Walter Buchenau

Der Trockenregen und andere Unmöglichkeiten

Geschichten – Fabeln, Berichte – Ein Lesebuch

Walter Buchenau

Der Trockenregen und andere Unmöglichkeiten

Geschichten – Fabeln, Berichte – Ein Lesebuch

Inhalt

Der Trockenregen

Die Buche und das Buschwindröschen

Das unerklärliche Verschwinden des K.

Wie der Mond zu seinem Hof kam

Der Drache

Lisa und der Flederwusch

Herr Donnerstag und Maos Ruf

Ewiges Leben

Die verschwundene Zeit

Die Ringelnatter und der Tausendfüßer

Der Eisenbeißer

Der Gesang des Raben

Das Seele-fon

Die gebackene Jungfrau

Tagebuch eines Regenwurms

Die Eingebung

Des Apfels Kern

Der Asteroid

Das Loch

Der Trockenregen

Von Trockenmilch und Trockenfrüchten hat man ja schon oft gehört, auch von Trockenfleisch oder Trockenfisch, dem Stockfisch von den Lofoten, oder von Trockenblumen und Trockengemüse, aber von Trockenregen? Nein!

Das Wort allein klang schon nach einem Witz, und die Vorstellung davon war noch witziger: Regen, der nicht nass machte, Schirmproduzenten, die alle deswegen pleitegingen genauso wie diejenigen von wetterfester Bekleidung. Kinder, die in den Regen hinausrannten und Spaß ohne Ende haben würden und Mütter, die sie nicht mehr ängstlich davon zurückzuhalten versuchten. Das alles hörte sich nach dem alten Joke an: Das Trockenwasser sei erfunden worden! Sehr praktisch und sparsam, man brauche nur einen Teelöffel davon. Den müsse man nur noch in einem Krug mit Wasser auflösen – haha … Aber witzig ist die Angelegenheit ganz und gar nicht.

Es begann ohne Ansage und wurde zuerst auch überhaupt nicht bemerkt. Ins Rollen kam sie nur durch die Beobachtung von Jessica, die ihren Garten über alles liebte. Deswegen hatten sie und ihr Mann das Gehöft vor ein paar Jahren das Gehöft gekauft, einen ehemaligen Vierkanthof mit großem, altem Bauerngarten darum herum. Jens konnte es sich leisten, er war Wissenschaftler, hatte sich vor einigen Jahren mit einer Reihe seiner Erfindungen selbstständig gemacht und arbeitete nun freiberuflich für bedeutende Firmen der Energiewirtschaft.

Das Anwesen lag zwar etwas außerhalb eines kleinen Städtchens am Niederrhein, aber quasi auf halbem Wege zur Firmenzentrale des derzeitigen Auftraggebers im Industriegebiet der Nachbarstadt. Dort wurde momentan ein Projekt verwirklicht, um das es allerlei Geheimniskrämerei gab.

Selbst seiner Frau gegenüber war Jens recht einsilbig, meinte, es sei besser, wenn sie nicht zu viel davon wüsste, dann könnte sie sich auch nicht verplaudern. Denn die Konkurrenz hätte Lunte gerochen und wollte unter allen Umständen mehr in Erfahrung bringen. Einige Kollegen wären schon auf vermeintlich harmlose 'Zufallsbekanntschaften' hereingefallen, die aber keineswegs so zufällig gewesen wären. Die hätten sie in eine Bar eingeladen, zuerst abgefüllt und dann ausgehorcht. Zum Glück jedoch wären es nur untergeordnete Angestellte mit wenig Insiderwissen gewesen. Das Vorhaben wäre sehr wichtig und unter Umständen für die Zukunft des ganzen Planeten von Bedeutung. Wer diese Technologie beherrsche, hätte nicht nur einen immensen wirtschaftlichen Vorteil, sondern könne sogar politisch Macht ausüben!

Seine Frau gab sich zufrieden mit dieser Erklärung, weiteres Insistieren hätte bei Jens auch nichts genützt.

Jessica war voll beschäftigt mit den drei kleinen Kindern, den Fahrten zu Kindergarten und Schule, dem Haushalt mit allem Drum und Dran und dem Garten, auch wenn der für sie pure Erholung bedeutete. Eigentlich war sie Biologielehrerin. Da sie aber seit den drei kurz nacheinander folgenden Schwangerschaften nicht mehr im Beruf arbeitete, tobte sie ihre botanische Leidenschaft zwischen Liebstöckel, Rosmarin und Kohlrabi aus. Oder sie schnitt die Rosen rund um den Teich sowie die vielen Sträucher und Stauden, harkte die Blumenbeete, die alle von Unkraut befreit werden mussten. Und im Sommer war unendlich viel zu gießen. Sie hatten sich dazu einen Brunnen bohren lassen, was sich angesichts der Lage des Gehöfts ziemlich schwierig gestaltete. Das Gelände war auf der einen Seite etwas erhöht und fiel zur anderen zu einem Bachlauf in einiger Entfernung leicht ab. Der Boden bestand aus einer recht mageren Mischung von Erde und Sand, und das Grundwasser lag in fast zwanzig Metern Tiefe. Schließlich hatten sie es doch geschafft, was wegen des Sandes auch bitter nötig war, meinte sie ihrer Freundin Ameli gegenüber. „Die Wasserrechnung hätte uns sonst arm gemacht.“ Da halfen auch die Komposthaufen mit der erzeugten Humuserde, durch die sie den Boden zu verbessern suchte, nicht viel. Bei wenig Regen konnte es schon einmal vorkommen, dass das Wasser fast augenblicklich im Boden verschwand.

