Cover

Markus Zangger – Jürg Jegges dunkle Seite | Die Übergriffe des Musterpädagogen – Aufgezeichnet von Hugo Stamm – WÖRTERSEH

 

Ein paar einzelne Namen im Buch wurden verändert.

Wörterseh wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2016 bis 2020 unterstützt und dankt herzlich dafür.

Alle Rechte vorbehalten, einschließlich derjenigen des auszugsweisen Abdrucks und der elektronischen Wiedergabe.

© 2017 Wörterseh, Gockhausen

Lektorat: René Staubli, Zollikon
Juristisches Lektorat: Dr. Georg Gremmelspacher, Rechtsanwalt, Basel
Herstellerische Betreuung und Korrektorat: Andrea Leuthold, Zürich
Umschlaggestaltung und Foto Umschlag: Thomas Jarzina, Holzkirchen
Layout und Satz: Beate Simson, Pfaffenhofen a. d. Roth
Druck und Bindung: CPI – Ebner & Spiegel, Ulm

Print ISBN 978-3-03763-080-8
E-Book ISBN 978-3-03763-623-7

www.woerterseh.ch

 

Für all jene,
die aus Scham bis heute schweigen.
 
Was ich bei der Arbeit an diesem Buch begriffen habe:
 
Sobald das Opfer redet,
verliert der Täter seine Macht.

 

Inhalt

Über das Buch

Über die Autoren

Vorwort

»Dureschnuufä«

Der »Lehrer der Nation«

Glückliche Kinderjahre

Harziger Schulstart

In Jegges Sonderklasse

Klassenlager und »Therapie«

Endgültig gefangen

Totale Abhängigkeit

Vermeintlich in Sicherheit

Die Töpferlehre

Der Bestseller

Schmerzhafte Trennung

Das erste Mal

Vom Blitz getroffen

Zurück im Zürcher Unterland

Doris

Mein Job als Assistent

Gemeinsame Wohnung

Als Bühnentechniker in Bern

»Ich mache das nicht mehr!«

Das eigene Haus

Jegges Angebot

Häufige Jobwechsel

Schicksalsschlag

Albträume

Leidensgenossen

Der Brief

Endlich Genugtuung

Das Buch

Dank

»Die Opfer schämen sich für das, was ihnen angetan wird«

Die Psychotherapeutin Regula Schwager im Gespräch mit Hugo Stamm

In der Schweiz haben geschätzt 50 000 Menschen eine pädophile Neigung

Betrachtungen von Hugo Stamm zum Thema Pädophilie

 

Über das Buch

MARKUS ZANGGER war zwölf und in der Regelschule, als ihn der Lehrer Jürg Jegge 1970 »psychologisch« abklärte, zum Sonderschüler degradierte und in seine »angstfreie« Schule versetzte. Heute ist Markus Zangger 59 Jahre alt und macht das Unfassbare öffentlich: Jürg Jegge, der Musterpädagoge, Liedermacher und Autor des Buches »Dummheit ist lernbar – Erfahrungen mit ›Schulversagern‹ «, hat ihn bis weit über die Schulzeit hinaus massiv missbraucht.

Vor diesem Hintergrund bekommt Jürg Jegges Bestseller – das Buch hat sich bis heute über 200 000 Mal verkauft – eine bittere Note. Genauso wie die Preise, mit denen der »neue Pestalozzi« ausgezeichnet wurde, oder auch die Bezeichnung »Lehrer der Nation«, mit der Jürg Jegge 2016 anlässlich des Vierzig-Jahr-Jubiläums seines Longsellers in einem unter mehreren wohlwollenden Artikeln von den Medien gefeiert wurde.

Den Mut, die dunkle Seite des Musterpädagogen publik zu machen, fasste Markus Zangger erst nach einem langen Verarbeitungsprozess und aus der Überzeugung heraus, dass das Unrecht nicht mehr länger verschwiegen werden darf.

