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Walter Müller
Kleine Schritte

Walter Müller

Kleine Schritte

ROMAN

O T  T O    M Ü L L E R    V E R L A G

ISBN 978-3-7013-1180-4
eISBN 978-3-7013-6180-9

© 2010 OTTO MÜLLER VERLAG, SALZBURG-WIEN

Alle Rechte vorbehalten

Satz: Media Design: Rizner.at, Salzburg

Druck und Bindung: CPI Moravia Books GmbH. Korneuburg

Inhalt

Kleine Schritte

Am Samstag, dem 2. November 1940, wird Grete Schöner dreimal standesamtlich getraut. Zuerst mit dem Polizisten Hubert Körner, dann mit einem gewissen Gottfried Bach, schließlich mit Robert Kremsmayer.

Der Lehrling Kremsmayer ist ein Arbeitskollege von Gretes Bruder Werner, der an diesem Tag das Bett hüten muss, weil er bei einer tölpelhaft angelegten Klettertour im elterlichen Schlafzimmer knapp unter dem Plafond aus dem Seil geglitten und mit dem Rücken auf der Bettkante aufgeschlagen ist. Seit dem Besuch im Circus Medrano sei „der gute Werner“ nicht mehr bei Sinnen. Sagt Robert, um sofort, bevor seine Ehefrau Grete, geborene Schöner, etwas entgegnen kann, hinzuzufügen: „Liebe macht krank!“

Die Grete ist 17, grad erst geworden, der Robert 16. Was weiß der von der Liebe?!

Dann, nachdem er mit Grete Hand in Hand den stockfinsteren „Liebestunnel“ durchquert und sich nach dem obligaten Kuss formlos von ihr hat scheiden lassen, fährt er mit dem Fahrrad aus der Altstadt hinüber zum Kurpark, um mit seinen Freunden und den noch nicht eingerückten oder sich auf Heimaturlaub befindlichen Männern Bomben auf England zu werfen.

Dieser Scheißkerl Robert Kremsmayer! „Scheißkerl“, seit er mit Hella Sachs, der Hella aus der Zeitungsredaktion, vom Circus Medrano heimgegangen ist. Oder fortgegangen, auf einen Eisbecher, ein Glas Limonade, ins Automatenbüfett oder ins Café Großglockner.

Er, Werner Schöner, hatte der Hella das Circusbillett geschenkt, zu ihrem 15. Geburtstag. Und dann hatte er sich, auf dem Weg zur Vorstellung, einen verdammten Nagel in den Hinterreifen seines Drahtesels gefahren und war zu spät gekommen.

So sehr er sich auch anstrengte – Hella konnte er auf den Zuschauerbänken im Cirkuszelt nirgendwo erspähen und er hätte schwören können, dass er ihren blonden Zopf in der größten Dunkelheit unter Hunderten blonden Zöpfen erkennen würde.

Die Geschwister Karnelli auf der freistehenden Leiter hatte er schon versäumt. Die Zwergelefanten und den Clown Rafael hatte er nur aus den Augenwinkeln wahrgenommen, beim Versuch, den blonden Zopf der Hella Sachs, Lehrmädchen in der Redaktion des „Volksblattes“, zu entdecken. Jetzt waren die vier Ruggeros dran, auf dem hohen Freitrapez. Dann hat er sie doch entdeckt, den Zopf, die Hella. Die Hella neben dem Robert sitzend. Und der Robert, sein Arbeitskollege Robert Kremsmayer, hatte den Arm um ihre Schulter gelegt! „Um meine Hella!“ Scheißkerl!

Das war im August. Jetzt ist Allerseelentag. Und zugleich das große Volksbelustigungsfest auf den Plätzen der Salzburger Altstadt. Und drüben im Kurpark: Bombenwerfen.

Jetzt hält auch der Braunwieser Flori um Gretes Hand an, kniet sogar vor ihr nieder, mitten in eine Regenpfütze. Aber der Grete reicht es für heute. Drei Ehen sind genug. „Vielleicht morgen“, sagt sie. Das Juxstandesamt am Kapitelplatz, zugunsten des Winterhilfswerkes für die Wehrmachtssoldaten, hat ja auch am Sonntag geöffnet. „Morgen heirate ich eine andere“, knurrt der Braunwieser Flori und streift sich das Regenwasser von der Anzughose.

