Es gab eine Zeit, da wimmelte es in der kleinen Stadt Schmuddelfing von Touristen. Alle wollten die berühmte Olchi-Familie besichtigen, die auf einem Müllberg in ihrer muffeligen Olchi-Höhle lebte: Olchi-Mama und Olchi-Papa, Olchi-Oma und Olchi-Opa, das Olchi-Baby und die beiden großen Olchi-Kinder.

So viele Besucher kamen, dass der Bürgermeister extra einen Andenken-Kiosk hatte aufstellen lassen, wo man lustige Olchi-Sachen kaufen konnte. Überall in Schmuddelfing gab es Wegweiser zur Müllkippe, und unten am See hatte man sogar einen Olchi-Lehrpfad angelegt. Wer da entlangwanderte, konnte alles über das Leben der kleinen Grünlinge erfahren.

Auf bunten Informationstafeln stand zu lesen, dass die Olchis uralt wurden. Olchi-Opa war angeblich schon 985 Jahre alt, die größeren Olchi-Kinder waren beide 45, und das Olchi-Baby war 12.

Man erfuhr, dass die Olchis gerne rülpsten und pupsten. Dass sie alle Arten von Gemüffel und Gestank mochten und sich nie wuschen oder die Zähne putzten.

Auf Bildern konnte man sehen, wie die Olchis Dosen, Flaschen und Schuhsohlen verdrückten. Alles Vergammelte, Faulige und Müffelige hatten sie nämlich schrecklich gern. Mit ihren harten Zähnen zerkauten sie die härtesten Müllteile, ohne von diesen Mahlzeiten jemals Bauchweh zu bekommen.

Nur vor frischen Sachen, auch vor Obst und Gemüse, mussten sie sich in Acht nehmen, denn davon bekamen sie immer unangenehme bunte Flecken.

Auf einem Foto auf einer der Tafeln sah man Olchi-Oma einen Kühlschrank in die Luft stemmen. Alle Olchis waren nämlich bärenstark, und schon die Olchi-Kinder konnten zentnerschwere Autoreifen weit über den Müllberg schleudern.

Ihre olchigen Haare waren so hart wie Draht, und ihre Haut fühlte sich an wie Tintenfisch. Mit ihren drei empfindlichen Hörhörnern hörten sie die Ameisen husten, und mit dem mittleren Hörhorn konnten sie alle Sprachen der Welt verstehen.

Dass die Olchis so berühmt und beliebt waren, gefiel dem Bürgermeister sehr, denn so wurde auch sein Städtchen immer bekannter. Deshalb hatte er die Olchis sogar zu Ehrenbürgern ernannt. In diesem Sommer freute sich der Bürgermeister besonders, denn es kamen so viele Touristen nach Schmuddelfing wie noch nie.

Der Tätowierer

Ein hagerer Mann mit zerzaustem rötlichem Haar betrat früh morgens die Schmuddelfinger Bäckerei. Seine Arme waren von oben bis unten tätowiert, und an seinem linken Ohr hing ein goldener Ring.

Er brummelte ein kurzes »Moin«, was wohl »Guten Morgen« heißen sollte.

Die Verkäuferin zuckte zusammen, als sie den Mann erkannte. Es war Johnny Goldloch, der ein paar Straßen weiter ein Tätowierstudio betrieb. Er sah ziemlich zwielichtig aus, und sie traute ihm nicht recht über den Weg.

»Dasselbe wie immer, Herr Goldloch?«, fragte sie ihn trotzdem höflich. Sie steckte eine Wurstsemmel in eine Tüte und reichte es ihm zusammen mit einem Becher mit schwarzem Kaffee über die Theke. Der wortkarge Mann kramte ein paar Münzen aus seiner Geldbörse, nickte der Verkäuferin zu und verließ den Laden.

Um diese Tageszeit waren Gott sei Dank noch kaum Leute auf der Straße. Wenn gegen Mittag die ersten Touristen kamen, war ihm das eher lästig.

In letzter Zeit fielen sie in Scharen in Schmuddelfing ein, denn der Bürgermeister hatte leider schrecklich viel Werbung für den Ort gemacht. Wenn das Wetter schön war, kamen die Leute von weit her und verstopften mit ihren Autos und Bussen die engen Straßen.

Alle wollten die Olchis auf ihrer Müllkippe besichtigen. Um die Olchi-Familie vor den neugierigen Leuten zu schützen, hatte der Bürgermeister sogar eine Absperrung um den Müllberg bauen müssen. Mit diesem Zaun wollte man verhindern, dass kleine Kinder auf dem Müllberg herumhüpften und drüben an der Olchi-Höhle irgendwelchen Unfug anstellten.

