Jürgen Dieringer

Nanogambit

Roman

1

Unumkehrbar

Es war nicht wie sonst, als er wegwollte, aber nicht vom Fleck kam. Eher das Gegenteil: Jemand wollte im REM-Schlaf die Initiierung verhindern, doch die Erfindung machte sich selbständig, sie zischte hinaus in die Weltgeschichte wie ein losgelassener Luftballon, furzend, unkontrolliert und unaufhaltsam. Andries Niemetz wachte auf, feucht wie ein mit schwacher Hand ausgewrungener Waschlappen. Es macht keinen Sinn mehr, es immer wieder hinauszuschieben, den Zweifeln und der Angst vor der eigenen Courage nachzugeben. Der Professor hatte den Tag im Kalender mit einem grauen Filzstift umrandet. War das Zufall? Grey goo, die graue Schmiere! Die Vernichtung allen biologischen Lebens auf der Erde, eine Ökophagie, verursacht durch Nanoroboter, die exponentiell wachsen und dabei alle Materie für ihre eigene Reproduktion verbrauchen. Maschinen, die aus den Fugen geraten, die sich selbständig machen wie ein Pubertierender, sich der Kontrolle von Eltern und Lehrern entziehend. Grey goo war nur einer seiner vielen Albträume und nur eine der Gefahren, die wie Damoklesschwerter über der Erfindung baumelten.

Schwachsinn! Hatte nicht auch Eric Drexler höchstselbst bereut, den Begriff ‚Grey goo‘ überhaupt in die Welt gesetzt zu haben? Untergangsszenarien von Kultur- und Wissenschaftspessimisten, konservativen ‚Bewahrern‘, die nicht kapiert hatten, dass Bewahrung zum Stillstand führt und Stillstand erst zum Rückschritt, dann zur Implosion. Was die Menschheit forschen kann, wird sie forschen, wenn nicht er, dann irgendjemand im Reich der Mitte, im Silicon Valley oder in einem hermetisch abgesperrten Labor in der Negev-Wüste. Deutschland, das Land der Bedenkenträger, vielleicht hätte er sich doch für Berkeley entscheiden sollen und nicht für Tübingen und die Bundesrepublik, mit dem ganzen Knäuel an erstickenden Regularien und Ethikräten. Es hatte schon viel Kraft gekostet, sie zu umgehen, wieviel mehr Energie hätte es gekostet, den offiziellen Weg zu gehen?

Der Professor verzichtete auf das Frühstück und fuhr durch den Schneematsch des nur noch zuckenden Winters ans Institut. Es war noch keine sechs Uhr am Morgen, als er seiner Versuchsanordnung mit einem banalen Druck auf einen Schalter Leben einhauchte.

2

Verspielt

Es ging um die Wurst – und er war das Würstchen, dessen Restlebenszeit auf einer scharf geschliffenen Klinge über dem Abgrund der Verstrickung jonglierte. Er hatte den anderen unterschätzt, mea culpa, mea culpa! Das Herz trommelte wie Keith Moon zu seinen besten Zeiten einen über den Durst. Als er Schritte hörte, laut wie das durchziehende Spätsommergewitter, vollzogen seine Nackenhaare einen Hochsprung in die Vertikale. Er hatte geglaubt, nur vor der Polizei fliehen zu müssen. Fataler Irrtum! Mit dem Hades und seinen Kreaturen aus der Büchse der Pandora hatte er nicht gerechnet. Aber ja doch, er hatte den Teufelspakt nicht eingehalten, nicht einhalten können. Zu dumm! Der Feind meines Feindes ist mein Freund, warum war er nicht früher draufgekommen. Man hätte einen Deal machen können, ein Positivsummenspiel, nur Gewinner. Aber die hier hatten kein Mandat zum Verhandeln.

Er spürte ihre Schatten auf der Haut seines Gewissens. Kein Zweifel: Sie waren hinter ihm her, die Aasverwerter der Gesellschaft. Im trippelnden Schritt des Blitzgealterten ging es durch den alten botanischen Garten. Seitenstechen, ein hämischer Gruß der Leber, die zuckte wie eine frische Jakobsmuschel aus der Bretagne, sich vergeblich dem Sauerstoff der Luft und der Säure der Zitrone erwehrend. Im Reservemodus ging es durch die graffitiverschmierte Unterführung mit der Kinowerbung, hechelnd am Bach entlang, vorbei am weißen Buch aus Stein. Jetzt, in der Zeit größter Not, fiel ihm auf, dass er nicht einmal den Namen des Baches kannte. Weiter, nur nicht stolpern, mit dem lädierten Knie. Auf dem Zahnfleisch unter dem Fachwerkhaus hindurch, nur noch zwei Ecken, durch das Tor in die bewehrte Zuflucht des Priesterseminars, wo ihm ein alter Bekannter der Familie mit einem unappetitlichen Laster Unterschlupf gewähren würde, einen Cordon sanitaire für den Augenblick. Er würde weg müssen aus dieser Stadt, diesem Land, von diesem verfluchten Kontinent, der mittlerweile sogar kriminaltechnisch zusammenwuchs. Ein neues Leben, fernab von diesem Wahnsinn. In Südostasien sollen sie einen angeblich in Ruhe lassen, solange man zahlt. Er würde noch einmal raus müssen, den Zugriff auf die Finanzen sichern. Er würde es bekommen, das Fluchtgeld, und dann vorbei an den Dummköpfen von Polizei und LKA und wie sich die ganze Mischpoke an Steuerzahlergelder verschwendenden Diensten nannte. Vor den schattenspendenden Palmen standen leider kirchturmhohe Hürden. Willkommen in der traurig-profanen Realität. Schweiß schmierte eine Lage Salz auf seine Haut. Hieß der Bach nicht Ammer?

Das Projektil nahm Obhut im Metabolismus des Flüchtenden, schlug ein faustgroßes Loch in den Oberkörper und warf den Mann in den Staub. Die Erkenntnis ließ eine ungehörig lange Weile auf sich warten, um dann ungebremst einzuschlagen wie ein Meteorit auf einen Planeten ohne Atmosphäre. Nur die herannahende Ohnmacht kümmerte sich um das Opfer – und das Kino des Lebens begann mit dem Vorspann abzulaufen.