Ameli war ihre direkte Nachbarin und lebte mit den erwachsenen Söhnen und vier Pferden auf dem Nachbarhof, keine fünfhundert Meter entfernt in Richtung Stadt. Sie war so, wie man sich eine Bäuerin vorstellt: nicht ganz schlank, zupackend und praktisch, mit einem deftigen, trockenen Humor, und sie buk wunderbare Kuchen! So waren sie und Jessica sich nach dem Hauskauf schnell nähergekommen, denn Jessica konnte auch kräftig hinlangen, unumgänglich bei ihrem Arbeitspensum, und lachte ebenfalls gern!

Das Thema Garten vereinte sie zusätzlich, wenn auch Ameli fast nur Blumen und weniger Gemüse anbaute. Das besorgten ihre Söhne in großem Stil auf den Feldern. Darüber hinaus konnte Jessica bei ihr einer Jugendliebhaberei nachgehen und gelegentlich ausreiten – oder auch nur einen ihrer köstlichen Kuchen genießen, wenn es regnete!

Der Sommer in diesem Jahr war lang und heiß. Das Gießen wollte kein Ende nehmen. Die Verrieselungsanlagen und Sprenger arbeiteten seit Juni andauernd. Als Jessica mit den Buben in die Ferien fuhr, instruierte sie ihren Mann und Ameli genauestens über die verschiedenen Wasserwege und Pumpen und Sprenger, damit die Pflanzen keinen Schaden nähmen. Jens würde nur an den Wochenenden zu ihnen an die holländische Küste kommen, er steckte mitten in der entscheidenden Erprobungsphase der besagten geheimen Anlage, und man brauchte ihn vor Ort.

Die drei Wochen in Holland vergingen rasch. Das Wetter hielt sich, die Sonne strahlte mit den Kindern um die Wette, die sich an dem endlosen Strand wunderbar austoben konnten. Aber überall, wo nicht gewässert wurde, sah es nicht gut aus. Die Bäume und Sträucher ließen die Blätter hängen, der Rasen war braun, die Felder dürr und ausgetrocknet. Durch die Trockenheit blieb die Kornernte erheblich hinter den Erwartungen zurück und wurde schon früh eingefahren.

Jens kam wie verabredet an den Wochenenden, war aber in Gedanken eigentlich gar nicht anwesend wegen des Projektes. Als sich „Je & Je“, wie ihre Freunde sie zu nennen pflegten, an einem Sonntag Ende Juli mit den Kindern wieder auf den Heimweg machten, fuhren sie durch weite, abgeerntete, gelbe Steppen. Allerdings zogen sich über denen zum ersten Mal seit Wochen dicke Gewitterwolken zusammen. Ihr Zuhause erreichten sie dann in einem mittleren Wolkenbruch.

Nach dem Heimkommen und einer kurzen Verschnaufpause sowie dem Umschauen im Haus, ob auch alles in Ordnung war, musste Jessica noch vor dem Auspacken dringend ihren geliebten Garten inspizieren. Sie fand es draußen, kaum dass die letzten Tropfen gefallen waren, erstaunlich trocken. Das Wasser vom Wolkenbruch war an einigen Stellen offensichtlich oberirdisch abgeflossen und hatte Muttererde weggeschwemmt, zurück blieben sandige Furchen. Der Boden war wohl so hart durch die Trockenheit, dass er die Fluten gar nicht aufnehmen konnte, dachte Jessica. Lediglich um die mit Grundwasser gespeisten Sprenger war noch Feuchtigkeit zu erkennen. Sonst erschien alles soweit im Lot. Dank der Wasservorsorge hatten die meisten Pflanzen überlebt.

An den nächsten Tagen stieg das Thermometer gleich wieder bis in subtropische Höhen, die kurze Abkühlung war vorüber, und die Bewässerungspumpen traten erneut in Aktion, bis am Dienstag nach ihrer Rückkehr eine Pumpe unten im Brunnen, zwanzig Meter in der Tiefe, ausfiel!

Jessica bemerkte es erst am Abend, aber da war telefonisch natürlich niemand mehr erreichbar, der hätte helfen können. Am Mittwoch klingelte sie lange bei der Firma an, die ihnen den Brunnen gebohrt hatte, bis sie endlich jemandem das Problem schildern konnte.

Der Mann war verbindlich und freundlich, doch machte er ihr keine Hoffnung, dass jemand rasch hinauskommen könnte. Das Pumpenproblem hätten viele andere auch in diesem Sommer, und die Monteure wären völlig überlastet.

