Wenn das Leben Geschichten schreibt, wird es
Zeit, eine Geschichte vom Leben zu schreiben.

Ähnlichkeiten mit lebenden Personen
sind rein zufällig.

Die Handlung ist frei erfunden, jedoch von
wahren Begebenheiten inspiriert.

So oder anders passiert es jeden Tag
irgendwo in Deutschland.

Eva Grüns

Dach!
Schaden!

Roman

Wurzel

1

Die Schönheit der geordneten Wildnis mit all ihren Farben, Formen und Vogelklängen verrückte mich in einen Zustand von Gedankenstille und Harmonie. Ich liebte meinen Garten. Dort konnte ich aufatmen, innehalten, das Ergebnis der eigenen Hände Arbeit betrachten. Umgeben von meinen Pflanzenlieblingen verstummte das Tosen des Alltags.

Der Garten war ein Ort des Friedens, des Gleichgewichts, ein großer Spiegel meiner Seele.

Das war vor einem Jahr.

Mein Paradies liegt am Stadtrand. Ich brauche nur 20 Minuten mit dem Auto dorthin. Der Rasen schlängelt sich zwischen den Beeten hindurch und gibt dem Garten Form und Struktur. Dieser grüne Teppich umrundet die Biotope, in denen es summt und raschelt.

Während ich das Unkraut herausreiße, ist die Anspannung groß. Mein Blick wandert zu den Hecken, die jetzt im Februar wenig Sichtschutz bieten.

Ich habe Angst.

Angefangen hatte alles mit dem Rasenmäher. Oder mit dem Schuppen, in dem er stand, links hinten am Ende des Geländes. Die Dachpappe war an manchen Stellen aufgerissen und undicht.

Umgeben von Regenlachen rostete der Rasenmäher vor sich hin. Es war nur eine Frage der Zeit, bis er seinen Geist aufgeben würde. Meine beste Freundin Susi hatte ihn mir letztes Jahr geschenkt. Sie brauchte ihn nicht mehr. Im Sommer ging es ratternd auf und ab durchs wüchsige Gras. Danach war ich atemlos, verschwitzt und glücklich.

Es musste doch jemanden geben, der mir mein Dach reparierte? Ich fragte seit Wochen bei jeder sich bietenden Gelegenheit nach.

Dann kam dieser seltsame Abend. Gut, ich war gerade in einer speziellen Stimmung, offen, unternehmungslustig, neugierig.

Ich drehte mit meiner Hündin in der frühen Abenddämmerung eine Runde. Auf der Straße hibbelte ein Typ mit netter Ausstrahlung auf mich zu und sprach mich an: Ob ich ihm aushelfen könne, er hänge hier in der Stadt fest und brauche Geld. Er sprach mit starkem Akzent.

So was Verrücktes! Bestimmt tischte er mir gleich eine erfundene Geschichte auf. Aber was konnte ich schon verlieren?

„Ja, wenn du mir das Dach von meinem Schuppen reparierst, gebe ich dir was dafür. Du musst dir das schon verdienen.“

„Das müsste ich mir erst anschauen. Kann ich vielleicht machen.“

Er gab mir einen kräftigen Händedruck. „Ich heiße Gomez.“

Klein und drahtig, mit langen Rastazöpfen, zu einem Knoten am Hinterkopf gebunden, plapperte er drauflos:

„Weißt Du, das ist so: Meine Frau hat mich rausgeworfen. Jetzt will ich heim zu meiner Mama und meinen Brüdern. Die haben in Andalusien ein Restaurant. Da kann ich aushelfen. Aber ich habe kein Geld für die Fahrkarte.“

Ich überlegte nicht lange: Ob wahr oder nicht, mein Schuppen hatte einen Dachschaden.

„Gut. Dann ruf mich morgen an.“

Ich griff in die Handtasche, fischte eine Visitenkarte heraus und gab sie ihm. Vielleicht meinte er es ja doch ernst. „Melde dich!“

Er winkte mit der Visitenkarte, machte einen kleinen Luftsprung und hüpfte davon. „Bis bald!“, rief er.

Was für ein Spinner.

Gomez meldete sich nicht mehr. Ich hatte ihn schon fast vergessen. Zwei Wochen später kam ein Anruf.

„Hey, Michael Kleinknecht hier. Habe gehört, dass du jemanden suchst, der dir was repariert. Also, ich habe damit Erfahrung. Kann ich schon machen.“

Ich wunderte mich. „Woher hast du meine Nummer?“

„Die habe ich von Gomez. Das ist ein Freund von mir.“

Michaels Stimme klang angenehm, tief und ein wenig rau, mit einem Glucksen am Ende der Sätze. Er verströmte gute Laune.

Wir verabredeten uns am Busbahnhof.

„Wirst mich gleich erkennen. Ich habe einen roten Bart, mit Zöpfchen“, war Michaels Auskunft.

Als ich pünktlich ankam, stand er schon da.

„Michael Kleinknecht“, sagte er mit einem umwerfenden Grinsen im Gesicht. „Anne Fiebig“, erwiderte ich.

Meine Hündin Tina beschnupperte ihn neugierig.

„Wir müssen nicht weit gehen. Dann fahren wir mit dem Auto weiter.“

Ich hatte mir das gut überlegt. Erst würde ich ihn mir anschauen und dann entscheiden, ob er vertrauenswürdig war.

