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Arezu Weitholz

Beinahe Alaska

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© 2020 by mareverlag, Hamburg

Covergestaltung Nadja Zobel, Petra Koßmann, mareverlag
Coverabbildung Arezu Weitholz

Typografie (Hardcover) mareverlag, Hamburg

Datenkonvertierung E-Book Bookwire

ISBN E-Book: 978-3-86648-386-6

ISBN Hardcover-Ausgabe: 978-3-86648-640-9

www.mare.de

Inhalt

Es wird

Eismitte

Nasser Sack

Herr Mücke

Das Kinderthema

Blattläuse

Der beste Platz

Auf See 1

Der Schriftsteller

NgLj-2

Starren

Auf See 2

Sesselperspektiven

Eis 1

Unbewohnt

Lamento

Nichts

Eis 2

Südwärts

Lewis

Elfen

Farbe

Konjunktive

Die Hutnadel

Komme gleich wieder

Auf See 3

Ich könnte

Über das Buch

»Die Arktisbegeisterung ist ein periodisches Fieber, das nach Phasen gewisser Gleichgültigkeit in epidemischer Form wiederkehrt.«

Aus einer US-Zeitschrift von 1893

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Es wird

Es wird keinen Mord geben, keine Leichen, kein Monster, keinen Unfall, keine abgefrorenen Nasen oder Zehen. Es wird niemand schneeblind werden, keiner wird ertrinken oder festfrieren, sich das Bein brechen oder einen Anfall erleiden, obwohl ein gewisser Blutverlust durch gemeine Bisse von gefräßigen labradorianischen Bremsen zu beklagen sein wird. Niemand wird ein Walross oder einen Narwal sehen, und ein Eisbär wird sich nur in sehr großer Entfernung blicken lassen. Keiner wird die Aurora für das Totenleuchten der Geister halten. Es werden keine Schamanen singen, es wird kein Gold gefunden werden, kein Mammut wird aus dem Permafrost auftauen und auch kein Polarwurm. Es wird kein Mann und auch keine Frau über Bord gehen, es wird nicht knapp, nicht eng, nur kalt und gelegentlich ein bisschen böse. Die Abgründe bleiben in den Menschen. Man wird sie bloß spüren. Stattdessen wird es um das ganz normale Leben gehen, in dem man ein bisschen redet und ein bisschen lügt, in dem einem die Menschen fremd vorkommen, seltsam und hässlich, dann wieder freundlich und warm. Das Leben, das man als einsam empfindet, weil es das ist. Es wird eine Aussicht geben, eine Leere, in der alles entstehen kann – und nichts. Die Polarsonne wird leuchten, und man wird die trockene, sauerstoffarme Luft der Arktis atmen, in der alles überdeutlich zu sehen ist. Es wird keine monatelange Dunkelheit hereinbrechen, kein Wintersturm heulen, kein Gletscher wird bersten. Das Meer wird dem Land keine Küste abreißen, doch der Permafrost wird tauen, der Regen wird fallen, auf Moos, auf Gräber, auf verlassene Häuser an einem verlassenen Strand auf der größten unbewohnten Insel der Welt. Es wird lyrische Bäume und Gespenstertannen geben. Die ältesten Steine der Welt werden in Fjordwänden aufragen, hinter denen Schamanen (dann doch!) in die Geisterwelt entschweben. Es wird Inseln geben, auf denen Touristen in orangen Jacken auf den Toten herumtrampeln. Gierigen Nebel, der nur daraufwartet, dass man woandershin schaut. Elfen aus Glas, die in Fenstern hängen, mit Blick auf etwas Böses. Man wird lachen, wie um Ungeheuer zu vertreiben. Man wird essen und den Appetit verlieren. Es wird ignoriert werden, hinweggesehen, vermessen, beschwert und gefordert. Menschen werden schimpfen, quasseln, nerven, sie werden lächeln, verzeihen und wieder ausatmen. Sie werden aus dem Fenster sehen, in ihre Bücher – und aufs Meer. Sie werden mit einem Schiff fahren und aufs Meer schauen.

