Halt dich wacker, Mamilein.

Du darfst.

Drück Sara ganz fest von mir.

Mami, das ist ein komischer Typ.

Werden Sie jetzt ein Nickerchen machen?

bis in alle Ewigkeit

Schnappschüsse

die ganz frühen Morgenstunden

Allen eine gute Nacht!

Umgangssprachlich: Ja, gluckern wir einen!

erster Morgentee

durch und durch aufgewühlt werden

So ein verdammter Blödsinn!

meine liebste Tochter

Manche mögen’s heiß.

Wie es sich gehört.

Wie es euch gefällt.

Alles Gute und ein langes Leben.

Wollte nur mal hören, wie es geht.

Ewig lange her.

Ja, tun wir’s, Tom!

Wir werden obsiegen.

Darf ich die Braut küssen?

Epilog // Fiona 


»Darf ich eventuell in diesem meinem allerliebsten, grasgrünen Gartenoverall heiraten?«, fragte ich Tom.

Tom überlegte. »Aber natürlich darfst du das, meine demnächstige Frau«, kam die Antwort. »Ich ziehe dann ein Hawaiihemd und Bermuda-Shorts an und dicke Socken in Sandalen. Und meinen lange vergessenen Drei-Tage-Bart.«

»Das geht gar nicht – wir haben nur noch einen Tag«, wandte ich ein.

So kam es, dass wir beide dezent gewandet – Tom im Anzug, ich im Hosenanzug (er hatte aber auch Hosen an, trotz der Bezeichnung seiner Bekleidung) – an einem Freitag im März vor dem Standesbeamten erschienen, um unsere Ehe zu eröffnen. Hinter uns waren Mick mit Martina, Philipp mit seiner Frau und Sara aufgereiht, die nur deshalb kommen konnte, weil Tadeusz ihre Kinder von der Schule abholte und während ihrer Abwesenheit bei Laune hielt.

Tom und ich saßen vor dem Standesbeamten, Herrn Salinger, der uns über die Halbgläser seiner randlosen Brille mit fröhlichen, hellblauen Augen ansah. »Ich freue mich besonders, wenn zwei nicht mehr ganz junge …«

»Sagen Sie ruhig: alte«, ermunterte ihn Tom.

»… zwei etwas ältere Menschen den Weg zu mir finden.« Er selbst mochte etwa 45 Jahre zählen, war, wie ich erfahren hatte, Familienvater und ein wunderbarer Begleiter junger Paare durch die übliche Vor-Ehe-Amtsschimmelei. Jedes Mal, wenn es ihm geglückt war, wieder eine Trauung zu vollziehen, die ihm und den Brautleuten wegen des Papierkriegs einiges abverlangt hatte, genehmigte er sich – einem dauerhaltbaren Gerücht zufolge – ein besonders gutes Viertele im Lokal gegenüber dem Rathaus.

»Sie kennen die Formalitäten schon von früher«, meinte Herr Salinger und blätterte lustlos in seinen Papieren. »Die ganzen Belehrungen brauche ich Ihnen nicht vorzulesen, zumal wir unter uns sind. Sie wissen über den Ernst der Ehe schließlich Bescheid, gell.« Er blickte entspannt von einem zum anderen.

»Ja«, sagte Tom, »und deshalb hatte ich Sie gebeten, die alte englische Trauformel zu benutzen, damit meine Braut etwas Abwechslung hat.«

»Was hast du?« Ich bemühte mich um einen drohenden Ton. »Die alte englische Formel, in der die Dame Gehorsam geloben muss?«

»Jaha«, nickte Tom. »Oder wolltest du das etwa nicht geloben? Gibt es Schöneres, als meinem Wort zu folgen?«

Ich machte Anstalten aufzustehen. »Dann geh ich! Gehorchen tu ich nicht!«

»Herr Salinger«, sagte Tom, »für solche Fälle von Widerspenstigkeit haben Sie doch sicher Lasso, Handschellen und Daumenschrauben dahinten im Schrank?«

Herr Salinger nickte bedächtig. »Alles da für solche Fälle.«

Tom hielt meine Hand, seit wir nebeneinander im Hochzeitszimmer saßen. Jetzt drückte er sie ein wenig fester. »Willst du, Fiona, mir gehorchen? So antworte mit Ja«, sprach er.

