aus dieser Fülle möchte ich einige aus dem Leben gegriffene Geschichten mitteilen und folge dabei dem roten Faden der psychosexuellen Entwicklung von unserer Zeugung bis zum Tod. Diese Reise entlang unserer Lebensspanne kann zur Erkenntnis verhelfen, dass es nie zu spät ist, an den herausfordernden Ereignissen des Lebens zu reifen und zu wachsen, und dass jede Lebensphase ihren eigenen Reichtum beinhaltet.

Mein Anliegen mit diesem Buch ist es, zu einer nachhaltigen Sexualität und erfüllten Beziehungsgestaltung beizutragen. Möge es einen versöhnlichen Beitrag leisten in der Beziehungsentwicklung zu unseren Eltern, unseren Partnern und Kindern. Es ermöglicht auch eine Orientierungsbasis für eine bessere Begleitung von Kindern und Jugendlichen in ihrer sexuellen Entwicklung – jenseits von Tabu und Übersexualisierung.

Um mich dem Thema anzunähern, stelle ich die Frage: „Wie können wir im Reifeprozess des Lebens die sexuelle Liebe in unseren Beziehungen so gestalten, dass sie als kreative, schöpferische Kraft zum Wohle unserer Kinder, der nächsten Generation und unserer Umwelt beiträgt?“ Diese Frage lässt meinen Blick entlang der Lebenslinie zurück und auch nach vorne wandern. Wie wirken das sexuelle Erbe und die Macht der Herkunft auf uns und unsere Liebesbeziehungen? Wie frei sind wir wirklich in unseren Beziehungsgestaltungen? Wie weit können wir uns mit dem Potenzial unseres Erbes verbinden, schwierige Erlebnisse verarbeiten und integrieren und unsere sexuelle Liebesfähigkeit zur vollen Entfaltung bringen? Mit lebendigen Fallbeispielen aus der Praxis illustriere ich, wie eine heilende Reinszenierung unserer sexuellen Geschichte eine neue kraftvolle Rückverbindung zu unseren familiensystemischen Wurzeln freilegt und damit auch zu unserem sexuellen Potenzial.

Ich veranschauliche in dieser Reise durchs Leben eine potenziell gelingende Entwicklung der sexuellen Liebesfähigkeit durch alle Altersstufen und zeige auch mögliche Störungen auf. Es geht dabei weniger um Sexualpraktiken und Techniken, sondern um Schlüssel zur Vertiefung im Beziehungserleben. Das Leben gibt uns immer wieder eine Chance weiter zu wachsen und zu reifen. So können wir sexuelle Probleme und auch jede Beziehungskrise als Wachstumschance sehen. Möge dieses Buch zu einer gelingenden Beziehungsvision beitragen und inspirierende Resonanzräume öffnen – und vielleicht erkennen sich die LeserInnen in verschiedenen Geschichten auch selbst wieder.

Alle Geschichten in diesem Buch (Namen sind aus Datenschutzgründen geändert) stammen wie gesagt aus dem reichen Erfahrungsschatz meiner Praxistätigkeit als Sexual Grounding®-Therapeutin und -Trainerin, der jahrelangen Zusammenarbeit mit meinem Mann Robert Fischer in unserem MannFrau-Training und unserer gemeinsamen Fortbildungstätigkeit.

Zum besseren Verständnis der Fallbeispiele und Arbeitsweise empfiehlt es sich die Beschreibung von Sexual Grounding® Therapy im Anhang zu lesen, da es der zugrundeliegende Ansatz dieses Buches ist.

An dieser Stelle möchte ich allen KlientInnen und TeilnehmerInnen für das entgegengebrachte Vertrauen und das Teilen ihrer Lebensgeschichten danken.

Zeitgeist und sexuelle Liebe

Wir leben im Zeitalter der vielen Möglichkeiten, wenn es um Beziehungsgestaltung und sexuelle Liebe geht. Die monogame Ehe – „bis dass der Tod euch scheidet“ – ist durch die hinzugewonnene Freiheit der Emanzipation und die steigende Lebenserwartung immer schwieriger zu realisieren. Eine häufig gelebte Form ist die serielle Monogamie, in der eine feste Beziehung der nächsten folgt. Beziehungen zwischen zwei Individuen sind darin verhandelbar, nach dem Motto: „Ich bleibe, solange es gut läuft, und wenn es nicht mehr stimmt, dann trennen wir uns eben.“

Wer einige Trennungen hinter sich hat, weiß allerdings: Das Startkapital für eine neue Beziehung wird immer kleiner, vor allem wenn man emotionales Restgepäck aus früheren Beziehungen mitschleppt und sobald Kinder involviert sind. So finden sich viele Frauen und Männer in komplexen Patchwork-Familien wieder, die anspruchsvoll zu handhaben sind, wenn man allen Beziehungen gerecht werden will. Auch das Experimentierfeld für polyamore Beziehungsformen wird größer. Hier erweitert sich das Beziehungsgeflecht auf mehrere Partner, die untereinander einen offenen Umgang suchen und die sexuelle Liebe im Einverständnis aller zur selben Zeit leben und teilen.