Eismitte

War das der Himmel? Ich schaute hinab auf eine gewaltige weiße Fläche. Es war ein Weiß, das ich so noch nie gesehen hatte. Es war unwirklich, hell, es leuchtete aus sich heraus und reichte bis zum Horizont, wo sich die Ebene wölbte, sodass ich die Erdkrümmung erkennen konnte. Ich griff zur Kamera, legte sie wieder weg, man konnte das nicht fotografieren oder filmen. Es war ein gänzlich blindes Weiß. Einsamkeit, dachte ich, vielleicht sah so die Einsamkeit aus.

Wir flogen über die Gletscher von Grönland, die größte zusammenhängende Eisfläche der Welt. Wenn sie schmolz, würde der Meeresspiegel um sechs Meter steigen, so gewaltig war die Eismasse, die auf dem grönländischen Kontinent saß wie eine Kugel Eis in einem sehr flachen, sehr weiten Becher. Die Geräusche im Flugzeug rückten in den Hintergrund, das Geschwätz der Menschen, das Brummen der Motoren. Dort unten war Alfred Wegener erfroren. Er hatte bewiesen, dass die Kontinente früher eine zusammenhängende Landmasse gewesen waren. 1930 war er von seiner Forschungsstation Eismitte aufgebrochen, weil die Vorräte nicht gereicht hätten. Unterwegs waren er und sein Assistent von den Winterstürmen überrascht worden. In letzter Zeit fühlte ich mich immer öfter wie Wegeners Urkontinent – als wäre ich zerbrochen und meine Teile drifteten nun langsam, aber unwiderruflich voneinander weg.

Ein Geräusch riss mich aus meinen Gedanken. Als ich wieder hinausschaute, sah ich im Flugzeugfenster winzige Rillen, als hätten die Wolken von außen mit spitzen Fingernägeln an die Scheibe gekratzt. Ich griff zum Skizzenbuch, doch ich konnte den Blick nicht von dem Weiß hinter den Kratzern lösen. Es leuchtete bis in die hinterletzte Ecke meines Kopfes und entblößte die Dinge, wie sie waren.

Da unten wartete keiner mehr. Ich hatte meine Eltern verloren, ich hatte mein Kind verloren, obwohl verloren das falsche Wort war, denn es klang, als hätte man etwas verbummelt oder verlegt, aus Schusseligkeit ist es einem aus der Tasche gefallen, durchs Netz oder durch ein Loch im Mantel. Verloren klingt, als hätte man beim Roulette auf die falsche Zahl gesetzt. Meine Eltern sind mir abhandengekommen. Das klang schon anders. Mein Kind ist mir nie geschehen. Auch das klang besser. Damit konnte man leben.

Meine Mutter starb vor einigen Jahren einen qualvollen Tod. Davor kamen mir andere Menschen abhanden, darunter ein Vater, eine große Liebe und mehrere Verwandte, die ich gerne als Erwachsene kennengelernt hätte, aber so darf man nicht denken. Man soll nach vorne sehen, die nächsten Schritte gehen, das Kreuz in den Wind drehen, damit der Sturm die alten Gedanken aus dem Kopf pustet, den Staub, den Moder, damit sich nichts festsetzen kann, so wie im Körper feststeckende Knoten irgendwann zu einem Geschwür werden können, das einen das Leben kostet. Man muss nach vorne schauen.

Mein Beruf gestattete es mir, dauernd nach vorne zu sehen. Ich sollte Bilder aus der Arktis mitbringen. Fotos, Skizzen, Zeichnungen, egal, Hauptsache, sie fingen die Stimmung ein. »Wie ist es da?«, hatte meine Verlegerin die Luft zwischen uns gefragt. »Was sieht man da? Wie fühlt sich das an?« Und so saß ich nun in dieser nach vorne schauenden Verfassung, einer klaren und rundum unverwandten, also anhanglosen Verfassung, an Bord eines Flugzeugs und flog über die Eiskappe Grönlands.

