Inhaltsverzeichnis
Die Heiner und die Anfänge ihrer Stadt
Darmstadt wird hessisch
Kulturelle Blüte
Parkanlagen in Darmstadt
Vom Landgrafen zum Großherzog
Jüdisches Leben in Darmstadt
Forscher und Revoluzzer
Jugendstil
Bildung für alle
Starke Frauen
Licht und Wasser
Verkehrswege in Darmstadt
Das dunkle Zeitalter
Darmstadt greift zu den Sternen
Ausflugstipps
Ausgewählte Literatur
Abbildungsnachweise
Weitere Kleine Geschichten
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Kleine Geschichte der Stadt

Darmstadt

AKG2071615

Marion Mink

Impressum

Die deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter www.dnb.de abrufbar.

© 2016 Der Kleine Buch Verlag, ­Karlsruhe

Projektmanagement & Korrektorat: Julia Barisic
Lektorat: Dr. Hildegard Hogen, Bensheim
Umschlaggestaltung: post scriptum, www.post-scriptum.biz
Satz: Beatrice Hildebrand
E-Book Konvertierung und Formatierung: Angela Hahn

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E-Book ISBN: 978-3-7650-2200-5

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Darmstadt wird hessisch


Obwohl mit der Gräfin von Katzenelnbogen so eine Art Hofleben light in Darmstadt einkehrte, ließ es sich auch in den nächsten 100 Jahren ruhig und beschaulich in der noch jungen Stadt leben. Etwas aufregender wurde es erst, als 1479 der letzte Graf von Katzenelnbogen starb und keinen männlichen Nachkommen hinterließ. Sein einziges Kind, Anna von Katzenelnbogen, wurde somit zur Alleinerbin. Da Anna bereits 1457 Heinrich III. von Hessen geheiratet hatte, fiel Darmstadt inklusive der lukrativen Rheinzölle bei Gernsheim in den Besitz der Landgrafen von Hessen. Die neuen Stadtherren residierten jedoch in der Gegend rund um Marburg und Kassel. Das Interesse an ihren neuen Ländereien im Süden war daher nur mäßig.

Der Gutmütige im Kampf mit der Ritterschaft

Landgraf Philipp von Hessen war zwar 49 Jahre lang der Herr im Darmstädter Schloss, doch oft zu sehen bekamen die Südhessen ihren Fürsten nicht. Zu Beginn seiner Regentschaft mag es daran gelegen haben, dass der Landgraf noch sehr jung war. Kaiser Maximilian I. ließ den gerade einmal 13½ Jahre alten Jungen für mündig erklären. Diese Idee kam nicht von ungefähr. Philipps Mutter, Anna von Mecklenburg (1485–1525), hatte ihre Finger im Spiel. Die Witwe des Landgrafen Wilhelm II. (1469–1509) wollte um jeden Preis, dass Philipp das Erbe seines Vaters antrat. Dieser war gestorben, wahrscheinlich an Syphilis, als Philipp fünf Jahre alt war. Schon kurz nach dem Tod brach ein erbitterter Kampf um die Regentschaft aus. Die Landgräfin, die hessischen Stände und insbesondere die hessische Ritterschaft stritten sich um die Vormundschaft.

Das Problem war folgendes: Wilhelm II. hatte zwei unterschiedliche Testamente hinterlassen. Im ersten, welches er 1506 verfasst hatte, verfügte er, dass fünf Räte die Vormundschaft über seine Kinder Elisabeth und Philipp (1504–1567) sowie über seinen älteren, geisteskranken Bruder Wilhelm I. und dessen Gemahlin Anna von Braunschweig übernahmen. Auch seine Frau Anna von Mecklenburg unterlag in dieser Urkunde der Vormundschaft der Räte. In seinem zweiten Testament jedoch, das aus dem Jahr 1508 stammte, bestimmte Wilhelm II. seine Ehefrau Anna zum obersten Vormund. Unterstützt werden sollte sie bei dieser Aufgabe von Wilhelms Onkel, dem Erzbischof Hermann von Köln. Das zweite Testament verfügte darüber hinaus, dass Anna zwei Ratgeber an ihre Seite gestellt bekam. Es hätte alles so friedlich verlaufen können, wenn die hessischen Landesstände oder wenigstens die Ritterschaft dieses zweite Testament anerkannt hätten. Das war leider nicht der Fall. Anna von Mecklenburg erwirkte daher, dass Philipp im Jahr 1518 mit 13½ Jahren von Kaiser Maximilian I. für mündig erklärt wurde. Von diesem Zeitpunkt an übernahm der junge Regent allein die Regierungsgeschäfte.