»Nein«, sprach ich.

»Da kann man nichts machen, Herr Salinger«, sagte Tom achselzuckend. »Dann nehmen wir am besten doch die deutsche Formel. Einen Versuch war’s immerhin wert!« Er schaute mich unverschämt glücklich an.

»Grrrh«, machte ich.

Toms Ja kam mit fester Stimme, einem noch festeren Händedruck und einem ermunternden Augenzwinkern in meine Richtung.

»Wollen Sie, Fiona Conradt …«

Ich sah Tom an, der Herrn Salinger ansah, dann mich ansah, dann die Decke ansah. Sie warteten.

»Man wird doch wohl noch überlegen dürfen vor einer derart wichtigen Entscheidung!«, verteidigte ich mich. Und nach einer Pause: »Ja, liebend gern«, und blinzelte zu Tom hinüber.

»Das liebend gern steht nicht in den Vorschriften für die Zeremonie«, gab sich Herr Salinger selbst zu Protokoll und lächelte trotzdem. »Jetzt die Unterschriften, bitte.«

Tom musste zu diesem Behufe meine Hand loslassen, die er gleich danach wieder energisch ergriff.

»May I kiss the bride?«, fragte er mich.

»You may«, sagte ich mit großzügiger Geste und nach einer Pause: »später.« Ich nahm den kleinen bunten Blumenstrauß, den Tom mir mit auf unseren Weg gegeben hatte, und ließ mich von ihm treulich zum Foyer des Rathauses führen. Dort hatte er einen kleinen Sektumtrunk für uns und das Rathauspersonal arrangieren lassen.

Herr Salinger hob sein Glas. »Auf unser junges Paar«, strahlte er. Alle anderen strahlten auch. Selbst Mick und Phil, wenn auch etwas verhaltener.

Tom stellte sein Glas auf den Tisch, schüttelte Herrn Salinger die Hand und schob mich, nachdem ich seinem Beispiel gefolgt war, in Richtung Ausgang.

»Wollt ihr schon weg?«, fragte Mick erstaunt. »Auf dem Programm steht doch ein Festessen mit uns!«

»Im Pfauen ist alles für euch vorbereitet. Lasst es euch schmecken, Kinder. Wir gehen unsere eigenen Wege.« Er winkte dem kleinen Gästekreis zu.

»Komm, Fiona«, sagte er fröhlich. »Es wird Zeit, dass wir Alten uns emanzipieren.«

Das Buch


Liebe im Alter - gibt‘s die? Darf es sie geben?

Die erwachsenen Kinder von Tom und Fiona, seiner lange bekämpften Nachbarin, würden dies peinlich berührt verneinen. »Im Alter«, klärt Toms Sohn Philipp seinen Vater auf, »hat man doch nichts mehr zu tun als einigermaßen anständig zu verlöschen.« Das sehen die beiden 70-Jährigen natürlich anders. Und was, wenn sie sich erdreisten, nicht nur lieben, sondern auch noch heiraten zu wollen?

Mit spitzer Feder und Humor nimmt sich Ruth Gleissner-Bartholdi dieses Themas an. Ihr Roman ist ein Plädoyer für das Selbstbestimmungsrecht der Alten.

Die Autorin


Ruth Gleissner-Bartholdi (*1937) studierte Sprachen und war lange Zeit als Ostexpertin bei der Deutschen Presse Agentur, danach als Außenpolitik-Redakteurin und Kolumnistin bei der Badischen Zeitung Freiburg tätig. Seit 1967 veröffentlicht sie Romane und Krimis, darunter die 2014 bei Der Kleine Buch Verlag erschienenen Wein-Krimis »Ein perfekter Abgang«.

In ihrem neuen Roman thematisiert Ruth Gleissner-Bartholdi das Tabuthema »Liebe im Alter« auf humorvolle und äußerst liebenswerte Weise und will damit Mut machen, Verständnis schaffen und nicht zuletzt gut unterhalten.



Ruth

Gleissner-Bartholdi


Der geteilte Baum


Roman einer späten Liebe


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Alles wirkliche Leben ist Begegnung

Martin Buber



Für Field

Tom 


Ich wusste, es würde der Tag werden. Ich wusste es, als ich in das erste Märzmorgenlicht blinzelte. Und ich wusste, danach würde nichts mehr so sein wie vordem.