Ich hatte gelesen. Über die Eisdrift, den Eisblink und den magnetischen Nordpol. Über Schweröl und den Permafrost, über die Inuit und Nilas-Eis, über John Franklin und über die schwarz-weiße Labrador-Ente, die leider ausgestorben war, so wie der Große Alkvogel und der Dodo.

Ich hatte eingekauft. Warme Socken, eine dicke Jacke, Handschuhe, eine neue Mütze, ein neues, besseres Objektiv für meine alte Nikon, warme Unterhosen und noch mal dicke Socken, man konnte nie wissen.

Ich hatte mich verabschiedet. Meine Bekannten demonstrierten in Berlin gegen den Klimawandel. Ich würde ein Schiff besteigen, das eine Route fuhr, die überhaupt nur wegen der Erderwärmung langsam schiffbar wurde. Die Nordwestpassage.

Wir würden von der Südspitze Grönlands nach Norden fahren, bis zur Diskobucht, dann westwärts über den Atlantik und durch das arktische Labyrinth der kanadischen Küste bis nach Alaska. Die Reise sollte zweieinhalb Wochen dauern. Das Schiff war ein Passagierschiff, aber vergleichsweise klein, es passten nur einhundert Passagiere drauf. Die Reederei hatte diese Reise als Expeditionskreuzfahrt verkauft, das bedeutete: wenig Unterhaltung, kein Ballermanntourismus, dafür Vorträge, Landausflüge und große Panoramafenster. Das Schiff hatte sogar einen Hybridmotor und fuhr ohne Schweröl, doch es war immer noch – da hatten die Bekannten nicht unrecht – eine ökologische Sauerei. Sie waren aber nicht wegen meines CO2-Fußabdrucks schockiert, ein Thailandflug hätte sie kaltgelassen. Sie empörten sich, weil man in der Arktis aus nächster Nähe beobachten konnte, wie die Welt vor die Hunde ging. Weil die Arktis, der letzte unberührte Ort, bisher unzugänglich, unwirtlich und karg, nun in greifbarer Nähe war. Der letzte weiße Wal, am Haken.

Ich schaute nach vorn. Das Blau über dem Eis stand dem Weiß in seiner Klarheit in nichts nach.

Nasser Sack

Narsarsuaq, Grönland

»Willkommen in Nasser Sack«, hatte der Pilot bei der Landung gesagt, zumindest klang Narsarsuaq so aus seinem Mund. Einwohner: 102. Mit mir und den anderen Passagieren 202.

Ich ging hinter zwei Frauen, die sich angeregt unterhielten. Sie marschierten mit festem Schritt zwischen nassgrauen Felsen und silbergrau bewachsenen Hängen zum Hafen. Beide waren so gekleidet wie die Leute auf den Werbetafeln im Outdoor-Bekleidungsladen: knollenförmige Wanderschuhe, Rucksäcke, Windjacken und diese Hosen mit dem Reißverschluss, die sich lang oder kurz tragen ließen. Hinter mir schlenderte ein Paar, das sich auf Deutsch unterhielt. Der Himmel leuchtete in einem gepuderten Himmelblau.

Wenn man alleine reist, fällt man auf, weil man immer aussieht wie jemand, dem etwas fehlt. Ein Partner, eine Aufgabe, eine Unterhaltung. Aber vielleicht empfand ich das auch nur so. Vielleicht kümmerten sich die anderen Leute gar nicht um mich. Vielleicht war ich unsichtbar geworden. Eine alleinstehende Unsichtbarkeit.

Wieso überhaupt alleinstehend? Wieso nicht alleingehend oder alleinliegend oder alleinlaufend? Als stünde man die ganze Zeit herum, so alleine. Zu einem Paar würde ja auch keiner sagen: »Ach, Sie sind wohl zusammenstehend.« Eine alleinstehende Person ist eine statische Angelegenheit, ein Verharren, als würde sie darauf warten, dass etwas beginnt.