3

Von Fall zu Fall

Theo Mennet gehörte zu den Menschen, die die Bude nachts verrammeln, die Rollläden auf blickdicht und den Schlüssel im Schloss. Das war gut gegen Einbrecher und gegen unerwünschte Sonnenstrahlen in der Herrgottsfrühe. Er tappte im Dunkeln zum Lichtschalter, Oberkörper frei und die Pyjamahose als Solitär auf Halbmast. Immer im schönsten Traum, verdammter Dünnschiss noch mal, das war eine ausgemachte Verschwörung. Ein Druck mit dem Daumen, aber die moderne Glühbirne schien es sich erst einmal zu überlegen, bevor sie verzögert den Tag simulierte. Er schloss geblendet die Augen und fummelte nach dem Hörer. Sein in die Muschel gegähntes ‚Ja’ klang mehr wie ein Stoßseufzer als wie ein Willkommensgruß.

Am anderen Ende der Leitung meldete sich eine angenehme Stimme, sonor, man hörte ihr den Schliff des gehobenen Bildungsbürgertums an, eine geschulte Stimme, voll im Safte, die zu erschallen pflegte, den Raum füllend, ausgreifend. Unter anderen Umständen war sie bestimmt von Selbstbewusstsein erfüllt. Heute klang ein gewisser Bodensatz an pikiertem Zögern mit.

„Herr Mennet, Theo Mennet?“

„Ja, am Apparat.“ Mennet klang genervt. Wenn man auf neue Kunden wartet, sollte man besser nicht genervt klingen, das war ihm in den Tiefen seiner erst im Vorglühen begriffenen Synapsen schon klar. Er biss sich leicht auf die Zunge, bis ein sachter Schmerz sich kitzelnd meldete. Das Problem war, neben der doch recht frühen Stunde, dass ihn seit Wochen ein Vertreter von Maison Vins de Bordeaux am Telefon terrorisierte, zu fast jeder Tageszeit, sieben Tage die Woche, so ein Marktschreier mit fehlender Mundbremse und Keramiklächeln. Nur einmal hatte er den Fehler gemacht und etwas bestellt. Warum auch nicht? Er brauchte ein Geschenk für einen guten Kunden. Davon gab es nur wenige in Theos altmodischer Karteikartenbox, also musste man die wenigen wenigstens pflegen. Bordeaux macht sich immer gut.

Privat war Theo eher der Biertyp, abzulesen an der leichten Schwellung über dem Hosenbund. Kein Grund für die penetrant nachgefragten Folgebestellungen, weil weder Eigenkonsum noch Kundenbetreuung in die entsprechenden Quantitäten neigten. Theo hatte gedroht, gefleht, geschrien, bis sich sein Arsenal an Flüchen in der Begrenztheit der deutschen Sprache erschöpfte. Es war ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit, ein Kapitalverbrechen für Menschen, die keine Zeit zu verschenken haben.

Nicht, dass Mennet überbeschäftigt gewesen wäre. Keineswegs.

Am Ende war der Detektiv die Plage dann doch noch losgeworden, als er dem Drückerrabauken in morgenländischem Tonfall zu verstehen gab, Mennet sei ausgezogen, er wiederum sei Herr Hussein. Auf die Nachfrage, ob er denn an Rotwein von der Rive gauche interessiert sei, antwortete Theo mit ‚nix Rotwein, ich Muselman’. Der Papagei legte ohne Abschiedsgruß auf. Allah akbar!

„Entschuldigen Sie bitte, dass ich Sie so früh anrufe“, wurde vom anderen Ende der Leitung etwas zögerlich verlautbart. Definitiv kein Vertreter, die entschuldigen sich nie. „Mein Name ist Andries Niemetz, Professor Andries Niemetz.“

Theo ließ seine Blicke schweifen und zog am Rollladen, die Kuckucksuhr aus den Beständen der reichlich blanken Erbtante zeigte acht Uhr am helllichten Morgen. Die ersten brutalen Sommersonnenstrahlen hatten es über die maroden Häuser Kreuzbergs geschafft und tauchten das Einzimmerappartement in ein diffuses Licht. So, ein Wissenschaftler also, schon wieder. Theo gähnte heimlich in seine Hand und rieb sich Augenbutter aus den Augenecken, um sie anschließend genüsslich zwischen Daumen und Zeigefinger zu verschmieren.

„Herr Mennet? Sind Sie noch am Apparat?“

„Klar, schießen Sie nur los, Professor.“

Mennet klemmte das altertümliche Gerät gähnend zwischen Schulter und Ohr, er war jetzt aufnahmebereit.

„Ich brauche einen Privatdetektiv und Sie sind mir empfohlen worden, von Doktor Schippke.“

Schippke? Scheiße! Das war ein Fall, an den Theo auf gar keinen Fall erinnert werden wollte. Heiliger Strohsack! Er hatte ihn schließlich eigenhändig vermasselt. Ein typischer Nachbarschaftsstreit über den Gartenzaun hinweg, Typ Frucht der Erkenntnis wuchert über die Grenzlinie, mit der Folge beidseitiger rektalbasierter Beleidigungen. Mennet hatte sich angeschlichen und die Ausführungen des Nachbarn heimlich mitgeschnitten. Leider vergaß er, die kaum hörbaren Erwiderungen Schippkes vom Beweisband zu löschen. Der Anwalt des wegen Beleidigung Angeklagten wurde auf das Grummeln im Hintergrund aufmerksam. Er ließ die Aufnahmen in die Technik bringen und förderte eine im Ausdruck zwar gehobene, aber strafrechtlich immer noch relevante Gegenattacke ans Tageslicht. Der jugendlich wirkende Richter mit dem pseudo-modischen Stufenhaarschnitt à la Junge Union schlug vor, die beiden Streithähne mögen ihn mit solchen Dingen verschonen, sich verdammt noch mal auf gutnachbarschaftliche Beziehungen einigen oder ansonsten zur Fernsehrichterin Barbara Salesch gehen. Wer hätte dem braven Seitenscheitel derart Humorvoll-Treffendes zugetraut? Der Richter stellte das Verfahren ein, die Kosten hatten die beiden Kontrahenten ‚brüderlich’ – das waren bei der Urteilsverkündung tatsächlich seine Worte – zu teilen. Seitdem war Frieden eingekehrt im Hause seines Auftraggebers. Es war ein kalter Frieden, aber der Fall war mithin gelöst, allerdings nicht zur Zufriedenheit des Wissenschaftlers, seines Zeichens beschäftigt an einer Berliner Universität. Dass Schippke ihn trotzdem weiterempfohlen hatte, war, gelinde gesagt, überraschend, auch etwas befremdend. Na gut, er hatte kein Honorar verlangt. Trotzdem, Dr. Bernard Schippke rotierte damals vor Wut und tunkte den bemitleidenswerten Detektiv in eine zornige Suada. Erst die Aussicht auf Rückzahlung der Vorkasse und der Spesen, also Appeasement in reinster Form der unseligen Neunzehndreißigerjahre, hatte ihn in einen Zustand der Tranquilität zurückversetzen können. Zen, man, Zen!