Am Donnerstag schleppte Jessica Kanne um Kanne aus dem Wasserbehälter, um wenigstens die empfindlichsten Blumen zu wässern und blickte voll Hoffnung auf die Wolken, die sich von Westen her über dem Industriegelände auftürmten. ‚Jetzt ein Gewitter wie letztens, das wäre es!‘, dachte sie.

Ameli rief an und bat sie, ob sie rasch mal zu ihr rüberkommen könnte, ihre Söhne seien über das verlängerte Wochenende nicht da, und die Pferde vor dem aufkommenden Gewitter extrem unruhig. Jessica lief ins Haus und schnappte sich für alle Fälle Schirm und Jacke. Die Buben waren unterdessen bei Freunden. Sie schloss das Haus ab und sauste los.

Die Wolken zogen mit atemberaubender Geschwindigkeit herauf und auf halbem Weg zu Amelis Gehöft platschten die ersten Tropfen auf den Boden. Jessica spannte den Schirm auf und ging schnell weiter, aber es prasselte so heftig, dass sie sich im Häuschen an der Bushaltestelle unterstellen musste. Die Landstraße führte leicht den Hang hinauf und Jessica beobachtete von ihrem Unterstand aus, wie das Wasser über den Asphalt kullerte – ja, es kullerte! Jessica traute ihren Augen nicht.

Das Wasser floss nicht, es kullerte, die Tropfen bildeten kleine und größere Kügelchen oder etwas erhabene Plaques und rollten seitlich zum Graben hin. Wenn ein Windstoß über den Straßenbelag fegte, war der Boden darunter für einen Moment völlig trocken, wo noch gerade eben das Wasser darüber geflossen – nein, gekullert war! Seitlich am Straßenrand blieb die sandige Erde hell und wirkte ebenfalls brottrocken trotz der Wassergüsse.

Jessica schüttelte ungläubig den Kopf. So etwas hatte sie noch nie gesehen. Es sah aus, als bestünde der Regen nicht aus Wasser, sondern aus Quecksilber, das über den Boden rollte. Ihr kamen die merkwürdigen Fließspuren in ihrem Garten in den Sinn, die sie nach ihrer Rückkehr aus Holland entdeckt hatte. Ungläubig streckte sie ihre Hand in den Regen hinaus: Er perlte von der Haut ab, als ob sie mit Paraffin bedeckt wäre; sie trat ganz ins Freie, und das Wasser rollte nicht nur von der Haut, sondern auch von der Kleidung einfach ab, ohne sie zu benetzen. ‚Lotuseffekt!‘, dachte Jessica, ‚wie auf den Lotusblättern oder bei dieser besonderen Farbe.‘ Sie stand eine kleine Ewigkeit wie angewurzelt da und sah dem Phänomen zu.

So rasch wie er gekommen war, hörte der Guss auch wieder auf. Die letzten Tropfen erreichten die Straße, rollten zur Seite, verschwanden im Graben. Auf dem abgeernteten Feld nebenan das gleiche Bild, als würde ein riesiger unsichtbarer Besen das Wasser zur Seite gekehrt haben, wo es sich sofort in Richtung Bach verzog, die Erde völlig trocken hinterlassend. Nur in größeren Vertiefungen standen zwischen den Schollen noch einzelne Wasserkugeln, ohne in die Erde einzudringen.

Jessica lege die Hand auf den Boden: staubtrocken!

Bei Ameli angekommen musste sie erst einmal helfen, die aufgeregten Tiere zu beruhigen, die gegen die hölzernen Verschläge traten. Die Stute, die sie öfters ritt, wirkte unglaublich nervös und wieherte ein paarmal unversehens, so als ob sie sich spontan durch irgendetwas erschreckt hätte. Jessica trat neben die Box und redete auf sie ein, klopfte ihr besänftigend den Hals, hielt ihr eine Mohrrübe hin und strich ihr über den Nasenrücken. Erst nach geraumer Zeit nahm das Tier die Mohrrübe an. Draußen hatten sich inzwischen die dicken Wolken verzogen, es nieselte nur noch etwas, und die anderen drei Pferde gaben ebenfalls Ruhe.

Ameli und ihre Freundin ließen sich erleichtert auf zwei Strohballen fallen, um jederzeit sofort wieder bei den Tieren sein zu können. Was sie wohl so aufgeregt hatte? Ameli hatte keinerlei Erklärung dafür, obwohl sie schon seit Kindesbeinen mit Pferden umgegangen war. Irgendetwas Eigenartiges lag schon in der Luft. Tiere sind da viel sensibler als Menschen.

Nun fiel Jessica auch wieder ihr Erlebnis auf dem Weg zu Ameli ein, und sie beschrieb lange und ausführlich ihre Beobachtung. Ameli hörte aufmerksam zu, hatte aber selbst nichts dergleichen bemerkt, sie war zu dem Zeitpunkt zu sehr auf die Pferde fixiert gewesen. Dass allerdings etwas Ungewöhnliches vor sich ging, das spürte auch sie. Ein Leben auf dem Lande und in der Natur, das prägt die Menschen schon.

Trotz allen Grübelns kamen die beiden Frauen bei ihren Erklärungsversuchen nicht weiter, und Jessica verabschiedete sich nach einer halben Stunde, weil ihre Buben mittlerweile wohl wieder zurück sein müssten und sicher Hunger hätten.

