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Uwe Hebekus/Jan Völker

Neue Philosophien des Politischen
zur Einführung

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Wissenschaftlicher Beirat
Michael Hagner, Zürich
Dieter Thomä, St. Gallen
Cornelia Vismann, Weimar †

Junius Verlag GmbH
Stresemannstraße 375
22761 Hamburg
www.junius-verlag.de

© 2012 by Junius Verlag GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Covergestaltung: Florian Zietz
Titelbild: Junius Verlag GmbH
E-Book-Ausgabe Januar 2019
ISBN 978-3-96060-083-1
Basierend auf Printausgabe
ISBN 978-3-88506-663-7
1. Auflage 2012

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar

Zur Einführung …

hat diese Taschenbuchreihe seit ihrer Gründung 1979 gedient. Zunächst als sozialistische Initiative gestartet, die philosophisches Wissen allgemein zugänglich machen und so den Marsch durch die Institutionen theoretisch ausrüsten sollte, wurden die Bände in den achtziger Jahren zu einem verlässlichen Leitfaden durch das Labyrinth der neuen Unübersichtlichkeit. Mit der Kombination von Wissensvermittlung und kritischer Analyse haben die Junius-Bände stilbildend gewirkt.

Von Zeit zu Zeit müssen im ausufernden Gebiet der Wissenschaften neue Wegweiser aufgestellt werden. Teile der Geisteswissenschaften haben sich als Kulturwissenschaften reformiert und neue Fächer und Schwerpunkte wie Medienwissenschaften, Wissenschaftsgeschichte oder Bildwissenschaften hervorgebracht; auch im Verhältnis zu den Naturwissenschaften sind die traditionellen Kernfächer der Geistes- und Sozialwissenschaften neuen Herausforderungen ausgesetzt. Diese Veränderungen sind nicht bloß Rochaden auf dem Schachbrett der akademischen Disziplinen. Sie tragen vielmehr grundlegenden Transformationen in der Genealogie, Anordnung und Geltung des Wissens Rechnung. Angesichts dieser Prozesse besteht die Aufgabe der Einführungsreihe darin, regelmäßig, kompetent und anschaulich Inventur zu halten.

Zur Einführung ist für Leute geschrieben, denen daran gelegen ist, sich über bekannte und manchmal weniger bekannte Autor(inn)en und Themen zu orientieren. Sie wollen klassische Fragen in neuem Licht und neue Forschungsfelder in gültiger Form dargestellt sehen.

Zur Einführung ist von Leuten geschrieben, die nicht nur einen souveränen Überblick geben, sondern ihren eigenen Standpunkt markieren. Vermittlung heißt nicht Verwässerung, Repräsentativität nicht Vollständigkeit. Die Autorinnen und Autoren der Reihe haben eine eigene Perspektive auf ihren Gegenstand, und ihre Handschrift ist in den einzelnen Bänden deutlich erkennbar.

Zur Einführung ist in verstärktem Maß ein Ort für Themen, die unter dem weiten Mantel der Kulturwissenschaften Platz haben und exemplarisch zeigen, was das Denken heute jenseits der Naturwissenschaften zu leisten vermag.

Zur Einführung bleibt seinem ursprünglichen Konzept treu, indem es die Zirkulation von Ideen, Erkenntnissen und Wissen befördert.

Michael Hagner

Dieter Thomä
Cornelia Vismann

Inhalt

Einleitung

1.Ernesto Laclau

1.1 Politische Erfahrung und Post-Marxismus

1.2 Politische Diskurstheorie

1.3 Die politische Theorie der Hegemonie

1.4 Die Kontingenz der Hegemonie und das Paradox der Demokratie

2.Claude Lefort

2.1 Politische Philosophie gegen politische Wissenschaft

2.2 ›In-Form-Setzen‹, ›quasi-Repräsentation‹, Macht

2.3 Formgebungen des Politischen: Monarchie – Demokratie – Totalitarismus

3.Jean-Luc Nancy

3.1 Von der Frage des Politischen zu einer Ontologie des Gemeinsam-Seins

3.2 Die undarstellbare Gemeinschaft

3.3 Ontologie des Mit-Seins, Philosophie und Politik

3.4 Demokratie, Anarchie, Kommunismus

4.Jacques Rancière

4.1 Was kann eine Theorie?

4.2 Die Logik des demos

4.3 Politik und Polizei

4.4 Archi-, Para-, Meta-Politik und Post-Demokratie

4.5 Das ästhetische Regime

5.Alain Badiou

5.1 Ist Politik denkbar?

5.2 Krise des Marxismus und Neubegründung der Philosophie

5.3 Das Ereignis – Ontologie und Phänomenologie

5.4 Demokratischer Materialismus

5.5 Kommunistische Hypothese

Anhang

Anmerkungen

Siglen

Weitere Literatur

Über die Autoren

Einleitung

Nachdem 1989 die Berliner Mauer gefallen war und damit der endgültige Zusammenbruch der meisten kommunistischen Regime begonnen hatte, wurde im Westen alsbald das ›Ende der Geschichte‹ ausgerufen. Dieses Schlagwort hatte der US-amerikanische Politikwissenschaftler Francis Fukuyama mit seinem Buch The End of History and the Last Man (1992) in Umlauf gebracht. In ihm hatte Fukuyama einen finalen Sieg des Westens diagnostiziert. Im Prozess der Geschichte habe sich die Verbindung von liberaler Demokratie und freier Marktwirtschaft als allen anderen Systemen überlegen erwiesen. Kein System sei denkbar, das dem liberal-demokratischen Kapitalismus seinen Rang als beste aller möglichen Formen des menschlichen Zusammenlebens noch streitig machen könne. Auch die Existenz letzter Widerstandsnester lasse keinen Zweifel daran zu, dass sein Sieg eine ausgemachte Sache sei. Noch im Jahr 2008 hat der neoliberale französische Publizist Guy Sorman die Diagnose Fukuyamas wiederholt.1 In Korea ebenso wie in Deutschland sei der Wettstreit der Systeme gleichsam unter Laborbedingungen ausgetragen worden. Man habe diese Länder jeweils in zwei Hälften geteilt und im Norden bzw. im Osten auf den Kommunismus, im Süden bzw. im Westen hingegen auf den Kapitalismus gesetzt. Nach vierzig Jahren habe man schließlich die Ergebnisse vergleichen können, welche an Eindeutigkeit nichts zu wünschen übrig gelassen hätten.