Bei vielen jungen Paaren gibt es jedoch wieder vermehrt einen Trend dahin, ganz traditionell im weißen Brautkleid zu heiraten und sich in bester Absicht das Ja-Wort zu geben – „bis das der Tod euch scheidet“. Darin liegt die Hoffnung, glücklich zu werden und auch gemeinsam schwierige Lebenssituationen und Schicksalsschläge zu meistern. Mit dem Bund der Ehe beginnt jedoch das Wettrennen gegen die Statistik, wonach die Scheidungsraten immer weiter steigen.

Auch in den Medien wird die Kleinfamilie zunehmend als Auslaufmodell behandelt. Das afrikanische Sprichwort „Es braucht ein ganzes Dorf, um Kinder zu erziehen“ weist auf die Wichtigkeit der Einbindung einer Kleinfamilie in das Unterstützungsfeld der Sippe hin. Viele Beziehungen scheitern an der Überforderung, den hohen Ansprüchen an sich selbst, als Paar, als Eltern, im Beruf usw. allein gerecht zu werden.

Im Bereich der sexuellen Liebe hat Volkmar Sigusch den Begriff1 der neosexuellen Revolution geprägt, die schleichend um die Jahrtausendwende stattgefunden hat. Merkmale davon sind:

• Die Freiräume von verhandelbaren Sexualpraktiken und vielfältigen Beziehungsgestaltungen werden immer größer – auch dank Internet. Mit einem Mausklick können wir Zugang haben zu „Seitensprungportalen“, Pornoseiten, Polyamorie-Treffen und Partner finden für verschiedenste sexuelle Praktiken.

• Die Herkunftsfamilie verliert dabei zunehmend an Bedeutung, das Individuum steht hingegen mehr im Zentrum und inszeniert sich sexuell oft losgelöst von Beziehung. Was früher als Perversion galt, wird als gesunde Neosexualität umdefiniert: „Alles ist möglich“.

Hinzu kommen die Fortschritte der Fortpflanzungsmedizin, welche die Reproduktion zunehmend von der gelebten Sexualität des Paares entkoppeln – somit werden auch Kinder mach-, design- und verhandelbar. Das „Ich will“ tritt in den Vordergrund, und es geht weniger um das „Es will durch mich geschehen“.

Ein neuer Trend sind hier „Kinder ohne Liebe“, das heißt, potenzielle Eltern mit Kinderwunsch entscheiden sich für eine Elternschaft ohne Liebesbeziehung. Möglichst viele Details über Kindererziehung werden dabei vorher vertraglich festgelegt in der Hoffnung, ohne Beziehungsdramen auszukommen.

Vielleicht werden unsere Urenkel in der Zukunft über uns staunen: „Was, ihr habt eure Kinder noch durch körperlichen Sex gezeugt? Wie antik! Wir können das Wunsch-Design unserer Babys im Internet auf verschiedenen Kinderwunschplattformen eingeben und sogar wählen, wer das Kind austrägt. Selbst zwei Frauen oder zwei Männer können zusammen biologisch reproduzieren.“ Das klingt utopisch, wäre aber laut Jaap van der Wal, einem emeritierten Professor für Embryologie in den Niederlanden, schon heute technologisch möglich. In den USA können Eltern mittlerweile das gewünschte Geschlecht ihres Kindes bestimmen. Die Entwicklungen von Technik und Genforschung überstürzen sich, und wir können die Auswirkungen auf die nächsten Generationen noch nicht absehen. Hoffentlich finden wir uns nicht eines Tages in der Hexenküche von Goethes Zauberlehrlings wieder, der verzweifelt ruft: „Die ich rief, die Geister, werde ich nun nicht los.“ Hier spielt es auch eine bedeutende Rolle, wie wir unsere Initiation in die Sexualität erleben und welche daraus resultierende Konditionierung wir vielleicht später als einschränkend empfinden.

Zwei Beispiele aus dem Praxisalltag:

Martin, ein junger Mann von ca. 30 und ein brillanter Denker, hat sexuell schon viel experimentiert. Jetzt hat er sich richtig verliebt und möchte sich auf eine Beziehung einlassen. Sein Anliegen formuliert er so: „Mein Einstieg in die Sexualität war über Porno und Ritalin. Das funktionierte für mich allein gut – aber jetzt mit meiner Freundin schieben sich dauernd diese Bilder dazwischen, und ich kann mit ihr und in ihr keine Erektion haben. Gibt es eine Technik, diese Bilder aus dem Hirn zu löschen?”

Ein Therapeut berichtet mir, dass er viele junge Männer begleitet, die schon von Anfang an Viagra nehmen, weil sie sich an den Messlatten der Pornofilme orientieren und kein Vertrauen in ihr bestes Stück haben. Die Regulation der Erektion wird durch Viagra & Co von außen übernommen. Dem Körper wird so von Anfang an die Chance genommen, seine natürliche Regulationsfähigkeit zu entwickeln.

Die äußere Befreiung und zunehmende Fremdregulation geht häufig mit einem inneren Gefühl von Leere einher, wodurch viele Konsum-Industrien, wie zum Beispiel Pornoseitenanbieter, von unseren ungestillten Bedürfnissen profitieren können. Doch was bedeutet es, wenn die eigenen Bedürfnisse und deren sofortige Erfüllung dauernd im Zentrum stehen? Wenn die Orientierung an medialen Vorgaben stattfindet und nicht auf der eigenen Wahrnehmung der Körperimpulse beruht? Wie beeinflusst dies unsere nahen Beziehungen und unsere Sexualität? Was bedeutet es für unsere Kinder und Enkel?

