Cover

Nina Ender

Siegfried simulieren

Ein Personenkreis der anderen Art

FELIX BLOCH ERBEN

Verlag für Bühne, Film und Funk

Inhaltsverzeichnis

Title Page

Personenverzeichnis

1 / DARMDRACHENZÜCHTER (ALBERICHS ERBEN)

Chor der Darmbakterien I – Der Nibelungenhort

2 / DER RAUCHRITTER

Chor der Darmbakterien II – Siegfrieds verletzliche Stelle

3 / IM KÖNIGREICH DER WÖRTER (DIE HÜTERINNEN DER SIEBENSPRACHIGEN)

4 / DAS METALLMÄDCHEN

Chor der Darmbakterien III – Hagens planendes Schützen und Rüsten

5 / DAS WUSCHELTIERMÜTTERLEIN

6 / DER EINHORNCLOWN

7 / IN DER DRACHENHÖHLE (DIE BÄRTIGE PRINZESSIN, DER ZWEIKÖPFIGE FEUERDRACHE UND SEIN KNAPPE MIT TARNKAPPE)

Chor der Darmbakterien IV – Der Widerstreit der beiden Prinzipien:

8 / DIE TRÄNENTÖTERIN

9 / THEO

Über die Autorin

Über das Stück

Impressum

Personenverzeichnis

Juniorprofessoren (Forschungsteam)

TÜV-Prüfer

Theo, ein kleiner Junge

Junge Mutter, Theos Mutter

Kindergarten Gründerinnen

Programmiererin

Junge Ärztin (Frau Doktor Hagen)

Grundschullehrer/in (Frau/Herr Großfuß)

Showmasterin

Assistent des schizophrenen Feuerspuckers

Schizophrener Feuerspucker (Sebastian Weinberger)

Chor der Darmbakterien

Sowie: Probanden, Passanten, Showpublikum, Kammerzofen, Eltern beim Elternabend …

Besetzung variabel.

1 / DARMDRACHENZÜCHTER (ALBERICHS ERBEN)

Junge, aufstrebende Juniorprofessoren treten mit Maus in einem Käfig unterm Arm vor den Vorhang, lassen ihre Blicke kurz übers Publikum schweifen.

Unter den Zuschauern sind der TÜV-Prüfer, die Kindergarten Gründerinnen, die Programmiererin, die junge Mutter, Grundschullehrer/in Goss-Fuß, die Showmasterin sowie der schizophrene Feuerspucker und sein Assistent …

Das Forschungsteam setzt zu sprechen an:

JUNIORPROFESSOREN
Verehrtes Publikum.
Im Theater ist es immer ein schlechtes Zeichen, wenn vor der Vorstellung jemand vors Publikum tritt.
Bestimmt fragen Sie sich jetzt, was ist passiert.
Funktioniert ein Scheinwerfer nicht, lässt sich die Drehbühne nicht in Bewegung setzen?
Bekommen wir unser Geld zurück und werden nach Hause geschickt?
Die kleine Welt, die hier allabendlich erzeugt wird, ist so fragil, dass es schnell geht, dass sie ins Wanken gerät, genau wie das Leben selbst, von dem sie erzählt.
Zwar verfolgt das hier Dargebotene einem genauen Ablauf nach Plan, eine schlüssige Fassung, wie sie das Leben nie bieten kann, will insofern nicht das Leben selbst sein, sondern nur ein Abbild davon, doch ist es keine konservierte Zeit, es ist immer noch ein lebendiges Bild, es treten junge Menschen vor Sie hin, die in jedem Moment des Spieles auch ihr Leben leben. Genau wie Sie selbst –
Sie haben eine Zeit gemeinsam verbracht, etwas erlebt, sich etwas er-lebt!
So kann das Leben natürlich auch hier drinnen, trotz Bemühen sich abzusichern, Feuerwehrmänner in die Ecken zu setzen, die Fenster zu verhängen, die Welt und ihre Unabwägbarkeiten auszusperren, allem Ausgedachten jeden Augenblick einen Strich durch die Rechnung machen –

(Ein kleiner Schauspieler streckt seinen Kopf durch den Spalt im Vorhang.)

Wenn beispielsweise jenem hier jetzt dieser Scheinwerfer dort auf den Kopf fällt, weil sich just die Halterung gelöst hat, dann ist das was anderes, als wenn etwa im Kino die Glühbirne des Projektors platzt und das Gesicht auf der Leinwand auslöscht.