„Die Hella – unser Sonnenschein!“ Das hat der Herr Lutz erfunden. Hella Sachs trägt täglich die Manuskripte aus den Redaktionszimmern in die Setzerei, gibt sie beim Chef ab, beim Herrn Lutz, oder wird von ihm an eine der Maschinen geschickt, um sie dort dem Setzer auf das Pult zu legen. Werner Schöner arbeitet ja erst seit einem halben Jahr in der Druckerei, aber der Herr Lutz mag ihn, trotz der Fehler, die ihm beim Schreiben unterlaufen.

„Keen Meister ist vom Himmel jefallen“, sagt der Herr Lutz immer wieder.

„pickles“ hat er falsch getippt. „mixed pickls“. Hella hatte ihm den kleinen Text aus der Abteilung „Lokales. Sie fragen, wir antworten“ gebracht. „Für Sie, Herr Schöner!“ Das war eine Woche vor ihrem Geburtstag gewesen.

„Antwort der Redaktion: Warum sollte sich für mixed pickles, das zumeist falsch ausgesprochen wird, kein passendes deutsches Wort finden? Könnte man nicht Essiggemüse sagen?“

Unser Sonnenschein! Werner Schöner war eine ganze Nacht lang böse auf Hella. Mit dem Scheißkerl Robert wollte er sich nie wieder versöhnen.

„Was kann ich dafür? Auf mich fliegen die Mädels wie die Motten ins Licht!“

„Nie wieder!“

Werner Schöner hat lange gegrübelt, wie man bei Hella Sachs Eindruck machen könnte. Die Trapeznummer hatte ihr gefallen. Er hatte gesehen, wie heftig sie bei den Ruggeros geklatscht hatte, im Circus Medrano. Sogar der Arm dieses Widerlings Robert Kremsmayer, aberwitzig und schamlos um ihre Schulter gelegt, hatte gewackelt unter ihren Beifallskundgebungen. Kopfüber, so hoch droben! Das müsste man können!

Das Loch in der Schlafzimmerwand, das der Karabiner gerissen hat, einen Daumen breit, einen kleinen Finger tief, hat Werner Schöner eigenhändig ausgegipst. Der Franz hat ihm trotzdem mit dem Handrücken ins Gesicht geschlagen. „Für so viel Blödheit!“ Den Franz hat die Mutter im Turnverein kennen gelernt. „Endlich ein Mann!“, hat sie zu den Kindern gesagt, nach der ersten Bergtour mit ihm. Hoher Göll. Da war die Mutter schon von Werners und Gretes Vater, dem 1. Franz, geschieden. „Vater“ werden sie nie zum 2. Franz sagen, da kann die Mutter noch so sehr bitten. Allerhöchstens „Stiefvater“. Nicht einmal das.

„Den Strick kannst du behalten“, hat der Franz gebrummt, nach den Ohrfeigen, „aber den Eispickel rührst du mir nie wieder an! Verstanden?!“

„Den Kremsmayer Robert? Den Scheißkerl? So einen küsst du?!“, schnauzt Werner seine Schwester an, als die ihm vom Standesamt und ihren drei Ehemännern erzählt. Der Werner und die Grete schlafen, seit der 2. Franz bei der Mutter wohnt, im Kabinett. So wie früher, als Kinder. Ein ganzes Jahr lang, nachdem der Vater endgültig ausgezogen war, hatte sich Grete mit der Mutter das Schlafzimmer geteilt. Und Werner hatte seine heilige Ruhe, als Herr im Haus sozusagen, im Kabinett.

Die Schwester zeigt ihm die drei Blechringe, die sie bekommen hat, und die Heiratsurkunden und die Scheidungspapiere. Haben die „Männer“ bezahlen müssen, für den guten Zweck, fürs Winterhilfswerk.