Theo stand kurz vor Vollendung seines vierzigsten Lebensjahres und damit mitten in einer ausgewachsenen Midlife-Krise. Leonida – Theo und Leo, das Traumpaar von einst, was eher an der Begeisterung der Jungs für Leo lag als der Mädels für Theo – hatte ihn vor Jahrestag verlassen. Seit sie ihrer Promiskuität mit einem anderen frönte, war er erfolglos auf der Suche nach achtzehnjährigen, langbeinigen Neunzigsechzigneunziger-Blondinen. Als Theo die Verflossene nach fast einem Jahr im Supermarkt zufällig wieder traf und ihr in einer peinlich anrührenden Szene seine Einsamkeit klagte, empfahl Leonida eine Prise Schizophrenie, dann fühle es sich wenigstens nicht so nach Onanie an, wenn er wieder notgeil würde. Sie äußerte es viel zu laut. Seither hatte er den Supermarkt gemieden wie der Geharnischte das Weihwasser.

Mennet fiel gewöhnlich nicht weiter auf. Von der Statur her eher Mister Normalo, knapp ein Meter achtzig, Betonung auf knapp, dunkelblond mit fortschreitenden Geheimratsecken. Er sah passabel aus, war aber gewiss kein Blickfang. Von der Statur her war Theo eigentlich schlank, aber mit kleinem Bauchansatz, den er sich unter stillen Flüchen im Fitnessstudio abzutrainieren trachtete. Den Fortschritt opferte er leider immer wieder auf dem Altar der schnellen Currywurst und im Hochamt an Schniposa. Berufskrankheit. Das linke Ohr segelte mehr nach Backbord als das rechte nach Steuerbord, etwa so wie die Lauschorgane eines humorigen Literaturkritikers aus Schwaben. Auf der knolligen Nase reüssierte eine Brille à la John Lennon, rund wie die Null auf Theos Konto. Die Augen hinter den Brillengläsern leuchteten grün und machten einen wachen Eindruck.

Theo war damals aus einem Kaff unweit von Frankfurt nach Berlin gezogen, um der Bundeswehr zu entkommen. Dann kam dieser verdammte Gorbatschow und machte für ein paar profane Kröten alles kaputt, den Sonderstatus Berlins, die kuschelige Gemütlichkeit im westdeutschen Teil des Kalten Krieges, die Sowjetunion und damit das schöne Feindbild des Westens. Theo, angekommen in der gesamtdeutschen Wirklichkeit, musste sich vom Musterungsarzt in den Allerwertesten fassen lassen und dazu im Takt husten. Er hustete viel und stark. Das Urteil war trotzdem T2, tauglich mit Einschränkungen. Theo verweigerte den Wehrdienst sofort. Nach dem Zivildienst studierte er Sozial- und Kulturwissenschaften, weil ihm nichts Besseres einfiel. Dies in einer Zeit, in der einem zu dieser Kombination als drittes Studienfach der Taxischein empfohlen wurde.

Seither hatte Theo, der Meister der Prokrastination, seinen Hintern nicht wirklich hochgebracht. Nach zwanzig Semestern und mehr schlecht als recht bestandenen Prüfungen fuhr er Leichenwagen, dann Sondertransporte für die Forensik. Über diese Schiene wurde sein Interesse für Kriminalistik geweckt. Der Versuch, bei der Polizei anzuheuern, scheiterte an der Existenz steiler Hierarchien. Nicht, dass Theo generell Probleme mit Hierarchien hätte, wenn er denn an der Spitze stünde. Am unteren Ende der Skala allerdings … puh. Das Missverständnis wurde nach zwei Monaten in beiderseitigem Einverständnis geschieden. Danach schwirrte Theo in der Welt herum, Gelegenheitsjobs, Archivarbeit für ein Forschungsprojekt, drei verlorene Jahre in der Einsamkeit eines schlecht durchlüfteten, muffigen Kellers, schließlich der Einfall: Privatdetektiv, eine Art Polizeiarbeit ohne Hierarchie.

Theo als erfolgreich in seinem Beruf zu bezeichnen, wäre eine geflissentliche Übertreibung. Er hatte das Nötigste getan, Lizenz, Handbuch für Privatdetektive gelesen, Anzeige in den Gelben Seiten und im Internet. Dann hatte er sich zurückgelehnt. Er sei schließlich Anfänger, pflegte er seinem Ebenbild im Spiegel zu erklären ohne dabei zu definieren, wann dieser Status eigentlich zu enden habe. Und so zogen sich die Tage hin und jede kleine Erledigung wurde zum 24-Stunden Megaprojekt: der Gang zur Krankenkasse, der TÜV fürs Auto, der Kauf einer Jeans.

Langsam trudelten doch die ersten Aufträge ein, meist Ehe- bzw. Ehebruchobservationen, mit Bildern in flagranti ertappter Paare, viele Currywürste, schließlich Dr. Schippke.

„W-w-womit kann ich Ihnen dienen, Herr … Professor N-Niemetz?“ Theo hatte sich vorgenommen, gelassen zu wirken, souverän. Er stotterte eigentlich kaum. Besser gesagt: er stotterte nur, wenn ihm etwas peinlich war, oder wenn sich die Unsicherheit, seit der Pubertät sein Alter Ego, in unübersichtlichen Situationen ratternd Bahn brach. Schippke war definitiv ein guter Grund zu stottern. Aber er musste sich jetzt zusammennehmen. Tatsächlich benötigte niemand diesen Job mehr als er.

„Ich weiß nicht, ob überhaupt etwas vorgefallen ist, wenn man Vorfall als etwas Physisches definiert“, erklärte der Professor seinen ‚Fall’. „Lassen Sie uns lieber von Wahrnehmungen sprechen, wie die Konstruktivisten. Dinge, die subjektiv-materiell betrachtet der Logik völlig abhold sind, gewinnen durch das Brennglas der Empathie manchmal etwas an Kausalität.“

Seine zwanzig Semester Sozialwissenschaften waren bei weitem nicht genug, fuhr es Theo durch den Kopf. „Können Sie noch etwas elelaborieren?“ Geht doch, kaum gestottert.