Der Gedanke schwebte ein paar Mal durch den Raum. Dann legte er sich plötzlich bleischwer auf meine Brust. So hatte ich mir das anvisierte Jahr hier nicht gedacht. So nicht, Herrschaften!

Ich hörte noch Phils Stimme am Telefon, fast aufgeregt: »Papa, ich hab die Klause für dich! Im Markgräflerland, in einem Dorf zwischen Wald und Reben, am Hang, ziemlich oben, ziemlich einsam, bloß noch ein ehemaliger kleiner Bauernhof und zwei Hütten in der Nähe, gebaut wird da noch lange nicht, du hast eine herrliche Sicht auf die Rheinebene und die Vogesen, 250 Meter sind es runter ins Ortszentrum, das schaffst du mühelos zu Fuß, und das Schönste: das Ganze ist in meiner Nähe, eine knappe Autostunde, Freiburg und Basel nicht weit weg, Frankreich in Sichtweite, im netten kleinen Müllheim kannst du Entschleunigung lernen, du sagst ja gar nichts, wie findest du das?«

»Gut, dass du mal Luft holen musst, sonst käme ich nie zu Wort. Also, ich finde, das hört sich recht gut an.«

Ich wünschte mir Abstand vom Rummel um mein Buch Die Zukunft liegt schon hinter uns, einer – wie mir die Rezensionen bestätigten – schonungslosen Analyse des Umgangs der Menschheit mit der Natur. Und ich hoffte auf Ruhe für die Fortsetzung, der ich den Titel Der große Irrtum geben wollte. Es würde um die irrige Auffassung gehen, die Erde sei uns untertan. Mich sollte in dieser neuen kreativen Phase niemand aufstöbern. Falls sich dies nicht vermeiden ließ, wollte ich es dem Störenfried wenigstens schwer machen. Warum also nicht in das von Phil entdeckte Nest ziehen?

Ich hätte mir denken sollen, dass mein begeisterungsfähiger Sohn das Bild einer Idylle entwarf, dem sich die Wirklichkeit verweigerte.

Gut, das kleine Haus am Hang über dem Dörfchen war maßgeschneidert für mich. Es bot Platz für die wenigen Möbel und vielen Bücher, vor allem aber für den ausladenden Schreibtisch. Und wundersamerweise – Dank an den Vormieter! – waren die nötigen Anschlüsse für zeitgemäße Technik vorhanden. Im Sommer würde ich die Kabel durch die Tür auf die Terrasse legen und dort arbeiten können, vor mir die schier unendliche Rheinebene, links und rechts Rebhänge, deren herbstliche Erträge ich mir mit Behagen vorstellte, und wo sie endeten, kletterte eine lichte Mischung aus Laub- und Nadelbäumen bis hinauf auf die Höhen des Südschwarzwalds.

Unten duckten sich die Dächer zum Teil sehr alter Häuser um ein Kirchlein mit hölzernem Turm, dessen Glocke mich zuerst wegen ihres – wie mir schien – herrschsüchtigen Tons um meine Ruhe fürchten ließ, dann nur noch leicht irritierte, bereits eine Woche später aber mit dem regelmäßigen Läuten am Morgen und Abend zum festen Rhythmus meines Lebens als Einsiedler geworden war. Einsiedler in meinen vier Wänden, um zu präzisieren. Denn bei der Schilderung meiner Nachbarschaft hatte sich Phil, der sonst alles übergenau anschaute, grob vertan – oder gemutmaßt, ich würde mich angesichts des durchaus reizvollen Häuschens mit der übrigen Realität schon anfreunden.

Gewiss, der alte Hof war ein Stück entfernt, genau wie ein unauffälliger Neubau daneben. Aber rechts von meinem Grundstück, etwas nach unten versetzt, lag unüber- und sehr einsehbar (auch in umgekehrter Richtung) ein Fachwerkhaus, nicht groß, aber für mich doch wegen der Nähe ein Ärgernis.