Kaum hatte Philipp sein neues Amt angetreten, klopfte bereits das erste große Problem an seine Tür. Es kam in Gestalt der Ritterschaft daher. Genauer gesagt in Gestalt des Reichsritters Franz von Sickingen (1481–1523), der im September 1518 den südlichen Landesteil, nämlich Darmstadt, belagerte und Philipp den Kampf ansagte. Zwei Dinge trieben den Reichsritter zu dieser Maßnahme an: zum einen der Wille zu Macht und Einfluss für die Zukunft des Ritterstands, und zum anderen stand eine alte Erbschaftsangelegenheit im Raum. Ein Graf von Nassau beanspruchte nämlich das Erbe der Grafen von Katzenelnbogen für sich, und Franz von Sickingen sollte diesen Anspruch durchsetzen.

Nun musste der junge Philipp diese Kampfansage glücklicherweise nicht allein bewältigen. Er hatte zunächst seine Mutter und ihre Räte an seiner Seite. Doch nur für eine kurze Zeit. Als Anna von Mecklenburg 1519 beschließt, wieder zu heiraten, distanziert der junge Landgraf sich von seiner Beraterin. Spätestens bei seinem legendären Auftritt mit mehr als 400 Gefolgsleuten auf dem Wormser Reichstag von 1521 präsentierte sich Philipp als selbstbewusster Repräsentant der Landgrafschaft und wagte den Streit mit dem schlauen Reichsritter. Es kam, wie es kommen musste. Der unerfahrene Philipp, zu diesem Zeitpunkt war er gerade einmal 17 Jahre alt, verlor den Kampf und musste dem mächtigen Reichsritter hohe Entschädigungen zahlen. Im Winter 1522/23 unterwarf sich Philipp gemeinsam mit Kurtrier und der Kurpfalz dem Ritter Franz von Sickingen. Dieser Umstand änderte jedoch nichts daran, dass Philipp I. sich nur selten in seine südliche Provinz verirrte. Der Landgraf nutzte Darmstadt allerdings gern als Ort diplomatischer Verhandlungen, vor allem wenn er sich mit den süddeutschen Fürsten traf.

Faszination Martin Luther

Historische Popularität erlangte Philipp I. nicht wegen seiner Streitigkeiten mit der Ritterschaft, sondern aufgrund seines Reformationswillens. Durch seinen Kanzler und Berater Johann Feige (1482–1543) aus Lichtenau, welcher ein Studienkollege Martin Luthers in Erfurt gewesen war, kam der junge Landgraf zum ersten Mal in Kontakt mit den Lehren des bekannten Reformators.

Auf dem Wormser Reichstag von 1521 war Philipp sehr daran gelegen, Martin Luther persönlich kennenzulernen. Er suchte daher den Mönch in seiner Unterkunft auf. Das Interesse des jungen Landgrafen an den Ideen Martin Luthers blieb nicht unbemerkt. Dem diplomatischen Vertreter des Papstes, Hieronymus Aleander, missfiel Philipps gesteigertes Interesse am evangelischen Glauben. In seinen Augen war der junge Landgraf wohl von »übelster erzlutherischer Gesinnung«.

Dabei überzeugten zu diesem Zeitpunkt Luthers Reformen den hessischen Landgrafen noch lange nicht. Dennoch setzte Philipp I. sich für ein freies Geleit Luthers ein, obwohl Kaiser Karl V. die Lehren des Mönches durch das Wormser Edikt streng verurteilte. Die Wende zu einer neuen Religion in Hessen brachte eine Reise im Frühsommer 1524. Auf dem Weg zu einem Fürstentreffen in Heidelberg begegnete der junge Landgraf nördlich von Frankfurt dem Reformator Philipp Melanchthon (1497–1560), einem Mitstreiter Luthers. Philipp von Hessen sucht das Gespräch mit dem Theologen, doch dieser winkte ab. Er vertraute dem jungen Landgrafen nicht, der noch auf der Seite des katholischen Glaubens stand. Melanchthon befürchtete, dass ein Gespräch mit Philipp I. zu »Unberechenbarkeiten« für die Reformen führen könnte. Doch diese Zweifel waren unbegründet.