„Und jetzt will ich schlafen“, herrscht der Bruder die Schwester an. Aber die Schwester will ihm alles haarklein erzählen, muss ihm einfach alles ganz genau berichten, vom Juxstandesamt und ihren Verehrern. Und dass die Kammerlander Anni, obwohl die doch so ein männernärrisches Ding sei, nur zwei Ehen geschlossen habe. Eine davon mit einem uralten, mindestens dreißig Jahre alten Kellner aus dem Innsbrucker Hof.

„Hella ist ein schöner Name“, sagt die Schwester.

„Woher weißt du…“

„Der Robert ist ein Kind.“

„Der Robert ist ein Scheißkerl!“

Werner Schöner versucht sich von der Bauchlage auf die Seite zu drehen, aber es geht nicht, es tut höllisch weh.

„Prellungen sind schlimmer als Brüche“, hat der Hausarzt gesagt und ihm irgendeine Salbe verschrieben.

„Denen an der Front geht es hundertmal schlechter!“ Das weiß er auch, trotzdem tut es höllisch weh.

„Und? Wie sehr liebst du sie?“, fragt die Schwester, während sie dem Bruder so fest, dass er aufschreit, den Rücken eincremt. „So sehr?!“

Werner sagt nichts. Solche Gespräche sind ihm zu dumm. Das war schon früher so. Immer dieses Liebesgequatsche! Er trauert dem Jahr seiner Alleinherrschaft hier im Kabinett nach. Wenn bloß der 2. Franz nicht aufgetaucht wäre!

„Übrigens … die Hella war auch im Standesamt!“

Er fragt jetzt nichts, beißt sich auf die Zähne und fragt nichts.

„Übrigens…“

„Licht aus!“, brüllt der Bruder.

„Gleich. Nur noch zwei Briefe.“

Das mit dem Reiten ärgert ihn. Im Kurpark hätte man nicht nur Bomben auf England werfen, sondern sich auch als Reiter erproben können. Die SA-Reiterstandarte hatte das organisiert, wie er in der Zeitung liest, die ihm die Mutter ans Bett gebracht hat. Noch ein Tag Krankenstand, aber morgen wird er wieder zur Arbeit gehen, und wenn der Rücken noch so höllisch schmerzt. Vor allem wegen Hella.

Die Reiterin im Circus Medrano hatte ihn begeistert, Anita Medrano, diese gertenschlanke, elegante Ballerina, wie die, auf dem Rücken eines galoppierenden Pferdes stehend, durch den Reifen gesprungen war, immer wieder, zwanzig-, dreißigmal, ohne auch nur irgendwie aus dem Gleichgewicht zu kommen.

An eine Reitnummer, um Hella zu imponieren, hatte Werner Schöner nur den Bruchteil einer Sekunde gedacht. Kein Pferd, keine Reitnummer. Dann ist ihm das mit dem Klettern eingefallen.

„Wer von uns sucht sich nicht gerne eine süße, kleine Maid zu einer illegalen Hochzeitsfeier“, liest Werner Schöner, auf seinem Bett im Kabinett auf dem Bauch liegend, „besonders wenn es nebenbei noch eine gute Tat für das Winterhilfswerk ist!“ Dass sich der Rodenbücher auch eine geangelt hat, SS-Oberführer Rodenbücher, und der Gauleiter Rainer ebenfalls, einfach so, aus Jux… um die Verbundenheit der Führung mit dem Volk zu demonstrieren.

Gott sei Dank ist kein Bild abgedruckt, keines mit Rodenbücher und Grete, Rodenbücher und Hella, Hella und dem Scheißkerl Robert. Beim Küssen womöglich!

„…auch das Herzklopfen in den stockfinsteren, lauschigen Kusswinkerln bei dieser Wanderung ins Eheparadies war ja fürs Winterhilfswerk.“

Am Sonntag hat Grete Schöner keinen einzigen Burschen geheiratet. Dafür hat sie beim Liebespostamt am Alten Markt elf Briefe bekommen und elf Briefe aufgegeben.