»Die alte Eigentümerin ist vor ein paar Jahren gestorben, die Erben haben es jetzt restaurieren lassen und wollen es, wie ich höre, als Ferienhaus vermieten; das kann dich nicht besonders stören, weil die Saison nicht das ganze Jahr dauert und die Leute wieder verschwinden; und viele können es auch nicht sein, weil so viel Platz gar nicht vorhanden ist, und mehr als ein Auto bringen die auch nicht unter; am Straßenrand dürfen sie eh nicht parken, weil dann der Müllwagen und die so genannte Stadtreinigung nicht mehr durchkommen; du hast also nichts zu befürchten.« Phil sprach noch schneller als gewöhnlich und wieder ohne Punkt. Den setzte ich, indem ich beschloss, mich mit den Gegebenheiten abzufinden.

Das hätte ich nicht tun sollen. Es stellte sich nämlich heraus, dass nebenan keinesfalls ein paar Leute Ferien machen würden. Nein, ich würde auf Dauer Nachbarschaft haben. Und ausgerechnet eine Frau. Eine F-R-A-U! Die Seniorin der Erbengemeinschaft höchstselbst. Ohne Mann. Und, als ob Frau allein nicht reichen würde: Engländerin! Auch das noch! Wahrscheinlich sprach sie kein Wort Deutsch – Engländer tun das selten – und ich, der Sprache mächtig, würde dolmetschen müssen – sonst war ja niemand greifbar. Goethes Gretchen fiel meinem aufgescheuchten Hirn ein: Meine Ruh ist hin, mein Herz ist schwer; ich finde sie nimmer und nimmer mehr.

Frauen, dachte ich, machten immer alles schwierig. Umso mehr, wenn sie alt waren und allein. Und die Lady war alt, wie gestern Abend jemand im Dorfgasthof Pfauen wusste, wo ich meinen Frust in Gesellschaft ersaufen wollte. Wie alt? Keine Ahnung. Mindestens 70 sollte sie sein. Vermutlich also mein Jahrgang, plus / minus. Nur: Mit 70 war ein Mann gemeinhin noch in den besten Jahren, eine Frau hingegen wirklich alt. Was, fragte ich mich, wollte so eine, frisch aus London importiert, hier oben? Dass sie frisch aus London kam, stand für mich fest. Nur Großstädter konnten auf die abwegige Idee kommen, sich in einem Dorf zu vergraben.

Was also wollte sie ausgerechnet hier und dann noch neben mir? Zu Fuß würde sie den Weg ins und vom Dorf doch nicht mehr schaffen, überlegte ich. Also fuhr sie Auto. Mit 70! Und dann die schmale, kurvige Asphalttrasse hier herauf. Im Winter! Bei Eis und Schnee! Stecken bleiben würde sie nach den ersten drei Flocken und Hilfe brauchen. Oder der Motor sprang nicht an, weil sie (wie denn sonst!) das Licht an ihrem sicher ebenfalls bejahrten Fahrzeug nicht ausgeschaltet und die Batterie hatte leerlaufen lassen. Und wer besaß ein Überleitungskabel, um derselben neuen Saft zu geben? Ich Idiot, natürlich. Da spätestens würde sie kapitulieren.

Und wenn nicht? Wer würde für sie einkaufen? Zur Bank gehen? Online-Banking machte ja nicht mal ich und zwar nicht, weil ich dazu unfähig wäre, sondern einzig und allein, weil mir das System viel zu unsicher ist. Die alte Lady, das war anzunehmen, hätte von moderner Technik überhaupt keine Ahnung. Ich kannte etliche sogar jüngere Menschen, die Computer leidenschaftlich und prinzipiell ablehnten, weil sie angeblich das selbstständige Denken behinderten, und sich folglich weigerten, einen solchen anzuschaffen. Die meisten davon Frauen? Ich wollte mich da nicht festlegen, obwohl denen ohnehin der typisch männliche Forscherdrang abging.

Ich jedenfalls gehörte zu den Ersten, die die neue Kommunikationstechnik erlernt hatten und begeistert nutzten. Dass ich durch meinen Beruf als Wissenschaftsjournalist dazu gezwungen wurde, weil man mir andernfalls meine Korrespondentenverträge gekündigt hätte, und dass ich mehr als einen Computer bei Wutanfällen demoliert habe, war ein böses Gerücht. (Außerdem: Wer hätte das nicht schon mindestens einmal gern getan, ehrlich!) Was mich daran erinnerte, dass ich meine E-Mails checken musste. Man sieht nach, ob Post im Briefkasten ist, aber elektronische Briefeingänge werden gecheckt. Letzteres würde die greise Engländerin vermutlich verstehen, rein sprachlich natürlich.