Ich möchte bei diesem Blick auf die sexuelle Liebe noch die jüngere Vergangenheit einbeziehen. In der Generation meiner Großeltern war Sexualität vorwiegend ein Tabu und laut kirchlicher Moral nur für die Fortpflanzung erlaubt. Die sexuelle Revolution der 68er, in der Grenzen erweitert und gesprengt wurden, zog als Schatten vielerorts einen missbräuchlichen Umgang nach sich. Auch in therapeutischen Beziehungen blieben die Grenzen nicht immer klar.

Ein erschütterndes Zeitdokument einer gescheiterten 68er Kommune zeigt der Dokumentarfilm „Meine keine Familie“ von Paul Julien Robert am Beispiel der Otto Mühl-Bewegung auf, auch Aktionsanalytische Organisation (AAO) genannt. Freie Sexualität war das Postulat, und „wer zwei Nächte mit derselben pennt, gehört schon zum Establishment“, wie es damals hieß. Wer sich nicht daran hielt, wurde von der Gruppe am Pranger der abendlichen Selbstdarstellung geächtet. Ein eigenes Bett oder eigene Bettwäsche gab es nicht, da man jede Nacht das Bett wechselte und es mit jemand anderem teilte. Sich von familiären Bindungen der Kleinfamilie zu lösen galt als oberste Prämisse. So wurden Mütter schon früh von ihren Kindern getrennt und in andere Kommunen versetzt oder zum Arbeiten in die Schweiz geschickt, damit die Kinder keine „schädliche Bindung“ und Abhängigkeit entwickelten und so früh wie möglich ihre (verordnete) Freiheit und Kreativität entfalteten. Hört man die Aussagen der heute Erwachsenen, die in der Kommune aufwuchsen, bezeugen sie das Gegenteil.

Ein Mann erinnert sich zum Beispiel:

„Frei war da gar nichts. Wir mussten uns so gut wie möglich anpassen und rausfinden, was Otto gerade hören will. Dabei wurden wir ständig bewertet und abgewertet. Einzig die Momente, wenn die oberste Frau mich in die Sexualität einführte, gaben mir das Gefühl, jemand zu sein. Das machte einen fast süchtig. Heute kann ich Sexualität nicht wirklich genießen.“ Einen zugehörigen Vater gab es nicht, da ja jeder infrage kam. Otto Mühl behielt sich vor, Mädchen ab 14 in die Sexualität zu initiieren – die Ehreneinladung hieß: „Gehen wir ficken“. Dies brachte ihm erst Jahre später einen Gefängnisaufenthalt und nicht zuletzt 1991 den Zerfall der Kommune.

Mein eigener Lebensweg kreuzte 1980 kurz diese Lebensform der AAO. Als nichtsahnendes Landei war ich mit 18 gerade in Wien angekommen und suchte mit meiner Freundin nach einer Wohngemeinschaft. Über ein Inserat landeten wir in der Praterstraße, einer Ableger-WG des Friedrichhofs. Viele Ideen hörten sich erst einmal spannend und revolutionär an: Aktionskunst, Kreativität, Befreiung durch Selbstdarstellung, Aktionsanalyse, freie Sexualität usw. Als Gäste erhielten wir eine Einladung für ein Wochenende an den Friedrichshof, die Hochburg der Otto Mühl-Kommune. Dort wurden wir zuerst auf Läuse gefilzt, obwohl die Internen nicht mit Besuchern intim wurden. Sie präsentierten uns ihren goldenen Käfig der Freiheit, in dem das Ausleben der kreativen Impulse – vor allem auch der sexuellen – im Vordergrund stand. Damals beeindruckte mich noch die Förderung der kindlichen Kreativität über die Materialaktionen, wo die Kleinen mit verschiedensten Materialien pantschen und malen konnten. Den Halt fanden Kinder mehr unter ihresgleichen, die Erwachsenen waren zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Ich zog es nach diesem Einblick vor, eine andere Studenten-WG zu suchen, und realisierte erst später, wo ich da gelandet war.

20 Jahre danach treffe ich in einem Frauenseminar auf Tamara, die seit zwei Jahren auf der Suche nach den potenziellen Vätern ihrer drei Kinder ist, die damals am Friedrichshof gezeugt wurden. In der Pubertät bedrängten ihre Kinder sie mit der Frage nach ihrem biologischen Vater. Für Tamara war es ein schwieriges und aufwendiges Projekt, da die Liste der potenziellen Väter lang war. Nach dem Aufdecken verschiedenster Missbrauchsfälle hatte sich die Mühl-Kommune größtenteils aufgelöst, und diese Männer waren jetzt in alle Richtungen verstreut.

In die Kommune gingen viele auf der Suche nach einer Vaterfigur, raus kamen die Kinder ohne Vater. Oder wie ein „Spät-Vater“ nach der Auflösung der Kommune sagte: „Als ich erfuhr, dass ich Vater bin, war ich total überfordert, fühlte mich noch nicht erwachsen, sondern lebte immer noch in der verlängerten Pubertät.“ Den Preis dieser exzessiven Selbstfindung in der sexuellen Revolution der 68er haben viele Kinder mitbezahlt. Sobald die Suche nach Identität und Orientierung mit dem Bruch und der Trennung von der eigenen Herkunft einhergeht, werden wir anfällig für äußere Guru-Figuren und Heilsversprechen.

