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Hans Fallada

Wolf unter Wölfen

Ungekürzte und kommentierte Ausgabe

Hans Fallada

Wolf unter Wölfen

Ungekürzte und kommentierte Ausgabe

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019
EV: Rowohlt Verlag, Berlin, 1937 (1155 S.)
1. Auflage, ISBN 978-3-962813-38-3

null-papier.de/574

null-papier.de/katalog

Inhaltsverzeichnis

ERSTES KAPITEL – Man er­wacht in Ber­lin und an­ders­wo

1. Mäd­chen und Mann

2. Das Mäd­chen er­wacht halb

3. Ein Ritt­meis­ter kommt nach Ber­lin

4. Ber­lin macht sich Früh­stück

5. Förs­ter Knie­busch trifft Holz­die­be

6. Hun­ger­re­vol­te im Zucht­haus Mei­en­burg

7. Die Zofe So­phie schreibt einen Brief

8. Mäd­chen und Mann er­wa­chen

ZWEITES KAPITEL – Ber­lin macht sich schwach

9. Der Ritt­meis­ter sucht Leu­te

10. War­ten auf ein Früh­stück

11. Pe­tra wird von ei­nem Spie­ler ge­bil­det

12. Der Ritt­meis­ter en­ga­giert Leu­te

13. Frau Pa­gel früh­stückt

14. Ehe und Ein­sam­keit der Frau Pa­gel

15. Ein er­folg­lo­ser Spie­la­bend

16. Aus­ein­an­der­set­zung zwi­schen Lie­ben­den

DRITTES KAPITEL – Jä­ger und Ge­jag­te

17. In­spek­tor Mei­er macht eine Be­kannt­schaft

18. Be­such auf ei­ner Pfand­lei­he

19. Der Ritt­meis­ter trifft einen Ka­me­ra­den

20. Pe­tra macht eine Ent­de­ckung

21. Prack­witz fin­det Ber­lin ekel­haft

22. Pa­gel zö­gert vor Ze­cke

23. Pa­gel be­kommt kein Geld

24. Pa­gel lässt sich mit­neh­men

25. Frau Pa­gel hört von ei­ner Hei­rat

VIERTES KAPITEL – Nach­mit­tags­schwü­le über Stadt und Land

26. Ein In­ter­view im Zucht­haus

27. Pe­tras Aus­trei­bung

28. In­spek­tor Mei­er macht sich be­liebt

29. Der Ritt­meis­ter auf dem Prä­si­di­um

30. Pa­gel bei rei­chen Leu­ten

31. Ne­ger­mei­er als Lie­bes­bo­te

32. Frau Pa­gel be­sucht Frau von An­klam

33. Pe­tra im Tor­weg

FÜNFTES KAPITEL – Das Ge­wit­ter bricht los

34. Ober­wacht­meis­ter Gu­bal­ke nimmt Pe­tra fest

35. Wolf­gang auf dem Wege zur Mut­ter

36. Streit mit der Mut­ter

37. Ent­las­sung der Zofe So­phie

38. Förs­ter Knie­busch er­fährt Neu­es

39. Beim Schul­zen Haa­se

40. Von Stud­mann fällt die Trep­pe hin­un­ter

41. Pa­gel ver­kauft sein Bild

42. Pe­tra auf der Wa­che

43. Pa­gel er­fährt Neu­es über Pe­tra

SECHSTES KAPITEL – Das Ge­wit­ter ist vor­bei, aber es bleibt schwül

44. Prack­witz er­le­digt den Fall Stud­mann

45. Ne­ger­mei­er schenkt sein Es­sen der Har­tig

46. Weio im Kom­plott mit Rä­der und Knie­busch

47. Pe­tra als Pfle­ge­rin der Hüh­ner­wei­he

48. Ge­heim­rat von Te­schow schreibt eine Rech­nung

49. Aman­da in der Abend­an­dacht

50. Frau Pa­gel und Min­na pa­cken

51. So­phie im Christ­li­chen Ho­spiz

52. Prack­witz en­ga­giert Stud­mann

53. Die bei­den Freun­de tref­fen Pa­gel

SIEBENTES KAPITEL – Schwü­le Voll­mond­nacht

54. Aman­da und Frau Har­tig ei­ni­gen sich we­gen Mei­er

55. Ge­heim­rats ge­hen schla­fen

56. Ne­ger­mei­er be­sorgt sich einen Rausch

57. Der Leut­nant steigt ein, aber Aman­da passt auf

58. Der Leut­nant fin­det einen Brief

59. Förs­ter Knie­busch fängt einen Wil­de­rer

60. Auf der Stra­ße vor dem Spiel­klub

61. Pa­gel spielt er­folg­los

62. Der Ritt­meis­ter wird Pa­gels Schü­ler

ACHTES KAPITEL Es ver­wirrt sich in der Nacht

63. Aman­da über­re­det Hän­se­ken zur Flucht

64. Der Leut­nant be­sucht Herrn Mei­er

65. Mei­er schießt

66. Der Leut­nant hat es ei­lig

67. Frau Kru­paß er­klärt ih­ren Stand­punkt

68. Pe­tra wird Stell­ver­tre­te­rin von Frau Kru­paß

69. Streit mit dem Va­lu­ten­vamp

70. Von Stud­manns Irr­fahrt

71. Pa­gel spielt das große Spiel

72. Drei auf dem Alex

73. Pa­gel an der Pfor­te

NEUNTES KAPITEL – Ein neu­er Start am neu­en Tag

74. So­phie er­wacht

75. Ne­ger­mei­er knapp am Tod vor­bei

76. Pa­gel holt sein Ge­päck

77. Lieb­sch­ner ver­schafft sich Au­ßen­ar­beit

78. Auch Pe­tra steht auf

79. Weio be­rich­tet wil­de Din­ge

80. Der Ritt­meis­ter und sei­ne Leu­te

81. So­phie ret­tet den Ritt­meis­ter

ZEHNTES KAPITEL – Frie­de der Fel­der

82. Stud­mann zeigt Frau Har­tig Fens­ter­put­zen

83. Stud­mann und der Ge­heim­rat in Streit

84. Da ge­hen sie!

85. Über­mut ei­nes Ober­leut­nants

86. Rä­der, der tie­fe Di­plo­mat

87. So­phies Aben­teu­er

88. Der Ge­heim­rat fin­det Bil­der­chen

89. Pa­gel fin­det einen Brief

90. Fang von Feld­die­ben

91. Zei­tun­gen, Zei­tun­gen

ELFTES KAPITEL – Es kom­men des Teu­fels Husa­ren

92. Der Ritt­meis­ter schreit we­gen ei­nes Brie­fes

93. Die Ent­las­sung Pa­gels

94. Pa­gel küsst Weio

95. Stud­mann er­läu­tert einen Pacht­ver­trag

96. Ein­rücken der Husa­ren

97. Der Ge­heim­rat macht Schwie­rig­kei­ten

98. Back­stein­kreuz und Gän­se­mord

99. Nach dem Gän­se­mord

100. Der Ritt­meis­ter und Weio ma­chen eine Ent­de­ckung

101. Rä­der hat bei Weio einen Er­folg

102. Der Ritt­meis­ter wehrt sich

103. Wolf­gang und Weio in der Nacht

104. Aber die Zei­tun­gen

105. Neu­lo­he ohne Ritt­meis­ter

106. Min­na fin­det Pe­tra

107. Ober­wacht­meis­ter Marof­ke sieht Ge­s­pens­ter

108. Fünf Ge­s­pens­ter lau­fen

109. Pa­gel ruft um Hil­fe

110. Marof­ke ge­stürzt

111. Heim­kehr des Ritt­meis­ters

112. Ein Brief von Ge­heim­rat Schröck

113. Ein Ge­richts­ter­min in Frank­furt

114. Ehe­li­che Sze­ne um ein Auto

115. Frau Eva und Stud­mann kom­men ein­an­der nä­her

116. Pa­gel trifft Ne­ger­mei­er im Wald

DREIZEHNTES KAPITEL – Ver­lo­ren und ver­las­sen

117. Stud­mann reist und Frau Eva ist sehr al­lein

118. Frau Eva bit­tet den Die­ner um Aus­kunft

119. Die al­ten Te­schows rei­sen

120. Im »Gol­de­nen Hut« zu Osta­de

121. Der Leut­nant in der Zan­ge

122. Fehl­schlä­ge ei­nes Selbst­be­wuss­ten

123. Der Ritt­meis­ter geht ver­lo­ren und Frau Eva war­tet

124. Ende ei­nes Leut­nants

125. Fa­mi­lie Prack­witz kehrt heim

126. Das Ver­schwin­den Vio­lets

127. Su­che in der Nacht

VIERZEHNTES KAPITEL – Das Le­ben geht wei­ter

128. Pa­gel als Re­gen­te

129. Ein­lass in eine Kam­mer

130. Klei­ne Ehe ohne Ehe

131. So­phie im Kampf

132. Knie­busch stumm ge­wor­den

133. Pa­gels mut­lo­se Stun­de

134. Der Ritt­meis­ter er­wacht

135. Frau Eva und ihr In­spek­tor

136. Der Ritt­meis­ter spricht wie­der

FÜNFZEHNTES KAPITEL – Der Letz­te bleibt nicht al­lein

137. Höchs­te Geld­not in Neu­lo­he

138. Hel­den­tod ei­nes Feig­lings

139. Pa­gel ver­steht zu spät

140. Pa­gel muss Geld be­schaf­fen

141. Te­schow ju­ni­or hat eine Erb­schafts­vi­si­on

142. Ab­schieds­s­tim­mung un­ter den Leu­ten

143. Der di­cke Kri­mi­na­list gibt Nach­richt

144. Heim­kehr ei­ner Toch­ter

SECHZEHNTES KAPITEL – Die Wun­der der Ren­ten­mark

145. Al­les, al­les an­ders!

146. Wolf­gang geht wie­der zur Schu­le

147. Pe­tra als Si­re­ne

148. Mo­de­sa­lon Eva von Prack­witz

149. Aman­da Backs ent­lobt sich

150. Ab­schied von Ge­heim­rats

151. Des Schwim­mens un­kun­dig

152. Mann und Frau in der Nacht

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ERSTES KAPITEL – Man erwacht in Berlin und anderswo

1. Mädchen und Mann

Auf ei­nem schma­len Ei­sen­bett schlie­fen ein Mäd­chen und ein Mann.