Eigentlich nehme ich keine fremden Männer im Auto mit. Und erst recht nicht in meinen Garten. Aber er würde mir nichts antun. Er war harmlos. Das sah ich auf den ersten Blick.

Im Garten staunte er nicht schlecht. „Wunderschön hast du es hier.“

„Habe ich alles alleine gemacht“, erklärte ich. „Nur das Dach reparieren: Das kann ich nicht. Da brauche ich Hilfe.“

Es dauerte eine Weile, bis wir am Ende des Gartens ankamen. Michael kannte sich mit Pflanzen aus und blieb ständig stehen. „Das ist Salbei, oder? Und da: Lavendel.“

Er benannte den Frauenmantel, die Königskerzen, das Bohnenkraut. Bei anderen Gewächsen fragte er nach. Ich gab ihm willig Auskunft, war stolz auf meine Sammlung einheimischer Kräuter und Wildpflanzen.

Schließlich öffnete ich die Tür zum Schuppen. Es roch modrig. Wasser glänzte am Boden. Über Weihnachten und Neujahr hatten Kälte und Eis ihr zerstörendes Werk fortgesetzt.

Im neuen Jahr setzte sich endlich eine Hochdruckzone durch, die jetzt im Februar von einem Tiefdruckausläufer verdrängt wurde. Wenigstens lagen die Temperaturen im Plusbereich.

Nach dem Dauerregen letzte Nacht schien die Sonne milchig durch eine dünne Wolkendecke. Krähen krächzten über unseren Köpfen und landeten im Schwarm auf dem Acker nebenan.

Erst begutachtete Michael den Schuppen von innen.

Er zeigte auf die feuchten Stellen oben im Holz: „Da muss man wissen, wo die Querbalken liegen. Sonst bricht die Decke ein, wenn man darauf läuft. Gut, dass du da nicht alleine rauf bist.“

Doch, das hatte ich getan. Oben auf dem Dach hatte ich solche Angst bekommen, wegen der morschen Bretter und der Höhe, dass ich beschlossen hatte, es nicht noch einmal zu versuchen.

„Für mich kein Problem. Jetzt weiß ich Bescheid. Wirst sehen.“

Ich zeigte ihm die gewellte Dachpappe und die Schrauben, die ich vor drei Monaten gekauft hatte.

Susis Freund Thomas hatte sich Zeit genommen, das Dach ausgemessen, mich beraten, die sperrigen Teile zuschneiden lassen und in sein großes Auto gepackt. Gemeinsam fuhren wir zum Garten und verstauten das Ganze hinter der Hütte.

„Den Rest muss jemand anderes erledigen. Tut mir leid, aber handwerklich habe ich zwei linke Hände“, meinte er.

Während Michael mein Material begutachtete, verzog er das Gesicht und kratzte sich am Bart. Er sah süß aus, wie er seine Stirn vor lauter Denken in Falten legte. Schließlich zwirbelte er den dünnen Zopf, in den sein roter Spitzbart mündete.

„Die Pappe wird dir auch nicht lange halten. Das ist keine gute Lösung. Es gibt da ein viel einfacheres Verfahren. Kauf einfach Kaltteer, das schmiere ich oben drauf, im Sommer brutzelt das ein, und dann ist das dicht für immer. Kostet auch nicht viel.“

Michael gefiel mir. Groß, breite Schultern, weiche Wangen, volle Lippen. Der Bart war speziell, aber gepflegt. Er begann unter der schlanken Nase mit einem Schnauzer und ging über in einen langen Spitzbart, den er vom Kinn ab zu einem Zopf geflochten hatte. Seine Haare versteckte er unter einer schwarzen Mütze. Im Kontrast zum Bart schaute hinten ein Haarknoten mit wesentlich dunklerer Farbe, ohne Rotstich, heraus. Er hatte etwas von einem Wikinger.

„Dein Garten ist echt ein Paradies.“

Ich nickte. „Den solltest du mal im Frühling erleben, wenn alles blüht. Ein einziges Narzissenmeer.“

„Und was ist das für eine Pflanze da drüben? Habe ich noch nie gesehen.“

Er zeigte auf die dicken Hohlstängel im Schattenbeet direkt neben dem Schuppen, die zum Teil über einen Meter in die Höhe ragten, bevor sie sich verzweigten. Inzwischen waren die Triebe brüchig und knickten um. Im Frühjahr würde ich sie abschneiden und mich auf den Neuaustrieb freuen.

„Ja, das ist echt etwas Besonderes. Ich habe hier so einige seltene Pflanzen. Aber die hier ist mein größter Schatz. Das ist eine Tollkirsche.“

„Wow! Echt jetzt? Und die wird so groß? Aber die ist giftig, oder?“

„Klar. Du musst sie ja nicht essen. Vom Anschauen allein fällst du nicht tot um.“

Michael lachte. „Hast auch wieder recht. Das ist eine Zauberpflanze, richtig? Und du bist eine Zauberin.“

Er schaute mir tief in die Augen. „Und auch etwas ganz Besonderes. Habe schon lange niemand so Nettes kennengelernt. Na ja…“

Seine Gesichtszüge verhärteten sich. Er sah plötzlich ganz anders aus.

2

„Komm, wir setzen uns und bereden erst mal alles“, meinte ich. Ich stellte zwei Stühle ins Gras und legte Sitzkissen darauf.