Die Einwohner von Nasser Sack waren ebenfalls unsichtbar, zumindest sah ich keinen auf der Straße. Vor dunkelroten Holzhäusern, die auf Stelzen in den Fels gebaut waren, parkten Schneemobile und Autos. Es gab keine Gärten, nur Stein in jeder Form: Geröll, Kiesel, Felsen, Sand. Was arbeiteten die Leute hier? Gab es einen Supermarkt? Gab es die Einwohner überhaupt?

Ich könnte hierbleiben. Ich könnte eines dieser dunkelroten Häuser mieten, eins mit Blick auf das türkismatte, milchige Wasser, umgeben von hohen Bergen – in direkter Nachbarschaft zur Eiskappe, die darauf wartete, dass sie verschwand. Mein Verschwinden würden die anderen nicht bemerken. Ich könnte in Zukunft in einem dieser Häuser sitzen, Tee trinken und aufs Wasser schauen. Ab und zu würden Passagiere an meinem Fenster vorbeilaufen, auf dem Weg zu ihrem Schiff, sie würden miteinander plaudern, sich umschauen, vielleicht würde einer von ihnen mein Haus sehen und denken: Was wäre das schön, wenn ich da wohnen könnte. Vor mir sah ich die anderen Passagiere, Männer mit Rucksäcken, weißen Haaren, Frauen in Anoraks, wenigstens bin ich jung, dachte ich, wenigstens bin ich nicht wie die. Aber war ich das, jung? War ich nicht wie die?

In den vergangenen Wochen hatte die Reederei mit einer an Penetranz grenzenden Regelmäßigkeit E-Mails verschickt, in denen sie die Passagiere über die Eisverhältnisse aufklärte, denn auch wenn die Gletscher schmolzen, bedeutete das noch lange nicht, dass zuvor unpassierbare Wege nun passierbar waren. Das hatte etwas mit Luftfeuchtigkeit, Regenmassen, Tiefdruckgebieten und der Polardrift zu tun, die selbst Meeresforscher noch nicht vollständig enträtselt hatten.

Wer wollte, konnte im Vorfeld dieser Reise also Eisspezialist werden, sogenannte Charts lesen, bunte Bilder, die aussahen, als hätte jemand ein »Malen nach Zahlen«-Bild nicht fertig bekommen. Rote Flecken in dem Gewirr aus Strichen und runden Formen waren Gebiete, die zu neunzig bis einhundert Prozent mit Eis bedeckt waren – Eis, so dick und alt wie das von Gletschern. Dunkelgrün war über zwei Meter dickes Meereis. Rot bedeutete mehrjähriges Eis. Unser Schiff konnte einjähriges Eis bis zu einer Dicke von fünfzig Zentimetern schieben, das waren die hellgrünen und die gelben Flecken, doch von denen gab es auf unserer Route zu wenige. Auf der Strecke befanden sich außerdem mehrere Stellen, in die der Wind oder die Strömung jederzeit gewaltige Eismassen hineinschieben konnte.

Die MS Svalbard war eine umgebaute Autofähre mit einem schwarzen Rumpf und einem roten Streifen drum herum. Sie – Schiffe waren weiblich – war so groß wie ein Dreifamilienhaus. Mein erster Gedanke war: Da sollen wir alle draufpassen? Dieses kleine Ding soll uns vor Eis und Stürmen schützen? Sie wirkte im Hafen, als hätte ein Riese sein Spielzeugboot hier vergessen. Vor einer geöffneten Ladefläche setzte ein Gabelstapler Paletten ab. Ein dicker Mann in weißer Uniform lief drum herum, der Koch prüfte die Lieferung: Melonen, Ananas und noch mehr Melonen. Von einer anderen Palette lud ein blonder Typ mit Bommelmütze unsere Koffer ab. Ich ging über eine Gangway an Bord. Vor mir schoben die Frauen ihre Handtaschen durch einen Durchleuchter, so wie ihn die Kontrolleure am Flughafen benutzten. Die eine wurde fotografiert. »Fürhe dasse Borde-ause-weise«, sagte der asiatisch aussehende Mann an der Leuchtschranke. Die erste ging durch. Eine metallene Stimme sagte: »Welcome.«