Der Kopf des Mäd­chens lag in der El­len­bo­gen­beu­ge des rech­ten Arms; der Mund, sach­te at­mend, war halb ge­öff­net; das Ge­sicht trug einen schmol­len­den und be­sorg­ten Aus­druck – wie von ei­nem Kind, das nicht aus­ma­chen kann, was ihm das Herz be­drückt.

Das Mäd­chen lag ab­ge­kehrt vom Mann, der auf dem Rücken schlief, mit schlaf­fen Ar­men, in ei­nem Zu­stand äu­ßers­ter Er­schöp­fung. Auf der Stirn, bis in das krau­se, blon­de Kopf­haar hin­ein, stan­den klei­ne Schweiß­trop­fen. Das schö­ne und trot­zi­ge Ge­sicht sah ein we­nig leer aus.

Es war – trotz des ge­öff­ne­ten Fens­ters – sehr heiß in dem Zim­mer. Ohne De­cke und Nacht­kleid schlie­fen die bei­den.

Es ist Ber­lin, Ge­or­gen­kirch­stra­ße, drit­ter Hin­ter­hof, vier Trep­pen, Juli 1923, der Dol­lar steht jetzt – um sechs Uhr mor­gens – vor­läu­fig noch auf vier­hun­dert­vier­zehn­tau­send Mark.

2. Das Mädchen erwacht halb

In den Schlaf der bei­den sand­te der dunkle Schacht des Hin­ter­hofs die flau­en Gerü­che aus hun­dert Woh­nun­gen. Hun­dert Geräusche, sach­te noch, dran­gen durch das of­fe­ne Fens­ter, vor dem reg­los eine gelb­lich­graue Gar­di­ne hing. Plötz­lich schrie, auf der an­de­ren Sei­te des Ho­fes, kei­ne acht Me­ter ent­fernt, ein Flücht­lings­kind von der Ruhr angst­voll auf.

Die Li­der des schla­fen­den Mäd­chens zuck­ten. Der Kopf hob sich ein we­nig. Die Glie­der spann­ten sich. Nun wein­te das Kind lei­ser, eine Frau­en­stim­me schalt schrill, ein Mann brumm­te – und der Kopf sank zu­rück, die Glie­der ent­spann­ten sich neu – das Mäd­chen schlief wei­ter.

Im Haus rühr­te es sich. Tü­ren schlu­gen, Schrit­te schlurf­ten über den Hof. Auf den Trep­pen pol­ter­te es, Email­le­kan­nen schlu­gen ge­gen ei­ser­ne Ge­län­der. In der Kü­che ne­ben­an lief die Was­ser­lei­tung. Im Erd­ge­schoss, in der Blech­stan­ze­rei, schrill­te eine Glo­cke, Rä­der surr­ten, Rie­men schleif­ten …

Die bei­den schlie­fen …

3. Ein Rittmeister kommt nach Berlin

Über der Stadt lag – trotz frü­her Stun­de und kla­ren Him­mels – ein trüber Dunst. Der Bro­dem ei­nes ver­elen­de­ten Vol­kes stieg nicht gen Him­mel, er haf­te­te träg an den Häu­sern, kroch durch alle Stra­ßen, si­cker­te durch die Fens­ter, in je­den at­men­den Mund. Die Bäu­me in den ver­wahr­los­ten An­la­gen lie­ßen fahl die Blät­ter hän­gen.

Dem Schle­si­schen Bahn­hof nä­her­te sich, aus dem Os­ten des Rei­ches kom­mend, ein frü­her Fern­zug, mit klap­pern­den Fens­tern, zer­bro­che­nen Schei­ben, zer­schnit­te­nen Pols­tern – die Rui­ne ei­nes Zu­ges. Schla­gend, klir­rend, sto­ßend fuh­ren die Wa­gen über die Wei­chen und Kreu­zun­gen von Stralau-Rum­mels­burg.

Ein Herr, Ritt­meis­ter a.D. und Rit­ter­gut­späch­ter, Joa­chim von Prack­witz-Neu­lo­he, weiß­haa­rig und schlank, doch mit dun­kel glü­hen­den Au­gen, beug­te sich hin­aus, zu se­hen, wo man wäre. Er fuhr zu­rück – ein glü­hen­des Ruß­teil­chen war ihm ins Auge ge­flo­gen. Mit dem Ta­schen­tuch wisch­te er, er schalt zor­nig: »Elen­de Dreck­stadt!«

4. Berlin macht sich Frühstück

Im Herd war Feu­er ent­zün­det mit lap­pi­gem, gel­bem Pa­pier und Streich­höl­zern, die stan­ken oder de­ren Kup­pe ab­flog. Feuch­tes, schwam­mi­ges Holz oder min­der­wer­ti­ge Koh­le schwel­ten. Das ver­fälsch­te Gas brann­te puf­fend, ohne zu hit­zen. Lang­sam wur­de wäss­ri­ge, blaue Milch warm, das Brot war klit­schig oder zu tro­cken. In der Hit­ze der Woh­nun­gen weich ge­wor­de­ne Mar­ga­ri­ne roch ran­zig.

Ei­lig aßen die Leu­te das lieb­lo­se Es­sen, ei­lig, wie sie ei­lig in die zu oft ent­fleck­ten, ge­wa­sche­nen, aus­ge­beu­tel­ten Klei­der ge­fah­ren wa­ren. Ei­lig über­flo­gen ihre Au­gen die Zei­tun­gen. Es hat­te Teue­rungs­kra­wal­le, Un­ru­hen und Plün­de­run­gen in Glei­witz und Bres­lau, in Frank­furt am Main und Neu­rup­pin, in Eis­le­ben und Dram­burg ge­ge­ben, sechs Tote und tau­send Ver­haf­te­te. Da­rauf­hin hat die Re­gie­rung Ver­samm­lun­gen un­ter frei­em Him­mel ver­bo­ten. Der Staats­ge­richts­hof ver­ur­teilt eine Prin­zes­sin we­gen Be­güns­ti­gung des Hoch­ver­rats und Mein­eids zu sechs Mo­na­ten Ge­fäng­nis – aber der Dol­lar steht auf vier­hun­dert­vier­zehn­tau­send Mark ge­gen drei­hun­dert­fünf­zig­tau­send am 23. »Am Ul­ti­mo, in ei­ner Wo­che, gibt es Ge­halt – wie wird der Dol­lar dann ste­hen? Wer­den wir uns zu es­sen kau­fen kön­nen? Für vier­zehn Tage? Für zehn Tage? Für drei Tage? Wer­den wir Schuh­soh­len kau­fen, das Gas be­zah­len kön­nen, das Fahr­geld? Schnell, Frau, hier sind noch zehn­tau­send Mark, kauf was da­für. Was, ist gleich­gül­tig, ein Pfund Mohr­rü­ben, Man­schet­ten­knöp­fe, die Schall­plat­te ›Bana­nen ver­langt sie von mir‹ – oder einen Strick, uns auf­zu­hän­gen … Nur schnell, lauf, rasch!«

5. Förster Kniebusch trifft Holzdiebe

Auch über Rit­ter­gut Neu­lo­he leuch­te­te die frü­he Son­ne. Auf den Fel­dern stand der Rog­gen in Stie­gen, der Wei­zen war reif, der Ha­fer auch. Ein paar Ma­schi­nen klap­per­ten ver­lo­ren in der Fel­der­wei­te, über der die Ler­chen un­er­müd­lich ihre Wir­bel und Tril­ler schlu­gen.

Förs­ter Knie­busch, rot­brau­nes, fal­ti­ges Al­ters­ge­sicht, mit kah­lem Kopf, aber weiß­gelb­li­chem, run­dem Voll­bart, tritt aus der Hit­ze des of­fe­nen Fel­des in den Wald. Er geht lang­sam, mit der einen Hand rückt er den Flin­ten­rie­men auf der Schul­ter zu­recht, mit der an­de­ren wischt er den Schweiß von der Stirn. Er geht nicht fröh­lich, nicht ei­lig, nicht kraft­voll; er geht in sei­nem ei­ge­nen, also we­nigs­tens in dem von ihm be­treu­ten Forst sacht­fü­ßig, mit wei­chen Kni­en, vor­sich­tig. Sein Auge sieht auf dem Wege je­den Ast, er ver­mei­det, auf ihn zu tre­ten, er will lei­se ge­hen.

Und doch trifft er trotz al­ler Vor­sicht bei ei­ner Weg­bie­gung, hin­ter ei­nem Ge­büsch vor­kom­mend, auf eine klei­ne Pro­zes­si­on von Hand­wa­gen. Män­ner und Frau­en. Auf den Wa­gen liegt frisch ge­schla­ge­nes Holz, nur schie­re Stäm­me – die Äste sind de­nen zu schlecht. Förs­ter Knie­busch steigt die Zorn­rö­te in die Wan­gen, sei­ne Lip­pen be­we­gen sich, in die vom Al­ter aus­ge­blass­ten blau­en Au­gen kommt ein tiefe­rer Glanz, ein we­nig Feu­er, aus der Ju­gend her.