Von einem Moment auf den anderen löste sich seine Anspannung, seine Augen bekamen wieder dieses Blitzen.

Wir fielen aus der Zeit, redeten und redeten. Nicht nur über das Dach. Auch über den Garten.

Ich hatte Freude daran, ihm mein Zauberreich zu erklären. Außer Susi wusste kaum jemand, wie schön es hier war, zu jeder Jahreszeit.

„Was du hier siehst, ist eine Mischung aus Wildnis und Ordnung. Ich lasse der Natur ihren Lauf und greife nur ein, wenn es nötig ist. Damit jede Pflanze Platz zum Wachsen hat und nicht eine die andere überwuchert. In meinem Garten geht es gerecht zu. Die Schwachen werden gepäppelt, die Starken in ihre Schranken verwiesen.

Alles hat seinen Sinn und Zweck. Es gibt zum Beispiel kein Unkraut. Nur Beikräuter. Schau hier, die Brennnessel: Sie ist bestes Raupenfutter. Und wunderbarer Wildspinat. Und Dünger für andere Pflanzen.

Mit den Menschen ist es genauso. Jeder hat das Recht, da zu sein. Es braucht nur den richtigen Platz und einen nahrhaften Boden. Mein Platz ist hier, im Garten. Da kann ich wachsen.“

Michael strich sich versonnen über die kräftigen Arme.

„Ja, so einen Garten habe ich mir auch immer gewünscht. Es ist phantastisch hier!“

Dann erzählte er von sich. Dass er gerade arbeitslos war. Die hatten ihm einfach gekündigt. Das war eine ganz miese Geschichte. Hatten ihn aus der Firma gemobbt. Und das Arbeitsamt zahlte nicht pünktlich. Jetzt war er mit seinen Rechnungen im Verzug. Die hatten ihm den Strom abgestellt. Das muss man sich mal vorstellen. Seine Wohnung war eiskalt, und das jetzt, im Februar. Er hatte immer nur Pech.

„Wie hoch ist denn deine Stromrechnung?“, fragte ich. Ich hatte Geld auf der Seite. Obwohl ich wenig verdiene, lege ich jeden Monat etwas zurück. Falls mal was ist.

„380 Euro.“

Das war viel Geld. So viel würde ein neuer Rasenmäher kosten. Aber ein Handwerker wäre schon nützlich. Ich überlegte nicht lange. Es fühlte sich alles gut und richtig an.

„Weißt du was? Ich helfe dir. Ich gebe dir das Geld. Und dafür reparierst du mir das Dach. Und hilfst mir noch bei ein paar anderen Sachen. In meiner Wohnung gibt es auch einiges zu tun.“

Von dem Umbau meiner Küche erzählte ich nichts.

„Echt jetzt? Das kann ich nicht annehmen.“

„Doch, doch, ich brauche echt Hilfe. So helfen wir uns gegenseitig.“

Er strich sich mit der Hand über die schwarze Mütze, kratzte sich am Bart. „Na gut. Das Schloss vom Schuppen ist auch nicht in Ordnung. Habe ich schon gesehen. Das mache ich dir gleich.“

Er sprang auf. „Hast du einen Schraubenzieher?“

Jetzt war Michael nicht zu bremsen. Nach kurzer Zeit schnappte das Schloss wieder richtig ein ohne zu klemmen.

„Aber das ist zu viel Geld. Wenn ich Arbeit habe, zahle ich es dir zurück.“

Inzwischen begutachtete er die Tür zu meiner Gartenhütte. „Das muss geleimt werden.“

„Heute nicht mehr“, erwiderte ich. „Mir ist kalt. Lass uns gehen.“

Im Auto fing er wieder an: „Ich werde dir das zurückzahlen.“

„Darüber reden wir, wenn es soweit ist.“

Das Geld war mir im Moment egal. Eine ganz andere Frage beschäftigte mich. Sollte ich ihn zum Essen einladen?

Zu Hause würde ich so oder so gleich kochen. Genug, dass alle satt werden. Seine Gesellschaft war angenehm. Endlich jemand, der sah, was ich alles stemmte. Was ich mir aufgebaut hatte. Das tat mir gut.

In meiner Freizeit war ich trotz der Kinder zu oft allein. Michael brauchte bestimmt eine warme Mahlzeit im Bauch. Ohne Strom funktionierte schließlich auch sein Herd nicht.

Und warum sollte ich mein Leben immer wegen den Kindern einschränken? Immer Rücksicht nehmen? Sie von allem fern halten?

Michael war nur ein Handwerker, der mir mein Schuppendach reparieren würde. Und vielleicht noch so einiges mehr. Keine Beziehung. Ich fällte eine folgenschwere Entscheidung.

„Hast du Hunger?“

Meine halbwüchsigen Kinder machten große Augen, als ich Michael in unsere Wohnung mitnahm. Sie sagten nichts. Nach dem Essen gingen sie in ihre Zimmer, wie immer.

Es schmeckte ihm. „Du bist eine großartige Köchin!“ Glücklich wischte er sich mit dem Handrücken Soßenreste aus dem Bart. Seine stahlblauen Augen blitzten mich an. Dann lächelte er auf eine Art, dass es mir warm den Rücken hinunter lief.