Mit einem Ruck löste ich mich aus meinen Gedanken und sprang endlich aus dem Bett, gähnte die 7.53-Uhr-Sonne an, die sich strahlend über die Hügelkette erhoben hatte und uns einen südlich-warmen Lenztag bescheren wollte, und vollzog sodann das übliche Morgenritual: duschen (nicht rasieren, nein, das tat ich nur jeden vierten Tag – sollte ich meine Stoppeln für ein paar Dörfler abschaben?), die Kaffeemaschine anwerfen, Brötchen aufbacken, Zeitung aus dem Rohr holen und, sich hinter derselben verkriechend, das erste Mahl des Tages einnehmen.

Damit war ich fast fertig, als ich hörte, wie sich ein Dieselmotor stöhnend den Hang heraufquälte. Der Möbelwagen. Die Lady reiste an! Oder vielmehr, berichtigte ich mich, ihre Sachen. Ich lief die Treppe hinunter in mein Arbeitszimmer, dessen Seitenfenster einen (hoffte ich) unauffälligen Blick auf das Geschehen nebenan erlaubte, und sah hinaus.

In der Tat: Der Möbeltransporter hielt mit einem spürbaren Ruck vor dem Nachbarhaus. Zwei junge Männer sprangen aus der Fahrerkabine und sofort zur Seite, weil ein grünes Vehikelchen, das mich an einen Frosch erinnerte, ziemlich forsch auf dem frei gebliebenen schmalen Straßenstreifen vorbeifuhr, dann ebenso forsch abgebremst und vor den Möbelwaren bugsiert wurde.

Dem Frosch entklommen (ja: entklommen, schönes Wort, habe ich gerade erfunden) eilig zwei Frauen und ein jüngerer Mann. Also doch Feriengäste?, überlegte ich zwei Sekunden lang hoffnungsfroh, als mir einfiel, dass Touristen selten mit allen Möbeln anzureisen pflegten. Die drei verschwanden, noch ehe ich sie richtig begutachten konnte, ins Haus, während sich die Spediteure an den Türen ihres Fahrzeugs zu schaffen machten.

Dies, ahnte ich, würde der kaum erträgliche Auftakt einer kaum erträglichen Nachbarschaft werden. Mein Blutdruck, normalerweise an der oberen Untergrenze, setzte zum Steigflug an und mein Magen drohte, sich in falscher Richtung vom Frühstück zu trennen. Dagegen half nur eines: ein kräftiger Schluck aus der Arzneiflasche mit dem Aufdruck Williams Christ. Vorausschauend hatte ich mich damit gleich nach dem Einzug verproviantiert und jeweils eine Flasche dort bereitgestellt, wo akute Notfälle eintreten konnten – im (vom Makler sogenannten) Salon, im Studio (womit er das Arbeitszimmer meinte), im Schlafraum, in Bad und Küche. Ausgespart hatte ich den kleinen Raum neben dem Salon, wo ein bei mir hängengebliebener Gast (männl.) im äußersten Fall übernachten konnte. Auch ihm eine Birnendeponie einzurichten, hielt ich für übertrieben.

Ich griff also in das Notfallfach im Schreibtisch und goss mir eine Dosis meines probaten Beruhigungsmittels ein, von dessen blutdrucksenkender Wirkung ich mich zum wiederholten Mal überzeugen lassen wollte. So richtig aber schien das nicht zu gelingen. Ich spähte hinter der Gardine nach nebenan, sah aber lediglich die Packer ihres Amtes walten. Allzu gern hätte ich einen Blick auf die Lady geworfen. Sie musste eine der beiden Frauen aus dem Frosch sein. Aber welche? Leider hatte ich auch nicht sehen können, was sie aus ihrem Auto hineinschleppten, weil ich nicht um die Ecke schauen konnte. Mit Sicherheit war irgendein Haustier dabei. Mindestens eines. Alte Ladies pflegten Schoßhündchen zu haben oder Katzen oder Kanarienvögel oder Hamster oder weiße Ratten oder alles zusammen.