Das neue Versprechen der neosexuellen Revolution ist ein omnipotentes „Alles ist machbar“. In der virtuellen Welt können wir uns neu erfinden und haben Zugang zu allem, gleichzeitig erhöht sich in der realen Welt das Bedürfnis nach Sicherheit und Grenzen.

Seit der Jahrtausendwende schwingt das Pendel wieder zurück, und es gibt amibivalente Strömungen. Obwohl heute sexuell alles möglich ist, sind Schamhaare in vielen Kreisen ein „No-Go“ und man trägt in der Sauna zunehmend wieder Badekleider. Auf der einen Seite scheint also alles möglich und die Freiheit riesig – auf der anderen Seite versucht man, angeregt durch die öffentliche Missbrauchsdiskussion, neue Grenzen und Regeln aufzustellen. So werden zum Beispiel Körperberührungen zwischen Erwachsenen und Kindern immer mehr eingeschränkt und reguliert. In manchen Krippen und Kindergärten dürfen Kinder zum Trösten nicht mehr auf den Schoß genommen werden – schon gar nicht von männlichen Betreuungspersonen. Vielleicht spielt auch das eine Rolle dabei, wenn immer weniger Männer in diesen Berufen zu finden sind. Im Generalverdacht des Missbrauchs zu stehen wirkt nicht besonders attraktiv für die Berufswahl als Kindergärtner oder Grundschullehrer. Hier könnte man auch in die Schulung eines differenzierten und adäquaten Berührungskontaktes investieren, um damit den Kindern langfristig einen guten Boden mitzugeben.

Im Zuge der Missbrauchsdiskussion treffen wir in unseren Seminaren oft auf verunsicherte Eltern – besonders Väter –, die sich zu früh aus dem körperlichen Kontakt mit ihren Töchtern zurückziehen, um ja nicht in den Verdacht des Missbrauchers zu gelangen. Aus einer guten Absicht entsteht so für das Mädchen ein Kontaktvakuum, ein Mangel an Erleben von guter Berührung, die einen sicheren Boden gäbe für ihre späteren Beziehungen zu Männern.

An den amerikanischen Universitäten spricht man wiederum zunehmend von „Rape Cultures“, Übergriffe, die unter Studierenden meist in Verbindung mit zu viel Alkohol stattfinden. Man versucht dort das Problem mit Consent-Trainings2 zu regulieren. Beide Partner unterzeichnen vor ihrem Date einen Consent-Vertrag, auf dem sie jeweils ankreuzen, womit sie sich später einverstanden erklären und was nicht stattfinden soll. Diese Vertragsformulare liegen in öffentlichen Räumen wie zum Beispiel Studentenkneipen aus. Auch hier stellt sich die Frage: Reagieren wir mit Regulation von außen durch Vertragsabschlüsse oder fördern wir die Regulation von innen mit einer Schulung der körpereigenen Wahrnehmung, eines guten Selbstkontaktes und einer bewussten Beziehungsentwicklung?

Matthias Horx3, ein Trend- und Zukunftsforscher, entwirft in seinem neuen Buch „Future Love“ drei mögliche Entwicklungsrichtungen. Mit der „technoerotischen Transformation“ beschreibt er eine Verlagerung unserer sexuellen Kontakte in die virtuelle Welt oder mit Liebesrobotern – auf Kosten der real gelebten Beziehungen.

Im zweiten Szenario schildert er „Liquid Love“ – für jedes Bedürfnis hat man einen anderen Partner, aber nicht mit jedem eine sexuelle Beziehung. Die komplexen Strukturen werden durch Liebesverträge geregelt, die man auf einer ehrlichen Basis immer wieder neu aushandeln kann.

Das dritte Szenario sieht er in der „co-evolutionären Liebe“ – eine monogame Beziehung gilt darin als Chance für Wachstum und gegenseitiges Unterstützen im Reifeprozess des Lebens. Sie gelingt auf der Basis einer guten Differenzierung und in einem balancierten Tanz zwischen Autonomie und Bindung, Freiheit und Verbundenheit. Im Veränderungs- und Reifeprozess des Lebens treffen Paare immer wieder neu aufeinander, und der gemeinsame Weg bleibt inspirierend.

Das zentrale Lebensthema der sexuellen Liebe, das uns seit Generationen beschäftigt, scheint also immer noch nicht erlöst. Sehen wir Sexualität nicht nur im Kontext von individueller Bedürfnisbefriedigung sondern als lebensspendende Kraft, die Generationen verbindet, so hat unser gelebtes Liebesleben auf unsere Umwelt und Nachkommen eine bedeutsame Wirkung. Genauso hat auch das sexuelle Liebesleben unserer Eltern einen erheblichen Einfluss auf die Gestaltung unserer Liebesbeziehungen.

Den in diesem Buch beschriebenen Reifeweg der psychosexuellen Entwicklung über die gesamte Lebensspanne hinweg verstehe ich im Sinne einer Transformationsreise von unserem sexuellen Liebeserbe zur co-evolutionären Beziehungsgestaltung.

1. Volkmar Sigusch, Arzt, Sexualforscher und Soziologe aus Frankfurt, hat diesen Begriff zum ersten Mal 1996 in Artikeln erwähnt. Sein Buch dazu: Neosexualitäten, Campus 2005

2. Trainings, die u.a. vermitteln, wie eine Zustimmung oder ein Einverständnis z. B. bezüglich sexueller Handlungen im Voraus geregelt werden kann.