Drei Tage später war es dann soweit. Wie jeden Dienstag hatten meine Kinder Mittagsschule und wir somit genug Zeit für das kaputte Dach. Telefonisch klärte ich zuvor die letzten Details:

„Ich komme mit der Linie 13“, sagte er. „Die hält übrigens ganz in der Nähe von deinem Garten. Soll ich da hinkommen?“

„Nein, wir müssen doch erst die Sachen besorgen. Treffen wir uns wieder an der gleichen Stelle wie letztes Mal, um 10 Uhr?“

„In Ordnung, so machen wir es.“

Auch heute, ein Jahr später, es ist Februar 2016, schmückt sich der Busbahnhof nicht mit Bäumen oder Büschen. Bunt ist nur der Müll auf dem ausgeblichenem Asphalt. Die Wartehäuschen der Haltestellen sind heruntergekommen, zum Teil beschädigt. Überall blättert der Lack ab.

Meiner auch. Jedes Mal, wenn ich dort hingehe, ringe ich mit der Angst.

Es war eine kurze Aktion im Baumarkt. Zügig und sicher entschied Michael, was ich kaufen sollte. Beratung vom Personal brauchte er nicht. Zwei Eimer Kaltteer, das war es schon. Ich bezahlte.

Er hievte mühelos die schweren Eimer ins Auto. Dann fuhren wir weiter in den Garten.

Erst rührte er innen im Schuppen mit dem Stiel meines alten Besens schwungvoll durch die zähe Teermasse und kleckerte dabei. Als er auf das Dach kletterte, kippte der Eimer fast um. Er fing ihn gerade noch auf. Schwarze Teerschlieren tropften auf den Boden.

„Uups!“, meinte er lachend.

Macht nichts, dachte ich. Ist nochmal gut gegangen.

Während er auf dem Dach herumturnte und mit dem Besen den Kaltteer verstrich, schichtete ich Holz in die Feuerstelle. Bald tanzten die Flammen munter vor sich hin. Wir machten es uns vor dem Feuer gemütlich.

Ja, es war ganz besonders mit ihm. Ja, er gab mir das Gefühl, eine wunderbare Frau zu sein. Die Februarsonne wärmte ebenso wie das kleine Feuer vor uns. Er war mein Held, hatte mir das Dach repariert. Endlich war dieses Problem gelöst.

Ich ahnte ja nicht, dass die Lösung dieses Problems ganz andere Probleme in Gang setzen würde.

„Wie gut kennst du eigentlich diesen Gomez?“, fragte ich.

„Das ist mein bester Freund. Der wohnt nicht weit weg, gleich am anderen Ende des Dorfes. Wir sitzen oft zusammen und reden Quatsch. Mit ihm ist es immer total lustig.“

Ja, das konnte ich mir gut vorstellen.

„Ich dachte, er wollte nach Spanien, heim zu Mama?“

Michael gluckste.

„Das war mal wieder so eine Idee von ihm. Aber nein, der bleibt bei seiner Frau. Die zanken sich halt. Letztens hat es ihr mal wieder gereicht. Da hat sie ihn rausgeschmissen. Hat sie schon öfter gemacht. Das gehört bei den beiden einfach dazu. Die zwei sind schon in Ordnung.“

„Aber er kommt schon aus Spanien? Er hatte so einen starken Akzent“, meinte ich.

„Echt jetzt?“ Michael schlug sich lachend auf die Schenkel. „Das sieht ihm ähnlich. Nein, der ist hier aufgewachsen. Seine Mama wohnt auch bei uns im Dorf. Der spricht perfekt deutsch.“

„Dann hat er sich richtig Mühe gegeben. Was für ein Schauspieler.“

Ich versuchte, ernst zu schauen, doch es gelang mir nicht. „Und ich bin darauf reingefallen.“

Wir grinsten beide. Seine blauen Augen bohrten sich wohlig in meine. Eigentlich gefiel mir alles an ihm. Die Art, wie er sich bewegte. Der Klang seiner Stimme. Die gute Laune, die er verbreitete. Die breiten Schultern, die schmale Taille.

Mein Kopf füllte sich mit Hitze. Verlegen schaute ich weg. Was war nur los mit mir?

„Warum hast du keinen Mann?“

Michael blickte mich so klar und direkt an, als ob er bis zum Grund meiner Seele schauen wollte. Meine Wangen röteten sich schon wieder.

„Du musst doch einen Mann haben. Jede Frau braucht einen Mann. Und jeder Mann braucht eine Frau.“

„Nein. So einfach ist das nicht.“

Oder vielleicht doch?

„Ich war verheiratet. 16 Jahre lang. Dann hat es mir gereicht.“

„War er nicht gut zu dir?“

Ich überlegte.

„Mein Ex-Mann ist in Ordnung. Aber es hat nicht funktioniert. Jedenfalls nicht für mich.“

„Warum nicht?“

Ich legte Holz nach. Flammen tanzten im kalten Sonnenlicht.

„Ich habe mir das nicht leicht gemacht. Schau, bei Pflanzen ist es genauso. Sie brauchen Beachtung und manchmal Pflege. Du musst sie bei zu großer Trockenheit wässern und den Boden mit Kompost versetzen, damit sie Nahrung finden. Klar, sie wachsen alleine. Aber manchmal brauchen sie Unterstützung.