Dagegen hat Slavoj Žižek mit Blick auf die Ereignisse vom 11. September 2001 und ihre Folgen einerseits, auf die Finanzkrise von 2008 andererseits eine doppelte Niederlage der scheinbar ehernen und siegreichen Verbindung von liberaler Demokratie und kapitalistischer Ökonomie ausgemacht, eine Niederlage, die sich, getreu dem Diktum von Karl Marx, das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce ereignet habe: »Der 11. September […] markiert das Ende der fröhlichen Neunziger, der Clinton-Jahre, er kündigt eine Ära an, in der überall neue Mauern auftauchen – zwischen Israel und dem Westjordanland, um die Europäische Union herum, an der Grenze zwischen den USA und Mexiko. Es hat jedoch den Eindruck, als müsse Fukuyamas Vision zweimal sterben: Der Zusammenbruch der liberal-demokratischen politischen Utopie am 11. September stellte die ökonomische des globalen Marktkapitalismus nicht infrage. Doch wenn die Finanzkrise von 2008 einen historischen Sinn hat, dann jenen, daß sie nun auch das Ende der ökonomischen Aspekte von Fukuyamas Entwurf einläutet.«2

Und doch scheint sich der liberal-demokratische Kapitalismus durch die Folgen des 11. September und durch die Finanzkrise auch gegenwärtig nicht diskreditiert zu sehen, zumindest nicht in prinzipieller Hinsicht. Nach wie vor wird er, so Žižek an anderer Stelle, »als die endlich gefundene Formel der bestmöglichen Gesellschaft akzeptiert, und man kann anscheinend nichts weiter tun, als ihn gerechter, toleranter usw. zu gestalten«3. Krisen werden gerade nicht als Infragestellungen interpretiert, sondern als Anlässe zur Systemoptimierung. Politik sieht sich reduziert auf das ›Drehen an Stellschrauben‹ oder auf die schlichte Exekution von Sachzwängen. Und das westliche politische Denken, das sich der »endlich gefundenen Formel« verpflichtet weiß, bewegt sich innerhalb des festen Kategorienapparats, den der Diskurs des liberal-demokratischen Kapitalismus ihm vorgibt. So wurde auf der einen Seite der ›arabische Frühling‹, die ›Arabellion‹, im Westen sogleich als Heraufziehen einer liberalen Demokratie auch in Nordafrika und dem Nahen Osten verbucht. Auf der anderen Seite wird beispielsweise ein Phänomen wie der Klimawandel keinesfalls als das beurteilt, was es jedenfalls nach dem britischen Ökonomen Nicholas Stern auch ist: der größte Fall von Marktversagen, den die Welt je gesehen hat.

In einem bestimmten Sinne kann ein Denken, das die Diagnose eines ›Endes der Geschichte‹ unterschreibt, post-politisch genannt werden. Wird die Verbindung von liberaler Demokratie und kapitalistischer Ökonomie für alternativlos ausgegeben und damit die Frage nach der angemessensten Form der Einrichtung von Gesellschaft für endgültig beantwortet erklärt, dann kann sich Politik nur mehr als Verwaltung der menschlichen Bedürfnisse im Rahmen der ein für alle Mal glücklich gefundenen Ordnung verstehen. Allerdings zeigt schon der Blick etwa auf das China unserer Tage, dass die (Selbst-)Einschätzung der westlichen Gesellschaftsordnung als alternativlos trügerisch ist. Man muss schließlich kein Fürsprecher des chinesischen Systems sein, um zu sehen, dass dessen (ökonomisch überaus erfolgreiches) Konzept einer ›sozialistischen Marktwirtschaft‹ die westliche Verbindung von liberaler Demokratie und kapitalistischer Ökonomie wenn auch vielleicht nicht als zufällig, so doch als kontingent erscheinen lässt. Ein Denken aber, das solcher Kontingenz nicht in allein empirisch-historischer, sondern in prinzipieller Absicht Rechnung trüge, wäre politisch in einem nicht mehr nur ›post-politischen‹ Sinne: Es verschriebe sich nicht bloß einer Verwaltung und Reproduktion der nun einmal gegebenen Ordnung der gesellschaftlichen Dinge, sondern es beträfe »gerade den Rahmen […], der festlegt, wie die Dinge funktionieren«4.

Wenn heute die politischen Alternativen einerseits ausgestrichen scheinen, andererseits die politischen Realitäten eine Entkopplung von Kapitalismus und Demokratie nahelegen, dann lässt sich das als Anlass begreifen, auf einen Moment zurückzugehen, in dem im westlichen Europa gesamtgesellschaftlich an einer Alternative gearbeitet wurde: auf den Mai 68. Um auf die Gegenwart zu sprechen zu kommen, bietet sich ein solcher Rückgriff auf 1968 in vielerlei Hinsicht an. So hat Jean-Luc Nancy in einem neueren Text einen Bogen von 1968 zu gegenwärtigen Diskussionen über die Demokratie geschlagen und in beidem gleichermaßen eine Enttäuschung über die Demokratie als Impuls ausgemacht (vgl. WD 15ff.).5 Alain Badiou wiederum, der die Notwendigkeit der Neuerfindung der kommunistischen Hypothese auch in der Treue zum Mai 68 begründet sieht, hat in einem Text auf die Entwicklungen neuer Organisations- und Artikulationsformen hingewiesen, die den Mai 1968 begleiten und sich aus der Ablösung von der Gewissheit geschichtlicher Gesetze entwickelt haben (vgl. KH 47).