3. Matthias Horx, Future Love – Die Zukunft von Liebe, Sex und Familie, DVA 2017

Unser sexuelles Erbe – Fluch oder Segen?

Gerade wenn es um die sexuelle Liebe geht, landen wir auf der Suche nach Vorbildern im seltensten Fall bei unseren Eltern. Viele können sich nicht einmal vorstellen, dass ihre Eltern je ein sexuelles Liebesleben hatten, auch wenn sie selbst der Beweis dafür sind. Wie können wir unser oft belastendes Erbe hinter uns lassen und trotzdem aus der kraftvollen Verbindung zu den Ahnen und Ahninnen unsere Beziehungen und unsere Sexualität gestalten?

Was viele Paare am verheißungsvollen Beginn ihrer Beziehung nicht ahnen: Jeder Schritt weiter in die Verbindlichkeit, wie zum Beispiel zusammenzuziehen, zu heiraten, gemeinsam Kinder zu zeugen und aufzuziehen, aktiviert die ungelösten Themen unserer Herkunftsfamilie.

Wenn nach der Verliebtheitsphase der Alltag einkehrt, ersetzen wir die rosarote Brille durch den Erlebnisfilter unseres Herkunftsszenarios. Plötzlich reagiert die anfangs als so einfühlsam erlebte Frau wie die eigene kontrollierende Mutter, eine Anregung wird als Kritik wahrgenommen und bewusst oder unbewusst setzt der Rückzug ein. Mit der Mutter geht man ja auch nicht ins Bett, und so ist es nicht verwunderlich, dass nach und nach die anfänglich so heiße Sexualität aus der Beziehung verschwindet. Vor allem wenn die Kinder da sind, beginnt der Lustpegel oft stark abzufallen.

Mit den eigenen Nachkommen wird die Erinnerung an unsere Kindheit aktiviert, und gerade damit gibt uns das Leben aber auch eine zweite Chance, anders mit gewissen Themen umzugehen. So können sich Eltern dabei ertappen, Sprüche zu den eigenen Kindern zu sagen, die sie schon damals nicht von ihren Eltern hören wollten. Oder sie handeln genau gegenteilig und merken oft nicht einmal, dass sie in einer Gegenreaktion verhaftet sind. Auf der Bühne des Machtkampfes geht es in der Beziehung plötzlich um die Frage: „Leben wir nach deinen oder meinen Vorstellungen?“ Oder: „Wer hat recht?“

Willem Poppeliers, ein holländischer Psychologe, Körperpsychotherapeut und der Begründer der Sexual Grounding® Therapy4 sagt: „Beziehung ist zu groß, als dass zwei Menschen sie allein bewältigen könnten.“ Damit meint er: Wenn wir uns wirklich einlassen auf die Beziehung mit einem Menschen, dann begegnen wir in ihm oder ihr gleichzeitig einem vielschichtigen Beziehungsgefüge seiner bzw. ihrer Herkunftsfamilien. Wenn beide offen dafür sind, dem zu begegnen, und sich in diesem Prozess letztendlich verneigen können vor den gelebten Beziehungen ihrer Eltern, wirkt das als erdende Kraftquelle in ihrer Verbindung.

Häufig gibt es in der Herkunftsfamilie jedoch nur wenige positive Vorbilder für eine gelingende Beziehung. Unsere Großeltern hatten meist auch nicht gelernt, wie eine gute sexuelle Beziehung gelingen kann. So probieren viele die Flucht nach vorne und hoffen, dass es ihnen besser gelingt als ihren Eltern, die sich vielleicht haben scheiden lassen oder im Dauerkampf zusammengeblieben sind. Einige wiederum lassen sich in der Folge nicht wirklich auf eine verbindliche Beziehung ein.

Bricht ein Paar die Verbindung zu den Eltern ab, nach dem Motto: „Wir machen es sicher anders und besser“, kommt die alte Geschichte meist durch die Hintertür wieder herein. Mit dieser Haltung stellt es sich innerlich über die Eltern, und das hat einen Preis: Die Partner stehen ohne Verbindung zur Ursprungsfamilie im Leben und müssen ständig beweisen, dass sie es besser können. Dies ist auf Dauer sehr anstrengend und erzeugt meist ein ruheloses Grundgefühl im Leben.

Manche landen erst nach zwei bis drei Trennungen bei der Erkenntnis, dass sich Kernthemen wiederholen und dabei nur die Darsteller ausgewechselt wurden. Ob wir es wollen oder nicht, die Beziehungen unserer Eltern und weiteren Vorfahren haben noch bis über deren Tod hinaus eine Wirkung auf unser Liebesleben. Als Kinder wurden wir direkt geprägt vom Beziehungsverhalten unserer Eltern und waren dem mehr oder weniger auch ausgeliefert; als Erwachsene haben wir ihr Verhalten verinnerlicht und handeln oft unbewusst danach.