Der Mann am vor­ders­ten Wa­gen – na­tür­lich der Bäu­mer – hat ge­stutzt. Nun geht er schon wei­ter. Nahe, in kaum ei­nem Me­ter Ab­stand, klap­pern die Wä­gel­chen mit dem ge­stoh­le­nen Holz am Förs­ter vor­über. Die Leu­te star­ren in die Luft oder zur Sei­te, als sei er nicht da, der da schwer at­mend steht … Dann ver­schwin­den sie um die Ge­bü­sche­cke.

»Sie wer­den alt, Knie­busch«, hört der Förs­ter des Ritt­meis­ters von Prack­witz Stim­me.

Ja, denkt er trü­be. Ich bin so alt ge­wor­den, dass ich ger­ne in mei­nem Bett ster­ben möch­te.

Denkt es und geht wei­ter.

Er wird nicht in sei­nem Bet­te ster­ben.

6. Hungerrevolte im Zuchthaus Meienburg

Im Zucht­haus Mei­en­burg schril­len die Alarm­glo­cken, die Wacht­meis­ter ren­nen von Zel­le zu Zel­le, der Di­rek­tor te­le­fo­niert mit der Reichs­wehr um Ver­stär­kung, die Ver­wal­tungs­be­am­ten schnal­len sich Gür­tel mit Pis­to­len um die Bäu­che und grei­fen nach Gum­mi­knüt­teln. Vor zehn Mi­nu­ten hat Ge­fan­ge­ner 367 dem Wacht­meis­ter sein Brot vor die Füße ge­wor­fen: »Ich ver­lan­ge Brot, vor­ge­schrie­be­nes Ge­wicht, und kei­nen ver­damm­ten Gips­brei!« hat er ge­schri­en.

In der glei­chen Se­kun­de war der Tu­mult, der Aufruhr los­ge­bro­chen. Aus zwölf­hun­dert Zel­len hat­te es ge­schri­en, ge­brüllt, ge­jam­mert, ge­sun­gen, ge­heult: »Kohldampf! Hun­ger! Kohldampf! Hun­ger!«

Un­ter den strah­lend wei­ßen Mau­ern des hoch ge­le­ge­nen Zucht­hau­ses lag ge­duckt das Städt­chen Mei­en­burg – in je­des Haus, in je­des Fens­ter drang das Ge­brüll: »Kohldampf! Hun­ger!« Nun krach­te es, tau­send Ge­fan­ge­ne wa­ren mit ih­ren Sche­meln ge­gen die Ei­sen­tü­ren an­ge­rannt.

Durch die Gän­ge lie­fen die Wacht­meis­ter und Kal­fak­to­ren, flüs­ter­ten be­schwö­rend an den Tü­ren der Auf­rüh­re­ri­schen. Die Zel­len der Gut­ge­sinn­ten wur­den auf­ge­schlos­sen: »Seid ver­nünf­tig, nie­mand in Deutsch­land be­kommt an­de­res Es­sen … der Dol­lar … das Ruhr­re­vier … Es wer­den so­fort Ern­te­kom­man­dos zu­sam­men­ge­stellt, die auf die großen Gü­ter ge­schickt wer­den. Jede Wo­che ein Pa­ket Ta­bak, täg­lich Fleisch … für die mit gu­ter Füh­rung …«

Mäh­lich schwillt der Lärm ab. Ern­te­kom­man­dos … Fleisch … Ta­bak … gute Füh­rung … Es si­ckert durch die Mau­ern, es be­sänf­tigt die knur­ren­den Mä­gen, eine Aus­sicht, eine Hoff­nung auf Sät­ti­gung, frei­en Him­mel, viel­leicht Flucht … Die letz­ten Lärm­schlä­ger, die von der ei­ge­nen Wut Wü­ten­den schlep­pen die Wacht­meis­ter in die Ar­rest­zel­len: »Da, ver­sucht, wie es sich ohne den Gips­brei lebt!«

Die Ei­sen­tü­ren flie­gen kra­chend zu.

7. Die Zofe Sophie schreibt einen Brief

Trotz der frü­hen Mor­gen­stun­de ist im Baye­ri­schen Vier­tel zu Ber­lin in der Woh­nung der Grä­fin Mutz­bau­er die Zofe So­phie schon wach. Ihre Kam­mer, die sie mit der noch tief schla­fen­den Kö­chin teilt, ist so schmal, dass au­ßer für die zwei Ei­sen­bet­ten nur noch Platz für zwei Stüh­le ist – so schreibt sie auf dem Brett des ge­öff­ne­ten Fens­ters ih­ren Brief.

So­phie Ko­wa­lew­ski hat schön ge­pfleg­te Hän­de, doch füh­ren sie den Blei­stift nur un­ge­schickt. Grund­strich, Haar­strich, Häk­chen, Kom­ma, Haar­strich, Grund­strich … Ach, sie möch­te so vie­les sa­gen …: wie er ihr fehlt, wie die Zeit nicht ver­ge­hen will, fast noch drei Jah­re und kaum erst ein hal­b­es her­um … Aber es wird nichts; Ge­füh­le in Ge­schrie­be­nes um­zu­set­zen, hat So­phie Ko­wa­lew­ski, Toch­ter des Leu­te­vogts1 Ko­wa­lew­ski in Neu­lo­he, nicht ge­lernt. Ja, wenn er hier wäre, wenn es sich um Spre­chen han­del­te, um eine Berüh­rung! Sie könn­te al­les aus­drücken, sie könn­te ihn mit ei­nem Kuss wild ma­chen, mit ei­nem lei­sen An­fas­sen glück­lich … Aber so!

Sie starrt vor sich hin. Ach, sie möch­te es ihn spü­ren las­sen in die­sem Brief! Aus der Fens­ter­schei­be sieht sie matt­far­big eine zwei­te So­phie an. Un­will­kür­lich lä­chelt sie ihr rasch zu. Ein paar Löck­chen ha­ben sich ge­löst, hän­gen dun­kel in die Stirn. Die Schat­ten un­ter den Au­gen sind auch dun­kel. Sie müss­te sich wie­der ein­mal die Zeit neh­men, gründ­lich aus­zu­schla­fen – aber gibt es denn Schla­fens­zeit in die­ser Zeit, wo al­les so merk­lich ver­rinnt, kaum da es deut­lich wur­de? Al­les zer­fällt, nut­ze die Mi­nu­te, heu­te lebst du noch, So­phie!

Sie mag mor­gens noch so müde sein, die Füße bren­nen, der Mund schmeckt schal nach all den Li­kö­ren, dem Wein, den Küs­sen – am Abend zieht es sie doch wie­der in eine der Bars. Tan­zen, trin­ken und to­ben! Ka­va­lie­re ge­nug, lap­pig wie ihr Geld, Hun­dert­tau­sen­de, fünf­zig­fa­cher Zo­fen­lohn, lose in ei­ner Jacket­ta­sche. Sie ist auch letz­te Nacht mit ei­nem von den Ka­va­lie­ren mit­ge­gan­gen – was kommt es dar­auf an? Die Zeit rinnt, läuft, jagt. Vi­el­leicht sucht sie auch Hans, den für drei­und­ein­vier­tel Jahr ver­lo­re­nen Hans (Hoch­sta­pe­lei), in all den im­mer wie­der­hol­ten Umar­mun­gen, in all den Ge­sich­tern, die sich über das ihre nei­gen, so gie­rig-ru­he­los wie das ihre … Aber den Hans, strah­lend, rasch, al­len über­le­gen, gibt es kein zwei­tes Mal!

So­phie Ko­wa­lew­ski, der har­ten Ar­beit auf ei­nem Rit­ter­gut ent­flo­hen, sucht in der Stadt – sie weiß nicht was, ir­gen­det­was, das sie noch här­ter an­fas­sen wird. Ein­ma­lig ist die­ses Le­ben, ver­gäng­lich; wenn wir tot sind, sind wir so lan­ge tot; und wenn wir alt sind, schon, wenn wir über fünf­und­zwan­zig sind, sieht uns kei­ner mehr an. Hans, ach Hans … Sie trägt das Abend­kleid der Gnä­di­gen, es ist schnurz, ob die Kö­chin es sieht. Was die bei den Lie­fe­ran­ten Schmu macht, klaut sie an Sei­den­st­rümp­fen und Sei­den­wä­sche. Kei­ne hat der an­de­ren et­was vor­zu­wer­fen. Es ist gleich sie­ben, schnell noch den Schluss … »Und ver­blei­be ich mit hei­ßen Küs­sen Dei­ne Dich ewig lie­ben­de Braut So­phie …«

Sie legt kei­nen Wert auf das Wort Braut, sie weiß auch gar nicht, ob sie das möch­te, ihn hei­ra­ten, aber sie muss es schrei­ben, da­mit sie ihm im Zucht­haus den Brief auch aus­hän­di­gen.

Und der Zucht­haus­ge­fan­ge­ne Hans Lieb­sch­ner wird den Brief sei­ner Braut er­hal­ten, er ge­hör­te nicht zu de­nen, die we­gen zu wil­den Ge­brülls in eine Ar­rest­zel­le ge­bracht wor­den wa­ren. Nein, ob­wohl er kaum erst ein hal­b­es Jahr im Zucht­haus Mei­en­burg wohn­te, war er ganz ge­gen alle Haus­ord­nung schon zum Kal­fak­tor auf­ge­rückt und hat­te es ver­stan­den, mit be­son­de­rer Über­zeu­gung von Ern­te­kom­man­dos zu re­den. Das konn­te er, er wuss­te: Neu­lo­he lag nicht weit­ab von Mei­en­burg, und Neu­lo­he war die Hei­mat ei­ner sü­ßen Pup­pe, na­mens So­phie …

Ich wer­de das Kind schon schau­keln, dach­te er.