Diese beiden Momente – der Zweifel an der liberal-kapitalistischen Demokratie und der Verlust der Sicherheit historischmaterialistischer Geschichtsgesetze – bilden eine Matrix, die auch die gegenwärtige Suche nach einem adäquaten Begriff der Politik bestimmt. Die Philosophie, die die Politik in ihrem Begriff zu denken versucht, sieht sich durch diese historische Konstellation vor die große Herausforderung gestellt, diesen Begriff neu auszurichten. Wie ist die Politik zu denken, wenn sie weder in dem, was die westlichen Demokratien unter Politik verstehen, noch in den realsozialistischen Vorstellungen – und was von ihnen übrig blieb – aufgeht?

Dass damit eine Frage benannt ist, die die Philosophie wesentlich betrifft und nicht nur einen ihrer Gegenstände, wurde beispielhaft auf einem Colloquium zu Ehren Jacques Derridas im Jahr 1980 deutlich. Organisiert von Jean-Luc Nancy und Philippe Lacoue-Labarthe, galt dieses Colloquium genauer Derridas Text Fines hominis, den dieser zuerst 1968 vorgetragen hatte. Christopher Fynsk stellt in einem Beitrag zwei Zitate von Derrida nebeneinander, die ein zentrales Ausgangsproblem markieren: Das erste Zitat vom Anfang des Textes Fines hominis stellt »die seit jeher vorhandene Verbindung zwischen dem Wesen des Philosophischen und dem des Politischen« heraus.6 Das zweite Zitat stammt aus einem Interview mit Derrida, in welchem dieser betont: »›Die philosophische Aktivität erfordert keine politische Praxis, sie ist, in jeder Hinsicht, eine politische Praxis. Wenn man erst einmal für deren Anerkennung gekämpft hat, beginnen andere Kämpfe, philosophische und politische.‹«7

Wie Fynsk unterstreicht, scheinen diese Zitate zunächst evident zu machen, dass jede philosophische Aktivität im Kontext politischer Rahmungen zu verstehen ist. Mit dieser Evidenz zeigt sich jedoch zugleich die Problematik, dass die Bestimmung dessen, was eigentlich politisch sei, abhanden gekommen ist. Ähnlich verhält es sich, fährt Fynsk fort, mit der Philosophie: Der Verlust einer allgemeinen Beschreibung dessen, was Philosophie sei, scheint auf ein Ende der Philosophie im allgemeinen Sinn hinzudeuten. Dieses Ende fordert aber nun das Denken einer – wie man sagen könnte – Philosophie nach der Philosophie heraus: Und aus dieser Möglichkeit des Denkens, so Fynsk, muss die Frage nach der Verbindung von Philosophie und Politik neu bearbeitet werden.

An Stellen wie diesen entstehen Fragen, die kurze Zeit später die entscheidenden Einsätze für die Zusammenarbeit von Jean-Luc Nancy und Philippe Lacoue-Labarthe bilden. Auf Einladung Derridas übernehmen Lacoue-Labarthe und Nancy im November 1980 die Leitung des neu gegründeten Zentrums für philosophische Studien über das Politische (Centre de recherches philosophiques sur le politique) an der Pariser École normale supérieure, wo sie bis 1984 zusammenarbeiten. Diese Arbeit führt die Überlegungen des Derrida-Colloquiums fort und überträgt sie in eine eigenständige Programmatik, die im Wesentlichen um die Unterscheidung zwischen dem Politischen und der Politik8 sowie um die These vom Entzug des Politischen kreist.

Heute lässt sich das Gewicht dieser philosophischen Auseinandersetzung zumindest noch in Umrissen an den Beiträgerlisten der beiden Sammelbände ablesen, die das Zentrum 1981 und 1982 herausgibt. Texte von Étienne Balibar, Luc Ferry, Jean-François Lyotard und natürlich Lacoue-Labarthe und Nancy im ersten Band werden im zweiten u.a. durch Texte von Jacob Rogozinski, Claude Lefort und Jacques Rancière ergänzt. Alain Badiou hat seine im weiteren Kontext der Seminare des Zentrums vorgetragenen Aufsätze in dem eigenen Band Ist Politik denkbar? veröffentlicht. Bis auf Ernesto Laclau weisen somit alle in diesem Einführungsband vorgestellten Autoren – Ernesto Laclau, Claude Lefort, Jean-Luc Nancy, Jacques Rancière und Alain Badiou – Berührungspunkte mit der Arbeit des Zentrums auf. Über diese schlichte Tatsache hinaus lässt sich das Programm des Zentrums aber auch symptomatisch lesen. Es werden darin Motive eines Wandels in der politischen Theorie deutlich, die politische Theorien über das Zentrum hinaus charakterisieren, insofern diese die Erfahrung von 68, den Stalinismus und den Zweifel an den etablierten Demokratien aufnehmen.

Das Zentrum soll, so die beiden Initiatoren in ihrem Beitrag im ersten Band, nicht einem vorderhand festgeschriebenen Arbeitsprogramm folgen, sondern vielmehr den Raum einer Fragestellung neu eröffnen: Es geht um das, was sie »provisorisch« die »Essenz des Politischen« (LNO 9) nennen. Diese soll Gegenstand einer doppelten Befragung werden: Zunächst zielt eine philosophische Befragung des Politischen für die Autoren darauf, die anstehenden Überlegungen allen Bestimmungsversuchen positiver Wissenschaften zu entziehen und vor allem die Ansprüche der sogenannten politischen Philosophie zurückzuweisen. Es geht darum, den Begriff des Politischen in seiner philosophischen Qualität zu untersuchen. Die Begründung für diese deutliche Abgrenzung von allen analytischen, empirischen oder auch hermeneutischen Verständnissen in der Ausrichtung des Zentrums verweist bereits auf die zentrale Unterscheidung des Politischen von der Politik. Im Gegensatz zu der Politik geht nämlich das Politische in diesen Bestimmungen nicht auf. Die Politik betrifft, wie Fynsk es an anderer Stelle erläutert hat, das »Spiel der Kräfte und Interessen«, wohingegen »das Politische« die »Stätte meint, an der das, was es heißt, gemeinsam zu sein, offen für Definitionen bleibt«9. Mit den Worten von Lacoue-Labarthe und Nancy: Betrifft die Politik etwa die Politik der »chinesischen Kaiser, der Könige des Benin, von Louis XIV. oder der deutschen Sozialdemokratie« (RDP 186), setzt also auf der Ebene gouvernementaler, technischer Ausübung von Macht an, so ist das Politische als eine fundamentalere Fragestellung zunächst einmal negativ davon abzugrenzen. Mit einer gewissen, aber, wie zu sehen sein wird, notwendigen Unschärfe lässt sich sagen, dass das Politische auf die Ebene der grundsätzlichen Konfiguration gemeinschaftlicher Zusammenhänge zielt, so wie sie etwa in vielen Gründungserzählungen erfasst werden.