Jens kam am Abend todmüde, aber dennoch bemerkenswert aufgekratzt nach Hause.

„War was Besonderes?“, fragte Jessica.

Jens ließ sich auf die Eckbank in der Küche plumpsen und langte kräftig beim Abendessen zu.

„Wir haben es geschafft, die Chose läuft!“, meinte er und biss in ein mit Gouda überladenes Butterbrot. „Haben wir noch ein Bier?“

Jessica staunte. „Bier? Du?“ Sie ging in den Vorratsraum neben der Küche.

„Ja, heute brauche ich mal ein Bier. Wir haben ziemlich geschwitzt,“ sagte er und grinste. „Aber dann lief es. Endlich!“

Jessica brachte ihm das Bier. „Was lief?“, wollte sie wissen.

„Du weißt doch, ich kann nicht darüber sprechen.“

„Blöde Geheimnistuerei“, maulte Jessica, aber sie wusste, wenn Jens nicht wollte, oder durfte, wie er sagte, dann war nichts zu machen. Mit seiner Zielstrebigkeit und Konsequenz in der Verfolgung eines einmal eingeschlagenen Weges hatte er es ja weit gebracht. Also gab sie sich zufrieden, schmierte den zwei Kleineren die Brote. Marco war schon neun und lehnte so etwas empört ab, und sie aßen zu Ende, ohne das Thema noch einmal zu berühren.

Anschließend, nach der Tagesschau, setzten sie sich auf die Terrasse hinaus, weil es draußen zu schön war ‚um im Zimmer vor der Glotze zu bleiben. Die Kinder hatten sich in ihre Zimmer verzogen, spielten Lego, oder Marco hing wahrscheinlich vor einem Computerspiel; was sollte man dagegen sagen, es waren ja noch Ferien.

Jens lobte den Anblick ihrer Blumen rundum, die Rosen blühten prächtig, am Teich prangten große Büsche mit dottergelben Blüten und die Stockrosen standen an der Mauer aufgereiht wie die Grenadiere.

„Wir haben es wirklich schön hier,“ sagte er, was selten genug vorkam, denn das Reden war nicht so seine Sache. Die ganze Arbeit im Garten nahm er meistens gar nicht wahr. Wenn er einmal mehr Zeit hatte und nicht außer Haus war wegen irgendwelcher Projekte, dann verschwand er oft in seinem Privatlabor im alten Schweinestall und tüftelte an neuen Ideen herum.

Jessica genoss es, heute einmal ruhig mit ihm in der Abendsonne sitzen zu können. Sie erzählte von ihrem Nachmittag, den unruhigen Pferden bei Ameli und wie sie sie endlich besänftigt hatten. Dann kam sie auch auf ihre Beobachtungen mit dem Wasser zu sprechen, die sie während des plötzlich aufgezogenen Gewitters gemacht hatte. Sie beschrieb ausführlich die merkwürdigen Fließeigenschaften, das Kullern auf der Landstraße und den Feldern, dass der Boden nach Abfluss des Wassers überhaupt nicht befeuchtet war und sie sich mit Ameli schon den Kopf darüber zerbrochen hatte, was wohl die Ursache dafür gewesen sein könnte. Fragend wandte sie sich zu Jens, aber Jens war inzwischen eingenickt. Er musste wohl tatsächlich sehr erschöpft gewesen sein.

Vier Tage später braute sich am Nachmittag wieder ein Gewitter zusammen, die Wolken türmten sich höher als beim letzten Mal, und wieder kam es sehr rasch von Westen her über das Industriegebiet gezogen. Doch der Wind stand heute etwas anders und bei „Je & Je“ fiel kaum ein Tropfen.

Das Handy summte, Amelis Nummer erschien auf dem Display, und Jessica stellte den Sprenger ab. Ehe sie sich noch richtig melden konnte, hörte sie Amelis aufgeregte Stimme: „Bei mir war das heute auch! Ich habe es auch gesehen!“

„Was? Wie?“, fragte Jessica.

„Den Regen! Den Trockenregen! Die Erde wurde nicht nass, nicht ein bisschen. So etwas habe ich noch nie erlebt!“

Es folgte eine ausführliche Beschreibung des Gewitters und des Verschwindens jedweder Feuchtigkeit, ebenso der Unruhe der Pferde – diesmal nicht so heftig wie zuletzt, aber immerhin – und am Ende ihres längeren Gesprächs stand der Beschluss der beiden Frauen fest, der Sache auf den Grund gehen zu wollen.

Auf gezielte Nachfragen bei zwei weiteren Nachbarn noch am gleichen Abend hörten sie von ähnlichen Beobachtungen. Beim vierten, etwas weiter entfernt Wohnenden, nichts mehr. Warum hier, nur hier und nicht weiter entfernt? Wodurch so exakt begrenzt? Jessicas und Amelis Detektivinstinkte waren endgültig geweckt, sie wollten sich unbedingt noch gezielter umhören.