»Keine Ahnung, wie die Olchis diesen Trubel aushalten«, dachte Johnny Goldloch finster. »Wenn man mich tagein, tagaus so begaffen würde – ich würde mir das nicht bieten lassen.«

Er hustete und spuckte in den Rinnstein.

Hinter ihm quetschte sich ein langer Reisebus durch die schmale Gasse.

»Kommen die etwa jetzt schon?«, brummte Johnny und drückte sich an die Hauswand, als der Bus die enge Kurve nahm.

Hier in der Gasse hatte er seinen Laden.

Johnny war der beste und einzige Tätowierer der Stadt. Sogar drüben in Gammelsberg fand man keinen besseren, da war er sich ganz sicher.

Am liebsten tätowierte er den Leuten Seefahrer-Motive auf ihre Bäuche, Schultern und Oberarme. Hübsche Meerjungfrauen, die aussahen wie kleine Göttinnen, waren seine Spezialität. Auch seine Seepferdchen wirkten lebensecht, und die wunderschönen Anker und Segelschiffe leuchteten in allen Farben.

Leider hatte er nur wenig Kundschaft. In Schmuddelfing waren Tätowierungen nicht sehr modern. Und die Leute mochten ihn sowieso nicht besonders.

Auch die eiligen Tagestouristen ließen sich nur selten tätowieren. Und wenn doch mal einer kam, dann wollte er meistens etwas Olchiges haben. Daher hatte Johnny neuerdings auch Olchi-Motive im Angebot. Er tätowierte die Porträts der Olchis, Fischgräten, Dosen, Knochen, kleine Fliegen, Stinkerwolken, Kröten, Ratten und sogar den Olchi-Drachen Feuerstuhl.

Da er so wenig Kundschaft hatte, musste Johnny nebenbei auch noch als Taxifahrer arbeiten. Es war ein Kreuz.

Wehmütig dachte er an die guten Zeiten, als er noch jünger gewesen und mit seinem Bruder zur See gefahren war. Leider war ihm das Leben auf einem Schiff irgendwann zu anstrengend geworden. Er hatte schlimme Probleme mit seinem Rücken bekommen, was ihn zwang, öfter mal einen Doktor aufzusuchen.

Er öffnete seine Ladentür, nahm einen Schluck vom heißen Kaffee und verbrannte sich die Zunge.

Leise fluchend, rollte er einen Ständer mit Olchi-Andenken vor die Tür. Da gab es Olchi-Postkarten und Olchi-Kulis, grüne Schlüsselanhänger, Mützen und Regenschirme mit Hörhörnern und andere lustige Sachen. Johnny fand das alles grauenhaft, aber er brauchte das Geld.

Er ging nach hinten in den kleinen Nebenraum, wo sein Arbeitstisch stand, und überprüfte kurz die Tätowierwerkzeuge. Alles lag ordentlich und sauber vorbereitet an seinem Platz. Das war gut so, denn für heute früh hatte sich eine ganz besondere Kundin angemeldet: die Frau des Bürgermeisters von Schmuddelfing. Sie wollte sich ihr erstes kleines Tattoo stechen lassen.

Goldloch warf einen Blick auf die Wanduhr, die die Form eines Totenkopfs hatte. Noch war etwas Zeit, denn seine vornehme Kundin wollte erst in einer halben Stunde hier sein. Er war schon sehr gespannt, für welches Motiv sie sich entscheiden würde.

Zerrüttete Nerven

Der Müllberg der Olchis war, wie gesagt, mit einem Zaun umgeben.

Davor warteten die Touristen jeden Tag ungeduldig, bis sie einen der Grünlinge zu Gesicht bekamen und ein Foto von ihm schießen konnten.

Obwohl es heute noch früh am Morgen war, waren bereits eine Handvoll Leute da. Einer hatte sogar ein Fernrohr auf die Olchi-Höhle gerichtet, und ein anderer rief: »He, Olchis! Kommt mal her! Gebt mir ein Autogramm!«

Doch die Olchis dachten gar nicht daran.

Von Natur aus waren sie wahre Entspannungskünstler. Sie waren freundlich und geduldig, und kaum etwas konnte sie aus der Ruhe bringen. Doch diese vielen Besucher gingen ihnen allmählich gehörig auf den Schnürsenkel.

Olchi-Mama und Olchi-Papa hatten sich heute in die Olchi-Höhle zurückgezogen, denn hier waren sie einigermaßen ungestört. Das Olchi-Baby lag schlafend in seiner Obstkiste, und Olchi-Mama krächzte vor sich hin: »Fliegenschiss und Olchi-Furz, das Leben ist doch viel zu kurz …«

Sie rührte in einer rostigen Radkappe herum, in der sie mal wieder ihre berühmte Schnürsenkel-Suppe mit Seifenlauge und Schlammklößchen kochte, die es zu Mittag geben sollte. Als Vorspeise würde es Kabelsalat geben. Olchi-Papa half ein bisschen mit und schnippelte die Elektrokabel klein.