Je bewusster wir uns dieser Geschichte zuwenden umso mehr können wir uns auch mit den Ressourcen der Eltern und Großeltern verbinden. Wenn wir nur den Schatten unserer Herkunft sehen, fehlt uns meist der freie Blick für die guten und nährenden Seiten, die auch da waren. Somit landen wir in der größten Beziehungsfalle, nämlich der jahrelangen Hoffnung, dass unser Beziehungspartner unsere unerfüllten Bedürfnisse aus der Kindheit und Jugend erstens erspüren und zweitens erfüllen soll. Diese Rechnung geht jedoch leider meist nicht auf und führt zu den Verstrickungen, in denen wir unsere Erfahrungen aus der Kindheit auf unseren geliebten Partner projizieren und gar nicht mehr ihn oder sie sehen können, so wie er bzw. sie wirklich ist.

Die Macht der Herkunft – was wie ein Fluch klingt, kann aber auch ein Geschenk sein, wenn wir es annehmen können und unseren Platz in dieser Generationenlinie einnehmen. Ein wichtiger Schlüssel dazu ist die Versöhnung mit unseren Eltern. Diese ermöglicht einen neuen Blick auf sie, sodass auch unser Dank ausgedrückt werden kann und wir das Leben wirklich nehmen, das wir durch unsere Eltern empfangen haben. Die tiefere Bedeutung dieser Aussage wird sich im Verlauf des Buches mehr und mehr zeigen. So verlieren die alten Verstrickungen an Macht, und wir können uns neu verbinden mit dem Potenzial der Männer und Frauen in der Generationenlinie hinter uns. Auf dieser Basis können wir uns auch zunehmend erwachsener in unsere Liebesbeziehung einbringen und uns darin austauschen. Wir sind damit weniger in einer kindlichen Erwartungshaltung verhaftet, in der wir glauben: „Wenn mein Partner mich wirklich liebt, müsste er spüren, was ich brauche, und mir das auch geben.“

Je länger wir dieser Macht der Herkunft nicht mehr ausgeliefert sind, umso mehr kann sie uns als Kraftquelle nützen für alles, was wir in unserem Leben und unseren Beziehungen manifestieren wollen. Wir treten aus dem Bann der Wiederholung von alten Mustern, können unsere Position einnehmen im Leben und unsere Kraftpotenzial auf sinnvolle Weise nützen.

Die gute Nachricht ist: Das Leben schenkt uns immer wieder Möglichkeiten, um an schwierigen Situationen zu reifen und zu wachsen. Dafür ist es nie zu spät. Was wir in unserer Kindheit versäumt haben, können wir als Erwachsene nachreifen lassen. So können wir auch Krisen, die wir in unseren wichtigen Beziehungen erleben, als Chance für Weiterentwicklung verstehen. Kernthemen begleiten uns und tauchen im Lebensverlauf immer wieder in unterschiedlichen Formen auf.

Im Folgenden beschreibe ich ein eindrückliches Beispiel, wie sich ein belastetes Erbe aus der Ahnenlinie plötzlich zwei Generationen später Raum nimmt und nach Auflösung sucht:

Irene (40, keine Kinder) lebt nach einer längeren Beziehung seit fünf Jahren allein und möchte sich langsam wieder für eine verbindliche Beziehung öffnen. In der Zwischenzeit war sie im Internet in verschiedenen Chatrooms aktiv und hat einige unverbindliche sexuelle Kontakte darüber gehabt. Einen fast unausweichlichen Sog spürt sie zu einem in der Geschäftswelt etablierten Mann, den sie über einen SM (Sadomaso) Chatroom kennengelernt hat. Mit ihm (dem Anonymität so wichtig ist, dass er auch hier keinen Ersatznamen erhält) trifft sie sich für ein klar abgemachtes SM-Setting. Sie entwickeln die Szenarien gemeinsam mit einer klaren Regel, wo die Grenzen sind. Das Codewort für Stopp wird immer respektiert.

Er übernimmt jeweils die Führung und dominiert sie, und Irene folgt ihrer Sehnsucht, sich hinzugeben. Im realen Leben ist sie in den meisten Bereichen ihres Lebens die aktive Person und möchte endlich lernen, ihre Kontrolle loszulassen. Ein Kernelement in ihren zeitlich klar begrenzten Settings ist, dass er sie auch körperlich schlägt, was für sie eine ziemliche Gratwanderung zwischen Lust und Schmerz bedeutet. Wenn sie am nächsten Tag ihre blauen Flecken sieht, schämt sie sich zutiefst dafür, und kann nicht mehr verstehen, warum sie das macht. Sie geht dann tagelang nicht mehr in eine Sauna oder ins Freibad, damit es keiner bemerkt.