Wiederum zwei Tage später ereignete es sich zum dritten Mal. Wieder am Nachmittag. Die Haufenwolken waren womöglich noch höher als vorvorgestern, wieder zogen sie vom Industriegebiet herauf, und diesmal schüttete es, was das Zeug hielt. In Jessicas Garten entstanden kleine Bachläufe und trugen jede Menge Erde davon in Richtung Senke und Bachlauf. Und mit dem unvermittelten Aufhören des Gusses war die Erde auch schon wieder trocken. Jessicas und Amelis sofortige Rundrufe bei Bekannten und Nachbarn und von diesen wiederum bei ihren Nachbarn und Bekannten ergaben schließlich nach einigem Abwägen folgendes Bild: Das Phänomen zeigte sich nur östlich des Industriegebietes in einem zirka zwei Kilometer breiten Streifen, wurde in dieser Zone in der Längsausdehnung nach und nach schwächer, und nach etwa fünf Kilometern hörte es ganz auf. Dort fiel bei diesen Gewittern gar kein Regen mehr, ja es gab überhaupt kein Gewitter. Erklärung? – Keine!

Die Erscheinung wiederholte sich in ähnlicher Weise noch vier Mal in den folgenden zwei Wochen, bestätigt von den umliegenden Nachbarn. Sie ereignete sich unter der Woche in unregelmäßigen Abständen, nur nicht an den Wochenenden.

Jessica kam ein Verdacht, aber mit Jens wollte sie nicht sprechen – noch nicht.

Nicht nur Jessica war hellhörig geworden, auch die Presse hatte Wind davon bekommen und berichtete im Lokalteil darüber. Zunächst waren die Artikel noch zurückhaltend, doch durch das offensichtliche Interesse der Leser wurde der Ton in den darauffolgenden Tagen immer drängender, die Fragen aggressiver.

Ein Landwirt wandte sich an einen Bekannten im Nabu, welcher wiederum Beziehungen zu einem Landtagsabgeordneten hatte, und so wurde mitten in der Sommerpause in einem Dringlichkeitsantrag der Grünen von der Landesregierung Auskunft darüber verlangt, ob, und wenn ja, was sie über die Herkunft des Phänomens wüsste, was über mögliche Auswirkungen oder Gefährdungen für die Bevölkerung bekannt wäre und was man gegebenenfalls dagegen zu tun gedächte. Die Antwort ließ leider auf sich warten, denn es war Sommer und viele Beamte und Regierungsmitglieder in Urlaub oder nicht erreichbar oder schlicht nicht interessiert an diesem Thema. Und gar den Landtag aus den Ferien zurückzurufen, erschien zu lästig oder unnötig. So blieb alles zwei weitere Wochen in der Schwebe und die Unsicherheit bestehen.

Jessica hatte ihrem Mann schließlich doch davon erzählt, und auch davon, was man mittlerweile in der Gegend munkelte: dass das Gewitter merkwürdigerweise immer über dem Industriegebiet heraufzöge, sonst käme es auch öfters von Süden her und dass das Kullerphänomen bestimmt nicht natürlichen Ursprungs wäre.

Jens hörte aufmerksam zu, schien angestrengt nachzudenken, sagte aber nichts.

Als Jessica am anderen Morgen die Kinder mit dem Auto in den Kindergarten und zur Schule gebracht hatte und nach Hause zurückkam, erwartete sie eine Überraschung. Auf dem Hof standen drei schwarze Limousinen, ein Polizeiauto und ein Kastenwagen. Zwei Herren stiegen sofort aus, als sie um die Ecke bog, und erwarteten sie schon beim Aussteigen mit einem Schrieb in der Hand. Sie grüßten höflich und eröffneten ihr, dass das Papier ein Durchsuchungsbefehl sei, erkundigten sich gezielt nach dem Arbeitszimmer ihres Mannes, seinem Labor und ob es im Hause einen Tresor gäbe.

Jessica fragte verblüfft, was das denn bedeuten solle, wieso sie so einfach ihr Haus durchsuchen könnten. Man entgegnete, dass die Aktion durch einen Staatsanwalt abgesegnet sei, zeigte ihr Stempel und Unterschriften und sagte, dass man aus ermittlungstechnischen Gründen nicht darüber sprechen dürfe.

Am Sekretär im Wohnzimmer, wo Jens zuweilen arbeitete, räumten sie alle Ordner aus dem Regal, schauten hinter Bildern nach, ob sich dort ein Schließfach versteckte, selbst die Nachtkonsolen im Schlafzimmer blieben nicht verschont, ehe sie Jessica aufforderten, den ehemaligen Schweinestall, also Jens Labor, aufzuschließen. Sie waren offensichtlich sehr gut informiert! Und das Labor räumten sie dann fast komplett leer. Nicht nur Computer und alles Schriftliche, sondern auch diverse Apparate, deren Funktion Jessica nie begriffen hatte, kamen in große Plastikwannen und verschwanden im Lieferwagen. Zum Abschluss bekam sie eine Bescheinigung darüber, was man mitgenommen hatte und die Zusicherung, dass alles, was nicht mit den Ermittlungen zu tun habe, umgehend zurückerstattet würde.