Im Herbst des gleichen Jahres schloss Philipp sich bereits dem Reformationsgedanken an. Melanchthon war vom Handeln des jungen Landgrafen beeindruckt und sendete ihm die Schrift »Summe der christlichen Lehre« zu, die in lateinischer Sprache gehalten war. Diese Schrift beinhaltete die Grundzüge der reformatorischen Lehre und war dem Landgrafen persönlich gewidmet. Mit der Einführung der protestantischen Religion in seinem Reich avancierte Philipp von Hessen zum Vorkämpfer der Reformation. Es folgte eine Neugestaltung der Gottesdienste sowie die Aufhebung der Klöster. Das eingezogene Klostervermögen floss zum einen in die Armen- und Krankenfürsorge. Den anderen Teil verwendete der Landgraf, um 1527 mit der Universität Marburg die erste protestantische Hochschule der Welt zu gründen. Mit seinem Übertritt zum evangelischen Glauben duldete Philipp von Hessen nun evangelische Prediger in seinem Territorium und führte den Konfirmandenunterricht ein.


Landgraf Philipp von Hessen, gemalt von Hans Krell um 1534.

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Bigamie trotz Verbots

Obwohl Philipp I. ein sehr gläubiger Mensch war, hielt er sich in Bezug auf die eheliche Treue nicht an die christlichen Vorschriften. Im Gegenteil, er führte ein sehr ausschweifendes Liebesleben mit wechselnden Damen. Dadurch soll er, ebenso wie sein Vater, an der Geschlechtskrankheit Syphilis gelitten haben. Eines Tages jedoch verliebte sich der gute Philipp in eine seiner Gespielinnen. Er wollte die Hofdame Margarethe von der Saale unbedingt zu seiner Ehefrau nehmen. Von Standes wegen her sprach nichts gegen diese Verbindung, wäre der Landgraf nicht bereits verheiratet gewesen: 17 Jahre zuvor hatte er Christine von Sachsen geehelicht. Das Paar hatte sogar sieben gemeinsame Kinder.

Allerdings war diese erste Ehe eine reine Vernunftehe. Von Liebe konnte keine Rede sein. Aus diesem Grund stimmte Christine von Sachsen auch ohne Weiteres einer zweiten Ehefrau zu. Da eine Doppelehe nicht mit Philipps Glaubensbekenntnis harmonierte, plagte ihn das schlechte Gewissen. Daraufhin suchte der Landgraf Hilfe in der Bibel und fand sie schließlich im Alten Testament: Jakob, einer der biblischen Urväter, war gleichzeitig mit Lea und Rahel verheiratet. Obwohl Philipp sich in dieser Angelegenheit den Segen von Martin Luther einholte, war die Umsetzung der geplanten Doppelehe nicht so einfach. Bigamie widersprach damals nicht nur dem Kirchenrecht, sondern wurde auch nach dem weltlichen Recht mit der Todesstrafe geahndet. Dennoch legte Philipp alles daran, dass die Ehe mit Margarethe von der Saale legal wurde. Ihm blieb nichts anderes übrig, als beim Kaiser, seinem Erzfeind, zu Kreuze zu kriechen. Beim Papst ging das nach der Kirchenreform nicht mehr. Das Bekanntwerden dieser Doppelehe führte zu einer schweren Krise im Reformationsprozess.

Endlich Residenzstadt

1567 starb Philipp der Gutmütige. Das hessische Reich wurde unter seinen vier Söhnen aufgeteilt. In seinem Testament hatte er verfügt: »Georg soll die Schlösser, Städte und Ämter Rüsselsheim, Dornberg, Darmstadt, Lichtenberg, Reinheim, Zwingenberg, Auerbach und was noch in der Obergrafschaft liegt und dazu gehört erhalten.«

Georg, geboren am 10. September 1547 in Kassel, war der jüngste Sohn und erbte das überschaubare Darmstadt. Die kleine Stadt machte gerade einmal ein Achtel des früheren Herrschaftsgebiets seines Vaters aus. Mit 19 Jahren übernahm er am 15. Juli 1567 die Regentschaft über die ehemalige Obergrafschaft Katzenelnbogen. Damit die verschiedenen hessischen Familienlinien nun besser zu unterscheiden waren, erhielt Georgs Teil den Zusatz »Hessen-Darmstadt«. Ein wenig Geld hinterließ Philipp seinem jüngsten Sohn ebenfalls. 5000 Florentiner Gulden, was nicht viel war, um Darmstadt als Residenzstadt zu etablieren. Doch Georg war von jeher ein sparsamer Mensch und verwandelte den einstigen Außenposten in eine ansehnliche Residenz.