„Wie soll ich es sagen? Es sind bei mir, respektive bei uns an der Universität, einige Dinge passiert, die für sich alleine genommen nicht der Rede wert sind, da das sich Zutragen selbiger im Normalfall eher dem verwirrten Geiste des Wissenschaftlers zuzuschreiben wäre, der Untauglichkeit des Gelehrten für das tägliche Leben, klischeegebunden, sozusagen. Sie wissen schon, der berühmte Elfenbeinturm. Zusammen allerdings, ich weiß nicht, es ist nur ein Verdacht, nein, weniger als das, eine temporale Störung der Kohärenz, Widersprüchlichkeiten. Können Sie nach Tübingen kommen? Es ist schwer zu erklären am Telefon. Ich zahle Vorkasse.“

Das Wort Vorkasse öffnete Mennets Sympathieschloss sperrangelweit.

„Hm.“ Theos Stimme sollte zögerlich klingen, wie wenn er an der Last der Arbeit schwer trüge. Aber seine leicht vibrierende Stimme war der Judas der Gemütslage. „Hat Ihnen Dr. Schippke meine Tarife genannt?“

„Ja, ich bin einverstanden.“

Das Einverständnis kam so schnell, dass Theo einen Moment versucht war, eine Schippe draufzulegen. Doch dann verschluckte er den Gedanken. Scheiß drauf, lieber den Spatzen in der Hand.

„Ich nehme morgen die Frühmaschine nach Stuttgart, dann den nächsten Zug nach Tübingen. Wollen wir uns zum Mittagessen treffen, so gegen zwölf dreißig?“

„Einverstanden.“ Niemetz schien erleichtert. „Treffen wir uns beim Neckarmüller, direkt an der Neckarbrücke.“

„Ich werde dort sein“, versprach der Detektiv, legte auf, biss in das angeknabberte Sandwich vom Vorabend und spülte er mit einem unnötig teuren Designerwässerchen nach. Dann nahm den Laptop zur Hand und buchte für den Folgetag einen Flug in die Schwabenmetropole. Ja, verdammte Maske, nur Hinflug, keinen Koffer aufzugeben, keine Versicherung, keine Platzreservierung, einfach nur einen fucking Flug nach Stuttgart, mitten hinein ins Filderkraut. Danach googelte er Professor Niemetz.

4

Filderkraut und Maultaschen

Der Detektiv landete gegen zehn Uhr dreißig in Stuttgart. Er nahm die S-Bahn zum Hauptbahnhof, anschließend nach einer Wartepause einen Zug nach Süden. Theo ließ sich entspannt in eine Ecke des Regio-Shuttle trudeln und stöpselte den Hörer seines Mobile Players ins Ohr. Etwa eine Stunde hätte er für seine Mucke. Eine Stunde? Mist, das würde ja gar nicht reichen! Tübingen war doch quasi eine Vorstadt von Stuttgart. Und dann: Metzingen, Reutlingen, Ingendingen, Dungendangen, der Zug tingelte durch die Provinz. Zu spät dran und keine Handynummer. Wie oft hatte er sich selbst im Spiegel mehr Professionalität versprochen. Amateur, scheiß Amateur!

Schließlich trudelte der Zug in den Hauptbahnhof der Universitätsstadt ein. Die Eingangshalle, durch die Theo spurtete, versprühte den Charme der Gründerzeit und den schwäbischen Pietismus gleichermaßen. Wenigstens hatte er sich den Weg zum Restaurant virtuell eingeprägt. Es war nicht besonders weit. Mehr als eine halbe Stunde verspätet zog er, schon etwas transpirierend, recht abrupt an der breitflügeligen Eingangstür des Neckarmüllers.

Ihm entgegen stolperte ein schlanker Sechzigjähriger im grünbraun-karierten Sakko, dazu trug der Mann eine braune Bundfaltenhose, ein blaues Hemd, feine aber doch sportliche Schuhe, deren Leder aber nicht zum Gürtel passte. Auf dem Haupt weißes, volles Haar, leicht gelockt und schulterlang. Er trug einen Dreitagebart, unter der Nase etwas nikotinbraun gefärbt, im Mund eine Pfeife. Im Gesicht bildeten tiefe Falten einen schimmernden Kontrast zum jugendlichen Feuer seiner intensiv strahlenden blauen Augen.

„Nicht so ungestüm, Sie Berserker, haben Sie Ihren Einstein und Ihren Newton nicht gelesen?“

Theo erkannte den Pfeifenraucher dank seiner Internetrecherche vom Vortag sofort.

„E-e-entschuldigen Sie, Professor N-Niemetz, ich denke wir sind verabredet. Verzeihen Sie meine Verspätung, die Bahn, Sie w-wissen schon.“

„Ah, wen haben wir denn da, doch nicht etwa Mr. Godot?“ Der Professor lächelte. „Auch cum tempore ist bereits verflossen, wie Quecksilber sich in der Luft verflüchtigt. Sie erinnern mich frappant an meine Studenten, junger Mann. Schön, Sie doch noch zu treffen. Was wir nun unserem leiblichen Wohle zugutetun werden, will zur Kompensation meiner Zeit aus Ihrer Brieftasche beglichen werden.“

„Abgemacht!“ Theo atmete auf. So würde er noch relativ billig davonkommen. Nicht auszudenken, würde er auf seinen Reisekosten sitzenbleiben.

Die beiden Männer schüttelten sich die Hände. Der Händedruck des Professors war fest und ausdauernd, wie von einem Mann, der wusste, was er wollte. Sie machten kehrt und betraten das Lokal, das der Professor gerade eben verlassen hatte. Der Neckarmüller war gut gefüllt. Sie ließen sich auf der Terrasse direkt am Neckar nieder und bestellten das rustikale Tagesmenü. Niemetz empfahl das hauseigene Bier. Theo stimmte zu und vernahm dann etwas pikiert, dass der Professor nur ein Mineralwasser orderte.