Meine Kabine lag auf Deck 7 am Ende eines langen Ganges. Links befand sich ein halbrundes Bad, und hinter der Längsseite des Bettes gab es ein großes Fenster, dessen Form an den Bildschirm eines Röhrenfernsehers aus den Sechzigerjahren erinnerte. Auf dem Bett lag mein Koffer, der mich irgendwo zwischen dem Unterdeck und hier überholt hatte. Ich überlegte, auszupacken, doch vor dem Fenster begann die Luft zu flirren, roséfarben und hellgrau. Ich griff meine Kameratasche und rannte nach oben.

Eine Stunde später stand ich noch immer an Deck und starrte wie die anderen Passagiere bedeppert in den Himmel. So in etwa musste man sich wohl einen LSD-Trip vorstellen: Die Welt war ein pastellfarbener Acid-Traum. Eben waren die Felsen noch braun, jetzt schimmerten sie pink. Ich konnte weit schauen, weit hinaus in den Fjord, wo die Konturen der zerklüfteten Felsen und die Bergketten so deutlich zu sehen waren, als hätte sie jemand mit einer Rasierklinge in den eisblauen Abendhimmel gestochen. Selbst das Meer war kein Meer, sondern eine Masse aus zähflüssigem Öl, in der sich in hellsten Neonfarben alles spiegelte: der hellblaue Himmel, die fliederfarben schimmernden Berge, die vom Sonnenlicht gelbgoldenen Wolken. Die Metallverkleidung des Schornsteins leuchtete kupferfarben, der schwarze Rumpf schimmerte lila. Leise zog das Schiff durch den Fjord, wie ein Messer durch weiche Butter. Wir hinterließen schimmernde Rillen im dunkelblau-schwarzen Wasser. Ich schaute zurück und stellte mir ein Band vor, das sich zwischen mir und dem Land spannte und immer dünner wurde, bis es zerriss.

Herr Mücke

Vor dem Restaurant empfingen uns ein Mann in dunkelblauer Uniform und der Koch. Jeder hielt einen Bestäuber in der Hand. Unschlüssig blieb ich stehen.

»Das ist Desinfektionsmittel, damit wir uns nicht alle mit Grippe anstecken«, sagte eine weibliche Stimme hinter mir. Ich drehte mich um.

»Nun gehen Sie doch schon weiter, Sie halten den ganzen Verkehr auf.« Die kleine rothaarige Frau schaute mich von unten an, sie wedelte mit ihrer Hand nach vorne, als sei ich ein Page und ihr im Weg. Ihre Augenbrauen waren gezupfte Halbmonde, die Oberlippe ein feiner Strich, ein mürrischer Lippenstiftbogen hing zwischen prallen Wangen, die sich geweigert hatten, mit dem Rest des Gesichts zu altern.