  1. Be­am­ter; meist kirch­lich  <<<

8. Mädchen und Mann erwachen

Das Mäd­chen war er­wacht.

Den Kopf in die Hand ge­stützt, lag es und sah nach dem Fens­ter hin­über. Die gelb­lich­graue Gar­di­ne be­weg­te sich nicht. Das Mäd­chen glaub­te, die rie­chen­de Hit­ze vom Hof her zu spü­ren. Es schau­der­te leicht.

Da­bei sah es an sich her­un­ter. Nicht, dass es vor Käl­te ge­schau­dert hat­te – es hat­te we­gen der häss­li­chen Hit­ze, we­gen des üb­len Ge­ru­ches ge­schau­dert. Es sah sei­nen Leib an; der Leib war weiß und feh­ler­los; man muss­te sich wun­dern, dass in ei­ner Luft, die wie zer­setzt, wie fau­lig war, et­was so feh­ler­los blei­ben konn­te!

Das Mäd­chen hat­te kei­nen ge­nau­en Be­griff, wel­che Zeit es war, nach den Geräuschen konn­te es neun oder zehn oder auch elf sein – die Vor­mit­tags­ge­räusche blie­ben sich nach acht ziem­lich gleich. Es war mög­lich, dass die Wir­tin, Frau Thu­mann, gleich mit dem Mor­gen­kaf­fee her­ein­kam. Nach Wolf­gangs Wün­schen hät­te sie auf­ste­hen und sich an­stän­dig be­klei­den, auch ihn zu­de­cken müs­sen. Nun gut, sie wür­de es gleich tun. Wolf­gang hat­te so über­ra­schen­de An­fäl­le von An­stand …

»Es ist doch gleich«, sag­te sie etwa zu ihm. »Die Thu­mann ist es so und noch ganz an­ders ge­wöhnt. Wenn sie nur ihr Geld be­kommt, stört sie gar nichts …«

»Stö­ren?« hat­te Wolf­gang zärt­lich ge­lacht. »Stö­ren, wenn sie dich so sieht?!!«

Er hat­te sie an­ge­se­hen. Im­mer wur­de ihr un­ter sol­chen Bli­cken von ihm schwach und zärt­lich. Sie hät­te ihn an sich zie­hen mö­gen, aber da sag­te er schon erns­ter: »Es ist doch un­sert­we­gen, Pe­ter, un­sert­we­gen! Wenn wir jetzt auch drin­sit­zen im Dreck; rich­tig im Dreck sind wir erst, wenn wir nicht mehr auf uns auf­pas­sen …«

»Ein Kleid macht doch nicht an­stän­dig, kein Kleid nicht un­an­stän­dig«, fing sie an.

»Und wenn es nur ein Kleid ist! Da­rauf kommt es nicht an!« hat­te er fast hef­tig ge­sagt. »Wenn es nur ir­gen­det­was ist, was uns er­in­nert. Wir sind kein Dreck, ich nicht und du auch nicht. Und habe ich es erst ein­mal ge­schafft, wird uns al­les viel leich­ter sein, wenn wir uns hier nicht wohl­ge­fühlt ha­ben, in die­sem Dreck­loch. Wir dür­fen bloß nicht mit­ma­chen mit de­nen hier!«

Er mur­mel­te nur noch, sei­ne Wor­te ver­lo­ren sich im Un­ver­ständ­li­chen. Er dach­te wie­der dar­an, wie er es »schaf­fen« wür­de, er war weg von ihr. (Er war viel weg von ihr, sei­nem Pe­ter.)

»Wenn du es ge­schafft hast, wer­de ich nicht mehr bei dir sein«, hat­te sie ein­mal ge­sagt.

Ein Weil­chen war Stil­le ge­we­sen, dann hat­te ihn doch in sei­nem Grü­beln er­reicht, was sie ge­sagt hat­te.

»Du wirst bei mir sein, Pe­ter!« hat­te er hef­tig geant­wor­tet. »Im­mer und im­mer. Glaubst du denn, ich ver­ges­se das, wie du Nacht für Nacht auf mich war­test?! Ich ver­ges­se das, wie du hier sitzt – in dem Loch – ohne al­les?! Ich ver­ges­se, dass du mich nie fragst und nie drängst, wie ich auch kom­me?! O, Pe­ter!!« hat­te er ge­ru­fen, und sei­ne Au­gen leuch­te­ten mit je­nem Glanz, den sie nicht moch­te, denn es war ein Glanz, den nicht sie ent­zün­det. »Letz­te Nacht war es fast so­weit! Es war ein Au­gen­blick, wie ein Berg lag das Geld vor mir … Ich fühl­te, es war bei­na­he so­weit, nur noch ein-, zwei­mal … Nein, ich ma­che dir nichts vor. Ich habe an nichts Be­stimm­tes ge­dacht, an kein Haus, kei­nen Gar­ten, kein Auto, nicht an dich … Es war wie eine plötz­li­che Hel­le vor mir, nein, eine strah­len­de Hel­le in mir, das Le­ben war so weit und klar, wie der Him­mel, wenn die Son­ne auf­geht, es war al­les rein …

Dann …«, er senk­te die Stir­ne, »… sprach mich eine Nut­te an, und von da an ging al­les ver­quer …«

Er hat­te mit ge­senk­ter Stirn am Fens­ter ge­stan­den. Sie fühl­te, als sie sei­ne zu­cken­de Hand zwi­schen die ih­ren nahm, wie jung er war, wie jung sei­ne Be­geis­te­rung, wie jung sei­ne Verzweif­lung, wie jung und ohne alle Ver­pflich­tung, was er ihr sag­te …

»Du wirst es schaf­fen!« sag­te sie lei­se. »Aber, wenn du es ge­schafft ha­ben wirst, wer­de ich nicht mehr bei dir sein.«

Er zog sei­ne Hand zwi­schen den ih­ren her­vor.

»Du wirst bei mir blei­ben«, sag­te er kalt. »Ich ver­ges­se nichts.«

Sie wuss­te, er hat­te eben an sei­ne Mut­ter ge­dacht, die ihr ein­mal ins Ge­sicht ge­schla­gen. Sie woll­te nicht dar­um bei ihm blei­ben, weil sei­ne Mut­ter sie ein­mal ge­schla­gen hat­te.

Und nun, von heu­te an, wür­de sie doch bei ihm blei­ben, für im­mer. Noch hat­te er es zwar nicht ge­schafft, und sie wuss­te längst, auf dem bis­he­ri­gen Wege wür­de nie et­was draus wer­den. Aber was tat das? Wei­ter die­ses schmie­ri­ge Zim­mer, wei­ter nicht wis­sen, wo­von mor­gen le­ben, sich klei­den, wei­ter al­les un­klar – aber an ihn ge­bun­den von heu­te Mit­tag ein Uhr an!

Sie griff auf den Stuhl ne­ben ih­rem Bett, fass­te die St­rümp­fe und fing an, sie über­zu­strei­fen.

Plötz­lich über­fiel sie eine schreck­li­che Angst, es kön­ne nichts dar­aus wer­den, es sei ges­tern al­les fehl­ge­gan­gen, völ­lig fehl, bis auf den letz­ten Tau­send­mark­schein. Sie wag­te nicht auf­zu­ste­hen, um sich zu über­zeu­gen, sie sah mit bren­nen­den Au­gen auf Wolf­gangs Klei­der, die über dem Stuhl ne­ben der Tür hin­gen. Sie ver­such­te, die Di­cke der rech­ten Jackett­ta­sche, in der er sein Geld auf­be­wahr­te, rich­tig ab­zu­schät­zen.

Ge­büh­ren müs­sen be­zahlt wer­den, dach­te sie angst­voll. Wenn die Ge­büh­ren nicht be­zahlt wer­den kön­nen, wird nichts dar­aus.

Es war ein ver­geb­li­ches Be­mü­hen. Manch­mal hat­te er auch sein Ta­schen­tuch in die­ser Ta­sche. Was konn­te es jetzt wie­der für neue Schei­ne ge­ben? Fünf­hun­dert­tau­send­mark­schei­ne? Mil­lio­nen­schei­ne? Was wuss­te sie? Was wür­de eine Trau­ung kos­ten – eine Mil­li­on? Zwei Mil­lio­nen? Fünf Mil­lio­nen – was wuss­te sie?! Selbst wenn sie den Mut ge­habt hät­te, in die Ta­sche zu fas­sen, nach­zu­zäh­len, sie wuss­te im­mer noch nichts! Sie wuss­te nie et­was.

Die Ta­sche war nicht dick ge­nug.

Lang­sam, dass die Bett­fe­dern nicht knarr­ten, lang­sam, be­hut­sam, angst­voll dreh­te sie sich nach ihm um.