»Nach dem Essen will ich noch unseren Drachen verschmutzen«, meinte er. »Er sieht schon wieder entsetzlich sauber aus. Keine Ahnung, wieso der Dreck so schnell abfällt bei ihm. Muss wohl an seiner glatten Haut liegen.«

Feuerstuhl schnarchte nebenan in der Garage. Er war ja auch nicht mehr der Jüngste und brauchte täglich seine 24 Stunden Schlaf.

Draußen hörte man die Olchi-Kinder lachen. Anscheinend hatten sie einen Riesenspaß. Sie standen bis zu den Knöcheln in einer Pfütze, schleuderten fette Matschknödel in Richtung Zaun und warteten darauf, dass die Besucher aufkreischten und erschrocken den Kopf einzogen.

Hinter der Olchi-Höhle hockte Olchi-Opa griesgrämig auf seinem rostigen Holzofen und knurrte: »Schleimige Schlammsocke! Kann man diese neugierigen Menschen nicht auf den Mond schießen?«

»Recht hast du«, seufzte Olchi-Oma. »Beim ranzigen Läusefurz, man kommt sich vor wie die Affen im Zoo!«

»Wer hätte das vor ein paar Jahren gedacht?«, sagte Olchi-Opa. »Damals wollte uns in Schmuddelfing kein Mensch haben. Wir waren ihnen nicht geheuer, nur weil wir ein bisschen anders sind als sie.«

»Kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen«, sagte Olchi-Oma und schüttelte den Kopf, dass ihre langen Drahthaare klapperten.

»So kann es jedenfalls nicht weitergehen«, knurrte Olchi-Opa. »Meine Nerven sind zerrüttet!«

Mit einem Mal wirkte er sehr entschlossen. »Ich werde jetzt zum Bürgermeister gehen und ihn vor die Wahl stellen!«

»Was soll er denn wählen, mein lieber Stinkerich?« Olchi-Oma sah ihn erwartungsvoll an.

»Beim Läusefurz!«, rief Olchi-Opa. »Ich werde ihm sagen, dass wir nur hierbleiben, wenn man uns in Ruhe lässt. Wenn dieser Rummel nicht aufhört, dann werden wir diesen Müllberg eben verlassen.«

»Was? Wir sollen unsere schöne Müllkippe verlassen?« Olchi-Oma war sich nicht sicher, ob sie richtig gehört hatte.

»Beim grätigen Hühnerich!«, rief Olchi-Opa aufgebracht. »Der Bürgermeister muss sich entscheiden. Entweder verschwinden diese Touristen, oder wir gehen weg! Dann kann er sich neue Olchis suchen!«

»Wir sollen weggehen? Aber wohin denn?«, fragte Olchi-Oma erschrocken.

»Müll gibt es woanders auch«, brummte Olchi-Opa. »Beim Käsefuß, wir werden schon ein schönes Plätzchen finden. Ich hab noch immer gefunden, wonach ich gesucht habe. Gestern sogar ein halb volles Fläschchen Fahrradöl, erinnerst du dich?«

»Ja, schon«, sagte Olchi-Oma.

Aber sie fand, dass der Schmuddelfinger Müllberg das reinste Paradies war. So eine perfekte Müllkippe würden sie woanders nicht so schnell wieder finden.

Doch Olchi-Opa war schon von seinem Ofen gehüpft. Er lief zur Garage und weckte den Drachen Feuerstuhl. Noch ehe Olchi-Oma »Muffelwind!« sagen konnte, saß er auch schon auf dem Drachen und rief: »Spotz! Rotz!«

Feuerstuhl grunzte unwillig, doch dann stieß er eine gewaltige Stinkerwolke aus und knatterte los. Er donnerte über die staunenden Touristen hinweg in Richtung Schmuddelfing.

Johnny Goldloch setzt die Nadel an

Elisabeth, die Frau des Bürgermeisters, hatte sich schon lange ein Tattoo gewünscht. Aber immer wenn sie davon erzählt hatte, hatte ihr Mann Bedenken geäußert.

»Überleg es dir gut«, hatte er gesagt. »So was geht nie mehr ab. Das hast du bis an dein Lebensende und noch eine Weile darüber hinaus.«

Deshalb hatte Elisabeth lange gezögert. Doch schließlich hatte sie sich ein Herz gefasst, hatte bei Johnny Goldloch angerufen und war sich dabei sehr verwegen vorgekommen.

»Sehr gern, Frau Bürgermeister«, hatte der Tätowierer gesagt und ihr für den Morgen einen Termin gegeben.