Ich ging einen Schritt vor, hielt dem Koch meine Hände hin, ließ mich besprühen und fragte mich nicht zum ersten Mal vergeblich, woran andere deutschsprachige Menschen sahen, dass auch ich einer war. Ich sah nicht deutsch aus. Ich hatte dunkelbraune Augen und eine prominente Nase, die manche Leute apart, ich hingegen auberginenförmig fand. Mein Teint war eher oliv als rosa, und ich hatte lange dunkle Haare. Ich sah türkisch aus, spanisch, italienisch, portugiesisch. Ging ich deutsch? Zog ich mich deutsch an? Ich sah an mir hinunter. Graue Jeans, braune Wanderschuhe, weißes T-Shirt, schwarzer V-Neck-Pulli. Ich sah nicht aus wie die anderen Menschen hier und schon gar nicht wie die mit den roten Haaren. Oder doch? Hatte ich mit Mitte vierzig bereits den Blick für mich verloren? Das Tragische am Älterwerden war ja, dass man es als Letzter merkte, wenn es einen erwischte. Viele meiner Kollegen sprachen vom Alter als unheilbarer Krankheit und benahmen sich zugleich, als seien sie dagegen immun. Männer Ende vierzig leasten plötzlich Maseratis, lästerten aber über gleichaltrige Frauen, die es wagten, ihre gute Figur zu behalten: »Hinten Lyzeum, vorne Museum.« Es war sinnlos, ihnen erklären zu wollen, dass das Älterwerden bei Frauen anders ablief: Frauen hatten keine Krisen. Frauen hatten Gedanken.

Vor den Fenstern des Restaurants zog die Aussicht vorbei: ein violetter und golden-pinker Himmel, der von weißen Wolkenschlieren und pastellfarbenen Wischflächen durchzogen wurde. Darunter schwappte lackledernes Wasser, doch langsam verschwand der Glanz aus den Farben, als würde jemand Puder über die Welt tupfen.

Passagiere in Funktionskleidung warteten mit leeren Tellern an den Vitrinen und Tresen. Ein stetes dumpfes Brummen mischte sich mit Stimmengemurmel und dem Klappern von Besteck auf Porzellan. Ich spazierte um das Buffet. Von allem gab es zu viel: Fisch, Fleisch, warm, kalt, süß, salzig, Vorspeisen, Kaffee, Brot, Käse. Ich betrachtete die anderen Gäste und fragte mich, was jeden einzelnen von ihnen dazu bewogen hatte, an die fünfzehntausend Euro zu bezahlen, um hier zu stehen.

Ich hatte irgendwann eine Theorie entwickelt, warum Menschen wegfuhren. Ein Drittel der Menschen ging auf Reisen, um etwas zu entdecken (betrüblicherweise wussten sie oft vorher, was). Das zweite Drittel reiste, um sich von zu Hause zu erholen (es war unwichtig, wo sie hinfuhren, Hauptsache, das Andere war angenehmer, wärmer und freundlicher als ihr Zuhause). Der Rest fuhr hinterher. Also: Die Frau wollte irgendwohin, der Mann dann auch. Oder: Die Nachbarn waren schon mal da, in dieser Saison fuhr man dorthin und so weiter und so fort.

Doch die Leute hier? Es mochte daran liegen, dass sie sich ähnlich kleideten, viele im gleichen Alter waren, um die sechzig. Sie trugen Praktisches in knalligem Petrol, leuchtendem Gelb, grellem Violett. Der Tarnung konnten diese Farben nicht dienen, es sei denn, sie hatten vor, jede Nacht durch den Sonnenuntergang zu fliegen. Vielleicht gab es bei Expeditionskreuzfahrern so wie bei Surfern eine Art Kleidungskodex – hier, so ziehen wir uns an, damit ihr wisst, wer wir sind. Wir sind die, die wandern. Wir sind die, die im Regen und in der Kälte nicht frieren. Wir suchen die Kühle, die Nässe, die Hänge, wir haben Wadenmuskeln, ihr habt Handtaschen. Wir sind aktiv, ihr seid bloß interaktiv. Aber interessierte sich das Pärchen am Pfannkuchenstand für die Nordwestpassage? Hatten sie Die Entdeckung der Langsamkeit gelesen oder Meine Reise mit der Gjöa? Kannte der Mann am Käse das arktische Licht und wollte wieder hin, in diese ferne Region, die man als Nicht-Wissenschaftler am einfachsten mit Passagierschiffen wie diesem hier erreichte? Freuten sich Mutter und Tochter am Gulasch auf die Klimavorträge? Oder auf das Gulasch? Wer von ihnen würde am Fenster stehen und dem tauenden Permafrost dabei zusehen, wie er taute, und dabei denken: Hier stimmt doch was nicht?