Noch unter der Vormundschaft seines Bruders Ludwig IV. von Hessen-Marburg wurde der Wiederaufbau des Schlosses und der Bau des neuen Rathauses beendet. Schließlich wollte der Landgraf seinen Pflichten in angemessen repräsentativen Räumen nachgehen. Georg brachte den Staatshaushalt auf Vordermann, ordnete die Verwaltung neu und reformierte sowie zentralisierte die Gerichtsbarkeit. Für das beschauliche Darmstadt war Georg I. ein Glücksfall. Endlich hatte die kleine Stadt einen Regenten, der sich in ihr entfaltete und vor Ort lebte. In der Regierungszeit von Georg I. blieb Darmstadt von Kriegen verschont und erlebte einen enormen Wirtschaftsaufschwung. Die Menschen aus dem Umland zogen der Arbeit wegen nach Darmstadt, was zu einer ersten Wohnungsnot führte, auf die der junge Regent mit einem massiven Ausbau der Stadt reagierte.

1572, anlässlich der Vermählung des Landgrafen mit der Gräfin Magdalena zur Lippe (1552–1587), wurde der Herrngarten hinter dem Schloss neu angelegt. Er diente als Zier- und Nutzgarten, in erster Linie aber als Vergnügungsort der Herrschaften. Hier konnte sich Georg im Schießen mit der Armbrust üben. Zu besonderen Anlässen öffnete der Landgraf die Tore, sodass seine Untertanen im Garten flanieren durften.

Landgraf Georg I. war ein sehr eifriger Mann und sehr bestrebt darin, seine Herrschaft voranzubringen. Dabei vergaß er jedoch nicht sein Volk und setzte sich auch für die Belange der schwächeren Bevölkerung ein. Unter Georgs Regentschaft waren zum ersten Mal Anzeichen eines Sozialsystems zu erkennen, als der Landgraf 1592 das erste Armenhaus in der Residenzstadt errichtete.

Georg der Fromme

Den Namenszusatz »der Fromme« verpassten dem Landgraf seine Untergebenen, da Georg I. ein ausgesprochen religiöser Mann war. Um in seiner Regentschaft die neue lutherische Lehre besser durchsetzen zu können, führte Georg einen nahezu flächendeckenden Schulunterricht ein. In der Schule sollten die Kinder Gehorsam lernen, ebenso wie die Unterscheidung zwischen Recht und Unrecht. Die Idee mit dem Schulunterricht besaß jedoch einen weiteren Sinn: Er war Voraussetzung für die Konfirmation.

Georg I. besaß sehr strikte Moralvorstellungen. Während seiner Regentschaft fanden mindestens 37 Frauen und Männer ihren Tod, da sie der Hexerei beschuldigt wurden. Auch in der landgräflichen Hofordnung war ein besonderer Hang zu Sitte und Ordnung zu erkennen. Die Bürger waren demnach verpflichtet, regelmäßig den Gottesdienst zu besuchen, anderenfalls drohte der Entzug von Bier und Wein. Wer zu Tisch beim Landgrafen eingeladen war, hatte sich züchtig und still zu benehmen, nicht über den Tisch zu schreien, keine Dinge zu werfen oder anderen Unfug zu treiben. Darüber hinaus galt es pünktlich zu erscheinen, denn wenn der Landgraf die Mahlzeit für beendet erklärte, musste jeder den Saal verlassen. Auch wenn der Magen noch knurrte.

Georgs Blaskapelle

Georg I. von Hessen-Darmstadt liebte die Musik. Gern hätte der junge Landgraf, wie er es von der Hofhaltung seines Vaters kannte, gleich zu Beginn seiner Regentschaft einen Trompeter in seine Dienste gestellt. Doch dafür war im Haushalt kein Etat eingeplant. Georg ließ es sich aber nicht nehmen, dann und wann fahrende Musikanten ins Schloss zu holen, um sich seiner Leidenschaft für Musik hinzugeben. Die Klänge eines Musikers aus dem fahrenden Volk gefielen ihm so gut, dass er diesen kurzerhand als Hofmusiker einstellte. Bereits ein Jahr später, im Jahr 1569, konnte der Landgraf dank seiner sparsamen Haushaltspolitik auch einen Trompeter einstellen. Bald darauf folgten noch drei weitere Musiker, darunter ein Posaunist, die zu besonderen Anlässen aufspielen mussten. In geselliger Runde trank Georg gern den einen oder anderen Schluck Bier. Allerdings schmeckten dem Landgrafen die regionalen Sorten nicht besonders. Aus diesem Grund beauftragte er 1573 eine Braugesellschaft aus Braunschweig, in Darmstadt eine Hofbrauerei zu gründen, die heute aber nicht mehr existiert.