 

Über die Autoren

MARKUS ZANGGER
© Wörterseh

MARKUS ZANGGER, geb. 1958, wuchs als jüngstes von fünf Kindern in Embrach auf, wo seine Eltern eine Champignonzucht betrieben. Nach seiner Schulzeit machte er eine Töpferlehre, wurde später Bühnenmeister und arbeitet heute in einem Betrieb des öffentlichen Verkehrs. Nach dem viel zu frühen Tod seiner Frau Doris im Jahr 2009 begann er, Tagebuch zu führen. Durch das Schreiben wurde er sich allmählich gewahr, dass sein ehemaliger Lehrer Jürg Jegge ihn bis ins Erwachsenenalter hinein nicht »therapiert«, sondern massiv sexuell missbraucht hatte. Als er das Gespräch mit ehemaligen Klassenkameraden suchte und dabei klar wurde, dass auch sie betroffen sind, war sein Entschluss gefasst: Er wollte nicht mehr schweigen, sondern das Unfassbare endlich beim Namen nennen. Markus Zangger hat eine erwachsene Tochter und lebt im Zürcher Unterland.

HUGO STAMM
© Wörterseh

HUGO STAMM, geb. 1949, wuchs in Schaffhausen auf. Nach dem Lehrerseminar begann er in Zürich ein Philosophiestudium, das er zugunsten eines Volontariats beim »Tages-Anzeiger« abbrach. Seinem Arbeitgeber blieb er als Journalist und Redaktor vierzig Jahre lang treu. 1974 begann er sich mit der Sektenthematik zu befassen und schrieb 1982 sein erstes Buch über Scientology. Nach weiteren Büchern zeichnete er im Bestseller »Allein gegen die Seelenfänger« die Missbrauchsgeschichte von Lea Saskia Laasner auf. Nachdem er sich davon überzeugt hatte, dass auch Markus Zangger stark genug für den Gang an die Öffentlichkeit ist, half er ihm beim Verfassen seiner Lebensgeschichte. Hugo Stamm betreibt seit elf Jahren einen wöchentlichen Blog über Glaubens- und Sektenfragen; früher für den »Tages-Anzeiger«, heute für das Newsportal »Watson«. Er wohnt in Zürich.

 

Vorwort

Als ich 1970 als zwölfjähriger Primarschüler zu meinem neuen Lehrer Jürg Jegge kam, ahnte ich nicht, welch unheilvolle Wendung mein Leben nehmen sollte. Ich hatte mich in der Volksschule schwergetan und die zweite Klasse repetiert. In der vierten Klasse unterzog mich Jegge einem »Intelligenztest« und sorgte anschließend dafür, dass ich seiner Sonderschule zugeteilt wurde, die er mit dem Segen der Behörden auf einem entlegenen Bauernhof bei Embrach eingerichtet hatte.

Anfänglich gefiel mir sein lockerer Unterricht. Wir waren ein gutes Dutzend Viert- bis Neuntklässler, Mädchen und Knaben. Es gab keinen Leistungsdruck; wir mussten kaum Hausaufgaben machen und duzten unseren Lehrer. Jegge propagierte die »angstfreie Schule«. Besonderen Wert legte er darauf, uns auch in der Freizeit zu treffen. Zuweilen lud er ausgewählte Schüler auch in sein Maiensäß im Turbachtal im Berner Oberland ein.

Dort begannen dann auch die körperlichen Übergriffe. Jegge stellte die Betten zusammen und sagte, er als Lehrer könne wählen und wolle in unserer Mitte schlafen. Wir fanden das seltsam und stritten uns um das Bett am Fenster, das am weitesten von ihm entfernt war. In einer Nacht beobachtete ich, wie er einem Schüler unter die Decke griff. Als ich krank wurde, massierte er mich und berührte dabei auch meinen Penis. Er redete mir ein, ich sei verkrampft, könne nicht locker atmen und habe eine zu enge Vorhaut.

Zurück in Embrach, probierte er an mir eine angeblich revolutionäre Behandlungsmethode aus. Er nannte sie »Dureschnuufä«. Die »Therapie« fand an freien Nachmittagen in seiner Wohnung statt. Zuerst saß Jegge nur am Bettrand, um mich zu berühren. Später legte er sich nackt neben mich und forderte mich auf, gemeinsam mit ihm zu onanieren.

Nur schon diesen Satz zu formulieren, hat mich enorm viel Kraft gekostet. Daher bitte ich um Verständnis, dass ich die Übergriffe auch später im Buch nicht ausführlicher beschreiben werde. Nicht, um Jürg Jegge zu schützen, sondern mich. Ich habe mich oft genug ausgezogen. Jetzt – hier in diesem Buch – entscheide ich selbst, wie weit ich mich entblöße. Diese Grenze ziehe ich klar und sehr bewusst. Denn dieses Buch werden meine Mitarbeiter, meine Nachbarn, meine Freunde, meine Tochter, eines Tages vielleicht sogar meine Enkel lesen. Sie alle sollen wissen, dass das Unfassbare passiert ist. Mehr ist nicht nötig.