Sein Auftraggeber machte auf Theo einen ausgesprochen sympathischen Eindruck. Nicht selbstverständlich bei Koryphäen, die sich oft die Aura der Unnahbarkeit und der Arroganz geben. Professor Dr. nat. mult. Dr. h.c. Andries Niemetz war Biologe, besser besagt Biochemiker, mit je einer Dissertation in beiden Fächern, aber einer Habilitation mit thematischem Schwerpunkt in der Biologie. Die Internetrecherche hatte ein umfangreiches Publikationsverzeichnis ergeben, zahlreiche Preise, Mitgliedschaften in verschiedenen Vereinigungen, einen Ehrendoktor einer japanischen Universität, einen abgelehnten Ruf nach Berlin. Geboren wurde der Professor 1952 in Münster, Westfalen. Nach dem Studium promovierte und habilitierte er in Göttingen, anschließend folgte er einem Ruf nach Tübingen. Die Liste der Gastprofessuren war lange: Er war in Paris an der Sorbonne, am MIT in Boston und an University of Toronto in Kanada, um nur einige zu nennen.

„Woher kennen Sie Schippke?“, fragte Niemetz. Theos einstiger Klient schien ein gutes Eingangsthema abzugeben.

„Ein abgeschlossener Fall, nichts G-Großartiges, habe D-Diskretion zugesagt.“

„Verstehe.“

„Und Sie?“

„Bernard hat mir sehr unter die Arme gegriffen. Der Kollege ist gut vernetzt. Als sich in einem Antrag zu einem Forschungsprojekt eine größere Lücke auftat, sprang er uneigennützig, mit hohem Zeitaufwand und ohne Bezahlung ein. Wahrlich altruistisch.“

„Er ist also in einem Ihrer Forschungsprojekte involviert?“

„Nein, nur im Antrag.“

„Ihr Forschungsprojekt ist demnach interdisziplinär, oder?“

„Ja. Man spricht bei uns auch von Converging Technologies, man kann das nicht mehr auseinanderhalten. Man braucht für das was ich mache sowohl einen Bottom-up- als auch einen Top-down-Ansatz. In der Nanotechnologie sind die Biologen und die Chemiker eher für den Bottom-up-Ansatz zuständig, die Physiker für den Top-down-Ansatz. Aber in meinem jetzigen Forschungsprojekt mache ich die Biologie und die Chemie, die physikalische Seite ist im Moment, im jetzigen Stadium, noch nicht so wichtig. Wir haben im Hause nur den Kollegen Wrange als Physiker – und der ist im Moment nicht greifbar.

„Und Schippke ist Physiker.“

„Genau. Und er ist sowohl hilfsbereit als auch getrieben von der wissenschaftlichen Neugier nach Erkenntnis, unserem Antriebsnukleus. Mancher von uns kennt da keine Grenzen, er muss es einfach wissen, no matter what.“

„Und egal welche Konsequenzen es hat“, schob Theo provokativ ein Verkehrshindernis in die Debatte. Er dachte an die Gentechnologie und genmanipulierte B-Waffen, die chemischen Großforschungen, deren Produkte ganze Landstriche verseuchten. Er assoziierte Genlebensmittel, totkranke Klonschafe, Agent Orange, ballistische Raketen und Deepwater Horizon, er rief sich die Verbindung aus Wissenschaft und Industrie sowie Forschung und Kapital ins Gedächtnis, die das alles möglich gemacht hatten, dann aber mit den Folgen nicht assoziiert werden wollten. Theos politische Einstellungen bewegten sich zuweilen deutlich links von der Mitte. Er war gegen die monopolistische und verbraucherfeindliche Großindustrie und ihre politische Lobby und natürlich gegen die Kriegsindustrie.

Niemetz dachte kurz nach, dann kam eine gut überlegte Riposte: „Die Sinnhaftigkeit einer Grenze erschließt sich erst bei der Überschreitung derselben. Die Grenzüberschreitung ist der unschöne Maßstab des Innovators. Aber ja, Sie haben natürlich des Pudels Kern getroffen, das ist manchmal schwierig, weil die Frage, ob alles was erforscht werden kann, auch erforscht werden muss, nicht nur die Philosophen umtreibt, sondern auch die Naturwissenschaftler. Gefährlich für die Menschheit sind wir Wissenschaftler ja alle. Meine Standesgenossen haben Hiroshima und Nagasaki ermöglicht, wenngleich nicht verursacht. Marx ermöglichte den Kommunismus, aber Stalins Lager jetzt Marx in die Schuhe zu schieben, ist doch eher unzulässig, er konnte unmöglich wissen, wie andere seine Idee pervertierten. Hätte er das Kapital nicht schreiben sollen, weil die Zukunft nicht vorhersehbar ist? Es ist das Schicksal großer Ideen, dass man die Kontrolle verlieren kann, Folgenabschätzung ist schwierig. Letztendlich kann das bewusste Nichtweiterverfolgen eine gefährliche Erfindung ohnehin nur verzögern, fast nie gänzlich verhindern. Die Zeit schafft sich ihre Produkte.“

„Soll das ein Freifahrtschein sein?“

„Nein. Jeder muss individuell und mit seinem Gewissen abmachen, was er verantworten kann und was nicht.“

„Die Atombombe ist das naheliegende Beispiel, aber gewissermaßen auch das Totschlagargument, oder?“

„Schön, dass Sie selber darauf kommen, Mennet. Es ist natürlich ein Exempel aus der Frühzeit der Massenvernichtung. Die heutigen Gefahren sind filigraner. Nehmen Sie zum Beispiel meine Kollegen aus der Biologie. Die haben einen Vogelgrippevirus durch Mutationen multiresistent gemacht. Einige der Kollegen wollten die Ergebnisse dann nicht veröffentlichen, auch weil eine Behörde warnte. Vergeblich. Einer machte es dann doch. Das Wissen schafft sich Bahn, immer. Die Frage ist nur, wann. Passt es gerade, oder passt es nicht?“

„Und wer soll das bestimmen, wann der richtige Zeitpunkt ist?“

„Genau das ist das Problem, wer soll das bestimmen? Letztlich kann das nur der Wissenschaftler – und meiner Meinung nach ist das ‚Jetzt‘ meist der beste Zeitpunkt.“

„Wohl auch, damit einem keiner zuvorkommt, oder?“

„Das ist ein Aspekt, der keinesfalls unterschätzt werden darf. Aber ich gebe Ihnen ein weiteres Beispiel, das das Entscheidungsproblem noch besser veranschaulicht, wieder von den Biologen. Die haben ja bekanntlich das menschliche Genom entschlüsselt und dabei festgestellt, dass wir genetisch zu 99,9 Prozent identisch sind. Das heißt aber auch, dass wir uns in etwa drei Millionen Erbinformationen unterscheiden.“

„OK, davon habe ich gehört.“

„Nun wurde die HapMap hervorgeholt … “

„Entschuldigung, Professor Niemetz, ich brauche etwas Hilfe“, unterbrach Mennet mit hochgezogenen Augenbrauen.