In einer Ehe braucht es das auch. Aber so ist es nicht gelaufen. Ich bin verkümmert, wie eine Pflanze, die zu wenig Licht, Nahrung und Wasser bekommt. Das tat mir einfach nicht gut.“

„Das ist nicht recht“, meinte Michael. „Eine Frau ist doch etwas Wundervolles. Frauen sind überhaupt die besseren Menschen. Ein Mann muss seiner Frau immer zeigen, dass er sie liebt.“

Er schüttelte den Kopf. „Dein Mann war ein Trottel!“

„Nein, kein Trottel. Er konnte eben nicht anders. Schau, er ist wie Wermut. Der passt wunderbar zu Johannisbeeren und hält den Säulchenrost ab. Aber Lavendel geht in seiner Nähe ein. Es hat am Ende einfach nicht gepasst.“

Michaels Worte beschäftigten mich dennoch. „Du hast schon recht. Ich finde auch, dass ein Mann sich um seine Frau bemühen sollte. Deswegen wollte ich so nicht weiterleben. Es war kein Miteinander mehr. Nur noch ein Nebeneinander.“

„Das hast du nicht verdient. Du bist so nett. Und intelligent. Und siehst gut aus. War er denn blind? Ich bleibe dabei, er ist ein Trottel. So darf ein Mann mit seiner Frau nicht umgehen. Jemanden wie dich muss man auf Händen tragen. So ist das!“

Sein Silberblick machte mir wohlige Gänsehaut. Schon wieder spürte ich Hitze in meinem Kopf. Diese stahlblauen Augen, die weichen Gesichtszüge, dieser eigenwillige Bart.

Meine Gefühle spielten verrückt. Er gefiel mir. Es war irgendwie schon mehr als nur gefallen. Und anscheinend gefiel ich ihm auch. Trotz meines Alters. Er war fast fünf Jahre jünger als ich.

Es geschah ohne Überlegung, einfach spontan. Ich beugte mich zu ihm und gab ihm einen Kuss. Er erwidert ihn. Seine Lippen waren weich und fordernd. Mit geschlossenen Augen versank ich in einen Trubel aus Gefühlen.

3

Eigentlich wollte ich es langsam angehen. Aber Michael war nicht zu bremsen. Ich ließ sein Drängen bereitwillig zu, blühte in seiner Gegenwart auf. Er war aufmerksam, aufrichtig, trug sein Herz auf den Lippen. Bald waren wir offiziell ein Paar.

Anfangs war es ganz einfach mit ihm. Er hatte tausend schöne Worte für mich. Wie eine Rose, die mit reichlich Kompost und Wasser versorgt wird, streckte ich meine duftenden Blüten der Sonne entgegen.

Mit ihm konnte ich mich entspannen, aus dem Hamsterrad treten, innehalten und mich ausruhen. Er brachte mich in einen Zustand von Nichts-Tun. Einfach im Augenblick leben und genießen.

Meine Freude am Kochen hatte ich auch wieder gefunden. Es schmeckte ihm. Mir auch.

Mein Appetit war schon immer eine launische Diva. Meist aß ich zu wenig. Jetzt legte ich an Gewicht zu und war mit dem Ergebnis zufrieden. Ich sah mich im Spiegel seiner Augen: Eine schöne Frau, voller Stärke und Weiblichkeit. Mit meinen 43 Jahren konnte ich mich sehen lassen.

Meine Schränke, die ich in der Eile des Einzugs vor drei Jahren irgendwie zusammengebaut hatte, wiesen einige Mängel auf.

Das änderte sich nun. Endlich konnten Schubladen ohne Ruckeln herausgezogen werden. Manche Schranktüren hingen nicht mehr schief im Scharnier. Michael ging in seiner Handwerkerrolle auf, durchforstete mit gezücktem Schraubenzieher die Wohnung. Als ich vor drei Jahren meine zukünftige Wohnung besichtigte, war ich begeistert: 4.Stock, Aufzug, großer Balkon. Der Blick vom Wohnzimmer zeigte einen großen Baum, schöne Dachgiebel gegenüber und ganz viel Himmel. Das war mein Pflanzloch, in das ich mich mit meinen Kindern setzen wollte. Von hier aus konnte ich in ein neues Leben wachsen.

Die Wohnung lag zentral, direkt am Puls der Stadt. Kneipen, Läden, Grünanlagen, alles um die Ecke und nicht weit vom Fluss entfernt.

Ich liebte den Weg, den ich als beste Gassistrecke auserkoren hatte: Mit meiner Hündin Tina durch die engen Altstadtgassen, dann am Fluss entlang und über den Schillergarten zurück. Oder umgekehrt.

Bei schönem Wetter war die Stadt voller Menschen. Das bunte Treiben regte meine Phantasie an. All diese Menschen trugen Geschichten in sich. Es machte mir Spaß, sie zu beobachten.

Meine eigene Geschichte wollte ich neu erfinden. Ich war der festen Überzeugung, für eine Beziehung noch jung genug und bereit für die große Liebe zu sein.

Nach dem Trennungsjahr reichte ich die Scheidung ein. Sie verlief einvernehmlich. Potentielle Partner kamen und gingen. Nicht in meine Wohnung. Meine Kinder sollten so wenig wie möglich mitbekommen. Mit jedem Scheitern wurden die Abstände zwischen den Beziehungsversuchen länger.