Damals durchschaute ich noch nicht, dass mein Lehrer mit der »Therapie« primär seine eigenen sexuellen Bedürfnisse befriedigte. Ich war völlig überfordert, konnte mich niemandem anvertrauen, nicht einmal meiner Mutter, und verstrickte mich immer tiefer in die Abhängigkeit. Diese wurde so groß, dass ich von Jegge auch als Erwachsener kaum mehr loskam. Erst mit 28 Jahren gelang es mir, die sexuellen Übergriffe zu beenden, doch die psychische Abhängigkeit blieb noch viel länger bestehen.

1976 wurde Jegge mit seinem Bestseller »Dummheit ist lernbar – Erfahrungen mit ›Schulversagern‹ « über Nacht zu einem Star. Die ganze Schulszene diskutierte über seine These, wonach das verknöcherte Bildungssystem an sich begabte Schüler dumm mache. Er wurde als Pionier und »neuer Pestalozzi« gefeiert. Bis heute gilt der inzwischen 73-jährige Bestseller-Autor als herausragender Pädagoge. In den Medien ist er nach wie vor prominent vertreten. 2016 erkor ihn die »Weltwoche« sogar zum »Lehrer der Nation«.

Dieses hehre Bild kontrastiert erheblich mit den Erfahrungen, die ich jahrzehntelang mit ihm gemacht habe. Ich habe Jegges dunkle Seite erlebt, war den sexuellen und psychischen Übergriffen des Musterpädagogen hilflos ausgeliefert. Er legitimierte seine Taten mit dem bekannten Arzt und Forscher Wilhelm Reich, der die Meinung vertreten habe, dass psychische Erkrankungen oft mit einer Störung der sexuellen Erlebnisfähigkeit einhergingen.

Jegge benutzte Reichs Atem- und Heilmethode, um mich zu »therapieren«. Er behauptete, er wolle mich von »Ängsten und Nöten« befreien, mich »liebes- und beziehungsfähig« machen. Dabei wirkte er überzeugend und benahm sich so fürsorglich, dass ich nie auf die Idee gekommen wäre, dass das Dureschnuufä gar keine Therapie war, sondern im Gegenteil ein fortgesetzter Missbrauch.

Ich verstand auch lange nicht, warum er mich nach der Schulzeit jahrelang weiter bedrängte und kontrollierte. Ich verriet mein dunkles Geheimnis nicht einmal meiner Frau Doris, weil ich mich schämte und Angst hatte, sie zu verlieren. Erst die Trauer nach ihrem Tod führte dazu, dass ich mich ernsthaft mit den Übergriffen auseinandersetzen konnte. Damals war ich fünfzig Jahre alt.

Die Aufarbeitung war ein schmerzhafter Prozess. Schließlich wurde mir klar, dass ich erzählen musste, was mit mir passiert war. Ich musste endlich darüber sprechen, was ich erlitten hatte. Doch wem sollte ich mich anvertrauen? Wer hätte mir meine Vorwürfe geglaubt? Mir, dem ehemaligen Sonderschüler? Was hätte ich gegen den Vorzeigelehrer, erfolgreichen Buchautor und Liedermacher ausrichten können?

Mein Bedürfnis, die Zusammenhänge zu verstehen, wurde immer stärker. Ich wollte wissen, warum ich bis weit über die Schulzeit hinaus von Jegge abhängig gewesen war. Warum ich mich so lange nicht hatte wehren können, obwohl mich die »Therapie« belastet und angeekelt hatte. Wie es ihm gelungen war, meine Bedenken immer wieder zu zerstreuen. Und wie er es geschafft hatte, sich als mein Wohltäter darzustellen, ohne dass ich seine wahren Absichten durchschaute.

Eine echte Therapie half mir, Antworten auf all diese Fragen zu finden. Als ich dann ehemalige Schulkollegen kontaktierte, mich ihnen anvertraute und erfuhr, dass Jegge sie ebenfalls sexuell missbraucht hatte, wusste ich, dass ich handeln musste.