»Gu­ten Mor­gen, Pe­ter«, sag­te er mit fröh­li­cher Stim­me. Sein Arm zog sie ge­gen sei­ne Brust. Sie leg­te ih­ren Mund auf sei­nen Mund. Sie woll­te es nicht hö­ren, jetzt woll­te sie es nicht hö­ren, was er sag­te:

»Ich bin voll­kom­men blank, Pe­ter. Wir ha­ben kei­ne Mark mehr!« Und die Flam­me stieg und stieg, laut­los. Ihre rei­ne, weiß­bläu­li­che Hit­ze brann­te die ver­brauch­te Luft des Zim­mers rein. Im­mer noch ho­ben barm­her­zi­ge Arme die Lie­ben­den von je­dem Lie­bes­la­ger aus Dunst und Un­ru­he, aus Kampf, Hun­ger und Verzweif­lung, aus Sün­de und Scham­lo­sig­keit hoch in den rei­nen, küh­len Him­mel der Er­fül­lung.

ZWEITES KAPITEL – Berlin macht sich schwach

9. Der Rittmeister sucht Leute

Vie­le Stra­ßen um den Schle­si­schen Bahn­hof sind schlimm; da­mals, 1923, kam zu der Trost­lo­sig­keit der Fassa­den, den üb­len Gerü­chen, dem Elend, der öden, dür­ren Stein­wüs­te eine wil­de, ver­zwei­fel­te Scham­lo­sig­keit, Geil­heit aus Elend oder Gleich­gül­tig­keit, Geil­heit aus der Gier, sich ein­mal selbst zu füh­len, selbst et­was zu sein in ei­ner Welt, die in sau­sen­der, ir­rer Fahrt je­den mit­riss, un­be­kann­ten Dun­kel­hei­ten zu.

Der Ritt­meis­ter von Prack­witz, viel zu ele­gant in einen hell­grau­en An­zug ge­klei­det, den ihm ein Lon­do­ner Schnei­der nach ge­sand­ten Ma­ßen ge­fer­tigt, viel zu auf­fal­lend aus­se­hend mit sei­ner schlan­ken Fi­gur, dem schloh­wei­ßen Haupt­haar über dem braun ver­brann­ten Ge­sicht, mit den dunklen, bu­schi­gen Brau­en und den dun­kel glü­hen­den Au­gen – der Ritt­meis­ter von Prack­witz geht acht­sam, sehr ge­ra­de auf­ge­rich­tet, den Bür­ger­steig ent­lang, be­sorgt, nie­man­den zu strei­fen. Er sieht ge­ra­de­aus vor sich hin, auf einen ima­gi­nären Fleck, der in Au­gen­hö­he fern von ihm die Stra­ße hin­un­ter liegt, um nie­man­den und nichts se­hen zu müs­sen. Er möch­te auch ger­ne mit sei­nen Ohren weg­hor­chen kön­nen, etwa in das schwe­re Rau­schen sei­ner im­mer noch kaum an­ge­mäh­ten, ern­terei­fen Neu­lo­her Korn­fel­der hin­ein, er be­müht sich, weg­zu­hor­chen von dem, was ihm Hohn und Neid und Gier nach­ru­fen.

Plötz­lich ist es ihm wie in den un­se­li­gen No­vem­ber­ta­gen des Jah­res 1918, als er mit zwan­zig Ka­me­ra­den – dem Rest sei­ner Schwa­dron – auch eine Ber­li­ner Stra­ße lang­mar­schier­te, in der Reichs­tags­nä­he – und plötz­lich pras­sel­te aus Fens­tern, von Dä­chern, aus dunklen Tor­gän­gen eine wüs­te Schie­ße­rei auf den klei­nen Zug her­ab, ein re­gel­lo­ses, wil­des, fei­ges Ge­knal­le. Auch da­mals wa­ren sie so wei­ter­mar­schiert, das Kinn vor­ge­sto­ßen, den Mund fest ge­schlos­sen, mit den Au­gen einen ima­gi­nären Punkt am Ende der Stra­ße fi­xie­rend, den sie wohl nie er­rei­chen wür­den.

Und dem Ritt­meis­ter ist, als sei er in den fünf Wahn­sinns­jah­ren seit­dem ei­gent­lich im­mer so wei­ter­mar­schiert, einen ima­gi­nären Punkt fi­xie­rend, wa­chend wie schla­fend – denn es gab in die­sen Jah­ren kei­nen Schlaf ohne Traum. Im­mer eine trost­lo­se Stra­ße vol­ler Fein­de, Hass, Ge­mein­heit, Wür­de­lo­sig­keit hin­un­ter, und kam, wi­der al­les Er­war­ten, doch die Ecke, so tat sich nur eine neue, ganz glei­che Stra­ße auf, mit dem­sel­ben Hass und der­sel­ben Ge­mein­heit. Aber wie­der war der Punkt da, auf den man los­mar­schie­ren muss­te, die­ser Punkt, den es gar nicht gab, eine blo­ße Ein­bil­dung.

Oder war der Punkt et­was, das gar nicht drau­ßen, au­ßer­halb von ihm lag, son­dern in ihm, in sei­ner ei­ge­nen Brust – sage ich es denn: in mei­nem Her­zen? Mar­schier­te er, weil ein Mann mar­schie­ren muss, ohne auf Hass und Ge­mein­heit zu hor­chen, se­hen auch aus tau­send Fens­tern zehn­tau­send böse Au­gen auf ihn, sei er auch ganz al­lein – denn wo sind die Ka­me­ra­den?! Mar­schier­te er, weil man nur so sich nä­her­kommt, das wird, was man auf die­ser Erde zu sein hat, näm­lich nicht das, was die an­de­ren von ei­nem er­war­ten, son­dern man selbst? Man selbst!

Und plötz­lich ist dem Ritt­meis­ter von Prack­witz, hier auf der Lan­gen Stra­ße am Schle­si­schen Bahn­hof in Ber­lin, ei­ner ver­fluch­ten Stadt, ist dem Ritt­meis­ter und Rit­ter­gut­späch­ter, an­ge­sichts von zehn schrei­en­den Kaf­fee­haus­schil­dern, die nichts an­zei­gen als Bor­del­le – ist dem Ritt­meis­ter und Rit­ter­gut­späch­ter und Mann Joa­chim von Prack­witz-Neu­lo­he, der hier­her­kam, sehr ge­gen sei­nen Wil­len hier­her­kam, um min­des­tens sech­zig Leu­te für die Ern­te auf­zu­trei­ben – ist ihm, als wenn nun wirk­lich das Ende sei­nes Mar­schie­rens ganz nahe wäre. Als kön­ne er nun wirk­lich bald ein­mal das Kinn zu­rück­neh­men, den Blick sen­ken, den Fuß ru­hen und sa­gen wie der Herr­gott: Sie­he da, es war al­les sehr gut!

Ja­wohl, eine gute, fast eine Bom­benern­te stand auf den Fel­dern, eine Ern­te, die die­se Ver­hun­ger­ten in der Stadt sehr wohl hät­ten ge­brau­chen kön­nen, und er muss­te al­les ste­hen­las­sen, ei­nem jun­gen, et­was ver­lot­ter­ten Ben­gel von In­spek­tor über­ge­ben und in die Stadt fah­ren und um Leu­te fle­hen. Denn es war selt­sam und völ­lig un­ver­ständ­lich: je grö­ßer das Elend in der Stadt wur­de, je knap­per dort das Brot und je mehr nur noch das Land we­nigs­tens die aus­kömm­li­che Nah­rung bot, umso mehr dräng­ten die Leu­te in die Stadt. Es war wirk­lich wie mit den Mot­ten, die von der tö­ten­den Flam­me ge­lockt wer­den!

Der Ritt­meis­ter lach­te auf. Ja wahr­haf­tig, es sah wirk­lich so aus, als win­ke ihm ganz na­he­bei die himm­li­sche Herr­gotts­ru­he vom sechs­ten Schöp­fungs­ta­ge! Eine Fata Mor­ga­na, ein Oa­sen-Vor­ge­spie­gel, wenn der Durst ganz schlimm wird!

Das Weibs­bild, dem er ge­dan­ken­los ins Ge­sicht ge­lacht, gießt hin­ter ihm her einen gan­zen Kü­bel, ein Jau­che­fass, ach was, eine gan­ze Jau­che­gru­be un­flä­ti­ger Schimp­fe­rei­en aus. Der Ritt­meis­ter aber tritt in einen La­den, über dem, ver­dreckt und schief, ein Schild hängt: »Ber­li­ner Schnit­ter-Ver­mitt­lung«.1


  1. Schnit­ter=Mä­her  <<<

10. Warten auf ein Frühstück

Die Flam­me steigt em­por und sinkt, das Feu­er, das eben noch brann­te, ist er­lo­schen – glück­lich der Herd, der die Glut lan­ge be­wahrt! Fun­ken lau­fen über die Asche, die Flam­me sank zu­sam­men, die Glut ver­glomm, aber noch ist Wär­me da.

Wolf­gang Pa­gel sitzt in sei­nem feld­grau­en, schon arg ver­brauch­ten Waf­fen­rock am Tisch. Er hat die Hän­de auf die lee­re Wachs­tuch­plat­te ge­legt. Nun deu­tet er mit dem Kopf zur Tür. Sein ei­nes Auge zwin­kert, er flüs­tert: »Pott­ma­damm hat’s auch schon ge­wit­tert.«

»Was?« fragt Pe­tra, und: »Du sollst doch nicht zu Frau Thu­mann Pott­ma­damm sa­gen! Sie setzt uns noch raus.«

»Be­stimmt!« sagt er. »Heu­te gib­t’s schon kein Früh­stück mehr. Sie hat’s schon ge­wit­tert.«

»Soll ich fra­gen, Wolf?«

»I wo. Wer viel fragt, kriegt kei­nen Kaf­fee. War­ten wir.«

Er kippt den Stuhl zu­rück, wippt und fängt an zu pfei­fen: Er­hebt euch von der Erde, ihr Schlä­fer all­zu­mal …

Er ist ganz un­be­küm­mert, ganz ohne Sor­gen. Durch das Fens­ter – der Vor­hang ist nun zu­rück­ge­zo­gen – kommt et­was Son­ne in die graue, öde Höh­le, was man so in Ber­lin Son­ne nennt, was die Dunst­schicht dem Son­nen­licht noch ge­las­sen … Wie er hin- und her­schau­kelt, leuch­ten ein­mal die brei­ten, leicht wel­li­gen Haar­sträh­nen auf, ein­mal das Ge­sicht mit den hel­len, jetzt lus­tig fun­keln­den Au­gen, grau­grü­nen.