Eben diese ineinandergreifenden Ebenen, ein Abbild davon und zugleich das Leben selbst zu sein, das ist es, was die Zusammenarbeit mit dem Theater für unser Institut so interessant macht.
Sie ahnen es schon, der Abend kann gleich wie geplant losgehen, keine Panne ist passiert, die uns dazu führt, hier zu Ihnen zu sprechen.

Ich darf Sie, was das angeht, nicht nur beruhigen, im Gegenteil, sogar beglückwünschen:

Mit dem Kauf einer Eintrittskarte für diese Aufführung haben Sie sich qualifiziert, an unserem neuen Forschungsprojekt teilzunehmen!

Wie Sie wissen, steht und fällt der Erfolg jedes wissenschaftlichen Forschens mit der Auswahl der Stichprobe!
Es ist deshalb ein besonderer Glücksfall, hier mit dem Publikum einen überschaubaren Pool an potenziellen Probanden versammelt zu haben. Einerseits zufällig zusammengemixt, zum andern verbunden durch ein thematisches und theatrales Interesse, das Sie zum Besuch dieser Vorstellung bewog. Es zeugt genau von dem Grad an gesundem Bauchgefühl und geistiger Erregtheit, den wir für unsere Studie suchen.
Sie alle, wie Sie hier sitzen, erfüllen somit perfekt die Kriterien, an unserem Forschungsprojekt teilzunehmen!

Und zwar: unabhängig von Ihrem Aussehen (Blick zu einer Person), Ihren Leistungen (Blick zu einer Person), Ihrem Geld (Blick zu einer Person).
Unser Interesse gilt: Ihrer Scheiße.

Lachen Sie jetzt nicht.
Ihr Stuhl ist genau der Grund, warum wir hier sind.
Sie glauben mir nicht?
Dann will ich es Ihnen beweisen:

Haben Sie einen keimfreien Darm?
Nein. Das will ich wohl meinen.
Aber sehen Sie sich diese Maus an. Sieht sie glücklich aus?
Sitzt einsam im Eck. Interessiert sich nicht für ihre Artgenossen.
Und soll ich Ihnen jetzt was verraten?
Diese Maus hat so einen.
Einen komplett keimfreien Darm.

Und jetzt verrat ich Ihnen noch was. Sobald wir ihren Darm wieder von Bakterien besiedeln lassen, ist sie schon nach ein, zwei Tagen ein geselliges, auf ihre Umwelt neugieriges, von den Mitmäusen voll akzeptiertes Tier.
Die Darmbakterien kommunizieren nicht nur über den Vagusnerv mit dem Gehirn, sie schütten Botenstoffe wie Dopamin und so weiter aus, die unmittelbaren Einfluss auf unser Gehirn, genauer den Mandelkern, unser emotionales Zentrum haben.

Wir wollen jeden einzelnen Bakterienstamm Ihres Stuhlgangs isolieren, alle an so einem abenteuerlustigen und zugleich ausgeglichenen Wesen beteiligten Bakterien klassifizieren, sie vermehren – und ich werde Ihnen versprechen, Ihre Scheiße wird für all die Depressiven, die Nervösen, die Vergesslichen, Sozialphobischen, Neurosenreichen unseres Gesellschaftsbiotopes Gold wert sein.

Haben wir Ihr Interesse geweckt?
Ja. Dann möchte ich Sie bitten, sich mit meiner jungen Kollegin Frau Doktor Hagen, die im Übrigen über das Projekt promoviert und hier auch schon alle Formulare mit Hintergrundinformationen, Kontaktdaten und Ihrer Einverständniserklärung bereithält, kurz hinter die Bühne zu begeben.
Und sofern möglich sofort, ansonsten ab morgen innerhalb von den nächsten sieben Tagen täglich eine Stuhlprobe abzugeben.

(Einige aus den Zuschauerreihen erheben sich, werfen sich und den anderen Zuschauern vielleicht fragende oder nach Bestätigung suchende Blicke zu – Soll ich? Soll ich wirklich? Soll ich nicht? – begeben sich dann mehr oder weniger zögerlich, vielleicht auch voll Neugier auf die Wissenschaft zu Frau Doktor Hagen, und mit ihr dann hinter die Bühne –)

So viel können wir Ihnen schon verraten:
Der Schatz der Nibelungen liegt nicht mehr in den Tiefen des Rheins begraben, sondern im menschlichen Darm.