Ich begann, mich über Phil zu ärgern. Er hätte wissen müssen, dass das kleine Fachwerkhaus nebenan nicht an Touristen vermietet, sondern von der bejahrten Eigentümerin oder Erbin oder was auch immer, jedenfalls einer Greisin bewohnt werden würde. Aus London. Mit Hunden vermutlich, hier oben am Hang, in relativer Einsamkeit. Alte Frauen, wusste man schließlich, brauchten dauernd Gesellschaft, und zwar von Lebewesen, die sie dominieren konnten. Keine Frage, die Lady hatte todsicher einen Vierbeiner, der alsbald dauerkläffend aus der Tür stürzen, durch die Reste der einstigen Buchenhecke zwischen unseren Grundstücken hechten und einen meiner Bäume zu seinem Lieblings-Abort erwählen würde. Und dann die Hundehaufen überall! Mehr noch: Wen der Kläffer schnüffelnd ansprang – »Er will bloß spielen«, würde die Lady wie alle Hundehalter sagen, bis so ein Vieh sich als Zubeißwunder entpuppte –, wen er also schnüffelnd ansprang und nach diesem Test nicht zu goutieren glaubte, der musste um seine Waden oder die nächsthöhere Körperregion fürchten.

Aber womöglich, dachte ich nach ein paar weiteren Tropfen Arznei, hat sie doch keinen Köter, sondern eine Katze. Eine Katze? Nein, vermutlich mindestens zwei von der Sorte. Die respektierten mit Sicherheit ebenfalls keine Grundstücksgrenzen und würden in mein Reich ausschwärmen. Naheliegend – dafür hatten die ein Näschen. Sie würden mein Haus erkunden wollen, außen und innen, wenn ich nicht von jetzt an Fenster und Türen geschlossen hielt. Auf der Terrasse vor meinem Arbeitszimmer im Erdgeschoss würden sie es sich ohnehin gemütlich machen, denn hier stand mein Liege- und Nachdenksessel selbst im Winter, allerdings abgedeckt, was für Katzen aber noch nie ein Hinderungsgrund war: Sie würden halt darunter kriechen. Ich müsste folglich den Stuhl entfernen samt dem Tisch, auf dem sie ohne Zweifel in der Wintersonne, die hier recht warm sein konnte, schlummern würden. Wenn sie nicht gerade auf der Jagd wären. Moderne Katzen, habe ich gelesen, fangen Mäuse, Schlangen, Kröten – und was weiß ich nicht noch alles – nicht, um sich davon zu ernähren, sondern um sie ihren Menschen stolz vor die Füße zu legen – lebendig.

Ich stellte mir vor, wie die Tiere dann auch mir, den sie vermutlich sofort ins Herz schließen würden – Katzen liebten mich aus unerklärlichen Gründen von jeher –, ihre Beute präsentierten. Bei dem Gedanken an lebendfrische Mäuse in meiner Klause machte mein Magen einige riskante Bewegungen – man konnte schon von Konvulsionen sprechen –, sodass ich eiligst ein paar begütigende Birnentropfen hinunterschickte.

Ruhig, mein Junge, mahnte ich mich. Du eilst den Fakten voraus. Was, wenn sie – oh Wunder – gar keine Vierbeiner gleich welcher lästigen Sorte hätte? Sondern, sagen wir mal, einen Kanarienvogel? Ein für Greisinnen gezüchtetes, albernes, gelbes Mini-Federvieh? Das wäre, verglichen mit Hundehaufen allüberall oder Lebendgetier im Haus, zwar nicht direkt ekelhaft, aber in anderer Weise unangenehm: Vögel in Käfigen zu halten, war für mich unerträglich. Als leidenschaftlicher Tierschützer müsste ich einschreiten: »Lady, Sie haben, wie ich zu hören gezwungen bin, einen Vogel im Käfig. Geben Sie ihn frei!«

Sie würde mich durch ihre sicher dicke Brille erstaunt und pikiert ansehen: »Sonst haben Sie keine Sorgen?«