Erst wenn ich durch Einsamkeit einer ausgedörrten Pflanze glich, hielt ich wieder Ausschau.

Für Treffen mit möglichen Kandidaten musste ich meinen Sohn Moritz alleine lassen. Jedes Mal plagte mich dann ein schlechtes Gewissen.

Nach etlichen Fehlschlägen träumte ich von einem Mann, der mich bedingungslos liebte. Bei dem ich der Mensch sein durfte, der ich war. Mich nicht verbiegen musste. Der für mich da war, voller Aufmerksamkeit und Wertschätzung. Der sich ab und zu etwas einfallen ließ. Mich auch mal mit kleinen Geschenken überraschte. Ehrliche Komplimente machte.

Sollte dieser Traum jetzt Wirklichkeit werden?

War Michael dieser Mann?

Die Kinder waren sich uneins.

„Ich mag ihn nicht!“, beschwerte sich meine Tochter Julia. Mit ihren 17 Jahren hatte sie eigene Ansichten und verteidigte diese vehement. „Der ist irgendwie komisch. Ich krieg echt die Krise, wenn er da ist.“

„Was magst du denn nicht an ihm?“

„Weiß ich auch nicht. Der sieht schon so komisch aus. Irgendwie gruselig. Und ist total Assi.“

Das Wort mochte ich nicht. Ja, er war ungebildet, aber aufrichtig. Er lebte auf Staatskosten. Aber nur, weil er ungünstige Umstände hatte. Das konnte sich ändern.

In jedem Menschen steckten Talente, auch in ihm. Er würde seinen Weg schon noch finden, zwar spät, aber es war nie zu spät.

Moritz gab mir seinen Segen. „Ist schon OK.“

Mein Sohn hatte mich bedingungslos lieb. Hauptsache, die Mama war glücklich. Mein kleiner Liebling war mit seinen 11 Jahren noch nicht im pubertären Widerstand.

Anfangs achtete ich darauf, dass Michael und Julia sich nicht zu oft begegneten. Ich legte seine Besuche auf Zeiten, in denen sie außer Haus war.

Aber oft blieb er länger als mir lieb war. Trotz Aufforderung ging er einfach nicht. Obwohl ich deswegen Ärger mit Julia bekommen sollte.

„Die tanzt dir auf der Nase herum“, schimpfte er. „Klar, ist gerade in der Pubertät. Aber dir deinen Freund mies machen: Das geht gar nicht.“

„Sie ist ein wunderbares Mädel. Und hat als Scheidungskind viel mitgemacht. Wenn sie sich halt mit dir unwohl fühlt, sollten wir darauf Rücksicht nehmen“, erwiderte ich.

„Nimmt sie denn Rücksicht auf dich? Was lässt du dir eigentlich von ihr gefallen? Du bist die Mutter und musst den Ton angeben, nicht sie. Und ich soll ich wegen dieser Göre gehen? Nein.“

Zwar genoss ich die Zweisamkeit, den Augenblick, die Nähe. Dass ich mich nicht verstellen musste. Dass er mich großartig fand, egal, welche Laune ich gerade an den Tag legte. Geduldig und liebevoll gelang ihm immer wieder, meine schlechte Stimmung in bessere Bahnen zu lenken. Mit einem Scherz, mit Berührung, mit Ablenkung.

Aber manchmal nervte er. Er verstand nicht, dass ich auch alleine sein wollte. Dass es noch andere Dinge im Leben gab, die wichtig waren. Für ihn gab es nur Kuscheln und Küssen.

Für mich nicht.

Als Handwerker hatte ich ihn vom ersten Tag an meinen Kindern vorgestellt. Dann hatte ich mich auf ihn eingelassen. Für ihn war es undenkbar, dies vor den Kindern zu verbergen.

Auf der einen Seite war das befreiend. Endlich musste ich nicht mehr wählen zwischen ´Zeit mit ihm´ und ´Zeit mit meinen Kindern´. Jetzt ging beides.

Auf der anderen Seite spitzte sich der Konflikt mit Julia immer mehr zu.

„Du kannst die Arbeitssuche nicht nur dem Arbeitsamt überlassen. Du musst auch selbst etwas tun. Schreib endlich Bewerbungen.“

Wir waren jetzt seit 5 Wochen zusammen.

„Ja, mach ich schon noch.“

Sein Blick war eine Mischung aus Wut und Hilflosigkeit. Aber ich ließ mich nicht einwickeln.

„Nein. Fang endlich an! Wie lange bist du schon arbeitslos? Vier Monate?“

Er legte den Kopf schief. „Mir ist das zu kompliziert. Die von der Einrichtung machen das schon.“

Diese Arbeitslosen-Beratungsstelle, von öffentlichen Geldern und Spenden finanziert, bot Menschen wie ihm Hilfe an. Dort konnte er am Computer Bewerbungen schreiben und sich Anregungen holen, wie er es am Besten anstellte. Er ging regelmäßig dorthin, kam aber nicht voran. Irgendwelche beeindruckenden Sozialarbeiter hatte er bisher nicht erwähnt.