Chor der Darmbakterien I – Der Nibelungenhort

DARMBAKTERIEN
Oho
Hört, hört
Geschwister hört
Habt ihr das gehört

Jetzt zuletzt
Haben sie uns zum Schatz erklärt
Nachdem sie alles
Alles, alles, alles
Aus der Tiefe der Erde
Der Berge, der Meere
Gebohrt, abgebaut
Geborgen, geraubt
Weißes Gold, Schwarzes Gold, Rotes Gold
Sich immer im rechtmäßigen Besitz geglaubt

Jetzt zuletzt
Sollen wir
Ihr Hort sein
Wir, die wir bisher
Mit Scham behaftet
Mit Ekel betrachtet
Als Kot verachtet
Nur an einem Ort
Dem stillen Örtlein
Zum Vorschein
Treten durften
Aus Notdurft
Unscheinbar klein
Sollen nun ihr Rheingold sein?

Doch ist das Rheingold
Ein Sold, den teuer bezahlen solle
Wer sich seiner bemächtigen wolle
Jede Sage
Die von ihm berichtet
Beschreibt es
Jeder Vers
Der über es gedichtet
Verheißt es:
Der Fluch der Gier
Schlimmer, der Nidgier
Lastet auf ihr
Der glänzenden Pracht
Streng bewacht
Von Zwergen, Rheintöchtern, Riesen, Drachen

Egal ob Hagen
Der ihr den Gatten Siegfried erschlagen
Die Erbin Kriemhild des Hortes beraubt
Da ihm vor solchem Reichtum in ihren Händen graut
Was ihre Wut nur weiter schürt
Und die Nibelungen in den Untergang führt

Oder ob der Zwerg Alberich
Den Rheintöchtern, die es bewachten
Und die ihn erst verlachten
Das Gold aus den Wassertiefen entreißt
Weil es heißt, dass schweißt man es zum Ringe
Man Macht über die ganze Welt gewinne
Das Schmiedstück jedoch nur jenem gelinge
Der sein Herz verschließe jeglicher Minne

Oder ob sich die Nibelungen
Im Kampf umschlungen
Darum erschlugen
Riesen wie ihr
Vielleicht riesiger

Und doch sind wir Winzlinge es wert
Dass man uns so begehrt:
Vermehrt in rasender Schnelle
Pflegen wir Zote und Zelle
Trainieren eure Immunsysteme
Vernichten Gifte, produzieren Proteine, Vitamine
Und fünfundneunzig Prozent eurer Glückshormone

Und vermögen es
Über den Vagusnerv
Der durchs Bauchfell
Zwischen Lunge und Herz
Längs der Speiseröhre entlang
Seine Enden direkt ins Gehirn streckt
Geradewegs Reize bis ins Frontalhirn zu senden

2 / DER RAUCHRITTER

TÜV-PRÜFER
Ich weiß nicht, warum Autos nicht aus Glas sind.
Aus Plexiglas, mein ich. Panzerglas. Bruchsicher natürlich.
Aber durchsichtig.
Durch und durch durchsichtig.
Ich weiß nicht, warum ich mich das nie gefragt habe.

Ich bin rückwärts aus dem Hof gestoßen und rechtsrum auf die Straße gebogen. Und hab dabei vielleicht einen Millimoment zu lang in den Rückspiegel geschaut, denn in dem Augenblick, in dem ich nach vorn setz, hör ich auch schon das leise Boff. Oder Flapp. Ich möcht fast schwörn, es war genau beim Einlegen vom Vorwärtsgang. Ich denk noch, es hängt was in der Gangschaltung. Als ich den Kopf nach vorn dreh. Boff. Ich wusst überhaupt nicht, wo das herkam. Rechts von mir alles zugeparkt, ohne Parkstreifen, alle halb auf dem ohnehin schmalen Gehweg. Ein leises Flapp. Wie ein Flügelschlag. Jeder hat das schon mal erlebt, wenn ein Vogel gegen die Fensterscheibe fliegt.

Der Aufprall war minimal, das kann ich beschwörn, weil das kleine Plastikröhrchen, eben befüllt mit meiner ersten Stuhlprobe für das Darmbakterienforschungsexperiment, rollt von der Erschütterung nicht mal vom Armaturenbrett runter. Ich schieb es wieder nach vorn, bis an die Scheibe, es ist noch warm und abertausende Bakterienaugen scheinen mich vorwurfsvoll daraus anzustarrn.