Umgekehrt ergibt sich aber auch die Notwendigkeit, das Philosophische in seinem Bezug auf das Politische zu befragen. Die Analyse muss nicht nur eine philosophische Bestimmung des Politischen, sondern auch eine politische Bestimmung des Philosophischen ins Auge fassen. Gerade jedoch um die gegenwärtige Situation zu begreifen, ist es für Nancy und Lacoue-Labarthe unabdingbar, zurückzukehren zu der »eigentlich politischen Voraussetzung der Philosophie (bzw. wenn man es vorzieht: der Metaphysik), das heißt bis zu einer politischen Bestimmung der Essenz. Aber diese Bestimmung macht keine politische Position aus; es ist die Position des Politischen selbst« (LNO 15). Anders gesagt: Politisches und Philosophisches erscheinen zusammen, am Grund des Philosophischen selbst liegt eine politische Bestimmung. Diese These nun führt Derridas Überlegung auf ihren Grund zurück. Es geht also nicht um die eine oder andere politische Verankerung der ein oder anderen Idee des Politischen, sondern es geht um die grundsätzliche Bestimmung der Essenz des Politischen als philosophischer bzw. noch umfassender um die politisch-philosophische Einsetzung des abendländischen Denkens und die Praxis der Gemeinschaft. Um diese intrinsische Verknüpfung zu bezeichnen, sprechen die Autoren im Unterschied zur Rede von dem Politischen von der Essenz des Politischen, deren Grund im Denken der antiken polis liegt, in welchem das okzidentale Verständnis der Philosophie und des Politischen entsteht. Zu dieser doppelten Eröffnung ist also zurückzukehren, will man die gegenwärtige Situation verstehen, die durch den Entzug des Politischen geprägt ist.

Der Entzug des Politischen betrifft zwei Momente. Erstens unterliegt der Bereich des Politischen und Philosophischen einer Schließung, die sich mit einem Wort Lyotards als das Ende der großen Erzählungen beschreiben lässt. Die großen Diskurse der Geschichte als Geschichte des Menschen sind an ein Ende gekommen und mit ihnen das Motiv der Revolution. Damit vollendet sich das Politische, insofern es beginnt, »jeden anderen Referenzbereich« (LNO 16) auszuschließen. Schließung, Vollendung, im Sinne von Derridas Rede von der clôture zu verstehen, bedeutet nicht einfach den Punkt des Endes, sondern den Prozess eines Endens und einer Erfüllung, der zu einer Despezifizierung des Politischen führt, zu seiner Verallgemeinerung, so dass sich das Politische schließlich zugleich als omnipräsent und verschwunden bzw. entleert erweist.

Gegenüber dem Politischen zeigt sich aber zweitens auch die Philosophie in einer Bewegung gefangen, aus der sie nicht herauszutreten vermag, wobei die Rede von der Philosophie hier die Unterscheidung von der Politik und dem Politischen noch einmal aufruft. Die Philosophie als Praxis wäre aufgefordert, das Politische zu befragen auf das hin, was in ihm nicht politisch ist (das Philosophische). Aber dieser Praxis wohnt von Beginn an ein destituierendes Moment inne, insofern die Philosophie sich weder als rein politisch noch als rein philosophisch zu behaupten vermag und ihre »Autorität« (LNO 17) verspielt. Die Schließung des Politischen und Philosophischen und die Destitution der Philosophie als einer zugehörigen Praxis – diese doppelte Bewegung fassen die beiden Autoren zu der These vom Entzug des Politischen zusammen.

Retrait‹ bedeutet im Französischen sowohl ›Rückzug‹ als auch ›Entzug‹ und kann in einer dritten Lesart als ›re-trait‹, als ›noch einmal machen‹ oder auch als ›neu-/nach-zeichnen‹ verstanden werden. Bereits auf dem Derrida-Colloquium kristallisiert sich die Frage des Entzugs heraus. Lacoue-Labarthe beispielsweise bestimmt die Figur des Entzugs mit Heidegger, der in seiner Einführung in die Metaphysik schreibt: »Man übersetzt polis durch Staat und Stadtstaat; dies trifft nicht den vollen Sinn. Eher heißt polis die Stätte, das Da, worin und als welches das Da-sein als geschichtliches ist. Die polis ist die Geschichtsstätte, das Da, in dem, aus dem und für das Geschichte geschieht.«10 Und Lacoue-Labarthe fährt fort: »Anders gesagt: die Essenz des Politischen ist selbst nicht politisch. Auch kein philosophisches Untersuchungsinstrument ist seinem Entzug angemessen.«11 Diese fundamentale Deckungsungleichheit des Politischen mit sich selbst markiert den Beginn einer Entwicklung und nicht einfach nur eine grundlegende, überzeitliche Struktur des Politischen. In ihrem Text im zweiten Band des Zentrums, der Momente der ursprünglichen Eröffnung noch einmal genauer erläutert, verweisen Nancy und Lacoue-Labarthe darauf, dass die moderne Gesellschaft als Hintergrund des Entzugs mit drei von Hannah Arendt entliehenen Kriterien beschrieben werden kann: Der Mensch wird als Schöpfer seiner selbst (als animal laborans) gefasst, der öffentliche Raum gilt als sozialer Raum (mit dem Verlust politischer Qualitäten), und die Unterscheidung von Autorität und Freiheit schwindet (vgl. RDP 192). Vor allem das letzte Moment entspringt unmittelbar aus der Abwesenheit und Auflösung von Formen der Transzendenz, die der Gesellschaft einst einen sie übersteigenden Grund bereitstellten (in Form der Theologie, aber auch in Form der modernen Volkssouveränität). Letztlich vollzieht sich damit eine Suspension grundlegender Alterität innerhalb der Gesellschaft überhaupt. Der Entzug des Politischen markiert sich vorrangig in einer Ausstreichung von Differenz zugunsten eines homogenen, immanentisierten sozialen Raums des schöpferischen Menschen, der sich selbst seinen Grund setzt.