Zu einem guten Essen sagte der Landgraf nicht nein. Daher ist es nicht verwunderlich, dass Georg I. im Jahr 1577 Kaninchen, die auf Französisch »lapins« heißen, in Bessungen ansiedelte. Der erste Versuch scheiterte, denn es waren vor allem Füchse, die sich über die neuen Bewohner des Kiefernwäldchens freuten. Der zweite Versuch übertraf alle Erwartungen, und so landeten regelmäßig Kaninchen im Kochtopf der landgräflichen Küche. Leider vermehrten sich die Kaninchen, wie man es von ihnen erwartete, recht schnell. Bessungen erlebte eine wahre Kaninchenplage. Doch im Laufe der Jahre verschwanden die Tiere aus diesem Stadtteil. Die Bezeichnung »Lappinger« klebt seit dieser Zeit an den Bewohnern Bessungens.

Hexenverbrennung

Bereits 1535 übernahm Philipp I. in der »Hessischen Halsgerichtsordnung in peinlichen Sachen« die Bestimmungen zur Zauberei, welche im ersten deutschen Strafgesetzbuch von 1529/32,
der »Constitutio Criminalis Carolina«, niedergelegt waren. Mit diesem Gesetz hatte der Landgraf das Fundament für die Hexenverfolgung und Verurteilung von Verdächtigen in seinem Herrschaftsgebiet und den vier hessischen Nachfolgeterritorien gelegt. Sein Sohn Georg von Hessen-Darmstadt folgte aber einer anderen Philosophie, im Gegensatz zu seinen Brüdern. Er wandte sich dem Thema mit größtem Eifer und einer ganz eigenen Überzeugung zu. Georg I. beschäftigte sich intensiv mit der zeitgenössischen Literatur über das Hexenwesen. Seine Meinung über die Zauberei hielt der Landgraf in der »Peinlichen Gerichtsordnung« von 1575 sowie in einer Verordnung von 1579 gegen Kristallseher und Wahrsager fest. Das harte Vorgehen gegen Hexereien aller Art lag mit Sicherheit am ausgeprägten, religiösen Glauben des Landgrafen, der »die großen und abscheulichen Sünder der Zauberei« auszutilgen versuchte.

Georg I. schuf strenge Bestimmungen gegen das »ungöttliche Laster der Zauberei« und eine rechtliche Grundlage für Folter und Hinrichtung. Er forderte seine Beamten auf, jedem Gerücht nachzugehen und die Verdächtigen zu bestrafen. An Ostern 1582 wurden die ersten acht Frauen in Darmstadt auf dem Marktplatz verbrannt. In den folgenden Jahren traf es weitere 32 Frauen und zwei Kinder, die auf dem Scheiterhaufen in Darmstadt ihr Leben ließen. Doch die junge Residenzstadt zählte nun wirklich nicht zu den Hochburgen der Hexenverbrennungen. Das benachbarte Mainz war um ein vielfaches gnadenloser mit vermeintlichen Hexen. In Darmstadt wurden mehrmals Beschuldigte nach dem Verhör und der Folter wieder freigelassen. So erging es auch Margarete Mogen aus Nieder-Ramstadt, die zwar gefoltert, aber nur zum Schwur künftiger Unterlassung der Zauberei gezwungen wurde. Katharina Heilmann sowie Sophia und Katharina Arnold aus Darmstadt wurden nach der Folter aus der Stadt gewiesen. Kinder und Jugendliche, die in Zusammenhang mit der Hexerei standen, entgingen zwar der Folter, doch vor einer Bestrafung waren auch sie nicht sicher. Der Landgraf wies bei den Hexenverurteilungen jede Form der Willkür von sich. Er berief sich auf seine beratenden Gelehrten und Sachkundigen. Darüber hinaus habe ihn sein »Misstrauen und Kontrollwille« zu den Hinrichtungen veranlasst, womit der Landgraf jeder Form von Schuld eine Absage erteilte.