Man hat sich ein Nummernschildchen kaufen und – gut sichtbar – an der Jacke oder am Mantel anstecken können. Grete hatte die Nummer 247 gezogen. Dann konnten die Burschen, wenn ihnen ein Mädel, zum Beispiel das Mädel mit der Nummer 247, gefiel, einen Brief schreiben, als Adresse „247“ aufs Kuvert und die eigene gezogene Nummer auf die Rückseite kritzeln. Schließlich mussten sie die Post gegen eine kleine Stempelgebühr fürs Winterhilfswerk aufgeben und auf einen Antwortbrief warten.

Die Mädchen hätten auch von sich aus Briefe schreiben können, an eine Nummer, an einen Burschen oder Herrn, der ihnen zusagte; aber die Mädchen warteten lieber ab.

Außer der Kammerlander Anni. Die schrieb unentwegt. Einen Brief nach dem anderen. Trotzdem bekam sie nur acht Briefe zurück, drei weniger als Grete.

„Was die alles geschrieben haben!“, erzählt die Schwester dem Bruder, spätabends, von Bett zu Bett, obwohl sich der Bruder schlafend stellt und sogar leichte Schnarchlaute von sich gibt, die ihm die Schwester freilich ganz und gar nicht abnimmt. „Ich werde richtig rot, wenn ich an die Briefe denke!“, sagt sie.

„Licht aus!“

„Gleich. Ich möchte die Briefe noch einmal lesen. Wenigstens die zehn schönsten. Übrigens…“

„Licht aus!“

„…stimmt das, was Mutter mir erzählt hat?“

„Was hat Mutter dir erzählt?“

„Dass du dich freiwillig verpflichten willst!“

„Licht aus!“

Aber dann kommt die Mutter heim und dreht das Licht wieder an. Dass der Onkel Ludwig gefallen ist, sagt sie. „Der Erste aus der Familie“, obwohl der Onkel Ludwig gar nicht wirklich zur Familie gehörte. Ein Freund von früher, vielleicht über sieben Hausecken mit der Familie Schöner verwandt, wenn überhaupt. Er hatte in Ludwigshafen gelebt, als Schlossermeister, zu Weihnachten und zu Ostern eine Grußkarte geschickt. Die Grete und der Werner hatten den Onkel Ludwig zweimal, höchstens dreimal in ihrem Leben gesehen. Der erste Tote „aus der Familie“. Irgendwo in England ums Leben gekommen.

„Wo in England?“, will der Werner wissen, aber die Mutter kann keine genaueren Auskünfte geben. „In der Luftschlacht über England.“ Dann entzündet sie eine Kerze und stellt sie auf den Küchentisch.

Der erste Tote. „Hoffentlich der Letzte“, sagt die Grete. Und die Mutter meint: „Was sein muss, muss sein.“

„Du willst dich wirklich freiwillig, Brüderlein…“

„Licht aus!“

Der 5. November 1940. Nasskalt draußen, aber in der Setzerei ist es heiß wie im August. An den Maschinen hocken die Arbeiter mit nacktem Oberkörper. Auch Robert Kremsmayer. Nur der Herr Lutz trägt, wie immer, ein kariertes Hemd aus Flanell.

„Willkommen zurück an Bord!“, brüllt der Scheißkerl und drischt Werner Schöner mit einem Prankenhieb auf das linke Schulterblatt. Werner taumelt, aber nur eine Sekunde lang, wie Anita Medrano eine Sekunde lang getaumelt hatte, auf dem Rücken ihres rasch galoppierenden Pferdes stehend, beim vorletzten Sprung durch den Reifen. Vielleicht war das absichtlich gewesen, vielleicht war das so eingeplant, als Nervenkitzel, und die Zuschauer hatten tatsächlich aufgeschrieen, als ginge es um Leben und Tod. Sicher war das eingeplant. Eine wie Anita Medrano, die gertenschlanke Ballerina auf dem Pferd, kann nicht fallen. Schon gar nicht so tölpelhaft wie er, Werner Schöner, vom Plafond im Schlafzimmer gefallen war.