„Die sogenannte Haplotyp-Karte, … „

Ein fragender Blick.

„Haplotypen sind unterschiedliche Abfolgen der insgesamt vier DNA-Grundbausteine. Damit können Sie die HapMap unter anderem ethnisch differenzieren.“

„Auweia!“

„Nicht so vorschnell, Mennet. Es ist so möglich, Medikamente zu entwickeln, die einer bestimmten Ethnie gute Dienste leisten, bei anderen vielleicht wirkungslos sind. Man hat etwa festgestellt, vereinfachend dargestellt, dass Asiaten anfälliger für den Vogelgrippevirus sind als Europäer. Mit diesem Wissen lässt sich in der pharmazeutischen Forschung zielgerichteter arbeiten, aber …“

„Aber?“

„Aber es gibt auch die theoretische Möglichkeit, dass so etwas wie Ethnowaffen entwickelt werden, Dual use nennt man das, je nachdem wie man etwas verwendet, ist es Segen oder Fluch. Man könnte auch von ambivalenten Entwicklungen sprechen, damit man nicht in diese hässliche Gut-Böse-Dichotomie gleitet. Aber nun zu unserer Frage. Sollen die Ergebnisse veröffentlicht werden, also hier die Haplotypen, oder hat man Angst vor der eigenen Courage?“

„Schwer zu entscheiden, Professor. Ich habe einmal gelesen, um bei der Genetik zu bleiben, dass manche Menschen ein Abenteurergen haben, andere nicht. Es ging wohl konkret um die Bereitschaft von Menschen, Risiken einzugehen um Neues zu erfahren.“

„Wenn das so ist, dann sind Wissenschaftler garantiert Abenteurer. Sie werden immer alles wissen wollen.“

„Die Frage ist, ob mich das beruhigen soll?“

„Eher nicht, um ehrlich zu sein.“

Eine nachdenkliche Stille nahm Besitz von den beiden. Der Detektiv entledigte sich ihr zuerst, indem er abrupt den Bogen zurück zum Ausgangspunkt spann: „Hat das jetzt direkt was mit Dr. Schippke zu tun?“

„Nein, um Gottes Willen. Ich bin Bernard – wie gesagt – zu großem Dank verpflichtet. Er ist meine erste Anlaufstelle in Berlin. Ihn habe ich zu Rate gezogen, als ich gewisse Eigentümlichkeiten feststellte und mir überlegte, die Polizei einzuschalten. Schippke war es, der mir riet, einen Privatdetektiv zu konsultieren. Das sei effektiver, bei der Polizei reiche ein Anfangsverdacht, so vage wie meiner, eigentlich nie aus, das sei vergebliche Liebesmüh. Er meinte mit Ihnen gute Erfahrungen gemacht zu haben.“

Wie Schippke wohl zu dieser Aussage kam? Und was er wohl von Polizeiarbeit verstünde? Theo schaute dem Stocherkahn hinterher, der wie eine Schildkröte auf Land über das ruhige Wasser des gestauten Flusses glitt. Besetzt war das Boot mit Personen in seltsamen Verkleidungen, fast wie zu Karnevalszeiten.

„Worum geht es also? Schießen Sie los!“, eröffnete Theo die Stunde der Wahrheit nach einem inneren Ruck und mit fragendem Blick in die blauen Augen seines Gegenübers.

Niemetz wich dem Blick aus, lehnte sich zurück. Für einige lange Sekunden drehten sich seine Augen nach oben. Er schien nach der richtigen Eröffnung zu suchen.

„Also, in medias res.“ Der Professor atmete tief ein und nahm Augenkontakt mit Theo auf. „Ich glaube, ich werde observiert.“

„Gibt es etwas, was es zu observieren lohnte? Etwa privat?“

„Nicht, dass ich wüsste.“ Die Antwort des Professors klang überzeugend. „Ich bin glücklich verheiratet, seit langen Jahren. Und bevor Sie es selber fragen: Keine Affären mit Studentinnen oder Ähnliches. Kein Erpressungspotential, ich habe eine weiße Weste. Privates ist ausgeschlossen, es kann nur um meine Arbeit gehen.“

„OK. Haben Sie den Beobachter gesehen?“

„Ich habe ihn gespürt. Ich weiß, von einem Wissenschaftler erwartet man keine esoterischen Aussagen, sondern harte Fakten. Aber Ihnen als Kriminalist muss ich nicht sagen, dass es mehr Verbrechen gibt als diejenigen, die man letztendlich beweisen kann. Ergo: Gefühle zu ignorieren, ohne zu wissen, ob sie täuschen, oder ob sie vielleicht doch steuernde Funktionen haben, wäre ebenso falsch, wie ihnen aufzusitzen.“

Theo musste ob der Beförderung zum Kriminalisten schmunzeln. „Wenn man weder verifizieren noch falsifizieren kann, wird man zwangsläufig zum Agnostiker, oder?“

„Gut getroffen, Mennet. Ja, zunächst zumindest. Aber man kann wiederum kaum erklären, warum sich so viele Wissenschaftler mit zunehmendem Alter als gläubig bezeichnen. Glaube ist schließlich nicht mehr als eine Hypothese; und der verzweifelte Versuch, sie zu verifizieren, ohne wissenschaftliche Methoden nutzen zu können. Eine Contradictio in adjecto.“

„Und Gott löste sich in einer Logikwolke auf.“ Theos Lektüre war mehr die Art ‚Per Anhalter durch die Galaxis’ als die Herren Newton und Einstein, Platon und Kant, zumindest, seit er im dritten Semester an Habermas gescheitert war.

Niemetz schaute fragend.