Jessica blieb im leeren Schweinestall zurück und wählte mit zitternder Hand Jens Nummer. Er ging nicht dran; sie ließ es so lange läuten, bis sich der Anrufbeantworter meldete. So kurz wie in ihrer Aufregung möglich berichtete sie vom dem, was passiert war und forderte ihn auf, sofort heimzukommen. Diese Aufforderung war unnötig, denn eine Viertelstunde später hörte sie seinen Wagen auf den Hof fahren. Die Autotür klappte, und Jens hastete ins Wohnzimmer.

„Waren sie auch hier?“ Sein Gesicht war fahl und drückte Fassungslosigkeit aus.

„Hast du die Nachricht nicht bekommen?“, fragte Jessica.

Nein, hatte er nicht. In der Firma hätten ihn heute in der Früh, gleich als er aufs Gelände fuhr und sich ärgerte, dass sein Parkplatz von werksfremden Autos besetzt war, schon einige Herren erwartet und ihn daran gehindert, sein Büro zu betreten. Dann wäre er in einen Raum der Geschäftsleitung gebracht und ausgefragt worden. Sein Handy musste er abgeben und warten, während er durch die Glasabtrennung beobachten konnte, wie sein Arbeitsraum und die einiger Mitarbeiter durchsucht wurden. Bald darauf traf ein Tross von LKWs ein sowie jede Menge Leute, die in die Werkshalle stürmten, alle Anwesenden nach draußen schickten und anschließend alles, was nicht niet- und nagelfest war, abbauten. Die Laster füllten sich mit jeder Menge Equipment aller Art. An einem LKW meinte er, das ‚Y‘ für Militärfahrzeuge auf dem Nummernschild erkannt zu haben, andere trugen gar keine Kennzeichen! Unter dem Vorwand die Toilette aufzusuchen, hatte er sich später durch einen Seiteneingang davonmachen können und war dankbar, dass er sein Auto am Morgen nicht auf dem gewohnten Platz abgestellt hatte. Als er fuhr, war man in der Halle noch immer nicht fertig.

„Was soll das?“, fragte Jessica.

Jens saß ratlos im Sessel. „Sie haben alles beschlagnahmt. Die ganze Arbeit umsonst. Wir waren sooo nah dran!“

„Woran? Nun sprich doch endlich!“

Zögerlich rückte Jens mit den Fakten heraus, nicht ohne ihr vorher einzuschärfen, um Gottes Willen mit niemandem, wirklich niemandem zu sprechen, auch mit den sogenannten Busenfreundinnen nicht! Die – er machte dabei eine vage Kopfbewegung in Richtung Eingang – verstünden keinen Spaß!

Sie hätten an einem Regenprojekt gearbeitet. Wasser, das wäre der Stoff, um den in Zukunft Kriege geführt würden. Wer es kontrollierte, kontrollierte die Menschen, die Gesellschaft, den Staat, ja vielleicht die Welt. Ohne Wasser kein Leben. Aber sie wollten es nicht wie üblich machen, nicht mit Salzen oder Chemikalien die Wolken ‚impfen‘, damit sie das Wasser entlassen, das sie gespeichert haben. Nein, sie wollten wirklich Wolken erzeugen, Kristallisationskerne produzieren, um die sich die Luftfeuchtigkeit anlegen könnte zu Wassertröpfchen. Und wenn man das über dem Ozean machte, würde bei entsprechender Luftströmung jede Trockenheit behoben, jede Wüste bewässert werden können!

Die Fluchtbewegungen aus der Sahelzone zum Beispiel, wo es seit Jahren zu wenig regnete, wären gestoppt, der Hunger beseitigt. Trinkwasserreservoire könnten gezielt aufgefüllt werden. Es sei unabsehbar welche Anwendungen noch alle möglich wären, allerdings auch katastrophale wie Fluten und Überschwemmungen!

Bis vor kurzen hätten sie mit bestimmten Laserkanonen und ungewöhnlichen Wellen experimentiert, natürlich streng geheim, es sollte ihnen kein anderer zuvorkommen. Jens kam auf die Idee die Longitudinalwellen, mit denen der berühmte Physiker Nicola Tesla vor achtzig Jahren bereits drahtlos Elektrizität verschickt hatte, zu modifizieren, mit Information zu impfen, sodass vor ein paar Wochen der Durchbruch gelungen wäre. Nur noch die Verbesserung der Energieeffizienz hätte der allgemeinen Nutzung im Wege gestanden. Das Auftreten dieser seltsamen Fließeigenschaften oder Nebenwirkungen hätte aber niemand vorhersehen können. Dadurch wäre die Arbeit leider vorzeitig publik geworden.

„Ihr arbeitet mit solchen Strahlen und Lichtkanonen und habt keine Ahnung, was damit passiert?“ Jessica schüttelte den Kopf. „Das glaube ich doch nicht!“

„Hatten wir nicht“, widersprach Jens. „Wasser ist ein so alltäglicher Stoff, und trotzdem ist er das Seltsamste, was ich auf dieser Erde kenne! Es gibt schweres Wasser, lineares Wasser, kohärentes Wasser, es hat eine Aura, es speichert Information …“

„Das will ich alles gar nicht wissen“, unterbrach ihn Jessica. „Ich will wissen, warum euer Wasser nicht nass macht! Und was es mit uns macht, oder den Pflanzen oder der Erde“, fügte sie hinzu.