In Douglas Adams’ Per Anhalter durch die Galaxis gibt es ein Restaurant am äußersten Ende der Zeit, dessen Gäste jeden Abend den Untergang des Universums beobachten. Kurz bevor alles in einem Schwarzen Loch verschwindet, fliegen sie mit Lichtgeschwindigkeit in Sicherheit, und am nächsten Abend nehmen sie erneut ihre Plätze ein, um den Untergang zu beobachten. So würde es hier nicht sein. Es gab kein Raumschiff, das uns in Sicherheit bringen würde. Die Welt ging auch nicht mit einem Knall unter, sondern Zentimeter um Zentimeter. Die Erosion fraß die Küsten, die Eiskappen schmolzen, die Temperatur stieg. Ich sah hinaus. Da war eine Küste, da war das Meer, da war der Himmel.

Ich fand einen freien Platz ohne direkte Nachbarschaft zu Pärchen oder Gruppen, zwängte mich zwischen zwei festgeschraubten Tischen bedrohlich nah an den Weingläsern vorbei und entschuldigte mich bei dem älteren Herrn, der am Fenster saß und sich höflich erhob, als ich mich neben ihn setzte. Er hieß Herr Mücke, war so um die siebzig, trug einen roten Pullunder, darunter ein gestreiftes Hemd. So stellte ich mir Alfred Wegener vor, so akkurat.

Ich wünschte ihm guten Appetit, und er widmete sich wieder seinem Hühnerbein, das er sorgfältig mit Messer und Gabel zerteilte. Ich fand es herrlich, wenn jemand ein Hühnerbein mit Messer und Gabel aß, so wie ich es nicht ausstehen konnte, wenn Menschen keine Tischmanieren besaßen. Selbst in den guten Restaurants saß man zwischen Schaufelbaggern, Buckligen und Gichtkranken, die ihr Besteck so hielten, als wollten sie damit jemanden erdolchen.

Ich bestellte einen Wein und ignorierte meinen knurrenden Magen. Buffets setzten mich unter Druck. Allein im Restaurant zu sein, setzte mich unter Druck. Es müsste ein Schild für alleinstehende Frauen geben: »Bitte nicht füttern, anbaggern oder anstarren«. Im Kleingedruckten stünde da noch: »Liebe Gattinnen, diese Frau hat kein Interesse an Ihrem Mann (Echt nicht! Behalten Sie ihn bitte!). Liebe Mütter kleiner Kinder, dieser Frau geht es nicht automatisch besser, weil sie ausschlafen konnte. Bitte stellen Sie Ihre Kinder auf lautlos und führen Sie sie an der Leine.« Obwohl, nein. Es müsste kostenfreien Roomservice für allein reisende Frauen geben. Weltweit, in allen Preisklassen. Kommen Sie mir nicht mit Anschluss und Leute kennenlernen oder irgend so einem Gefühlsmist. Wenn man einsam ist, bleibt man einsam, auch im Ausland. Urlaubsbekanntschaften sind Bekanntschaften, die in den Urlaub gehören. Wer in den Neunzigern die wahre Liebe zum griechischen Kellner im Robinson Club auf Samos erlebt hat, weiß, wovon ich spreche. Keiner muss einmal quer über den Globus fliegen und ein halbes Jahresgehalt verprassen, um das zu begreifen. Hinterher ist man doch nur noch einsamer als vorher.

Mit einem Mal schwamm eine Riesenpavlova am Fenster vorbei. Ein weißes Baiser, mit Blue Curaçao übergossen.

»Ein Eisberg«, rief ich.

Herr Mücke drehte seinen Oberkörper zu mir und zog die Augenbrauen hoch wie ein Forscher, der einen seltenen Wurm entdeckt hat. »Ist das Ihr erster?«

Ich nickte.