»Oh doch!« Und dann würde ich zu einem längeren Vortrag anheben, der in die nüchterne Feststellung mündete: »Sie sind eine Tierquälerin. Ich werde Sie anzeigen.« Das gäbe Ärger. Aber es wäre völlig egal, schließlich musste man irgendwo einmal mit dem Klarstellen beginnen. Und vieles würde noch dazukommen, wie zum Beispiel der Garten. Ihrer grenzte an meinen gepflegten Rasen – der Stundenlohn des Mähers war beträchtlich –, der bei ihrer Leidenschaft für selbstgesätes Blühendes (alle Greisinnen lieben selbstgesätes Blühendes) rasch in Mitleidenschaft gezogen würde. Schließlich kennen auch Samen keine Grenzen. Womöglich ließ sie auch noch Büsche und Bäume pflanzen – Platz genug hatte sie auf ihrem weitläufigen Areal –, und die würden einem im Handumdrehen Licht und Sicht nehmen. Im Herbst wehte einem dann tonnenweise das nachbarliche Laub entgegen. Wieder wäre ein ernstes Wort fällig – und eine heftige Auseinandersetzung nicht zu vermeiden! Ach, man brauchte nicht einmal so weit nach vorn zu schauen. Kein Tag würde verstreichen, da wäre sie am Telefon – einfach um auszuprobieren, ob es auch im Ortsnetz funktionierte. Frauen und Technik! Kannte man doch, siehe Online-Banking.

Ich spähte neuerlich nach drüben und dankte mir, dass ich die Gardine hatte anbringen lassen, die mir jetzt Sichtschutz bot. Alles war wie vorher: Die Möbelmenschen schleppten den Inhalt ihres Transporters hinein. Ein Klavier schien nicht dabei zu sein. Wenigstens eine gute Nachricht. Nicht auszudenken, wenn die Lady auch noch herumklimpern und mein an Klassik gewöhntes Ohr beleidigen würde. Was aber, dachte ich weiter, wenn sie ihre Stereoanlage – oder gar mehrere davon – auf mich ansetzte? Bei geöffnetem Fenster Tralala-Volksmusik aufdrehte? Oder jenen Sender, der die unsäglichsten Herzschmerzplatten den Methusalems des Landes in die Gehörgänge blies?

Noch drei Tröpfchen um meiner bedrohten Ohren willen. Ich setzte mich an den Schreibtisch, starrte die leeren weißen Bögen an, die ich heute beschreiben wollte. Daraus würde nichts werden, fürchtete ich. Denn das Nächstliegende dämmerte mir erst jetzt: Wer umzieht, findet das, was er sofort braucht, selten zuerst. Da fehlen Kleinigkeiten wie Salz oder Zucker, Brot und Eier, Butter, vielleicht sogar Wein (könnte mir nie passieren!), und entdeckt wird dieser Mangel selbstredend erst nach Ladenschluss. Die Lady bildete hierin bestimmt keine Ausnahme. Offen war lediglich, wann sie läuten und verlegen um dieses oder jenes bitten würde. Und ich? Ich würde ihr in gesetzten, aber deutlichen Worten klar machen, dass sie auch unten im Pfauen danach fragen könnte und nicht bei einem (wieder mal) Junggesellen, der mitten in der Arbeit für sein neues, gewichtiges Buch steckte. Daraufhin würde sie …

In diesem Moment läutete es an der Tür. Ha! Es ging schon los! Womit würde sie die Reihe ihrer Belästigungen eröffnen? Ich stieg die Treppe zum Hauseingang an der Straßenseite betont langsam hinauf, damit sie bemerken konnte, wie sehr sie mich störte. Ich riss die Tür auf, bereits ein: »Nein! Habe ich nicht!« auf den Lippen.

»Ich dachte schon, Sie wären nicht da«, sagte der Postbote und händigte mir die bestellte Sendung Inkjetpapier vom Office-Versand aus. Er deutete mit einer Kopfbewegung nach drüben. »Neue Nachbarin, eh? Schön für Sie. Endlich Leben nebenan.«

»Ja«, erwiderte ich kurz. Und dachte: Wie man’s nimmt. Eines war mir sonnenklar. Schon vor dem ersten Kontakt waren die Lady und ich einander in inniger Feindschaft verbunden.