Es liegt nahe, dass ein herausragendes Moment in dieser Geschichte der Immanentisierung das Werk von Karl Marx sein muss, in dem sich das Motiv der Revolution, mithin der politischen Alterität, mit dem Motiv einer Gesellschaft, in der der Mensch Schöpfer seiner selbst wird, verbindet. Dieses bei Marx bereits angelegte Problem des Verhältnisses von Revolution und Staat kulminiert realgeschichtlich im Untergang der realsozialistischen Staaten, mit denen das Scheitern eines immanentistischen Begriffs des Politischen praktisch zutage tritt. Mit diesen beiden Momenten – mit Marx und dem Scheitern der realsozialistischen Staaten – ist jedoch nicht nur ein entscheidender Bruchpunkt für die Arbeiten des Zentrums benannt, sondern darüber hinaus auch ein zentrales Motiv, um das sich die divergierenden neueren Theorien des Politischen überhaupt gruppieren lassen; und man könnte zunächst sagen, dass diese Problematik, die hier paradigmatisch an der Analyse von Lacoue-Labarthe und Nancy nachvollzogen wurde, einen einzulösenden Anspruch an jede neuere Theorie des Politischen oder der Politik stellt, insofern diese Theorie weiterhin an eine Geschichte der Emanzipation anzuknüpfen sucht. Wenn sich die Geschichte der Theorie der Emanzipation mit dem Namen Marx wie mit keinem zweiten verbindet, wird jeder neue Begriff des Politischen oder der Politik das Werk Marx’ neu befragen und sich dem Scheitern der realsozialistischen Staaten stellen müssen.

Die in diesem Band vorgestellten Autoren – Laclau, Lefort, Nancy, Rancière, Badiou – lassen sich allesamt so verstehen, dass diese Herausforderung ein, wenn nicht das entscheidende Grundmoment ihrer philosophischen Arbeit am Begriff des Politischen/der Politik bildet. Und sie sind sich auch in einer weiteren Konsequenz einig, die mit dieser Herausforderung einhergeht: Aus der gegebenen Problematik erwächst eine grundlegende Skepsis gegenüber der Figur des Staates als eines Parameters für ein Denken des Politischen bzw. der Politik, die, wie etwa bei Badiou, bis zum vollständigen Bestreiten einer solchen Funktion reichen kann. Ob durch den ›Verrat‹ des Stalinismus oder durch das Scheitern der chinesischen Kulturrevolution, evident scheint, dass die Figur des Staates dem neu zu fassenden Politischen konträr gegenübersteht. Wenngleich also die Neuausrichtung des Begriffs des Politischen sich nicht am Staat orientieren können wird, so bleibt dennoch Marx’ Denken ein notwendiger Angelpunkt, gerade insofern in ihm die Frage nach der Differenz, die das Politische auszeichnet, aufgehoben ist und hier zugleich die Problematik des Staates, in den die Revolution übergehen müsste, eine theoretische Quelle hat.

Mit Marx muss vor dem Hintergrund der französischen Diskussion dieser Problemlinien noch ein weiterer Autor genannt werden: Louis Althusser. Sein großes Verdienst ist es, durch seine Neulektüre von Marx den »Marxismus aus seiner eigenen historischen Bestimmung« herausgelöst und so »vor seinem raschen Verfall« gerettet zu haben, wie François Dosse schreibt.12 Darüber hinaus ist es Althusser, der in dieser Lektüre das Marx’sche Denken auf die Psychoanalyse hin geöffnet, die Destruktion des Humanismus und die Dekonstruktion des Subjekts vorangetrieben hat. Mit Werken wie Für Marx oder Das Kapital lesen (beide 1965) betrieb Althusser mit seinen Schülern die Refundierung des Marxismus als Wissenschaft und versuchte so, den monokausalen Ökonomismus innerhalb der marxistischen Theorien zu überwinden.

Diese Diskussionen sind von entscheidender Bedeutung, denn Althusser übte im Umfeld der École normale supérieure über ein Netz verschiedener intellektueller Kreise, Zeitschriften und Verlage, aber auch vor dem Hintergrund der Debatte mit der KPF, deren langjähriges Mitglied er war, großen Einfluss aus. Kaum einer der entscheidenden Theoretiker dieser Zeit, der nicht den Weg oder das Werk von Althusser gekreuzt hätte, darunter Michel Foucault, Jacques Derrida und Jacques Lacan. Von den in diesem Band vorgestellten Autoren sind es sicherlich Rancière und Badiou, die am direktesten in der Auseinandersetzung mit Althusser standen. Rancière, ein ehemaliger Schüler Althussers, begann seinen eigenen Weg, indem er mit Althusser brach, während Badiou, der aus dem Umfeld um Jean-Paul Sartre zu Althusser stößt13, diesen bis heute als seinen Lehrer begreift. Aber auch in Laclaus Hauptwerk Hegemony & Socialist Strategy spielt die Auseinandersetzung mit Althusser eine wichtige Rolle.