Es ist für Irene eine große Erleichterung, überhaupt in der Therapie einen Ort zu haben, wo sie dieses für sie dunkle Geheimnis ihres Lebens mitteilen kann, ohne verurteilt zu werden. Obwohl sie zu allen Schritten bewusst Ja sagt, spürt sie eine destruktive Dynamik, der sie auf den Grund gehen möchte. Außerdem fühlt sie sich nicht ganz frei für ihren verbindlichen Beziehungswunsch und erlebt sich fast als diesem Mann hörig. Leider ist sie auf bestem Wege, sich in ihn zu verlieben auf Grund der Tatsache, dass er in seinem Beruf die männliche Führungsqualität auf gute Weise lebt. Über sein Privatleben hat sie keinerlei Informationen, und für ihn war immer klar, dass es ihm nur um diese inszenierten Begegnungen geht und nicht um mehr. Sie sucht Unterstützung und möchte dem Sog der Anziehung auf die Spur kommen. Zuerst forschen wir nach dem positiven Gewinn dieser Treffen; er hat mit ihrer Sehnsucht nach Hingabe zu tun, die sie auch immer wieder dabei erlebt. Auf meine direkte Frage, wo in ihrem Familiensystem diese Energie vorkommt, stutzt sie – und sagt, sie könne überhaupt keinen Bezug herstellen zu ihrem Vater, dieser sei eher das Gegenteil davon. Auch ihre bisherigen Männer waren immer eher von der soften Sorte gewesen. Ich schlage ihr vor, sie solle in der Vorstellung ihre Eltern innerlich zu einem SM-Treffen einladen, worauf sie entsetzt ruft: „Oh nein, die sollen damit nichts zu tun haben.“ Ihre Mutter sei als Kind heftig geschlagen worden von ihrem eigenen Vater, und später habe sie auch Irene und ihre Schwester geschlagen in Momenten, in denen sie außer Kontrolle geriet.

Danach sagte sie dann immer: „Ihr könnt glücklich sein, dass ihr nicht so geschlagen werdet, wie ich damals. Ihr habt es ja richtig gut im Vergleich zu uns damals!“

Dieser Großvater war der Mann im Familiensystem, von dem Irene als Kind auch im guten Sinne eine maskuline gerichtete Energie gespürt hat, aber früher konnte er sie nicht regulieren und hat seine Kinder brutal geschlagen. Diese Erkenntnis fiel Irene wie Schuppen von den Augen – bis jetzt hatte sie in keiner Weise eine Verbindung dazu hergestellt.

Ich schlage Irene vor, sich beim nächsten Setting mit diesem Mann innerlich mit ihrem Großvater zu verbinden und diesem zu sagen: Schau mal, ich bin mit derselben Energie beschäftigt wie du.“ Diese Vorstellung bringt in ihr die helle und die dunkle Seite ihres Großvaters als Teil ihres Hintergrundes zusammen und berührt sie zutiefst in ihrem Inneren. Sie kann plötzlich das ganze Szenario als einen Annäherungsversuch ihrer Seele sehen, sich diesem schwierigen Thema ihrer Geschichte zu nähern und zu lernen es zu regulieren. Sie realisiert auch plötzlich, warum sie sich nie auf „starke Männer“ einlassen konnte, aber in ihren Fantasien von ihnen erregt wurde. Die klare Struktur und Abmachung mit diesem Mann brachte für sie die fehlende Regulierung aus der Vergangenheit. In dem SM-Setting besteht die Selbstregulation darin, dass sie das Szenario mitentwirft und gleichzeitig jederzeit Stopp sagen kann, und er auch darauf reagiert. Trotzdem erlitt sie starke körperliche Schmerzen dabei und verurteilte sich für ihre masochistische Tendenz. In der nächsten Sitzung berichtet Irene, dass sie ihm in einer letzten Begegnung danken konnte für ihren Lernprozess und dass sie keine weiteren Treffen mehr möchte. Sie fühlt sich befreit aus dem Sog dieser SM-Settings und damit auch frei für einen Mann in ihrem Leben, der in der Lage ist, seine Männlichkeit gut zu regulieren, sodass sie sich als Frau dafür öffnen kann.

Diese Geschichte zeigt, wie einflussreich Themen in der Generationenlinie hinter uns wirken können, manchmal auch ohne dass wir bewusst davon wissen. Und sie zeigt auch, wie das Leben uns immer wieder Lernsituationen schenkt, um einen differenzierteren Umgang damit zu entwickeln. Warum wir dazu tendieren, unsere Geschichte zu wiederholen, hat unter anderem damit zu tun, dass es von unserem Seelenkern her ein Bedürfnis nach Heilung gibt, ein Bedürfnis danach, etwas in Ordnung zu bringen oder zu ermöglichen, was damals nicht in Ordnung war oder nicht sein durfte. So inszenieren wir ähnliche Situationen und Konstellationen, um es anders oder besser zu machen. In unserer Körpererinnerung können wir jedoch nur auf das Erlebte zurückgreifen und meist nicht auf unser Potenzial.

Hier kann ein therapeutischer Kontext helfen, schwierige Lebenserfahrungen einzuordnen und in einem sicheren Rahmen im Hier und Jetzt neue Erfahrungen zu machen. Mit der Zeit erlangen wir auch Zugriff auf das Potenzial in uns und können mehr und mehr wählen, ob wir in die alte Wiederholungsschleife einsteigen oder in Verbindung mit unseren Ressourcen eine gute Situation kreieren können.

Je länger wir diesen Lernweg verfolgen, umso mehr können wir den roten Faden der Lebensspur erkennen und Vertrauen entwickeln im Umgang mit schwierigen Phasen, wie die folgende „Kurzbiografie“ aufzeigt.

Autobiographie in fünf Kapiteln

1.

Ich gehe die Straße entlang. Da ist ein tiefes Loch im Gehsteig.

Ich falle hinein. Ich bin verloren … Ich bin ohne Hoffnung.

Es ist nicht meine Schuld.

Es dauert endlos, wieder herauszukommen.

2.

Ich gehe dieselbe Straße entlang.

Da ist ein tiefes Loch im Gehsteig.

Ich tue so, als sähe ich es nicht.

Ich falle wieder hinein.