Den Schrei, den er nach Roberts Berserkerschlag auf das lädierte Schulterblatt loslassen müsste, unterdrückt er mit letzter Kraft. Weiß der Scheißkerl was? Hat ihm die Schwester doch alles brühwarm erzählt, im Liebestunnel oder sonstwo? Von der Kletternummer und dem Absturz auf die Bettkante?

„Na, Werner, biste wieder auf ’m Damm?“, fragt der Herr Lutz und klopft ihm kumpelhaft auf die linke Schulter. „Ziehste nich’ das Hemd aus? Is’ heiß hier herinn’!“

Er zieht das Hemd nicht aus, natürlich nicht. Soll Hella Sachs die schwarzvioletten Flecken auf seinem Rücken sehen, wenn sie ein Manuskript auf sein Pult legt? „Für Sie, Herr Schöner! Um Gottes Willen! Wer hat Sie denn so böse zugerichtet?“

Niemand. Ich bin vom Himmel gefallen. Wegen dir, Hella.

„Haste jeles’n?“

Natürlich hat er es gelesen. Daheim schon, im Krankenbett. Jetzt steht er mit dem Herrn Lutz vor dem Schwarzen Brett in der Setzerei und starrt auf den „Volksblatt“-Artikel, den jemand aus der Zeitung geschnitten und auf das Holz gepappt hat.

„Und du warste nich’ dabei!“, sagt der Herr Lutz und wirft die Stirn in Falten. „Och, muss man überall dabei sein?“ Dann klopft er ihm noch einmal, zärtlicher als vorhin, auf den Rücken.

„Ein Bombenerfolg war der ganz privatime Bombenabwurf gegen Engelland! Churchill hätte sich zu Tode gefürchtet, wenn er miterlebt hätte, mit welcher Wonne und Begeisterung die Salzburger Bomben schleuderten!“

„Noch fescher als das Chamberlain-Abwatschen letztes Mal!“, ruft einer von seiner Setzmaschine herüber. Und ein anderer meint: „Bücherverbrennen vor zwei Jahren war feierlicher! Die Kraft des Feuers!“

„Alter Romantiker!“

Er könnte jetzt natürlich Hella Sachs fragen, wen sie geheiratet hat am Juxstandesamt fürs Winterhilfswerk. Oder, ohne Namensnennung, wie viele. Drei oder mehr? Wie viele Küsse? Muss man wildfremde Männer küssen mit 15? Ob sie das nötig habe? Muss man überall dabei sein, Fräulein Hella? Aber er fragt nicht, und Hella lächelt, wie sie immer lächelt, als sie ihm das Blatt mit den Kurzmeldungen aufs Pult legt. „Für Sie, Herr Schöner!“

Wahrscheinlich war Hella Sachs gar nicht am Juxstandesamt gewesen. Grete hatte das bloß erfunden, um ihn zu verwirren. Die Schwester liebte diese widerlichen Spiele.

„Du verstehst überhaupt keinen Spaß“, sagt sie jedesmal. „Frieden?“

„Frieden“, knurrt er dann meistens. „Und jetzt Licht aus!“

Hella war sicher nicht am Kapitelplatz, um sich einen Blechring an den Finger stecken zu lassen und durch den schwachsinnigen Liebestunnel zu laufen. Ganz sicher nicht. Nie im Leben.

„Danke“, sagt Werner Schöner und vertieft sich, den Blick rasch von Hellas straffem Zopf abwendend, in den Text, den er auf der Maschine zu setzen hat.

„Verloren. Deutscher Schäferhund (jung) hat sich verlaufen. Abzugeben: Kantine Hellbrunner Kaserne; vor Ankauf wird gewarnt!“

„Kinderbrille auf dem Weg zur Nonntaler Schule verloren. Gegen Finderlohn abzugeben bei Fritsch, Kaigasse 41.“

Stimmt das bisher? Außer den Namen. Die hab ich geändert. Aber sonst? Ich hab ja nur das Tagebuch und ein paar Schriftstücke, Zeitungsausschnitte, eine Handvoll Fotos. Das Tagebuch hab ich seit zehn Jahren, seit Du tot bist. Jetzt ist auch der Onkel Heinz gestorben, der Letzte in unserer Familie, der was gewusst hätte von damals. Ich hab ihn noch oft getroffen nach Deinem Tod, aber wir haben nie „von damals“ geredet. Wieso hab ich nicht mehr gefragt?