Darüber hinaus sind jedoch die u.a. von Althusser eröffneten Diskussionen auch noch in der Arbeit des Zentrums präsent, etwa die Fragen nach der Rolle der Psychoanalyse, nach der Stellung der Philosophie und derjenigen des Subjekts: Während für Lacoue-Labarthe und Nancy hinter den Fragen der teleologischen Geschichtsordnung, des Staats und der Vollendung des Politischen die Metaphysik des Subjekts als Frage der Selbst-Präsenz aufleuchtet, ermöglicht es ihnen die Psychoanalyse, vor allem in ihrer Lacan’schen Variante, andere denn selbst-identische Strukturen anzuvisieren. Und diese Verschiebung betrifft dann auch die Rolle der Philosophie. Im Gegensatz zur sogenannten ›politischen Philosophie‹, die ›die Politik‹ als ein von ihr zu erkennendes Objekt bestimmt, gilt es nun, auch die Philosophie in der Abhängigkeit von der Politik bzw. dem Politischen oder, mit einem Wort Badious, in ihrer Bedingtheit durch die Politik / das Politische zu begreifen.

Wenn also ein Strang eines neuen Denkens des Politischen bzw. der Politik sich aus den Konsequenzen des Scheiterns des Realsozialismus speist, so kann zu diesem noch ein paralleler und ebenso entscheidender Strang hinzugefügt werden, der die Frage der westlichen Demokratien und ihrer Entwicklung betrifft. Auch zur Entfaltung dieses Moments kann man noch einmal auf die programmatischen Texte von Nancy und Lacoue-Labarthe im Rahmen des Zentrums zurückgehen.

Gegenüber dem Entzug des Politischen, der sich genauer als Entzug von Alterität verstehen lässt, markieren die Autoren als Kehrseite dieses Differenzentzugs die Ausprägung eines neuen Totalitarismus. Dieses im Eröffnungstext des ersten Bandes des Zentrums benannte Merkmal wird im zweiten Band noch einmal weiter spezifiziert. Auf der einen Seite hebt die ausgedehnte Präsenz des Politischen jegliche Differenz auf und eröffnet eine Situation, in der alles und damit zugleich nichts politisch ist. Auf der anderen Seite sind die totalitären Systeme des Faschismus und des Stalinismus, die für eine »Resubstantialisierung […] des ›politischen Körpers‹« stehen (RDP 189), eine Antwort auf die durch das Verschwinden transzendenter Begründungen in die Demokratie eingetragene Krise. Zugleich wäre nun aber, so die Autoren, für die westlichen demokratischen Gesellschaften eine neue, ›weiche‹ Spielart des Totalitarismus zu benennen. Das Soziale in den modernen Demokratien – und hier verweist der Text auf Lyotards Das postmoderne Wissen sowie die bereits angeführten Kriterien von Arendt – scheint eine neue Spielart des Totalitarismus zu eröffnen, in deren Linie über Techniken (der Meinungen, der Medien) und eine Ideologie des Konsenses eine neue Homogenisierung des Politischen hergestellt wird. Im Herzen der westlichen Demokratien entwickelt sich folglich ein neuer Totalitarismus, und die (in gewisser Weise die politische Theorie der Moderne begründende) Alternative von Demokratie und Totalitarismus ist daraufhin neu zu befragen. Wenn das Politische in seinem Entzug als ein Verschwinden von Alterität zu verstehen ist, dann ist der Einzug eines neuen, ›weicheren‹ Totalitarismus, verstanden als Homogenisierung, die logische Konsequenz, die es zu denken gilt.

Dieses Moment, das sich an den Arbeiten Lacoue-Labarthes und Nancys nachvollziehen lässt – dass also die moderne westliche Demokratie sich zu einem politischen System entwickelt hat, das seinen Anteil an der Auflösung der Alterität hat –, kann als ein weiteres gemeinsames Merkmal emanzipatorischer Theorien des Politischen festgehalten werden. Ob sich dies in dem Zweifel ausdrückt, dass Demokratie noch ein geeigneter Name für Politik / das Politische sein könne (wie bei Badiou), ob ein radikales Verständnis von Demokratie gegen die postpolitischen Gesellschaften gewendet wird (wie bei Rancière) oder ob die moderne Demokratie in ihrer koextensiven Entwicklung mit dem Kapitalismus problematisiert wird (wie bei Nancy): Demokratie kann nicht mehr als Gegensatz des Totalitarismus verstanden werden, sondern die Ununterscheidbarkeit beider (die in einer anderen Form auch Lefort in den Blick rückt) erfordert ein neues, kritisches Nachdenken über den Begriff der Demokratie selbst.

Die beiden angeführten Momente – das Scheitern des Realsozialismus und der Zweifel an der Demokratie – begründen die Versuche, den Begriff des Politischen bzw. der Politik neu zu entwerfen. Dies gilt auch bereits für die Arbeit des Zentrums: Für Lacoue-Labarthe und Nancy führt die Schließung des Politischen zu einer Verunmöglichung, in der jedoch zugleich die Notwendigkeit und die Möglichkeit wurzeln, das Politische neu zu denken. In dieser theoretischen Bewegung, die die Autoren auch als Anforderung an die Philosophie kennzeichnen, ist zugleich eine Frage zu erkennen, die insbesondere an die Philosophie der Dekonstruktion adressiert ist. Wenn es für die Dekonstruktion aufgrund ihrer die Grundlosigkeit jeglichen Grundes hervorkehrenden Geste von jeher schwierig war, einen Begriff des Politischen/der Politik zu formulieren, weil ein solcher notwendigerweise auf ein eigenständiges Prinzip oder Axiom verweisen muss, dann setzt die Arbeit des Zentrums ihren Ausgangspunkt an genau dieser Stelle. Gegenüber dem dekonstruktiven Verständnis, die Bedingungen der Möglichkeit als Bedingungen der Unmöglichkeit zu erkennen, lässt sich hier bei Lacoue-Labarthe und Nancy der Anspruch verfolgen, die Bedingungen der Unmöglichkeit als aktuelle Bedingungen der Möglichkeit verstehen zu müssen.