Pe­tra, die sich nur sei­nen ab­ge­schab­ten Som­mer­man­tel über­ge­zo­gen hat, einen noch aus der Vor­kriegs­zeit – Pe­tra sieht ihn an, sie wird es nie müde, ihn an­zu­se­hen, sie be­wun­dert ihn. Sie fragt sich, wie er es fer­tig­bringt, sich in ei­nem Schüs­sel­chen mit ei­nem hal­b­en Li­ter Was­ser zu wa­schen und doch aus­zu­se­hen, als habe er sich eine Stun­de lang in ei­ner Wan­ne ge­schrubbt. Sie kommt sich alt und ver­braucht ge­gen ihn vor, ob­wohl sie ein Jahr jün­ger ist als er.

Plötz­lich hält er mit dem Pfei­fen inne, er lauscht zur Tür: »Der Feind naht. Gibt es Kaf­fee? Ich habe Kohldampf noch und noch.«

(Sie möch­te sa­gen, dass sie auch Kohldampf hat, schon seit Ta­gen, denn das biss­chen Früh­stück mit den zwei Sem­meln ist seit vie­len Ta­gen ihre ein­zi­ge Nah­rung – nein, sie möch­te es nicht sa­gen!)

Der Schlur­fe­schritt auf dem Flur ist ver­hallt, die Et­agen­tür klappt zu. »Siehst du, Pe­ter! Pott­ma­damm ist bloß wie­der mit dem Pott aufs Klo ge­gan­gen. Auch ein Zug der Zeit: alle Ge­schäf­te wer­den auf Um­we­gen er­le­digt. Pott­ma­damm läuft mit ih­rem Pott.«

Er hat den Stuhl wie­der zu­rück­ge­kippt, er fängt wie­der an zu pfei­fen, un­be­küm­mert, lus­tig.

Er täuscht sie nicht. Sie ver­steht lan­ge nicht al­les, was er er­zählt, sie hört nicht ein­mal so ge­nau dar­auf hin. Es ist der Klang sei­ner Stim­me, die lei­ses­te Schwin­gung, kaum ihm selbst be­wusst, sie hör­t’s doch: er ist nicht so lus­tig, wie er tut, nicht so un­be­küm­mert, wie er sein möch­te. Wenn er sich doch aus­sprä­che – mit wem soll er sich denn aus­spre­chen, wenn nicht mit ihr?! Vor ihr braucht er sich doch nicht zu schä­men, sie braucht er doch nicht zu be­lü­gen, sie ver­steht al­les von ihm – nein, nicht! Aber sie bil­ligt al­les, von vorn­her­ein und blind­lings! Ver­zeiht es. Ver­zeiht? Un­sinn! Es ist al­les recht, und wenn es ihn jetzt über­käme, zu to­ben, sie zu schla­gen – es wäre schon not­wen­dig ge­we­sen.

Pe­tra Le­dig (es gibt sol­che Na­men, die ein Schick­sal zu sein schei­nen) war ein le­di­ges Kind ge­we­sen, ohne einen Va­ter. Spä­ter eine klei­ne Ver­käu­fe­rin, von der nun ver­hei­ra­te­ten Mut­ter ge­ra­de noch ge­lit­ten, so­lan­ge sie ihr Mo­nats­ge­halt bis auf den letz­ten Pfen­nig als Kost­geld ab­lie­fer­te. Aber es kam der Tag, da die Mut­ter sag­te: »Mit dem Dreck be­kö­s­ti­ge dich selbst!« und nachrief: »Und wo du schla­fen kannst, wirst du auch wis­sen!«

Pe­tra Le­dig (es ist an­zu­neh­men, dass der an­spruchs­vol­le Name Pe­tra der ein­zi­ge Bei­trag ih­res un­be­kann­ten Va­ters für ihre Le­bens­aus­rüs­tung war) – Pe­tra Le­dig war kein un­be­schrie­be­nes Blatt mehr mit ih­ren zwei­und­zwan­zig Jah­ren. Ihre Rei­fe war in kei­ne ge­ruh­sa­me Zeit ge­fal­len, Krieg, Nach­krieg, In­fla­ti­on. Sie wuss­te schon, was es hieß, wenn die Her­ren im Schuh­ge­schäft der Ver­käu­fe­rin den Schuh so be­deu­tungs­voll ge­gen den Schoß drück­ten. Manch­mal nick­te sie, traf den und je­nen am Abend, nach Ge­schäfts­schluss; und sie steu­er­te ihr Schiff­lein ein gan­zes Jahr recht mu­tig durch, ohne völ­lig zu sin­ken. Sie brach­te es so­gar fer­tig, eine ge­wis­se Aus­wahl zu tref­fen, eine Aus­wahl, die nicht so sehr von ih­rem Ge­schmack als von der Furcht vor Krank­heit be­stimmt war. Stieg der Dol­lar ein­mal ganz schlimm, und ent­wer­te­te sich al­les für die Mie­te Zu­rück­ge­leg­te zu ei­nem Nichts, so bum­mel­te sie auch ein­mal durch die Stra­ßen, im­mer in Angst vor der »Sit­te«. Bei ei­nem sol­chen Bum­mel hat­te sie Wolf­gang Pa­gel ken­nen­ge­lernt.

Wolf­gang hat­te sei­nen gu­ten Abend ge­habt. Er hat­te ein we­nig Geld, er hat­te ein we­nig ge­trun­ken. Dann war er im­mer ver­gnügt, zu tau­sen­der­lei Din­gen auf­ge­legt. »Komm mit, klei­ne Dunkle, komm mit!« hat­te er über die gan­ze Stra­ße ge­ru­fen, und es hat­te so et­was wie ein Wett­ren­nen zwi­schen ei­nem schnurr­bär­ti­gen Sit­ten­po­li­zis­ten und ihr ge­ge­ben. Aber die Au­to­ta­xe, eine fürch­ter­li­che Kar­re, hat­te sie doch ent­führt zu ei­nem Abend, nett, aber doch ei­gent­lich ei­nem Abend wie alle sol­che Aben­de.

Dann war der Mor­gen ge­kom­men, die­ser graue, trost­lo­se Mor­gen in dem Zim­mer ei­nes Ab­stei­ge­ho­tels, der im­mer so mut­los mach­te. Wo es ei­nem wirk­lich ein­mal in den Kopf kommt zu fra­gen: Was soll das al­les? Wozu lebst du?

Wie es sich ge­hör­te, hat­te sie sich noch schla­fend ge­stellt, als der Herr sich ei­lig an­zog, auch er recht lei­se, um sie nicht zu we­cken. Denn Mor­gen­ge­sprä­che da­nach wa­ren un­be­liebt, un­er­quick­lich, weil man ent­deck­te, dass man sich plötz­lich nicht das Ge­rings­te mehr zu sa­gen hat­te, ja, meis­tens, dass man sich un­aus­steh­lich war. Sie hat­te nur durch die Li­der zu blin­zeln, ob er ihr auch das Geld auf das Nacht­käst­chen leg­te. Nun, er hat­te das Geld hin­ge­legt. Es nahm al­les sei­nen ord­nungs­ge­mä­ßen Ver­lauf, es war kein Wort von Wie­der­se­hen ge­sagt wor­den, er war schon an der Tür.

Sie weiß nicht, wie es ge­sche­hen ist, was über sie ge­kom­men ist, sie hat sich auf­ge­setzt im Bett und mit sto­cken­der Stim­me lei­se ge­fragt: »Wür­dest du – wür­den Sie – ach, darf ich nicht mit­kom­men?«

Er hat­te erst nicht ver­stan­den, ganz ver­blüfft hat­te er sich um­ge­dreht. »Wie bit­te?!«

Dann hat­te er ge­meint, dass sie sich, neu in sol­cher Lage, viel­leicht schäm­te, an Pen­si­ons­mut­ter und Por­tier vor­bei­zu­ge­hen. Er hat­te sich be­reit er­klärt zu war­ten, wenn sie schnell mach­te. Aber, wäh­rend sie sich has­tig an­zog, hat­te es sich her­aus­ge­stellt, dass es sich nicht um et­was so Ein­fa­ches, wie un­be­läs­tigt auf die Stra­ße zu kom­men, han­del­te. Das sei sie ge­wöhnt. (Sie war von der ers­ten Mi­nu­te an völ­lig ehr­lich zu ihm.) Nein, sie woll­te ganz mit ihm mit­kom­men, über­haupt. Ob es denn nicht gin­ge? O, bit­te, bit­te!

Wer weiß, was er sich dach­te. Plötz­lich hat­te er kei­ne Eile mehr. Er stand in dem grau­en Zim­mer – es war ge­ra­de die schreck­li­che Mor­gen­stun­de kurz vor fünf, die die Her­ren im­mer zum Weg­ge­hen wäh­len, weil sie dann die ers­te Elek­tri­sche in ihre Woh­nung be­kom­men. Sie kön­nen sich dann noch vor dem Büro frisch ma­chen, und vie­le tun auch so, als hät­ten sie in ih­ren Bet­ten ge­le­gen, dre­hen sich schnell noch ein­mal dar­in um.