„Egal.“ Mennet würde im Moment bei der Suche nach dem Motiv nicht weiterkommen. Er würde sich also auf den Verfolger konzentrieren müssen. „Beschreiben Sie Ihr Gefühl. Was oder wen fühlen oder sehen Sie?“

„Es sind eher Déja vu’s. Es handelt sich um Personen, die ich meine schon gesehen zu haben, aber irgendwie immer anders.“

„Was meinen Sie mit anders?“

„Die Gesichtszüge sind mir bekannt, aber nicht das Gesicht. Also, die Person meine ich gesehen zu haben, gestern, neulich, en passant. Heute sehe ich ihn wieder, aber er sieht anders aus. Und das geht hin und her. Es ist und bleibt seltsam, Tübingen ist klein, man kennt sich oder man kennt sich nicht. Aber dafür, dass man sich ständig zufällig über den Weg läuft, ist die Stadt dann doch wieder zu groß.“

Theo dachte laut nach. „Gehen wir zunächst davon aus, dass es sich um nur eine Person handelt. Vielleicht eine Art von Camouflage, unterschiedliche Kleidung, heute jugendlich, morgen elegant. Vielleicht Utensilien, ein künstlicher Bart, Kontaktlinsen mit anderen Farben für die Iris, ein Hut oder eine Mütze, unterschiedliche Haarfarben, Perücke?“

„Hm, kaum, fällt eigentlich immer auf, zumindest in schlechten Filmen. Habe in den letzten Jahrzehnten keinen guten mehr gesehen.“

„Den großen Lebowski vielleicht?“

„Nein, wieso, ist das ein guter?“

„Definitiv, mit einem nicht ganz alltäglichen Helden.“

„Und das wäre?“

„Ein Sozialversager, der sich Dude nennt und mit einem Katholiken polnischer Abstammung befreundet ist, der sich für einen Juden hält.“

„Und was machen die zwei so?“

„Sie bowlen.“

„Klingt spannend.“

„Schauen Sie ihn an, wenn Ihnen Ihre Forschung mal zum Hals raushängt und Sie etwas Aufmunterung brauchen.“

„Versprochen.“

„Zurück zu unserem Fremden, Professor: Gibt es etwas, was besonders auffällt, etwa: immer die gleiche Nase, die Augen, der Mund. Ein bestimmter Ausdruck im Gesicht, das Lächeln?“

Niemetz kratzte sich unterm Ohr, ein klassisches Zeichen der Verlegenheit.

„Ja und Nein. Es sind Gesichtszüge, die sich ähneln, die aber definitiv verschieden sind. Männlich, kaukasisch, mittleres Alter. Keine anderen Auffälligkeiten. Ich weiß, es klingt vage, fast wie eine Fata Morgana. Wenn da nicht die andere Sache wäre, wäre ich gar geneigt, mich selbst paranoid zu schimpfen.“

„Welche andere Sache?“ Theos Beine begannen unter dem Tisch schneller zu wippen.

„Ich verwahre in meinem Safe im Büro Unterlagen und einige Flaschen mit Samples aus einem Forschungsprojekt, dem ich einige Bedeutung zumesse. Als ich den Safe neulich öffnete und die Unterlagen hernahm, kam es mir vor, als ob die Papiere anders geordnet wären. Ich könnte mich natürlich täuschen. Es gibt viel zu tun und ich habe einige Projekte, vielleicht habe ich die Unordnung selbst verursacht und erinnere mich nur nicht.“

„Um was handelte es sich bei den Proben und wer hatte Zugang? Ich brauche alle Details über die Dokumente und die Flaschen mit der Flüssigkeit.“

„Wer sagt Ihnen, dass es eine Flüssigkeit ist?“

Theo schaute fragend, ohne etwas zu entgegnen. Flaschen und Flüssigkeit, das liegt doch eigentlich nahe.

„Die Flaschen sind die üblichen Behältnisse für biologische oder chemische Produkte, die luftdicht verschlossen werden können, bräunlich, aber noch transparent. Sie beinhalten ein Granulat. Die Unterlagen dokumentierten das Forschungsprojekt, einfache Folder mit Din-A4-Papier, erklärte der Professor.“

„Und um was geht es im Projekt?“, wollte der Detektiv wissen.

„Was das Projekt angeht“, fuhr der Biochemiker fort, „will ich Sie nicht mit Details nerven, es geht um neue Werkstoffe, an der Grenzstelle von Biologie, Chemie und Physik. Ich glaube Sie verstehen, wenn ich wegen des Financiers, der aus der Wirtschaft kommt, Details nicht verlautbaren kann.“

Industriespionage, schoss es Mennet durch den Kopf. Das Motiv lag doch wohl klar ausgebreitet auf dem Tisch.

Der Professor ergänzte seine Angaben und kam damit den nächsten Fragen auf der Liste zuvor: „Zugang zu den Daten habe nur ich und meine Assistentin. Nur wir und die Sekretärin haben die Schlüssel zum Büro. Sorry, und natürlich der Pedell, der Hausmeister. Es existieren meines Wissens nur diese vier Schlüssel. Die Safe-Kombination kennt nur meine Assistentin – und ich natürlich. Eingebrochen wurde nicht, zumindest sehe ich keine Spuren.“

„Und wer macht sauber?“, brachte Theo eine unumgängliche Notwendigkeit ins Spiel, die Niemetz offenbar übersehen hatte.

„Den Papierkorb leere ich selber, Staubsaugen, na ja, selten, nur auf Nachfrage, nicht, seit ich die Flaschen im Safe verwahre. Unsere Wissenschaft wird nicht von Ungefähr als staubtrocken angesehen.“

Der Kerl hatte sogar Humor.

„Und die Safekombination war 1234, oder?“, beliebte Theo zurückzuscherzen, nur um ins verlegene Gesicht des Professors zu schauen. Nein, das konnte jetzt nicht sein. Niemetz brach in Lachen aus.

„Natürlich nicht, I’m kidding!“

Mennet atmete tief durch. „Und Ihre Assistentin, könnte sie etwas damit zu tun haben?“

„Ausgeschlossen.“ Das kam etwas zu schnell.

„Kann ich mit ihr sprechen?“

„Knapp verpasst. Sie fährt auf einen Kongress nach Budapest, abseitiges Thema, nichts für mich. Sie muss schon unterwegs sein.“

Theos Blick schweifte über den Fluss, heftete sich an den Stocherkahn, der gegen die Strömung kaum vorangekommen war. Dafür hatten sich drei weitere Schwabendschunken zu ihm gesellt. Die bunten Kleidungsstücke der Besatzung wichen immer mehr der nackten Haut.