Hab angefangen zu lesen und jetzt wünsche ich mir schon, einer der Freunde, „Kameraden“ habt ihr gesagt, einer von Deinen „treuen Kameraden“ gewesen zu sein. Stimmt das bisher? Bis auf die Namen? Kann man sich posthum in seine eigene Mutter von damals verlieben?

Ich hab das Tagebuch mitgenommen. Daheim hab ich es nicht geschafft, daheim beschäftige ich mich mit fremden Schicksalen. Bin ja Trauerredner geworden, halte Abschiedsreden für andere. Wäre Dir das peinlich?

Jetzt sitz ich im Gastgarten einer Kneipe, „Julchen Hoppe“, in Berlin, Nikolaiviertel, und lese. Mach mir Notizen. Warst Du je in Berlin? Später einmal, mit den Senioren, oder? Wieso weiß ich so wenig über Dich? Ein ‚Berliner Kindl’, bitte! Und den Boulettenteller! Hat geregnet, drüben am Holocaust-Stelenfeld. Ich war gestern schon dort und am Samstag, gleich nach meiner Ankunft. Heute wieder. Bin auf einem Quader gehockt, unterm Regenschirm, dreitausend Betonblöcke, da musst du deinen erst finden, aber dann ist die Sonne rausgekommen. Und die Regentropfen sind über die Steine herabgesickert, zarte Wasserrinnen, dicht nebeneinander, Perlenschnüre Richtung Boden. Haben sich verästelt, verzahnt, sind ausgefranst nach eigenen Plänen, wie Stacheldraht, aber voller Poesie. Gibt es das? Gibt es nicht.

Stimmt das bisher? Muss alles stimmen. Du hast ja selbst geschrieben, auf der allerersten Seite: „Hier in diesem Buche lege ich meine Erinnerungen wahrheitsgetreu fest.“

„Fräulein, noch ein ‚Kindl’!“

Die Mutter hatte das nicht mehr ertragen können, dass ihr Mann sich vor dem Kriegseinsatz drückte, indem er Gebrechen vortäuschte wie diese rasenden Kopfschmerzen und die unerträgliche Schwermut. Der 1. Franz, der Vater von Grete und Werner, konnte auf Knopfdruck weinen. Oder weinte manchmal ohne ersichtlichen Grund plötzlich und heftig drauflos. So dass Grete und ab und zu auch Werner mitheulten. Ohne zu wissen, worum es ging. Es geht um nichts. Das ist reine Schauspielerei. Meinte die Mutter. Was der Vater entschieden verneinte. „Es ist die Schwermut.“

Er wurde trotzdem zum Militärdienst berufen, aber gleich in eine Schreibstube gesteckt. Und weinte auch dort, wie er selbst, nicht ohne dieses kleine, schwer erklärbare Lächeln aufzusetzen, erzählte. Ja, auch in militärischen Diensten heulte er drauflos, wenn er zum Beispiel Briefe an Familien schreiben musste, deren Sohn oder Vater schwer verwundet wurde oder gefallen war. Wer da nicht zu heulen beginne, sei kein Mensch, sagte der Vater.

„Du hast ihn doch gar nicht gekannt!“, versuchte der zuständige Unteroffizier den Franz jedesmal zu trösten. „Vielleicht war das ein Scheißkerl! Vielleicht war das die gerechte Strafe für irgendwas. Sicher sogar! Und jetzt reiß dich zusammen, Kamerad, und schreib! Immerhin ist Krieg!“

Er hat sich nicht zusammengerissen. Die Heulerei ging den anderen in der Schreibstube auf die Nerven. Irgendwann wurde Franz Schöner in die Kompanieküche versetzt, und weil er auch dort, aus heiterem Himmel, immer wieder von Weinkrämpfen geschüttelt wurde, endgültig aus dem Militärdienst entlassen. Da heulte er noch einmal so richtig herzzerreißend drauflos und bekam sogar eine Flasche Cognac als Abschiedsgeschenk.