In diesem Sinn wird auch verständlich, weshalb Nancy und Lacoue-Labarthe darauf insistieren, dass die Befragung des Entzugs des Politischen selbst eine politische Geste sei. Die Analyse des Entzugs nimmt die Form einer politischen Praxis insofern an, als sie eine Unterbrechung der scheinbaren Omnipräsenz des Politischen und seines Auftretens als neuer, ›weicher‹ Totalitarismus markiert. Wo alles politisch ist, ist tatsächlich nichts mehr politisch. In dieser Wüste des Politischen soll aber die Analyse des Entzugs die erste Geste sein, mit der eine Differenz zurückgewonnen wird. Ausgehend von der Spur des Entzugs lässt sich »die neue Frage hervorbringen, die für uns die Frage nach seiner Essenz ist« (LNO 18). Das Nachdenken über die Beantwortung der Frage, was der Entzug des Politischen bedeutet, soll so zugleich die Arbeit an der neuen Formulierung der Essenz des Politischen sein.

Hiermit lässt sich schließlich ein weiteres Kriterium benennen, das nun aber eine Anforderung an die Neubestimmung des Politischen stellt. Dieser neue Begriff kann, so lässt sich am Paradigma des Entzugs verdeutlichen, kein einfach kritischer oder rein negativer mehr sein, da schon der Entzug sich nicht von etwas ab- oder gegen etwas durchsetzt, sondern sich als Erfüllung oder Schließung ausbildet. Mit dem neuen Begriff des Politischen muss ein anderes Verhältnis zur Frage der Negativität ausgearbeitet werden, da dieser Begriff sein Profil nicht mehr allein einer Operation kritischer Distanzierung verdanken kann. Dies ist jedoch weniger der Fall, weil die Unterscheidungskriterien weggefallen wären und nicht mehr ersichtlich wäre, in Bezug auf was eine kritische Distanz einzunehmen sei. Die Überprüfung der Möglichkeit der Kritik ergibt sich vielmehr daraus, dass sie in einem solchen Maße am Kritisierten ausgerichtet ist, dass in ihrer Konsequenz letztlich (beispielsweise) ein (realsozialistischer) Staat mit emanzipatorischer Programmatik gegen einen anderen (kapitalistischen) steht. Gerade dieses Modell ist aber gescheitert. Das weitere Kriterium für eine Neubestimmung emanzipatorischer Theorie besteht deshalb in einer notwendigen Arbeit am Konzept der Negativität.

Die in diesem Buch vorgestellten Theorien lassen sich durch diese Motive verketten, auch wenn sie in ihnen nicht alle in gleichem Maße auffindbar sind. Sie entfalten sich vor dem Hintergrund der Erfahrungen des Stalinismus und des Zweifels an den modernen Demokratien, sie versuchen, die Kategorie der Emanzipation neu zu entfalten, und sie arbeiten in dieser Hinsicht an anderen Konzeptionen der Negativität. In den unterschiedlichsten Ausprägungen unterstreichen sie die Notwendigkeit einer Unterscheidung zwischen einem Feld, in dem Praxis, Theorie und Politik verknüpft sind, und einem (in den modernen Demokratien vorherrschenden) Verständnis von Politik, das diese auf die bloße Verwaltung der Gesellschaft reduziert. Bereits während ihrer Arbeit am Zentrum vollziehen Lacoue-Labarthe und Nancy eine solche Distinktion über die besagte Unterscheidung zwischen dem Politischen und der Politik, die großen Einfluss auf Theorien in ihrem Umfeld haben wird.

Man muss sich jedoch vor Augen halten, dass die Ausgestaltung der Differenz zwischen dem Politischen (le politique, the political) und der Politik (la politique, politics) in den fünf Theoriebildungen, die der vorliegende Band vorstellt, überaus unterschiedlich ausfällt und dass diese Differenz zudem schon allein in terminologischer Hinsicht alles andere als einheitlich bzw. eindeutig gehandhabt wird. Eine Dimension von Gründung betrifft das Politische am klarsten wohl bei Claude Lefort. Nach ihm bringt sich das Politische dort ins Spiel, wo es um die Weise der Erzeugung der gesellschaftlichen Teilungen und Differenzierungen geht, und meint das »Prinzip der Interiorisierung, welches eine [jeweils] einzigartige Weise der Ausdifferenzierung und des In-Beziehung-Setzens der Klassen, Gruppen und der Stände« hervorbringt (FTP 39). Als »In-Form-Setzen« (FTP 37) des Sozialen ist das Politische ein generatives Moment. Demgegenüber ist die Politik das Produkt einer sektorialen Eingrenzung, die ihrerseits aus dem Politischen, das nicht Form, sondern Formgebung ist, resultiert. Die Politik umfasst die Sphäre der instituierten Verteilung, Verwaltung und Ausübung von Macht, die Sphäre des Staates und dessen, was sich auf ihn bezieht. Mit Niklas Luhmann könnte man sagen, dass für Lefort die Politik ein Sektor innerhalb einer systemischen Differenzierung ist, mittels derer ihr spezifische Zuständigkeiten zugewiesen sind, die wiederum neben die Zuständigkeiten der übrigen Sektoren (Ökonomie, Recht, Wissenschaft, Kunst etc.) treten. Ein generatives Moment ist das Politische auch für Ernesto Laclau, wenn er es als »Moment der Instituierung des Sozialen« (PR 154) bestimmt, während für ihn die Politik eine Dimension innerhalb des durch das Politische Instituierten ist. Allerdings ist für Laclau das Politische nicht in derselben Weise Formgebung wie für Lefort. Vielmehr fasst er es diskurstheoretisch als fortwährende Produktion eines hegemonialen Zusammenhangs, die ihrerseits im Rahmen eines als kontingent zu verstehenden Antagonismus operiert. Konzeptuell anders noch liegen die Dinge bei Jacques Rancière, der anstelle der terminologischen Differenz von ›Politischem‹ und ›Politik‹ diejenige von ›Politik‹ und ›Polizei‹ betont, wobei ›Polizei‹ eine ähnliche Bedeutung hat wie ›Politik‹ bei Lefort und Laclau. Rancières Begriff der Politik – in der Terminologie Leforts und Laclaus: das Politische – hingegen betrifft das, was von einer gegebenen Ordnung als deren inkommensurabler Teil produziert wird und innerhalb dieser Ordnung Streit hervorruft. Was für Rancière eine gegebene Ordnung ist, ist dabei nicht im herkömmlichen Sinne als politische Form einer Gesellschaft zu verstehen, sondern sehr viel umfassender: als eine Aufteilung des Sinnlichen. Politische Aktivität gestaltet sich entsprechend und gleichermaßen umfassend als »Intervention in das Sichtbare und das Sagbare« (ZT 32). Rancière berührt die Unterscheidung Politik/Politisches nur im Vorübergehen, um sich dann vollständig auf die Politik als Bühne des Streits zu konzentrieren. Für die Konzeption Badious wiederum spielt die Unterscheidung kaum eine Rolle, sein Denken gilt der politischen Subjektivität, die sich in der Entfaltung von Ereignissen in der Politik bildet. »Das Politische ist immer nur die Fiktion gewesen, in welche die Politik das Loch des Ereignisses schlägt«, schreibt Badiou in Ist Politik denkbar? in direkter Auseinandersetzung mit Lacoue-Labarthe und Nancy (IPD 18). Nancy schließlich wird die von ihm mitgeprägte Unterscheidung fallen lassen und seine Aufmerksamkeit Bereichen widmen, auf die hin Politik (unter der er weiterhin staatlich-repräsentative Politik versteht) sich zu öffnen hat. Vor allem aber fokussiert Nancy – ähnlich wie Badiou – auf eine ontologische Ebene der Diskussion. Im Gegensatz zu Badiou, der eine Ontologie der Leere entwickelt, sieht Nancy jedoch die Frage des Mit-Seins auf der Ebene des Seins gegeben und grundiert damit einen ontologischen Begriff des Kommunismus.