Hexerei und Magiertreffen soll es auch auf der Burg Frankenstein, die sich südlich des Darmstädter Stadtteils Eberstadt befindet, gegeben haben. Gegen Ende des 17. Jahrhunderts betrieb der Arzt und Alchemist Johann Konrad Dippel im Keller des Gemäuers ein Labor. Dippel soll sich hier in der Herstellung von Gold versucht haben.

Die Menschen aus der Umgebung erzählten indessen schauerliche Geschichten von gruseligen Monstern, deren unheilvolle Schreie aus dem Keller der Burg drangen. Angeblich hat Dippel mit dem Blut von Jungfrauen experimentiert und aus Leichenteilen vom Friedhof ein Monster erschaffen, das er im Burgverlies gefangen hielt. Am Wahrheitsgehalt dieser Geschichte bestehen große Zweifel. Das hindert bis heute Hunderte von Halloweenfans nicht daran, jährlich in den Nächten vor dem 31. Oktober auf die Burg zu pilgern und sich von gruseligen Geistern, Hexen und Vampiren ordentlich erschrecken zu lassen. Von den Schauergeschichten rund um den Alchemisten Johann Dippel hörten im 18. Jahrhundert auch die Brüder Grimm. Jacob Grimm schrieb das Märchen in einem Brief an seine englische Übersetzerin Mary Jane Clairmont auf: die Stiefmutter der englischen Autorin Mary Shelley, welche durch ihren Roman »Frankenstein oder Der moderne Prometheus« bekannt wurde.

Kulturelle Blüte


Gegen Mitte des 17. Jahrhunderts war Darmstadt nur eine kleine Landgrafschaft. Dieser Umstand hielt die adeligen Schlossbewohner jedoch nicht davon ab, sowohl die Kunst als auch die Literatur in ihrer Grafschaft zu fördern. Bis heute ist Darmstadt der Kultur verbunden. Sei es durch den Sitz der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung oder durch die jährliche Verleihung des Georg-Büchner-Preises, des wichtigsten Literaturpreises in Deutschland. Darüber hinaus steht Darmstadt heute für wissenschaftliche Forschung auf höchstem Niveau; doch vor rund 400 Jahren blühte in der Residenzstadt vor allem die Kultur.

Der Darmstädter Sonnenkönig

Das kulturelle Leben im beschaulichen Darmstadt erwachte mit Landgraf Ernst Ludwig (1667–1739). Dieser weltoffene Mann liebte das Leben genauso wie die Kunst. Einige Jahre vor seinem Regierungsantritt verweilte der Landgraf, auf seiner 18-monatigen »Kavaliersreise« durch Europa, am Hof von Versailles. Hier hatte er Blut geleckt für ein Leben auf großem Fuß. Wieder zurück in der Heimat, ging Ernst Ludwig voll und ganz in seiner Rolle als absolutistischer Fürst auf. Er holte talentierte Künstler nach Darmstadt und plante teure Bauprojekte. Doch so eine französische Hofhaltung war kostspielig. Dabei war der Landgraf von Hessen-Darmstadt bereits im Besitz eines ansehnlichen Schuldenbergs von sage und schreibe 220.000 Gulden, welche er von seinem Vater Ludwig IV. von Hessen-Darmstadt (1630–1678) geerbt hatte.

Dieser Umstand hinderte Ernst Ludwig jedoch nicht daran, seine geliebte Parforcejagd in Darmstadt einzuführen. Bei dieser Form der Jagd wird das Wild so lange von den Hunden gehetzt, bis es völlig erschöpft aufgibt. Die Jagdgesellschaft galoppiert währenddessen kreuz und quer über die Felder der Bauern und hinterlässt ein verwüstetes Land. Zu allem Übel fraßen die für die Jagd ausgesetzten Hirsche, Rehe und Wildschweine die Ackersaat von den Feldern sowie die jungen Triebe der Bäume. Auf diese Weise vernichtete der Landgraf große Teile der Ernte, was kein besonders kluger Schachzug war, da er von den Einnahmen der Bauern lebte. Die leere Staatskasse scherte den Landgrafen jedoch genauso wenig wie die hungernde Landbevölkerung. Den Bauern war es strengstens verboten, das Jagdwild selbst zu erlegen, um wenigstens ein kleines bisschen die Löcher in ihren Mägen zu stopfen.