Ich kann nicht glauben, schon wieder am gleichen Ort zu sein.

Aber es ist nicht meine Schuld.

Immer noch dauert es sehr lange, herauszukommen.

3.

Ich gehe dieselbe Straße entlang.

Da ist ein tiefes Loch im Gehsteig.

Ich sehe es. Ich falle immer noch hinein … aus Gewohnheit.

Meine Augen sind offen. Ich weiß, wo ich bin.

Es ist meine eigene Schuld.

Ich komme sofort heraus.

4.

Ich gehe dieselbe Straße entlang.

Da ist ein tiefes Loch im Gehsteig.

Ich gehe darum herum.

5.

Ich gehe eine andere Straße.

Portia Nelson

Sexuelle Liebe – ein lebenslanger Reifeprozess

Die Entwicklung der sexuellen Liebes- und Beziehungsfähigkeit ist ein lebenslanger Lern- und Reifeprozess, der von der Zeugung bis zum Tod andauert. Ich lehne mich bei der Beschreibung dieses Prozesses an das Reifestufenmodell der psychosexuellen Beziehungsentwicklung von Willem Poppeliers an.

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Reifestufen der sexuellen Liebe im Lebensverlauf.

(nach Willem Poppeliers – ergänzt von Robert und Notburga Fischer ©)

Die Altersstufen sind als fließend zu verstehen und umfassen ab der Kindheit jeweils einen Zeitraum von etwa zehn Jahren. Jede Stufe baut auf der vorherigen auf. Ist eine Reifestufe nicht wirklich abgeschlossen, verschieben sich deren Themen eventuell in spätere Lebensphasen. Wenn jemand zum Beispiel das Experiment der Pubertät nicht gelebt und früh geheiratet hat, kann es sein, dass plötzlich in der Lebensmitte der Freiheitsdrang so stark wird, dass so jemand aus dem Familienleben ausbricht – leider meist auf Kosten der Kinder. Gelingt es, die darunterliegenden Themen zu erkennen und diesen einen geschützten Erfahrungsraum zu geben, gibt es auch andere Möglichkeiten, diese unvollendeten Phasen im Leben zu integrieren.

Im realen Leben verläuft diese Entwicklung manchmal phasenverschoben parallel zu anderen Entwicklungen und nicht immer linear. So sind diese Reifestufen als wertvolle Orientierungshilfe gedacht und nicht als Vorgabe, wie das Leben sein soll. Die Eltern und Vorfahren haben in diesem Modell eine systemische Bedeutung bis über den Tod hinaus. In jeder Reifestufe beschreibe ich auch die Entwicklungsaufgaben der Eltern, um die Bedeutung des gelebten sexuellen Liebeslebens der Generation vor uns für unser eigenes Leben zu verdeutlichen. Auf diesem Reifungsweg des Lebens können wir drei Phasen herauskristallisieren, denen Willem Poppeliers die Begriffe Polarisierung, Harmonisierung und Transformation zugeordnet hat.

Polarisierung: Altersstufe 0 – 24 Jahre

In diesem Zeitraum steht das „Ich“ einem „Du“ polar gegenüber. Auch maskulin und feminin werden als polarisierende Kräfte wahrgenommen. Wir empfangen mehr als wir geben.Wir brauchen andere Menschen als Gegenüber, um als Individuum heranzureifen, oder wie Martin Buber es ausdrückt: „Der Mensch wird am Du zum Ich.“

Wenn wir den Lebenskreislauf betrachten, dann sind wir bis zum Erwachsenenalter (im Sexual Grounding®-Modell: von 0 bis 24 Jahre) damit beschäftigt, unsere femininen und maskulinen Quellen aufzufüllen und in uns ganz zu werden. Dies geschieht durch die Begleitung und Spiegelung unserer psychosexuellen Entwicklung durch die Eltern oder andere erwachsene Begleitpersonen. Wir verbinden und integrieren die zwei Wurzelstränge der Elternverbindung in uns und fügen unseren „Mehrwert“ (das, was wir mitbringen) bei.

Harmonisierung: Altersstufe 24 – 54 Jahre

Das „Ich“ ist im Austausch von Geben und Nehmen in einer Beziehung. In der Zeit unseres persönlichen Beziehungslebens bis ca. Mitte 50 geht es darum, das, was wir sind, in die Beziehung einzubringen und uns auszutauschen. Wir geben uns in die Beziehung hinein und bekommen etwas zurück. In einen Austausch zu gehen bedingt ein gegenseitiges Geben und Nehmen, bei dem die primäre Frage ist: „Was habe ich einzubringen in die Beziehung?“ und nicht: „Was habe ich zu bekommen oder was muss der andere mir geben?“ Im Zurücknehmen unserer Projektionen können wir immer mehr unser Gegenüber so nehmen, wie er bzw. sie ist.

Transformation: Altersstufe 54 Jahre bis zum Tod

Aus der verinnerlichten Transformation des Maskulinen und Femininen in uns geben wir weiter an die nächste Generation, an die Gemeinschaft. Nach den Wechseljahren geht es nicht mehr nur um die persönliche Ebene. Es stellen sich folgende Fragen: „Wo ist mein Platz im Kollektiv? Wie kann ich aus der Verbindung mit meinen Ahnen den Platz der weisen Frau oder des weisen Mannes in Würde einnehmen? Was hinterlasse ich, wenn ich gehe?“