„Ich kann dich ja nicht erschießen lassen“, sagte der Feldwebel, als er ihm die Hand drückte.

Zurück im Privatleben, daheim bei der Familie, begann sich Franz Schöner, der 1. Franz, mit Astrologie zu beschäftigen. „Such dir eine Arbeit“, mahnte ihn die Marie, seine Frau. Aber er verschrieb sich voll und ganz der Sterndeuterei und entwickelte rasch, durch intensives Selbststudium, eine bemerkenswerte Meisterschaft im Erstellen von Horoskopen. Verdiente bald schon, nicht viel, aber immerhin, bei Nachbarn und Bekannten, für die er in die Sterne blickte. Mit dem Geld kaufte sich der Franz neue Bücher, um sein Wissen zu erweitern, und besuchte Kurse bei „Sternen-Meistern“, die in der Zeitung annoncierten.

Der Grete errechnete der Vater Dutzende Verehrer, der Marie schwere Zeiten, herbe Verluste, wenn sie nicht auf der Hut sei. Nur beim Werner, seinem Buben, verweigerte er, nachdem er zwei Tage und drei Nächte über dessen Horoskop gebrütet hatte, die Auskunft. „Geh nicht zu diesem Verein!“ Das war alles, was er sagte.

Die Marie war außer sich vor Zorn, egal ob er jetzt den Turnverein oder den Alpenverein oder irgendeinen anderen Verein meinte. Er solle den Buben gefälligst in Ruhe lassen, der wisse schon, was richtig und was falsch sei. Am übernächsten Tag ist der Vater aus der gemeinsamen Wohnung ausgezogen, später noch einmal für ein paar Wochen zurückgekehrt. Und schließlich endgültig weggeblieben.

Dann erfolgte die offizielle Scheidung. Und bald darauf lernte die Marie den 2. Franz kennen, Franz Kubelka.

Der Kroni steht vor der Tür, ganz unerwartet. Josef Kronthaler, aus Norwegen zurück. Fällt der Grete um den Hals, und die Grete drückt ihn ganz fest an sich. Du lieber Freund! Eigentlich wollte sie sich mit dem Brenner Ferdl treffen, aber den lässt sie jetzt sitzen. Der Kroni erzählt, noch in der Tür stehend, dass er das EK 2 von Hermann Göring persönlich verliehen bekommen hat. Aber das ist nicht so wichtig. Wichtig ist, dass die Grete heute frei hat und dass sie mit dem Kroni über den Mönchsberg spazieren kann. Dann gehen sie in die Moser Weinstube. Und am Abend ins Kino – „Links der Isar, rechts der Spree“.

Am nächsten Tag muss die Grete ihr Fahrrad von der Reparatur holen und der Kroni seine Familie besuchen. Aber am Nachmittag gehen sie in der Kleßheimer Allee spazieren, Arm in Arm. Dann treffen sie sich im Gablerbräu mit der Anni und dem Werner, Gretes Bruder, der alles wissen will über den Einsatz da droben, aber die Grete sagt immer nur: „Lass ihn doch in Ruhe!“

Der Kroni bringt die Grete und den Werner heim. Der Werner wartet solange beim Haustor, immer wieder fragend, bis ihn der Kroni rauf in die Wohnung schickt. Dann küsst der Kroni die Grete sehr lange.

Die Frau Ludwig aus dem dritten Stock hatte Waschtag gehabt, da stank es auch am Abend noch im Stiegenhaus so penetrant nach Kernseife und Waschlauge, und in der Waschküche erst recht, obwohl die Frau Ludwig seit ein paar Monaten nur mehr für sich und ihre Tochter, die „beklopfte Lisa“, waschen musste. Sowohl der Mann als auch der Sohn Karl, zwei Jahre älter als Werner Schöner, waren an der Westfront im Einsatz.