Jens zuckte mit den Schultern. „Es muss eine Veränderung im energetischen Feld sein. Manchmal kann man ja auch Tröpfchen von Wasser auf der Wasseroberfläche entlang perlen sehen, so wie Wasserläufer, die wegen der Oberflächenspannung des Wassers darüber laufen können, wahrscheinlich ist alles völlig harmlos.“

„Glaubst du!“, sagte Jessica wenig überzeugt. „Und wer hat nun euer ganzes Zeug mitgenommen?“

Jens zuckte wieder einmal mit den Schultern. „BND, Militär, MAD,

Regierung, was weiß ich? Alles war höchst geheim. Und ich habe eine einstweilige Verfügung ausgehändigt bekommen, dass ich mit niemandem über die Arbeit sprechen darf – und die habe ich gerade eben gebrochen. So, jetzt weißt du‘s. Also bitte, zu niemandem ein Wort!“

„Ich kann mir schon vorstellen, dass die so eine Sache in die Hand bekommen wollten,“ sinnierte Jessica, „schon damit niemand anderes sie bekommt.“

Beide schwiegen eine Weile vor sich hin. „Und was ist mit den Kosten?“, fragte Jessica unvermittelt. „Da steckt doch jede Menge Zeit und Geld drin?!“

„Frauen und Geld!“, Jens wiegte den Kopf hin und her. Trotz der ganzen vertrackten Situation musste er ein bisschen lächeln. „Ist das jetzt wichtig?“

„Aber das ganze Material, deine Arbeit, die Angestellten, ganz zu schweigen von dem Gewinn, den ihr machen wolltet – und den es jetzt nicht gibt. Wer zahlt das?“

Man hätte zugesagt, dass es eine angemessene Entschädigung geben würde und eventuell auch Regierungsaufträge, wenn man sich arrangiere, weil ja ein Arbeitsfeld jetzt wegfiele. Nur an diesem Projekt wäre jede weitere Arbeit untersagt.

„Und das können die?“

„Anscheinend ja!“

„Friss, Vogel – oder stirb“, meine Jessica lakonisch.

„Und im Zweifelsfalle entscheidet sich eine Firma dann fürs Fressen.“

Jens nickte stumm.

Der Sommer ging zu Ende – ohne weiteren ‚Trockenregen‘. Wenn es schüttete, dann richtig, und die Erde wurde auch nass. Und genauso schnell, wie das Wasser nach einem Gewitter im Boden versickerte, versickerte auch die Erinnerung an diese seltsame Erscheinung. Ein Teil der Laboreinrichtung wurde Jens Ende August kommentarlos zurückgebracht. Die kleine Anfrage der Grünen an die Regierung war merkwürdigerweise noch vor Ende der Parlamentsferien stillschweigend zurückgezogen worden. Die Presse schwieg zu diesem Thema total.

Jens wurde im Herbst überraschend Vorstandsmitglied in dem Betrieb, in dem er freiberuflich tätig gewesen war und verdiente plötzlich besser denn je.

Der Betrieb arbeitete jetzt an lukrativen, öffentlichen Entwicklungs- und Forschungsaufträgen. Von dem Regen, der nicht nass machte, war nie mehr die Rede.

Die Buche und das Buschwindröschen

Die mächtige Buche beugte sich indigniert herab zu einem Buschwindröschen, das es gewagt hatte, unversehens am Rande ihres großen Schattens zu erblühen.

„Sag mal“, sprach sie, „weißt du denn nicht, wer hier im Wald der Herr ist und über alle Pflanzen das Sagen hat?“

„Nein!“, antwortete das Buschwindröschen unbefangen. „Ich bin noch ganz jung und neu hier! Du wirst es mir sicher sagen! Ich vertraue dir!“ Sie drehte ihr Blütengesichtchen ein wenig nach oben, wo die Sonne zwischen den Blättern hindurch blinzelte. „Du bist so groß und stark! Ich mag dich!“

Das verblüffte die Buche doch sehr, denn eigentlich war sie Bewunderung nur von den anderen, ein wenig kleineren Bäumen gewohnt. So etwas Winziges wie das Buschwindröschen hatte sie sonst nie beachtet.

„Nun“, fragte das Blümchen, „sagst du es mir? Wer hat im Wald denn das Sagen?“

Die Buche räusperte sich vernehmlich, schüttelte ein bisschen verlegen ihr Blätterkleid, als hätte sich ein kleiner Wind darin verfangen, und wusste im Moment nicht so recht, wie sie antworten sollte.

„Weißt du“, begann sie und machte eine Kunstpause, um Zeit zu gewinnen und die Gedanken zu sammeln.

„Ja?“, sagte das Buschwindröschen.