Er tipp­te mit den Fin­gern nach­denk­lich auf einen Tisch. Mit sei­nen hel­len, grün­li­chen Au­gen sah er sie über­le­gend un­ter der ge­senk­ten Stirn her­vor an. Sie er­war­te doch wohl nicht, dass er Geld habe?

Nein. Sie habe nicht dar­über nach­ge­dacht. Es sei ihr auch gleich.

Er sei Fah­nen­jun­ker a.D., also ohne alle Be­zü­ge. Ohne Stel­lung. Ohne fes­tes Ein­kom­men. Ja, ei­gent­lich ohne Ein­kom­men.

Ja, es sei recht, nicht dar­um habe sie ge­fragt.

Er er­kun­dig­te sich nicht, warum sie ge­fragt habe. Er frag­te über­haupt nichts wei­ter. Spä­ter erst fiel ihr ein, dass er sehr vie­le Fra­gen hät­te stel­len kön­nen, sehr un­an­ge­neh­me. Etwa, ob sie mehr Män­ner schon so ge­be­ten habe, ob sie ein Kind er­war­te – tau­send ekel­haf­te Din­ge. Aber er stand nur da und sah sie an. Schon da war sie über­zeugt, dass er ja sa­gen wür­de. Müss­te. Es war et­was zu Ge­heim­nis­vol­les, dass sie ihn hat­te fra­gen müs­sen. Sie hat­te nie vor­her dar­an ge­dacht. Sie war auch – da­mals – nicht die Spur ver­liebt in ihn. Es war eine ganz ge­wöhn­li­che Nacht ge­we­sen.

»Fin­den Sie, dass Kon­stan­ze sich rich­tig ver­hält?« hat­te er den Ti­tel ei­nes da­mals viel ge­spiel­ten Stückes zi­tiert. Zum ers­ten Mal sah sie sein Zwin­kern mit dem einen Auge, wenn er scherz­te, und die Fält­chen im Au­gen­win­kel.

»Doch!« sag­te sie.

»Na schön«, sag­te er ge­dehnt, »wo ei­ner nicht satt wird, kön­nen zwei kaum ver­hun­gern. Also los! Bist du fer­tig?«

Es war ein selt­sa­mes Ge­fühl ge­we­sen, ne­ben ihm die Trep­pe hin­ab­zu­stei­gen, in ei­nem ek­li­gen Miets­hau­se, ne­ben ei­nem Mann, zu dem man nun ge­hör­te. Ein­mal, als sie über einen schlecht ge­leg­ten Läu­fer stol­per­te, hat­te er »Hopp­la!« ge­sagt, aber ganz ge­dan­ken­los, wahr­schein­lich war er sich ih­rer Nähe gar nicht recht be­wusst.

Plötz­lich blieb er dann ste­hen. Sie er­in­ner­te sich ge­nau. Sie wa­ren un­ten an­ge­langt, es war in der falschen Mar­mor­pracht und dem gip­ser­nen Stuck des Ein­gangs. »Üb­ri­gens hei­ße ich Wolf­gang Pa­gel«, sag­te er mit ei­ner lei­se an­ge­deu­te­ten Ver­beu­gung.

»Sehr an­ge­nehm«, ant­wor­te­te sie, ganz wie es sich ge­hör­te. »Pe­tra Le­dig.«

»Ob es an­ge­nehm ist, wird sich wei­sen«, hat­te er ge­lacht. »Komm, Klei­nes. Ich wer­de dich Pe­ter nen­nen. Pe­tra ist mir ei­nes­teils zu bib­lisch, an­dern­teils zu stei­nig. Aber Le­dig ist gut und kann so blei­ben.«

11. Petra wird von einem Spieler gebildet

Als Wolf­gang Pa­gel so zu ihr ge­re­det hat­te, war Pe­tra noch viel zu er­füllt von dem Ge­sche­he­nen ge­we­sen, um groß auf sei­ne Wor­te zu ach­ten. Spä­ter lern­te sie von ihm, dass der Name Pe­tra so viel wie Fels be­deu­te und dass ihn zu­erst je­ner Jün­ger Pe­trus ge­tra­gen hat­te, auf dem Chris­tus wie auf ei­nem Fel­sen sei­ne Kir­che bau­en woll­te.

Sie lern­te über­haupt in dem einen Jah­re ge­mein­sa­men Zu­sam­men­le­bens viel von Wolf­gang. Nicht, dass er et­was Lehr­haf­tes ge­habt hät­te. Aber es war un­ver­meid­lich, dass er in den lan­gen Stun­den ih­res Bei­sam­men­seins – denn er war ja ohne rech­te Be­schäf­ti­gung – viel mit ihr sprach, bloß weil sie nicht im­mer schwei­gend in ih­rer Höh­le bei­ein­an­der hocken konn­ten. Und als Pe­tra erst Zu­trau­en ge­won­nen hat­te, frag­te sie ihn oft et­was, bloß, um ihn vom Grü­beln ab­zu­hal­ten oder weil es ihr Spaß mach­te, ihn re­den zu hö­ren. So etwa: »Wolf, wie wird ei­gent­lich Käse ge­macht?« Oder: »Wolf, ist es wirk­lich wahr, dass ein Mann im Mon­de wohnt?«

Er lach­te sie nie aus, auch wies er ihre Fra­gen nie zu­rück. Er ant­wor­te­te ihr lang­sam, über­le­gend, ernst – denn auch mit sei­ner Wis­sen­schaft aus der Ka­det­ten­an­stalt sah es nicht be­rühmt aus. Und wuss­te er nicht Be­scheid, so nahm er sie mit und ging mit ihr in eine der großen Biblio­the­ken und schlug und las nach. Sie saß dann ganz still da, ir­gend­ein Büch­lein vor sich, in dem sie doch nicht las, und sah fei­er­lich-be­klom­men in den großen Raum, in dem die Leu­te so still sa­ßen und sach­te die Blät­ter um­wand­ten, so still, als rühr­ten sie sich im Schlaf. Es kam ihr im­mer wie ein Mär­chen vor, dass sie, eine klei­ne Ver­käu­fe­rin, ein un­ehe­li­ches Kind, das ge­ra­de am Ver­sa­cken ge­we­sen war, nun in sol­che Häu­ser ge­hen durf­te, in de­nen die ge­bil­de­ten Men­schen sa­ßen, die si­cher nie et­was er­fah­ren hat­ten von all dem Schmutz, den sie so ge­nau hat­te ken­nen­ler­nen müs­sen. Al­lein hät­te sie sich nie hier­her­ge­wagt, ob­wohl ihr die – stumm ge­dul­de­ten – Elends­ge­stal­ten an den Wän­den be­wie­sen, dass hier nicht nur Weis­heit ge­sucht wur­de, son­dern auch Wär­me, Licht, Sau­ber­keit und eben das, was auch ihr aus den Bü­chern auf­stieg: fei­er­li­che Ruhe.

Wuss­te dann Wolf­gang ge­nug, so gin­gen sie wie­der hin­aus, und er er­zähl­te ihr, was er er­kun­det. Sie hör­te ihm zu und ver­gaß es wie­der oder be­hielt es auch, aber nicht das Rich­ti­ge – doch dar­auf kam es auch gar nicht an. Worauf es an­kam, das war, dass er sie so ernst nahm, dass sie für ihn noch et­was an­de­res war als ein Leib, den er gern moch­te und der ihm gut­tat.

Manch­mal, wenn sie ir­gen­det­was ganz ge­dan­ken­los hin­ge­sagt hat­te, konn­te sie, von sich selbst über­wäl­tigt, aus­ru­fen: »Ach, Wolf, ich bin so schreck­lich dumm! Ich ler­ne und ich ler­ne auch gar nichts! Ich wer­de ewig dumm blei­ben!«

Aber auch dann wie­der lach­te er nicht über sol­chen Aus­ruf, son­dern ging freund­lich ernst dar­auf ein und mein­te, im Grun­de sei es na­tür­lich ganz egal, ob man wis­se, wie Käse ge­macht wer­de. Denn so gut wie der Kä­se­ma­cher wer­de man es doch nie wis­sen. Dumm­heit sei, wie er glau­be, et­was ganz an­de­res. Wenn man sich näm­lich sein Le­ben nicht ein­zu­rich­ten wis­se, wenn man nichts aus sei­nen Feh­lern ler­ne, wenn man sich im­mer wie­der un­nö­tig über je­den Dreck är­ge­re und wis­se doch ganz ge­nau, in zwei Wo­chen sei er schon ver­ges­sen, wenn man mit sei­nen Mit­menschen nicht um­ge­hen kön­ne – ja, all dies, das schei­ne ihm rech­te Dumm­heit. Ein wah­res Mus­ter­bei­spiel sei da sei­ne Mut­ter, die, so viel sie auch ge­le­sen und er­fah­ren habe und so klug sie auch sei, ihn nun glück­lich mit lau­ter Lie­be und Bes­ser­wis­sen und Gän­ge­lei aus dem Hau­se ge­trie­ben habe, und er sei doch wirk­lich ein ge­dul­di­ger, um­gäng­li­cher Mensch. (Sag­te er.) Sie, Pe­tra, dumm? Nun, sie hät­ten sich noch nicht ein­mal ge­strit­ten, und wenn sie auch oft kein Geld ge­habt hät­ten, schlech­te Tage hät­ten sie dar­um doch nicht ge­habt und grim­mi­ge Zor­nes­mie­nen auch nicht. Dumm?! Was Pe­ter denn mei­ne?