Zuerst erwog ich eine Strafanzeige. Diesen Plan musste ich aufgeben, als mir ein Anwalt sagte, dass die Übergriffe verjährt seien. Nach reiflicher Überlegung entschloss ich mich, meine Geschichte zu veröffentlichen. Ich setzte mich hin und ergänzte meine Tagebuchnotizen, mit denen ich nach dem Tod meiner Frau Doris begonnen hatte. Damit daraus ein Buch entstehen konnte, brauchte ich professionelle Unterstützung. Ich erzählte der Therapeutin Regula Schwager von der Zürcher Beratungsstelle Castagna von meinem Vorhaben. Sie anerbot sich, einen Kontakt zum Journalisten Hugo Stamm herzustellen, der über große Erfahrung mit den Themen Abhängigkeit, Verstrickung und Gehirnwäsche verfüge.

Hugo Stamm hörte sich meine Geschichte an und kam zum Schluss, sie sei plausibel und glaubwürdig. So begann 2015 eine intensive Zusammenarbeit zwischen ihm und mir. Er hörte mir zu, stellte Fragen, recherchierte und schrieb meine Lebensgeschichte anhand meiner Textfragmente und Erzählungen auf. Ohne dich, lieber Hugo, wäre dieses Buch nicht zustande gekommen. Herzlichen Dank!

Danken möchte ich auch meiner Verlegerin Gabriella Baumann-von Arx, die mich sehr unterstützt hat, sowie René Staubli für sein sorgfältiges Lektorat.

Markus Zangger, im Februar 2017

 

»Dureschnuufä«

»Tschüss, Mama«, rufe ich in die Stube. »Bleib nicht zu lang«, erwidert sie. Schon rassle ich die Holztreppen hinunter und schwinge mich aufs Velo. Ich bin spät dran, aber bis zur Wohnung meines Lehrers sind es nur 700 Meter. Es ist üblich, dass wir Schüler an freien Nachmittagen bei ihm vorbeischauen, um verschiedene Dinge zu besprechen. Er legt Wert darauf, dass Schule und Freizeit ineinander übergehen. Ich lasse mein Rad am Zaun stehen, eile das mit Teppichen ausgelegte Treppenhaus hinauf ins Dachgeschoß und klingle an der Tür.

Jürg Jegge öffnet mir, und wir setzen uns an den Holztisch, um den sich mehrere Stühle und Hocker gruppieren. Daneben steht ein Rattanschaukelstuhl, auf dem es sich mein Lehrer gern bequem macht. Die große Einzimmerwohnung wird durch einen Schrank und ein Büchergestell unterteilt. »Magst du einen Sirup?«, fragt er mich betont freundlich. Schon bringt er mir ein volles Glas.

Er setzt sich zu mir und zeigt mir Texte seines Buchmanuskripts. »Ich habe wieder viel geschrieben und bin gut vorangekommen«, sagt er stolz. Ich mag es, wenn er mit mir spricht wie mit einem Erwachsenen. Es schmeichelt mir, dass er mich über sein Buchprojekt informiert, in dem er sein neues pädagogisches Konzept beschreibt. Ich bin sogar ein wenig stolz, dass ich in seinem Buch vorkommen werde.

Doch dann folgt schon die Frage, vor der ich mich jedes Mal fürchte: »Wollen wir noch ›dureschnuufä‹?« – »Nicht schon wieder«, denke ich. Er spürt mein Zögern und ermuntert mich freundlich: »Ach komm, das schadet dir nicht, ja, es tut dir bestimmt gut.« So lasse ich mich einmal mehr überreden.

Jürg steht sofort auf, geht zur Wohnungstür und schaut durch den Spion. Er vergewissert sich, dass das Treppenhaus leer ist, und dreht vorsichtig den Schlüssel im Schloss. Das leise Klacken treibt meinen Puls in die Höhe. Es ist das Signal für ein heimliches Ritual, das mir jedes Mal Angst macht und mich zutiefst beschämt. Ich gehe in den abgegrenzten, dunklen Teil des Zimmers, wo sein Bett steht. Als Jürg kommt, ziehe ich mich wie immer aus und lege mich im Bett auf den Rücken. Er rückt den Stuhl an die Bettkante und setzt sich.

Behutsam massiert er mich am ganzen Körper und streichelt dabei auch meinen Penis. Er fordert mich auf, tief ein- und auszuatmen. Er gibt mir zu verstehen, dass dies Teil einer neuartigen und besonders wirksamen Therapie sei. Er nennt sie »Dureschnuufä«.

Mir ist das, was wir da machen, mehr als peinlich. Ich liege nackt auf dem Bett meines Lehrers und muss lernen, richtig zu atmen. Ich weiß nicht, wie ich reagieren soll. Ich würde am liebsten aufstehen und gehen. Oder im Boden versinken. Ich wage es aber nicht, mich zu wehren. Das Dureschnuufä helfe mir, meine innere Verkrampfung zu lösen, sagt mir Jürg, den ich auch in der Schule beim Vornamen nenne. Die revolutionäre Therapie habe der berühmte Psychiater Wilhelm Reich entwickelt.