In diesen Unterschieden zeichnet sich bereits ab, dass verschiedene Konsequenzen aus einem geteilten historischen Problemfeld zu Differenzen zu führen vermögen, die letztlich die Berechtigung infrage stellen könnten, die im Folgenden vorgestellten fünf Philosophien des Politischen und der Politik in einem Band zu vereinen. Um nur ein Beispiel zu nennen: Wenn für Nancy die Rolle des Subjekts in der Neuausrichtung des Begriffs des Politischen überwunden werden muss, so lässt gerade die Notwendigkeit einer affirmativen Kraft des Politischen / der Politik Autoren wie Rancière und Badiou am Konzept des Subjekts festhalten, eines Subjekts allerdings, das sich nun seiner metaphysischen Selbst-Präsenz entledigt hat und die Form eines – wie sich mit Rancière formulieren ließe – Subjekts im Streit annimmt, das, weil dynamisch und nicht identisch, die Form einer Alterität selbst geworden ist. Damit jedoch verabschieden sich diese Ansätze von dekonstruktiven oder postmodernen Konzepten und müssen zugleich insofern als eine Kritik Lacoue-Labarthes und Nancys verstanden werden, als diese letztlich nicht zum Begriff einer politischen Praxis gelangen. Oder, um noch ein weiteres Beispiel zu geben: Rancières und vor allem Badious Frage nach der historischen und begrifflichen Singularität einzelner Politiken lässt sich kaum mit der von Lefort entfalteten Logik des ›leeren Ortes der Macht‹ vereinbaren, weil dieser Ort sich strukturell der Singularisierung entzieht.

Kurzum, der vorliegende Band verfolgt ein doppeltes Ziel. Zum einen will er dazu beitragen, das den fünf Autoren gemeinsame Problemfeld in seiner Aktualität sichtbar zu machen. Zum anderen aber sollen die Differenzen, die sich gerade in der Bearbeitung dieses Problemfeldes zwischen den fünf Autoren ergeben, nicht zum Verschwinden gebracht werden. Dementsprechend folgen die kurzen Studien zu den einzelnen Autoren keinem verallgemeinerten Muster, sondern versuchen, schlaglichtartig zentrale Motive herauszuarbeiten, ohne diese wiederum untereinander zu einer umfassenden Systematik verknüpfen zu wollen.14 Eine solche kann im Rahmen einer Einführung nicht das Ziel sein. Stattdessen hat dieses Buch sein Ziel erreicht, wenn es die Diskussion über die Notwendigkeit, den Begriff des Politischen neu zu definieren, voranbringt und wenn es zugleich die Auseinandersetzung über aufhebbare und unaufhebbare Differenzen zwischen den hier vorgestellten theoretischen Entwürfen als einen Teil dieser Diskussion befördert.

Die Kapitel zu Ernesto Laclau und Claude Lefort im vorliegenden Band stammen von Uwe Hebekus, die Kapitel zu Jean-Luc Nancy, Jacques Rancière und Alain Badiou von Jan Völker.

Die Autoren möchten Annika Bach, Esther von der Osten und Frank Ruda für Hinweise und erste Lektüren danken. Steffen Herrmann danken die Autoren für die professionelle Betreuung des Manuskripts.

1. Ernesto Laclau

1.1 Politische Erfahrung und Post-Marxismus

Mit großer Entschiedenheit kennzeichnet der Argentinier Ernesto Laclau, geboren 1935 in Buenos Aires, seine politische Theoriebildung als eine post-marxistische. Zwar habe der Marxismus, verstanden als ein geschlossenes theoretisches System, schon wegen der historischen Entwicklung selbst all seinen Kredit verspielt, jedoch seien einzelne Grundimpulse und Elemente marxistischen Denkens zu bewahren und zu transformieren. »Ich habe«, so erklärt Laclau 1988 in einem Interview, »den Marxismus nicht verworfen. Vielmehr hat sich etwas ganz anderes ereignet. Es ist der Marxismus selbst, der zerbrochen ist. Ich aber glaube, daß ich an den besten Bruchstücken festhalte, die er hinterlassen hat.« (NR 201) Welcher Marxismus genau aber ist es, der in Laclaus Blick Schiffbruch erlitten hat, und zwar nicht erst seit den späten 1980er Jahren? Und welches der von ihm übrig gebliebenen Fragmente verdient es, post-marxistisch beerbt zu werden?

In Laclaus Hauptwerk Hegemony & Socialist Strategy. Towards a radical democratic politics (dt. Hegemonie und radikale Demokratie. Zur Dekonstruktion des Marxismusökonomistischen DeterminismusKlassenreduktionismus