Diesen Morgentermin hatte die Frau Bürgermeister dann doch nicht geschafft. Und nun war es schon spät am Nachmittag, als sie endlich ins Tattoostudio kam. »Ein Röschen am Oberarm«, hauchte sie. »Klein und rot. Können Sie so was?«

»Ich kann alles«, brummte Johnny Goldloch. Lieber wäre ihm ein Schiff mit knatternden Segeln gewesen. Aber er musste zugeben, dass so eine kleine Rose für die Frau Bürgermeister vielleicht doch passender war.

Nun saß Elisabeth mit schmerzverzerrtem Gesicht auf einem Stuhl. Sie war nervös und versuchte immer wieder, die Luft anzuhalten. Goldloch kannte das.

»Ruhig atmen«, knurrte er.

Seine linke Hand hielt die Hautstelle an Elisabeths Oberarm gespannt. Mit der rechten führte er seine surrende Tätowiermaschine, und eine spitze Nadel stach rote Tinte in Elisabeths zarte Haut.

»Ist ja schlimmer als beim Zahnarzt«, presste sie hervor.

Johnny Goldloch schmunzelte. »Vielleicht erzählen Sie mir was? Das lenkt ab.«

Elisabeth überlegte kurz.

»Na gut«, sagte sie. »Vorhin war einer aus der Olchi-Familie bei meinem Mann im Rathaus.«

»Und?«

»Es war der Olchi-Opa. Stellen Sie sich vor, die Olchis haben uns mit Wegziehen gedroht! Sie haben angedroht, Schmuddelfing zu verlassen.«

»Ach was! Wieso das denn?« Johnny musste kurz die Nadel absetzen.

»Wegen zu viel Trubel!« Elisabeth verdrehte die Augen. »Sie fordern, dass wir den Tourismus einstellen.«

»Kann man in gewisser Weise verstehen«, murmelte Johnny. »Ist ja die Hölle los momentan.«

»Ach ja?« Elisabeth machte ein sorgenvolles Gesicht. »Aber was das für uns alle bedeuten würde! Der Fremdenverkehr ist doch so enorm wichtig für uns.«

»Und jetzt?«, fragte Johnny.

»Tja, nun ist guter Rat teuer. Aber mein Mann hatte bereits eine wundervolle Idee. Er will den Olchis eine Kreuzfahrt spendieren, auf Gemeindekosten. Sie sollen mal richtig ausspannen, dann wird das schon wieder.«

»So, so«, sagte Johnny.

»Olchi-Opa war auch gleich recht angetan von der Idee«, fuhr Elisabeth fort. »Anscheinend mag er Abenteuer. Kann man auch verstehen. Immer nur auf diesem Müllberg herumhocken ist doch auf die Dauer nichts. Da muss man ja die Nerven verlieren. Man muss auch mal was anderes sehen. So ein kleiner Tapetenwechsel hat noch jedem gutgetan.«

»Bestimmt eine gute Idee«, bestätigte Johnny.

»Eine Reise auf so einem großen Segelschiff ist sicher die beste Erholung, finden Sie nicht auch?«

»Sie fahren auf einem Segelschiff?« Johnny wirkte plötzlich sehr interessiert.

»Ja, eine Segelkreuzfahrt auf der Esmeralda. Ein tolles Schiff mit weißen Segeln! Ich hab ein Foto davon gesehen.«

»Wie schön!«, sagte der Tätowierer. Dann schwieg er und schien in Gedanken versunken. Nur die Tätowiernadel surrte, und Elisabeth japste dann und wann vor Schmerz. Schließlich glitt ein Lächeln über Johnnys Gesicht. Er setzte die Nadel ab, streckte sich und sagte: »Lassen Sie mich wissen, wann es losgeht. Ich bringe die Olchis sehr gern mit dem Taxi zum Hafen.«

»Das würden Sie tun? Aber ist das nicht ein bisschen weit fürs Taxi? Es ist eine ganz schöne Strecke bis zum Meer.«

»Kein Thema«, meinte Johnny. »Ich fahre die Olchis zum Sonderpreis. Für den Herrn Bürgermeister mach ich das doch gern. So was gehört für mich zum Geschäft.«

»Na, das hört sich gut an!«, sagte Elisabeth. »Danke für das Angebot, ich nehme Sie beim Wort!«

Sie zuckte zusammen, als Johnny wieder seine Nadel ansetzte.

»Ruhig atmen«, sagte er. »Man gewöhnt sich dran.«

Elisabeth seufzte und kniff die Augen zu.

Eine Stunde später verließ sie stolz und glücklich den Laden. Johnny rieb sich die Hände. Diese Kundin war wirklich Gold wert gewesen. Er ging zum Schrank, holte ein altmodisches Funkgerät heraus und morste eine Nachricht.