„Ständig redest du von gemeinsamer Zukunft und so. Ich kann mir das nicht vorstellen, wenn du keine Arbeit hast. Wie soll das gehen?“

Michael schaute betreten zu Boden. „Aber…“

„Nichts aber. Ich habe selbst gerade genug für mich und die Kinder. Ich werde dich nicht durchfüttern. Du brauchst endlich Arbeit und dein eigenes Geld. Du hängst schon viel zu lange herum!“

Er kratzte sich am Bart. Die Konturen hatte er schon länger nicht mehr geschnitten.

„Ich kann doch nichts dafür. Ist halt schwierig.“

Das war mal wieder typisch. Immer Ausreden.

„Du musst selbst aktiv werden. Ich helfe dir. Ich weiß, wie das geht. Mit Bewerbungen kenne ich mich aus.“

Das war der Freibrief. Jetzt war Michael noch öfter bei mir. Zu Hause hatte er kein Internet. Ich ließ ihn für seine Arbeitssuche an meinen Computer.

Julias Widerstand war eine Nummer für sich. Sie war kaum mehr zu Hause. Und wenn doch, verzog sie sich in ihr Zimmer. Zu den gemeinsamen Mahlzeiten kam sie auch nicht heraus.

Sie kochte für sich selbst, wenn niemand sonst in der Wohnung war, hinterließ in der Küche trotzig halb gefüllte Töpfe und benutztes Geschirr. Mit mir redete sie nur das Nötigste, mit Michael kein Wort. Ihr Blick war ein einziger Vorwurf. Eine Aussprache war unmöglich. Sie blockte alle Versuche ab: „Lass mich einfach in Ruhe!“, sagte sie mit abgewandtem Blick.

Zugleich redete Michael ständig schlecht über sie. Dazu hatte er kein Recht. Das war noch ein Streitpunkt.

„Wie ich mit meinen Kindern umgehe, geht dich nichts an.“

Michael zeigte keine Einsicht. Ich hielt dennoch zu meiner Tochter, bemühte mich um Gelassenheit.

„Sie ist in der Pubertät“, war mein Erklärungsversuch. „Das ist keine leichte Zeit. Irgendwann gibt es sich. Bis dahin müssen wir ihre Haltung akzeptieren. Du auch! Sie hat ein Recht darauf, ihre eigene Meinung zu haben.“

Michael wetterte dagegen. Noch war die Situation nicht am Eskalieren.

Zwei Tage später saß er wieder, wie so oft, an meinem Computer und tummelte sich in den sozialen Netzwerken.

„Du musst nach Firmen suchen, nicht nur chatten“, ermahnte ich ihn. Er wirkte lustlos, gab Begriffe ein. Kein Ergebnis.

„Und rasiere dich endlich. Du siehst echt ungepflegt aus.“

„Das bringt doch nichts. Die brauchen mich alle eh nicht.“

Mit hängenden Schultern stand er auf.

„Mein Bart ist meine Sache“, sagte er auf dem Weg zum Bad. Dort hatte er das Nötigste deponiert. Das würde dauern.

Das Essen kochte vor sich hin. Ich wischte mir die Finger ab und setzte mich an den Rechner. Recherchierte für ihn. Wurde fündig. Schrieb Adressen auf.

Sauber rasiert und getrimmt kam er aus dem Bad heraus. Er sah gut aus.

„Du bewirbst dich einfach trotzdem. Beim Arbeitsamt musst du doch nachweisen, dass du Bewerbungen schreibst. Sonst streichen sie dir wieder die Leistungen. Das hast du mir selbst erklärt. Deswegen hattest du kein Geld für die Stromrechnung. Du musst dranbleiben. Bring nächstes Mal deine Unterlagen mit.“

„Die muss ich erst noch ordnen.“

Ein paar Tage später hatte ich ihn endlich soweit. Bisher hatte er mir einen Besuch bei sich verweigert.

Zugegeben, es war für mich auch sehr bequem, dass er immer zu mir kam.

Aber jetzt wollte ich unbedingt seine Unterlagen sichten. Alleine kriegte er das anscheinend nicht hin. Nach langem Zureden rückte er seine Adresse heraus.

Wir verabredeten uns auf den nächsten Tag.

Er lebt auch heute noch in diesem Dorf nahe der Stadt. Das erzählte mir Herr Knute vom Ermittlungsdienst der Polizei.

Michaels Wohnung werde ich nie vergessen. Sie liegt in einem ganz normalen Familienhaus. Schicke Grünrabatten vor dem Haus, dazwischen Steine, alles mit Unkrautfolie unterlegt. Keine Wildnis. Geordnetes Bürgertum.

Die Eingangstür befindet sich hinter dem Haus. Der Weg führt an kurz gehaltenem Rasen und kunstvoll geschnittenen Koniferen vorbei.

Die Klingel war kaputt. Ich musste ans Fenster klopfen. Er öffnete. Ein kleiner Vorraum, eine weitere Tür, dahinter ein abgedunkelter Raum. Eine breite Matratze am Boden, ein Schreibtisch, ein kleiner Schrank mit Fernseher darauf. Wenig Licht kam von einer einzelnen Glühbirne an der Decke. In die Fenster waren von innen Kartons gepresst, die passgenau den Blick ins Freie versperrten.

„Warum lässt du kein Licht rein?“

„Ich werde bespitzelt. Die Polizei war schon öfter da. Und andere. Die Kartons müssen sein. So kann niemand reinschauen.“

„Machst du irgendwelche krummen Geschäfte?“

„Nein. Weißt du doch. Ich habe kein Geld.“

„Warum dann der Aufwand?“

„Früher war mal was. Seitdem lassen die mich nicht in Ruhe.“

Innerlich schüttelte ich den Kopf. Aber ich stellte keine weiteren Fragen. Vielleicht wollte ich auch nichts wissen. Jetzt ging es um seine Bewerbungen.