Der Detektiv nahm einen langen Schluck aus dem Humpen. „Wer weiß von Ihrem Projekt und wer könnte mit den Dokumenten etwas anfangen, oder gar mit den Proben?“

„Vom Projekt weiß die gesamte Scientific community. Ich habe einen Explorative article in der Zeitschrift ‚Science’ veröffentlicht, die eben aktuelle Ausgabe. Niemand wusste, dass ich schon so weit bin; und ich habe es im Artikel auch nicht wirklich verraten. Wer könnte damit etwas anfangen. So isoliert? Eigentlich niemand. Mit den Proben jeder, der die Idee dahinter kennt und etwas von den zugrundeliegenden physikalischen- und biochemischen Prozessen versteht.“

„Und wer wäre das?“

„Kringe, meine Assistentin, wenn sie entschlüsselt hat, was ich vorhabe, was zumindest nicht ausgeschlossen ist. Ich habe sie zwar nur in Teilbereiche eingeweiht, aber sie ist nicht dumm und kann eins zu eins addieren.“

„Sonst noch wer?“

„Kaum. Alle anderen dürften nicht in der Lage sein, die Puzzleteile zusammenzusetzen. Es ist wie bei dieser alten Show aus den siebziger Jahren, wie hieß die noch, wo ein Bild entschlüsselt wurde. Gewonnen hat, wer zunächst erkennt, um wen es sich handelt.“

„Sie meinen Dalli-Klick, aus Dalli-Dalli, mit Hans Rosenthal.“

„Genau.“

Theo rekapitulierte: Sie hatten also – eventuell – umgeordnete Dokumente, von denen eigentlich niemand wusste, wie wertvoll sie waren, dazu einen Verfolger ohne Gesicht, einen Professor, der sich das Ganze – vielleicht – nur einbildete und hochgradig paranoid war. Entweder sollte man den Fall schnell vergessen und nach Hause fahren, oder es würde ein Wust an Arbeit, der einen für einige Wochen über Wasser halten würde. Und solange dieser Einstein zahlte!

Da der Professor alle Fragen beantwortet hatte, bevor Theo sie stellen konnte, galt es in die Ermittlungen einzusteigen. Theo verlangte nach der Rechnung. „Ich sollte mir ihr Büro anschauen. Ich bräuchte auch ein Foto Ihrer Assistentin, wenn sie wegen dem Ruf der Wissenschaft nach Bukarest nicht persönlich greifbar ist.“

„Budapest“, korrigierte Niemetz.

„N-Natürlich, sorry.“

Mit einem kurzen Räuspern deutete der Professor eine unangenehme Bemerkung an: „Sie verstehen, dass ich gegenwärtig auf gar keinen Fall möchte, dass am Institut falsche Gerüchte aufkommen. Ich würde Sie deshalb als Wissenschaftler ausgeben, nur falls jemand fragt. Sie wären also quasi inkognito bei uns.“

„Inkognito heißt mein Zwillingsbruder“, versuchte Mennet in einem neuen Anlauf witzig zu sein. Er beglich die Rechnung als Strafe für seine Verspätung aus eigener Tasche auf Punkt und Komma, übersah das säuerliche Gesicht der um das Trinkgeld betrogenen Bedienung, nahm den Dank des grinsenden Professors für die Einladung entgegen und bestieg im Schlepptau von Niemetz die Treppe hinauf zur Straße. Bisher hatte Theo draufgezahlt.

Auf der anderen Seite der Brücke hatte sich während des Gesprächs eine Menschenmenge angesammelt, die sich bis zum Ende der Neckarinsel und auf der anderen Flussseite bis zum Hölderlinturm zog. Den gelben Turm direkt über dem Wasser hatte das geisteskranke Lyrikgenie über Jahre nicht verlassen. Auf dem Wasser tummelte sich mittlerweile eine Unzahl an Stocherkähnen, länglichen Holzbooten, die mit einem langen Holzstab angetrieben wurden, der in den Flussboden gerammt wird. Die Stocherkähne waren mit jungen Menschen besetzt. Im Bug der Boote saßen Personen Schrittmacher wie bei einem Wettkampf des Deutschland-Achters. Theo schaute den Professor fragend an.

„Eine Tübinger Tradition der Studentenverbindungen“, erläuterte dieser. „Das Stocherkahnrennen um die Neckarinsel findet normalerweise jedes Jahr zu Fronleichnam statt. Dieses Jahr wurde es wegen des Sturms an Fronleichnam und der folgenden Schlechtwetterperiode verlegt. Es geht nicht nur um den Sieger, sondern auch um den Verlierer. Die Besatzung des Bootes, das Letzter wird, muss eine Flasche Lebertran trinken und das nächste Rennen ausrichten, weswegen das eigene Boot nicht antreten darf. Angeblich sind schon Besatzungen absichtlich Letzter geworden, um das Rennen ausrichten zu dürfen.“

„Oder sie mögen Lebertran.“

„Guter Gedanke. Was haben Sie studiert, Mennet?“

Der Mann setzte also grundsätzlich ein Studium voraus. Schön. Aber was sollte man von einem Professor schon erwarten. Theo blieb unbestimmt: „Nicht der Rede wert, vor allem empirische Sozialwissenschaften und Soziologie.“

„Aha.“

Mennet ließ dies unkommentiert. Er schaute sich das Spektakel an.

„Sind Sie eigentlich bewaffnet?“, fragte der Professor eher schelmisch-schnippisch, als dass er tatsächlich von der Notwendigkeit einer Bewaffnung überzeugt zu sein schien.

„Selbstverständlich“, log Theo nach einem kurzen, verräterischen Zögern, das sein Auftraggeber aber nicht wahrzunehmen schien.

„Gut.“ Niemetz kratzte sich am Kinn und zündete sich die Pfeife an, die er während des Spektakels rituell gestopft hatte. „Werden Sie bei dem Fall wohl nicht benötigen, aber man weiß ja nie, welches Ungeziefer sich in den Poren der Akte herumlümmelt. Dr. Mennet, bis später.“

„Herr Kollege, stehe zu Diensten.“

Theo führte seine flache linke Hand zur imaginären Uniformmütze. Seine Rechte hielt in der Jackentasche etwas verkrampft das Pfefferspray umklammert, das den fehlenden Waffenschein zu substituieren hatte. Professor Niemetz kraxelte ins Taxi und Theo begann langsam Richtung Hotel zu gehen. Vor seinen Augen begannen die neuen Informationen einen Reigen der Verknüpfung zu tanzen. Theo kollidierte fast mit dem Obdachlosen, der nach einem Geldstück einer Währung fragte, die es nicht mehr gab. Er bemerkte auch nicht, wie ihm ein Mann mit asiatischen Gesichtszügen folgte.