„Äh, weißt du,“ wiederholte die Buche und war vom Anblick des strahlenden Blütenauges noch verwirrter als eben. „Das ist …“, und wieder schüttelte sie dabei ein wenig die Blätter, „nicht so einfach zu erklären!“

„Bitte versuch es!“, bettelte das Buschwindröschen. „Denn ich muss das ja wissen, damit ich niemandem die gehörige Achtung versage!“

„Jaja,“ nickte die Buche bedeutsam, „das ist ein schöner Zug von dir! Also: das ist so,“ und sie knarzte wie beiläufig mit den Ästen, um ihrer Stimme mehr Nachdruck zu verleihen. „Derjenige, der einzig und allein – wie soll ich sagen …?“

„Der Herr hier ist?“, unterbrach sie das Pflänzchen.

„Jaja, der Herr, du sagst es!“, und ihr war plötzlich so peinlich zumute, weil sie ja von sich selbst hatte sprechen wollen, was allerdings unter den vornehmen Hochstämmigen im Wald ziemlich verpönt war.

„Nun?“, insistierte das Buschwindröschen und klimperte ein wenig kokett mit ihren Pollenfädchen.

„Der Herr von allem“, und das sagte die Buche mit Entschlossenheit, auch wenn ihr gar nicht so danach war, aber da kam ihr plötzlich eine Idee, „also der hier alles bestimmt, das ist derjenige, der hier alles hervorgebracht hat!“ Der Buche fiel hörbar ein Stein vom Herzen.

„Hervorgebracht? – Wie meinst du das?“

„Na ja,“ stotterte die Buche, „der alles wachsen lässt!“

„Der Regen!“, triumphierte das schmächtige Blümchen.

„Nein, nein, der auch, aber ich meine …“

„Die Sonne?“, tönte es von unten.

Der Buche wurde es warm, und sie fächelte sich mit ihren Zweigen etwas Kühlung zu. „Das ist schon richtig und doch falsch“, begann sie wieder umständlich.

„Das verstehe ich nicht.“ Das Buschwindröschen ließ die Blättchen hängen. „Ist nicht richtig und doch nicht falsch, wieso?“

Die Buche seufzte. Einige Nachbarbuchen seufzten ebenfalls, denn ihnen war die Unterhaltung natürlich nicht entgangen. So seufzten sie also gemeinsam, und das klingt bei Bäumen so, als wenn eine Windböe ihre Kronen zaust.

„Der Herr aller Dinge“, begann die Buche zum dritten Male und bemühte sich dabei, ihrer Stimme noch mehr Festigkeit und eine gewisse Würde zu verleihen – einerseits um nicht wieder unterbrochen zu werden, andererseits in der geheimen Hoffnung, dass ihr noch ein zündender Einfall kommen würde. „Es ist derjenige“, und da war er plötzlich, der Einfall, „der die Sonne geschaffen hat und auch den Regen und der sich überhaupt erst die Gestirne und all das andere ausgedacht hat!“ Dabei wiegte die Buche ihren Wipfel hin und her, denn es gefiel ihr selbst, was ihr da in den Kopf gekommen war.

„Ach so“, lachte das Buschwindröschen, „du meinst den lieben Gott! Warum sagst du das nicht gleich?“ Und sie fügte ein wenig zögerlich hinzu. „Und ich hatte fast schon Angst, das wärst du, und du hättest es nicht gern, dass ich am Rande deines Schattens blühe.“

„I wo“, lachte die Buche etwas künstlich, weil sie sich ertappt fühlte. „Wo denkst du hin? Wie könnte ich denn! Ein jedes Wesen unter der Sonne hat schließlich das gleiche Recht. Und außerdem,“ fuhr sie fort und beugte sich tief hinunter, dass es fast schon wie eine wirkliche Verbeugung aussah, „so ein schönes Blümchen unter mir, das schmückt doch den ganzen Wald.“

Und alle Nachbarbäume, die immer noch gespannt zugehört hatten, wie sich die Unterhaltung denn entwickeln würde, denn sie waren selbst viel jünger als die große Buche und darum auch ein wenig dümmer – also alle Stämme in der Runde rauschten zustimmend und befreit ihren Beifall zu dieser Erklärung mit sämtlichem ihnen zur Verfügung stehenden Blattwerk. Das hörte sich dann an wie ein großer Applaus oder wie der Wasserfall am Rand des Waldes, wenn im Frühjahr das Schmelzwasser den Bach randvoll gefüllt hatte.

„Dann ist es ja gut!“, konstatierte das Buschwindröschen. „Dann können wir alle ja wirklich gute Freunde sein!“

Und die große Buche, die zu Beginn eigentlich ihr vermeintliches Recht hatte einfordern wollen, fühlte sich nun sehr erleichtert, so gut aus der Situation herausgekommen zu sein. Insgeheim war sie auch ein bisschen stolz auf ihr Geschick bei dieser Unterhaltung und darüber hinaus gerührt oder auch beschämt, so ganz genau konnte sie das nicht definieren, von dem zutraulichen Wesen des kleinen Blümchens, das da leicht wie eine Feder auf den Ausläufern ihrer Wurzeln stand.

Das Buschwindröschen aber hatte bereits selig sein Blütenauge geschlossen, denn die Sonne war soeben untergegangen.