Er hob sein Bier. »Darauf trinken wir.«

Auf solchen Schiffen gebe es für jeden Unsinn ein Ritual, sagte er. Wer den Polarkreis überquerte, bekam eine Schöpfkelle Eiswasser über den Kopf. Am Äquator wurde man mit Fischöl eingeseift und abgeduscht, eine widerliche Sache, das. Nur bei Eisbergen gab es nichts, was im Grunde genommen schade war. Vielleicht waren es inzwischen einfach zu viele. Und das da, das war ja nur ein Eisbergchen. Ich sollte mal die dicken Tafeleisberge sehen, die vom Schelfeis abbrachen. Das waren vielleicht Kaventsmänner. Manche waren tausend Kilometer lang!

»Ach«, sagte ich.

Die hier kamen aus dem Norden und trieben gegen den Uhrzeigersinn um Grönland herum. Der die Titanic erwischt hatte, war auch aus dem Norden gekommen. Aber psst! Laut sagen durfte man das Wort nicht.

»Welches Wort: Eisberg?«, fragte ich.

»Nein.« Er flüsterte: »Tih-tah-nic«, und sah sich um wie Schlemihl aus der Sesamstraße, der mir ein unsichtbares Eis verkaufen wollte.

Ich lächelte.

»Auf einer meiner ersten Schiffsreisen sind wir in einen Orkan geraten«, erzählte Herr Mücke. »Mit der Bremen auf dem Weg in die Antarktis. Da hat mir das einer erzählt.«

»Sind Sie öfter auf Schiffen unterwegs?«

»Oh ja. Ich war schon sieben Mal in der Antarktis. Drei Mal bin ich den Amazonas hoch und einmal um Spitzbergen herum, mit einem Russen. Das Schiff, mit dem ich zum ersten Mal in der Antarktis war, ist vor zehn Jahren gesunken. Die Explorer. Die hatte 45 Grad Schlagseite.«

»Gesunken?«

»Nicht mit mir drauf! Da war ich nicht dabei. Und es ist auch keiner ertrunken. Haben Sie nicht davon gelesen? Vor ein paar Jahren südlich von Kap Hoorn. Das war vielleicht ein Spektakel. So ein Schiff, das sinkt ja nicht von hinten nach vorne, sie liegt schräg im Wasser. Schauen Sie, so.«

Er hielt seine flache Hand vors Gesicht und drehte sie schräg. Ich folgte der Bewegung und neigte den Kopf.

»Auf der unteren Seite ließen sie die Boote ins Wasser. Aber auf der oberen Seite, hier oben, da rutschte ja nichts. Da war ja nicht genug Neigung. Wissen Sie, wie die das gemacht haben?«

Ich schüttelte den Kopf.

»Als alle drinsaßen, sollten sie ans Heck krabbeln. Da wurde die Aufhängung gelockert. Das Boot rutschte ein Stück runter und hing nun schräg an der Außenwand. Sehen Sie, so. Dann mussten die Passagiere ans andere Ende krabbeln, dann wurde da die Aufhängung gelockert, und das Boot sackte dort hinab. Das haben sie im Wechsel gemacht, hin und her und hin und her, und so kam das Rettungsboot nach und nach runter ins Wasser. Das hat mir der Pole erklärt, der Tomek. Der war damals auch mit dabei. Die Rentner, hat er gesagt, die waren plötzlich alle ganz gelenkig.«

Ich musste grinsen. Herr Mücke machte das wie ich: immer schön auf die Bezugsgruppe schimpfen.

Herr Mücke stammte wie ich aus Berlin und hatte vor seiner Pensionierung erst als Uhrmacher, später als Lehrer an der Berufsschule gearbeitet. Nach dem Tod seiner Frau war er losgefahren, einfach losgefahren, und seitdem kaum noch zu Hause. Man dürfe sich da nichts vormachen, das kostete eine Stange Geld, aber mit der richtigen Vorbereitung ging das.