Auch was den Neubau des Schlosses nach einem Brand im Jahr 1715 anging, orientierte sich Ernst Ludwig ganz am französischen Schloss Versailles. Ihm schwebte eine ebenso prächtige Palastanlage im klassizistischen Barock vor. Ein zweites Versailles mit einem weitläufigen Garten sollte in Darmstadt entstehen, doch ebenso wie bei anderen Bauprojekten fehlte zur Fertigstellung des barocken Neubaus das Geld. Während der Landgraf im benachbarten Jagdschloss Kranichstein residierte, verharrte das Schloss lange Zeit im Rohbau. Erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts konnten die Pläne von Ernst Ludwig in abgespeckter Form umgesetzt werden.

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Der Darmstädter Sonnenkönig: Landgraf Ernst Ludwig in französischem Habit

Musikgenuss für Anfänger

Auf seiner Kavalierstour in Paris machte Ernst Ludwig auch die Bekanntschaft mit der Oper. Der junge Landgraf war von dieser Einrichtung über alle Maße begeistert und wollte für Darmstadt ebenfalls ein Musiktheater. Für diesen Zweck engagierte er extra den damals berühmten Kapellmeister Christoph Graupner (1683–1760) aus Hamburg. Die Stadt Leipzig war seinerzeit ebenfalls an Graupner interessiert und bemühte sich heftig, den Kapellmeister zu sich zu holen. Doch Ernst Ludwig setzte alles daran, dass Graupner in Darmstadt blieb. Koste es, was es wolle. Für die Stelle in Leipzig empfahl Graupner den damals noch recht unbekannten Johann Sebastian Bach. In einem prunkvollen Opernhaus konnte Graupner in Darmstadt leider nie dirigieren, da die Kasse des Landgrafs chronisch leer war. Stattdessen musste Ernst Ludwig mit dem Reithallen-Theater, welches sein Vater 38 Jahre zuvor hat bauen lassen, Vorlieb nehmen. Dennoch wurde in diesem bescheidenen Musiktheater 1711 die Oper »Telemach« von Christoph Graupner aufgeführt. Der Landgraf, dem nachgesagt wird ein talentierter Musiker, Komponist und Schauspieler gewesen zu sein, erfreute sich an Graupners Kompositionen und ließ auch das Bürgertum am Theatergenuss teilhaben. Ein ganzes Jahrzehnt lang war das Musiktheater kultureller Anziehungspunkt für die Menschen aus der Umgebung.

Die »Ernest d’or«

Um 1700 lebten in Hessen-Darmstadt etwa 100.000 Menschen, und das jährliche Einkommen des Landgrafen lag bei beachtlichen 400.000 Gulden. Dennoch musste wegen chronischen Geldmangels der Landgraf den teuren Theaterbetrieb einschränken. Aufgrund des wachsenden Schuldenbergs, der durch die Verschwendungssucht, die Bauleidenschaft und die Teilnahme an diversen Kriegen beständig zunahm, wendete sich Ernst Ludwig der Alchemie zu. Er versuchte sich in der Herstellung von Gold, was jedoch nicht glückte.

1733 schließlich beauftragte der Landgraf Joseph Süß Oppenheimer mit der illegalen Prägung untergewichtiger Goldmünzen. Von diesem Vorhaben bekam der Finanzminister Wind, der nicht besonders glücklich über diese verbrecherische Vorgehensweise war. Doch Ernst Ludwig wusste sich zu helfen. Er schickte den Finanzminister mit einer großzügigen Pension in den Ruhestand und brauchte keinen Ärger zu fürchten. Der Münzbetrug mit der »Ernest d’or« lief drei Jahre lang gut und schwemmte 16.000 Gulden in die Staatskasse. Die zusätzlichen Einnahmen verwendete Ernst Ludwig, um seinen Hofkomponisten Christoph Graupner zu bezahlen. Auf den beachtlichen Schuldenberg hatte die Ernest d’or keinen Einfluss. Die unbezahlten Rechnungen häuften sich weiter an. Am Ende von Ernst Ludwigs Amtszeit im Jahr 1739 beliefen sich die Schulden der Grafschaft Hessen-Darmstadt auf ansehnliche vier Millionen Gulden.