»Du bist verkrampft«, sagt er zu mir, »entspanne dich endlich. Das Dureschnuufä löst deine Blockaden, lockert deinen verspannten Bauch und hilft, dass die Energie in deinem Körper wieder gut fließen kann.«

»Bin ich gestört oder gar krank?«, frage ich mich zum wiederholten Mal. »Steht es mit mir so schlimm, dass ich psychologische Hilfe brauche?« Seine Worte machen mir Angst, doch ich bin trotzdem froh, dass Jürg mir hilft. Er sagt mir immer wieder, ich könne mich glücklich schätzen, dass er mich therapeutisch unterstütze. Gleichzeitig gibt er mir zu verstehen, dass ich ihm dankbar sein müsse. So lasse ich alles über mich ergehen. Ich bin verunsichert und weiß nicht mehr, was richtig und was falsch ist.

Nach einer Weile, die mir wie eine halbe Ewigkeit vorkommt, sagt er, es sei gut für heute. Er steht auf und wendet sich rasch ab. Ich sehe, dass er erregt ist. Ich bin froh, dass ich es für heute überstanden habe, und ziehe mich schnell an.

Ich gehe zum Stubentisch zurück, mein Lehrer schaut wieder durch den Spion. Behutsam dreht er den Schlüssel. Es ist für mich das Signal, dass wir wieder auf der anderen Seite der Realität angekommen sind. Ich, der dreizehnjährige Sechstklässler Markus Zangger, und er, mein 28-jähriger Lehrer Jürg Jegge.

Wir setzen uns an den Tisch, und ich trinke meinen Sirup leer. Dann nehme ich all meinen Mut zusammen und sage zu Jürg, dass ich die Therapie komisch finden würde. Ich wage es nicht, ihm dabei in die Augen zu schauen. »Ich habe dir doch schon mehrmals erklärt, dass es eine neue Therapiemethode ist«, erwidert er ungehalten. Wie in der Schule, wenn er etwas wiederholt erklären muss, weil wir Schüler es nicht kapiert haben. Vorläufig dürfe ich mit niemandem darüber sprechen, weil die Leute die neue Therapie nicht verstehen würden, schärft er mir ein. Wenn unsere Methode in Verruf gerate, sei alles umsonst gewesen.

Um mich zu beruhigen, erzählt mir Jürg, Wilhelm Reich habe bei seinen wissenschaftlichen Arbeiten herausgefunden, dass psychische Störungen direkt mit der Unfähigkeit der sexuellen Erlebnisfähigkeit zusammenhängen würden. Ich verstehe das nicht und schaue ihn verwundert an. Er überlegt kurz und beugt sich zu mir. »Ich kann dich beruhigen. Vermutlich werde ich in meinem Buch über das Dureschnuufä schreiben. Dann wirst du erkennen, dass die Therapie seriös ist.«

»Du willst tatsächlich in deinem Buch darüber schreiben?«, frage ich ihn überrascht. Jürg sagt: »Ich muss es natürlich vorsichtig formulieren, sodass es nicht alle Leser merken. Die Fachleute werden aber verstehen, was ich meine.«

Ich bin beruhigt, dass ich nichts Unrechtes tue. »Vielleicht ist die Behandlung gar nicht so komisch, wie ich sie empfinde«, denke ich. »Vielleicht bin ich ja wirklich so verklemmt, wie er mir immer wieder sagt.« Jürg fügt dann noch an: »Du willst doch nicht, dass unsere Schule geschlossen wird? Deine Klassenkameraden wären sehr traurig.« Nein, das will ich natürlich nicht. Ich verabschiede mich rasch von meinem Lehrer. »Bis morgen in der Schule!«, ruft er mir nach.

Gedankenversunken fahre ich mit dem Velo nach Hause. Trotz seiner Beteuerungen habe ich leise Zweifel und ein schlechtes Gewissen. Mein Lehrer ist zwar ausgesprochen nett zu mir, aber ich mag es nicht, wenn er mich berührt. Schon gar nicht so. Ich begreife auch nicht, was dies mit einer Therapie zu tun haben soll.