Die „beklopfte Lisa“ war 13 und trug fast jeden Tag einen straff geflochtenen blonden Zopf, der beinahe so schön war wie der von Hella Sachs. Aber nur beinahe. Alle zwei Wochen, wenn die Frau Ludwig der Lisa die Haare wusch, drunten in der Waschküche, ließ das Mädchen einen Tag lang ihr Haar offen runterhängen. Dann sah sie wie ein hell gefärbter Langhaar-Setter aus, der ins Wasser gestoßen wurde und den eine kalte Novembersonne notdürftig getrocknet hatte.

Die „beklopfte Lisa“ hat die „Schwammigkeit im Hirn“, wie ihre Mutter einmal Werners Mutter erzählte. Aber man konnte viel lachen mit ihr. Weil sie selbst so oft, ohne erkennbaren Grund, zu lachen anfing.

Einmal hatte sich Werner Schöner, immerhin schon 14 vorbei, in der Wohnung der Familie Ludwig in die Hosen gemacht, wegen der „beklopften Lisa“. Er hatte so lachen müssen, dass es einfach kein Halten mehr gab. Geistesgegenwärtig hat er sich unter den Teppich gerollt, worüber die anderen, der Karl, die Lisa und ein paar Freunde vom Karl, selbst so lachen mussten, dass sie gar nicht mitkriegten, wie dem Werner unter dem Teppich das Wasser rann. Dieses allgemeine Gelächter hat er, Werner Schöner, dann auch ausgenutzt, um blitzschnell unter dem Teppich hervorzuspringen, die Zitronenlimonade aus dem Steinkrug auf den Teppich und unter den Teppich zu schütten und die Wohnung zu verlassen. Niemand hatte was bemerkt. Vielleicht haben sich alle in die Hosen gemacht an diesem Nachmittag im Wohnzimmer der Familie Ludwig.

Natürlich ist das nicht der Eispickel vom Stiefvater. Es ist der von der Mutter. Die Mutter hat Sitzung bei der Arbeiterfront, Frauenwerk, und wird wohl bei ihrer Freundin, der Rohrscheid Klara übernachten, und der 2. Franz ist für ein paar Tage mit dem Lastwagen unterwegs, Eisentransporte, was weiß der Teufel, er redet nicht viel über seine Arbeit als Kraftfahrer. Und die Grete hat schon wieder ein Rendezvous mit dem Kroni.

Werner Schöner hat ein paar dicke weiße Kerzen mitgebracht, weil die Glühbirnen in der Waschküche kaputt sind und der Hausmeister keine Lust hat, sie auszutauschen. Tagsüber ist das egal. Am Abend wird ohnehin nicht gewaschen.

Am Abend ging niemand in die Waschküche, vor allem seit sich die Frau Milanowitsch am Fensterkreuz erhängt hat. Warum sie das getan hat, weiß keiner. Der Hausmeister hat sie gefunden, vom Fensterkreuz geknüpft und die Polizei verständigt. Man hat sie abgeholt. Das war alles. Außer dem Hausmeister, dem Benatzky, hat sie keiner tot gesehen. Die Scheidung hat sie nicht verkraftet, heißt es. Dass sie eine Jüdin war, hat ihr Mann ja nicht gewusst. Ehrenwort! Zu ihrem Begräbnis ist nur der Benatzky gegangen. Und die Grete. Der tat die Milanowitsch leid. Der tun immer alle leid. Die Frau Ludwig meinte damals, man solle doch einen Pfarrer holen, der die Waschküche weihen oder segnen könnte. Aber die Ludwig war die Einzige im Haus, die der Kirche noch halbwegs nahe stand, also ließ man die Sache mit dem Pfarrer bleiben.

„Die Zunge ist ihr rausgehängt – sooo weit!“, sagte der Benatzky, um die Kinder zu schrecken. Aber die Kinder ließen sich nicht schrecken. „Wie weit?“ Dann riss der Hausmeister sein Maul auf und streckte die Zunge einen Meter weit raus. Und die „beklopfte Lisa“ lachte jedesmal so laut, dass die anderen davonrannten und die Toiletten aufsuchten.