Die unheimliche Gräfin

Ernst Ludwig war ein Mensch, der zuweilen in anderen Sphären zu leben schien. Sein Hang zur Alchemie war ein offenes Geheimnis, aber der Darmstädter Fürst begeisterte sich auch für Okkultes, wie die folgende Geschichte erzählt: Am 19. Dezember 1731 versammelte der Landgraf in seinem Haus am Markt, dort lebte er seit dem großen Schlossbrand, eine Abendgesellschaft. Die geladenen Damen und Herren hatten ebenso wie der Landgraf die Neigung, sich mit Esoterik zu beschäftigen. Mehr als nur ein Schwindler hatte sich dadurch beim Landgrafen viel Geld ergaunert. An der Spitze der Bauernfänger, die den naiven Landgrafen ausbeuteten, stand ein Baron, der an diesem Abend ebenfalls zu Gast war. In seiner Begleitung befand sich eine geheimnisvolle Gräfin, die in spirituellen Kreisen dafür bekannt war, sich mit Übersinnlichem auszukennen.

Nach dem Essen spielte die illustre Gesellschaft Karten und unterhielt sich. Als die Uhr Mitternacht schlug, bat Kanzler von Maskowsky (1675–1731), die gesellige Runde verlassen zu dürfen, um noch zu arbeiten. Als der Kanzler den Saal verließ, blickte ihm die unheimliche Gräfin wehmütig hinterher, während sie sagte: »Da geht er hin, der gesunde starke Mann und hat keine Ahnung, dass er schon in sehr kurzer Zeit nicht mehr unter den Lebenden sein wird.« Irritation breitete sich im Raum aus, nachdem die Gräfin diese Worte gesprochen hatte. Interessiert fragte der Landgraf, was die Gräfin mit ihren Worten meine und ob sie sich sicher sei, dass er seinen Kanzler so bald verlieren werde. Traurig blickte die Gräfin Ernst Ludwig in die Augen: »Beklagen Sie mich Durchlaucht, daß mir diese Gabe der Vorahnung verliehen ist! Sie hat mich leider schon allzu oft unglücklich gemacht.« Die Unterhaltung in der Gesellschaft ging weiter, wenn auch weniger vergnügt. Kurze Zeit später stürmte der Lakai des Kanzlers in den Saal und verkündete, dass der Kanzler vor wenigen Minuten verstorben sei. Vom Schlag getroffen und niedergestürzt. An eine Wiederbelebung war nicht zu denken.

Am nächsten Abend versammelte sich die gleiche Gesellschaft, und die Gespräche drehten sich um die Vorhersage der Gräfin. Der Landgraf bat die unheimliche Gräfin, ihm vorherzusagen, wann er von dieser Welt abtreten würde. Sie bat darum, dies nicht tun zu müssen, solange sie am Hof von Ernst Ludwig weilte. Sie sagte ihm nur, dass er noch ein paar Jahre das Zepter schwingen kann. Am Abend vor ihrer Abreise würde die Gräfin dann am Kamin eine Karte hinterlegen, auf welcher das Datum stehe. Und so geschah es.

Als die Gräfin nach ein paar Tagen die Residenzstadt verließ, fand man am Kamin eine kleine Karte mit den Worten: 12. September 1739, abends fünf Uhr. Der Landgraf weilte noch ein paar Jahre unter seinem Volk, bevor er tatsächlich am 12. September 1739 um die fünfte Abendstunde seinen letzten Atemzug hauchte.

Gibraltar-Schorsch

Prinz Georg (1669–1705), der Sohn von Landgraf Ludwig VI. von Hessen-Darmstadt (1630-1678) und Elisabeth Dorothea von Sachsen-Gotha-Altenburg (1640–1709), hatte als mittleres Kind wenige Aussichten jemals den hessischen Thron zu besteigen. Wie so viele andere Prinzen in seiner Lage schlug er eine militärische Laufbahn ein. Er trat in den Dienst der Habsburger, konvertierte zum katholischen Glauben und wurde in den Rang eines Generalfeldwachtmeisters erhoben. Im Pfälzischen Erbfolgekrieg verteidigte er mit seinen Truppen erfolgreich Barcelona. Als Dank erhielt der Darmstädter Prinz den Titel eines Vizekönigs von Katalonien. Im Spanischen Erbfolgekrieg eroberten Georgs Truppen 1704 die Festung Gibraltar, welche ab sofort unter dem Schutz der englischen Königin Anne stand. Die Hessen verpassten ihrem Prinzen den dialektgefärbten Titel Gibraltar-Schorsch.


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Der Gibraltar-Schorsch um 1703