Na­tür­lich ge­nau das, was Wolf auch mein­te! Schlech­te Tage? Grim­mi­ge Mie­nen? Sie hat­ten die al­ler­herr­lichs­te Zeit von der Welt mit­ein­an­der ge­habt, die schöns­te Zeit ih­res gan­zen Le­bens – schö­ner konn­te es nun über­haupt nicht mehr wer­den! Im Grun­de war es ihr ja auch ganz egal, ob sie dumm oder ob sie nicht dumm war (klug kam trotz all sei­ner Er­klä­run­gen nicht in Fra­ge), so­lan­ge er sie nur ger­ne hat­te und ernst nahm.

Schlech­te Tage – wahr­haf­tig! Sie hat­te es in ih­rem Le­ben und vor­nehm­lich im letz­ten Jah­re gut ge­nug ge­lernt, dass Tage ohne Geld wahr­haf­tig kei­ne schlech­ten Tage zu sein brauch­ten. Genau in die­ser Zeit, da al­les täg­lich dem Dol­lar­kurs ent­ge­gen­fie­ber­te, da fast al­ler Ge­dan­ken sich um Geld, Geld dreh­ten, um Zah­len, um be­druck­tes Pa­pier, um mit im­mer mehr Nul­len be­druck­tes Pa­pier – ge­nau in die­ser Zeit hat­te die­ses klei­ne, tö­rich­te Mäd­chen die Ent­de­ckung ge­macht, dass Geld gar nichts ist. Dass es un­sin­nig ist, sich um Geld – näm­lich um das feh­len­de – auch nur eine Mi­nu­te Ge­dan­ken zu ma­chen – es war ganz gleich­gül­tig!

(Nur heu­te Mor­gen nicht, weil sie solch übel ma­chen­den Hun­ger hat­te, und weil doch um ein Uhr drei­ßig die Ge­büh­ren be­zahlt wer­den muss­ten.)

Wie hät­te sie, zit­ternd um das Aus­kom­men des nächs­ten Ta­ges, auch nur eine ru­hi­ge Glücks­mi­nu­te an der Sei­te des Fah­nen­jun­kers a.D. Wolf­gang Pa­gel le­ben kön­nen, der es nun schon ein reich­li­ches Jahr fer­tig­ge­bracht hat­te, ih­ren gan­zen Le­bens­un­ter­halt – bei dem kleins­ten Be­triebs­ka­pi­tal von der Welt – Abend für Abend vom Spiel­tisch zu ho­len? Abend für Abend, um elf Uhr her­um, gab er ihr einen Kuss und sag­te: »Also denn, Klei­nes!« und ging, wäh­rend sie ihm nur lä­chelnd zu­nick­te. Denn sie durf­te kein Wort sa­gen, weil je­des Wort eine Un­glück brin­gen­de Be­deu­tung ha­ben konn­te.

In der ers­ten Zeit, nach­dem sie er­fah­ren hat­te, dass die­se ewi­gen nächt­li­chen Wege kein »Fremd­ge­hen« be­deu­te­ten, son­dern »Ar­beit« für ih­rer bei­der Aus­kom­men, hat­te sie auf­ge­ses­sen bis drei, vier … Um ihn dann an­kom­men zu se­hen: bleich, mit ner­vö­sen Be­we­gun­gen, die Schlä­fen ein­ge­fal­len, das Haar noch feucht, der Blick fla­ckernd. Sie hat­te sei­ne fie­be­ri­schen Be­rich­te an­ge­hört, sein Tri­um­phie­ren, wenn es gut ge­gan­gen war, sei­ne Verzweif­lung, wenn er ver­lo­ren. Stumm hat­te sie sein Schel­ten über die und jene Frau an­ge­hört, die ihm sei­nen Ein­satz weg­ge­nom­men, oder sei­ne grü­beln­de Ver­wun­de­rung, warum an die­sem Abend ge­ra­de Schwarz sieb­zehn­mal hin­ter­ein­an­der ge­kom­men war und sie, die schon an der Schwel­le des Reich­tums ge­stan­den, in die völ­li­ge Ar­mut zu­rück­ge­schleu­dert hat­te.

Sie ver­stand nichts vom Spiel, sei­nem Spiel, dem Rou­let­te, so viel er ihr auch da­von er­zähl­te (er hat­te ihr rund­weg ab­ge­schla­gen, sie ein­mal »dort­hin« mit­zu­neh­men). Aber sie ver­stand sehr wohl, dass dies sein Zoll war, den er an ihr Le­ben zahl­te, dass er dar­um so freund­lich, so un­be­küm­mert, so ru­hig mit ihr sein konn­te, weil er in den Stun­den am Spiel­tisch all sei­ne Kraft, all sei­ne Verzweif­lung über dies sein ver­bla­se­nes, ziel­lo­ses und doch so ein­ma­li­ges Le­ben ver­strö­men konn­te.

Oh, sie ver­stand noch weit mehr! Sie ver­stand, dass er sich selbst täusch­te, zum min­des­ten sich dann selbst täusch­te, wenn er im­mer wie­der lei­den­schaft­lich ver­si­cher­te, er sei kein Spie­ler …

»Sage doch selbst, was kann ich Bes­se­res tun!?! Soll ich als Buch­hal­ter Zah­len in ein Buch krit­zeln, um zu Ul­ti­mo ein Ge­halt zu krie­gen, mit dem wir ver­hun­gern? Soll ich Schu­he ver­kau­fen, Ar­ti­kel­chen schrei­ben, Chauf­feur wer­den? Pe­ter, das Ge­heim­nis ist: Habe we­nig Be­dürf­nis­se, und du hast Zeit für dein Le­ben. Drei, vier, ach, oft nur eine hal­be Stun­de am Rou­let­te, und wir kön­nen eine Wo­che, einen Mo­nat lang le­ben! Ich ein Spie­ler? Aber es ist eine Hun­de­ar­beit, ich wür­de lie­ber Mau­er­stei­ne tra­gen, statt da­zu­ste­hen und zu war­ten und mich nicht fort­rei­ßen zu las­sen, lockt das Glück ein­mal. Ich bin eis­kalt und be­rech­nend, du weißt, sie nen­nen mich den Pari-Pan­ther. Sie has­sen mich, sie zie­hen schon sau­re Mie­nen, wenn sie mich nur se­hen. Weil ich eben kein Spie­ler bin, weil sie wis­sen, es ist nichts bei mir zu ho­len, weil ich mir je­den Tag mei­nen klei­nen Ge­winn ab­ho­le und, habe ich ihn, Schluss ma­che, mich nie ver­lei­ten las­se, wei­ter­zu­spie­len …«

Und mit ei­ner wun­der­ba­ren In­kon­se­quenz, in­dem er völ­lig ver­gaß, was er eben erst ge­sagt: »War­te nur – lass mich erst ein­mal den großen Schlag tun! Eine wirk­li­che Sum­me, die sich lohnt! Dann sollst du se­hen, was wir an­fan­gen! Dann sollst du se­hen, dass ich kein Spie­ler bin! Nie wie­der gehe ich de­nen auf den Leim! Wa­rum denn auch – es ist die ge­meins­te Vie­che­rei, die es gibt – wer wird denn frei­wil­lig zu so was hin­ge­hen, wenn er kein Spie­ler ist?!«

Der­wei­len sah sie ihn heim­kom­men, nachtaus, nacht­ein, mit hoh­len Schlä­fen, feuch­tem Haar, glän­zen­den Au­gen.

»Bei­na­he war es so­weit, Pe­ter!« rief er.

Aber sei­ne Ta­schen wa­ren leer. Dann ver­setz­te er al­les, was sie hat­ten, be­hielt nur, was er auf dem Lei­be trug (sie war in sol­chen Ta­gen zu Bett­ru­he ver­ur­teilt), ging fort, ge­ra­de ge­nug Geld in der Ta­sche, um das Mi­ni­mum an Spiel­mar­ken kau­fen zu kön­nen. Kam wie­der, mit ei­nem ganz klei­nen Ge­winn oder auch ein­mal – sehr sel­ten – die Ta­schen ge­stopft voll Geld. Wenn al­les zu Ende schi­en, das muss­te sie zu­ge­ben, brach­te er im­mer Geld, we­nig oder viel, aber er brach­te Geld.

Er hat­te da ir­gend­ein »Sys­tem« über das Rol­len der Rou­let­te­ku­gel, ein Sys­tem der Sys­tem­lo­sig­keit, ein Sys­tem, das dar­auf auf­ge­baut war, dass die Ku­gel oft nicht das tat, was sie al­ler Wahr­schein­lich­keit nach hät­te tun müs­sen. Er hat­te ihr dies Sys­tem hun­dert­mal er­klärt, aber da sie nie ein Rou­let­te ge­se­hen hat­te, konn­te sie sich von all dem, was er er­zähl­te, kein rech­tes Bild ma­chen. Sie be­zwei­fel­te auch, dass er sich im­mer an sein ei­ge­nes Sys­tem hielt.

Aber wie dem auch war, er hat­te es noch stets ge­schafft. Längst brach­te sie es – im Ver­trau­en dar­auf – fer­tig, sich ru­hig schla­fen zu le­gen, nicht auf sein Kom­men zu war­ten. Ja, es war so­gar bes­ser, sich schla­fend zu stel­len, wenn sie zu­fäl­lig ein­mal wach war. Denn kam er, heim­keh­rend vom Spiel, heiß vom Spiel, erst ein­mal ins Re­den, gab es die Nacht kei­nen Schlaf.

»Wie de det nur aus­hältst, Mä­chen«, konn­­­­­­­­­­­­­­­