Meine Nase gewöhnte sich langsam an den modrigen Geruch. Meine Lunge nicht. Das Bett hatte er frisch bezogen. Feuchte Wäsche hing auf einem Ständer. Im schummrigen Licht entdeckte ich Schimmel an den Wänden. Der Schreibtisch war leer und abgewischt. Darauf stand sein Laptop.

Der Fernseher lief. Irgendeine banale Talk-Show mit Gästen, die das Blaue vom Himmel logen.

„Zeig mir deine Papiere.“

Er zog zwei Packen mit losen Blättern aus dem Regal. Es war alles durcheinander.

„Wo sind deine Zeugnisse? Deine bisherigen Arbeitsbescheinigungen? Bring erst mal alles her.“

Er holte ein paar Ordner. Ich sichtete, sortierte. Die Zeugnisse waren wie üblich wohlwollend formuliert, aber es kam deutlich zum Ausdruck, dass der Arbeitgeber unzufrieden gewesen war. „Hatte sich redlich bemüht“, war keine Auszeichnung.

Es gab viele Fehlzeiten. Er hatte seit über 5 Jahren immer nur kurz für zwei bis vier Monate gearbeitet. Dazwischen war er wieder arbeitslos. Davon hatte er mir nichts erzählt.

Zügig verschaffte ich mir einen Überblick und bemühte mich, meinen Frust auszublenden. Ich schichtete einen kleinen Stapel mit Unterlagen auf, die für Bewerbungen relevant waren.

„Komm. Lass das mal liegen. Wir kuscheln ein bisschen.“

Er trat auf mich zu, gab mir einen Kuss. Meine Lippen verklebten sich. Sein Bart kratzte. Er schob mich Richtung Matratze. Das passte gerade überhaupt nicht.

„Nein. Lass das! Ich will hier fertig werden. Kannst du nicht mal lüften?“

„Nein, das geht nicht!“

Ich hatte keine Lust. Nicht zum Küssen. Und erst recht nicht auf mehr. Ich wollte so schnell wie möglich raus aus dieser stickigen Bude. Es gab nichts Persönliches dort. Keine Bilder an der Wand. Keine Dekoration, kein eigener Stil. Nur das Nötigste.

Endlich war der Papierkram erledigt.

„Ich fahre jetzt nach Hause.“

„Bleib doch noch! Wir machen es uns gemütlich, ja? Wir schauen uns gemeinsam “Stadtfrauen“ an. Das ist meine Lieblingssendung. Die kommt gleich!“

Er zog mich schon wieder an sich und drückte seine Lippen auf die meinen. Seine Hände streichelten über meinen Rücken, wanderten weiter hinunter, über den Po bis zwischen die Beine. Ich versteifte mich, schob ihn von mir weg.

„Nein. Ich will hier raus.“

Sein trauriger Blick ging mir ans Herz. Jetzt tat er mir wieder leid. Da hatte er so viel von sich gezeigt, hatte darauf vertraut, dass ich meine Zuneigung zu ihm nicht daran maß, wie er lebte. Vielleicht hatte er nie gelernt, wie man sich schön einrichtet. Vielleicht hatten seine Eltern Probleme, kümmerten sich zu wenig um ihn, hatten ihm zu wenig beigebracht.

Was war in seiner Kindheit geschehen? Von sich aus hatte er nie davon erzählt. Und nein, jetzt gerade wollte ich das auch nicht wissen.

Es war keine Liebe. Nicht von meiner Seite aus. Noch lange nicht. Zwar ging er fast täglich bei mir ein und aus, dennoch stand diese Beziehung weiterhin auf dem Prüfstand.

„Na gut. Dann laufen wir draußen eine Runde“, lenkte ich ein.

Der Spaziergang ging über die Felder am Rande des Dorfes. Sanfte Hügel, weiter Blick, kahle Felder. Der Himmel war genauso bedeckt und trüb wie meine Stimmung. Der Wind wehte frisch. Wir redeten wenig. Tina rannte ausgelassen hin und her.

Ich betrachtete Michael von der Seite. Er war mir plötzlich fremd, nachdem ich gesehen hatte, wie er lebt. Welche Geschichte seine Papiere erzählten. Nicht nur die vielen Phasen von Arbeitslosigkeit. Er hatte auch noch jede Menge Schulden. Auf wen hatte ich mich da eingelassen? Hatte Julia doch Recht?

Die nächsten Tage bemühte sich Michael ganz besonders um mich. Streit ließ er nicht aufkommen. Er lenkte immer gleich ein.

Jetzt wollte er noch mehr jede meiner freien Minuten mit mir verbringen. Ich schaffte es kaum, ihn davon abzuhalten. Meistens tauchte er auf, wenn ich Feierabend hatte und ging morgens, wenn ich zur Arbeit musste.

Julia entfernte sich immer mehr von mir. Wegen ihm. Das schmerzte. War es wirklich nur wegen Michael? Oder hätten wir sonst wegen anderer Themen ebenso Konflikte?

Es war eine Zerreißprobe.