»Bist du wieder da?«, ruft meine Mutter aus dem Wohnzimmer, wo sie in einer Ecke ihr Büro eingerichtet hat. »Ja«, antworte ich mürrisch. Sie bittet mich, einige Geschäftsbriefe zur Post zu bringen, Rechnungen für unsere Kunden. Ich nehme ihr den Botengang gern ab, denn ich weiß, wie viel sie im Büro und für die Familie arbeitet.

 

Der »Lehrer der Nation«

Fünf Jahre später, 1976, veröffentlichte Jürg Jegge sein Manuskript im Berner Zytglogge Verlag unter dem Titel »Dummheit ist lernbar – Erfahrungen mit ›Schulversagern‹ «. Die NZZ schrieb, der Sonderschullehrer rüttle mit seinen Thesen »an den Grundfesten der Pädagogik«.

Der Zytglogge Verlag brachte weitere Bücher von ihm auf den Markt: 1979 »Angst macht krumm – Erziehen oder Zahnrädchenschleifen«, 1991 »Abfall Gold – Über einen möglichen Umgang mit ›schwierigen Jugendlichen‹ « und 2006 »Die Krümmung der Gurke. Menschen – nicht stapelbar«. Darin verglich Jegge die EU-Normen beim Gemüse mit der Normierung der Schulkinder. Für den Limmat Verlag schrieb er schließlich das Buch »Fit und fertig – Gegen das Kaputtsparen von Menschen und für eine offene Zukunft«, das 2009 erschien. Der Autor, warb der Verlag, erinnere »auf erfrischende Art daran, dass der Mensch nicht auf der Welt ist, um eine doppelte Buchhaltung zu führen«.

Für seine »kritische Aufklärung und sein humanitäres Engagement« erhielt Jegge 1999 den Robert-Mächler-Preis. 2011 verlieh ihm die Doron-Stiftung des Zuger Rohstoffhändlers Marc Rich ihre mit 50 000 Franken dotierte Auszeichnung. In der Laudatio hieß es: »Unsere Gesellschaft stützt sich auf Persönlichkeiten wie Jürg Jegge, die sich voll und ganz für Menschen in einem schwierigen Umfeld einsetzen.« Er leiste seit vielen Jahren »einen wichtigen Beitrag an unsere Gesellschaft«.

Jegge ging 2011 in Pension, nachdem er die von ihm gegründete Stiftung »Märtplatz« für die berufliche Wiedereingliederung junger Menschen »mit Startschwierigkeiten« 26 Jahre lang geleitet hatte. Seine Popularität blieb indessen ungebrochen. Als Liedermacher trat er weiterhin auf Kleinkunstbühnen auf, beispielsweise im November 2015 zusammen mit dem bekannten Kabarettisten Joachim Rittmeyer im Hotel Beatus in Merligen im Berner Oberland.

Wann immer es um pädagogische Fragen ging, griffen die Medien gern auf den ehemaligen Zürcher Sonderschullehrer zurück. Aus Anlass des Vierzig-Jahr-Jubiläums seines Bestsellers »Dummheit ist lernbar« durfte er beispielsweise im April 2016 in der »SonntagsZeitung« auf einer ganzen Seite das Schweizer Schulsystem kritisieren. Der Lehrplan 21 »mit seiner Kompetenzhuberei« zeige einmal mehr, »dass die Schule nicht in erster Linie als Lernort, sondern als Kindersortieranstalt funktioniert«, monierte der damals 72-Jährige. Und weiter: »In unserer Welt lassen sich, grob gesagt, drei Schichten von Menschen erkennen: führende, geführte und solche, die an der Nase herumgeführt werden. Die Schule sortiert hier vor, indem sie die Kinder rechtzeitig einteilt und so für die entsprechenden Bildungsunterschiede sorgt. Das machte sie bisher offenbar zur Zufriedenheit der Führenden, denn sonst hätte sich längst etwas geändert.«

Nachdem sich »Dummheit ist lernbar« laut »Weltwoche« vom 8. September 2016 über die Jahre im In- und Ausland rund 200 000 Mal verkauft hatte, kürte das Blatt Jegge zum »Lehrer der Nation«. Kaum jemand habe die moderne Schweizer Volksschule derart geprägt wie er. Sein Buch habe den Durchbruch der 68er-Pädagogik eingeleitet. Und weiter: »Jegge ist ein Mann, bei dem die Lebenslust, der Idealismus und vor allem die Liebe zu den sogenannten Problemkindern mit jeder Gestik, jedem Satz zum Ausdruck kommen.«