Alex Devesper, Ellen Göppl, Claudia Hellstern, Sabine Lauffer, Uta Neumann, Ilse Reichinger

Was das Leben
hergibt

Wilde Geschichten

Chikiding!

Ellen Göppl

Frau Mayer war eine dicke Frau. Das heißt, sie war nicht einfach nur dick, sondern wirklich fettleibig. Wo selbst bei molligen Frauen die Taille saß, wies ihr Körper eine unerhörte Wölbung auf, und ihre Arme und Beine kamen kleinen Säulen gleich. Ihr Nachbar Herr Petersen sah ihr oft nach, wenn er sich, die Unterarme bequem auf ein Kissen gestützt, aus seinem Fenster lehnte, und Frau Mayer die Straße hinunterwalzte. Sie war eine Person voller Energie und, nebenbei bemerkt, auch mit erstaunlich viel Charme. Ihr Gang ließ an ein Erdbeben denken, ihr Temperament an einen Vulkan. Herr Petersen schüttelte oft den Kopf, wenn er ihr so nachsah.

Noch mehr schüttelte er jedoch den Kopf, wenn Frau Mayer einmal im Monat, immer an einem Donnerstagabend, vor dem Haus in ein Taxi stieg. Sie trug an jenen Abenden stets wallende, gerüschte, geraffte und fransenbesetzte Gewänder sowie hochhackige Schuhe, auf denen sie vorsichtig trippelte, ganz im Gegensatz zu ihrem sonstigen Walzenstil. Es dauerte immer einige Zeit, bis Frau Mayer erfolgreich ihren Platz auf der Rückbank eingenommen hatte, all die Rockzipfel, Rüschen und Fransen mussten mit ins Taxi, und es durfte nur ja nichts in der Tür hängen bleiben. Oft genug kam es vor, dass der Fahrer ihr beim Einsteigen behilflich war. Herr Petersen drückte seine Unterarme dann besonders schwer ins Kissen und beugte sich noch weiter vor, um das Spektakel in allen Details verfolgen zu können.

Was Herr Petersen nicht wusste war, dass Frau Mayer an jenen Abenden zum Freiburger Hauptbahnhof fuhr, wo sie sich so nah wie möglich am Eingangsportal absetzen ließ und unter den teils überraschten, teils spöttischen Blicken der Reisenden durch die Wartehalle stöckelte, um zur monatlich stattfindenden Salsaparty im Restaurationsbereich zu gelangen. Und während hinter dem Bahnhofsgebäude die ICEs surrend hielten und wieder anfuhren, die Regionalbahnen ratternd bremsten, die Güterzüge klappernd vorbeirauschten, die Passagiere murrend von Abschnitt A nach E hasteten und das Bahnpersonal inkompetent über den Bahnsteig wieselte, walzte Frau Mayer drinnen über die Tanzfläche. Walzte? Nein, sie schwebte vielmehr, sie glitt und drehte, sie wallte und wackelte, sie trippelte und trappelte, sie schwang sich und sie wand sich, stets perfekt im Takt. Sie kannte alle kleinen Schnicks und Schnacks des Ladystyle – von Suzy Q bis Chikiding, und die knackigsten und hübschesten Kubaner der Freiburger Salsaszene wurden nicht müde, sie aufzufordern.

Eines Abends wurde Frau Mayer bei der Salsaparty so vom Fernweh gepackt, dass sie nach Ende der Veranstaltung einfach nicht zurück zum Taxistand ging. Der Gedanke, in ihre Zweizimmerwohnung in der Wiehre zurückzukehren, war ihr mit einem Mal unerträglich. Eine Viertelstunde lang trippelte sie unschlüssig durch die Bahnhofshalle, blieb erst vor dem geschlossenen Reisecenter stehen, dann vor dem ebenfalls geschlossenen Buchladen und schließlich vor der Anzeigetafel für die abfahrenden Züge. Sie blickte lange darauf und in ihrem Kopf ratterte es so, wie sonst nur die Güterzüge über die Gleise ratterten. So kam es, dass sie in den frühen Morgenstunden einen ICE zum Frankfurter Flughafen nahm. Sie buchte dort einen Platz in der nächsten Maschine nach Havanna und bestieg diese einfach so, wie sie war, mit all ihren Fransen und Rüschen und Rockzipfeln und mit nur einer winzigen, paillettenbesetzten Abendhandtasche, in die sie ihr am Flughafen ausgestelltes Touristenvisum steckte. Hasta la vista Freiburg, dachte sie, als der Flieger abhob.

Auf Kuba änderte sich nicht nur Frau Mayers Leben drastisch, sondern vor allem ihr Körper. Es begann mit einem Käse-Tamale, den sie nicht vertrug. Auch die Empanadas und Tortillas reizten ihren Magen schon, ehe sie satt war. Sie verstand nicht warum, sie hatte immer alles essen können. War das Essen zu scharf? Zu fettig? Nicht deutsch genug? Sie versuchte es mit Selbstgekochtem. Doch sie musste feststellten, dass sie mit den landestypischen Zutaten kein vernünftiges Gericht zustande brachte. Ein Haufen Mais, Avocados, Yucas und schwarze Bohnen landete im Müll. Als ihr einfiel, sie könne es mit ein bisschen Reis und Gemüse versuchen, hatte sie schon 15 Kilo abgenommen. Nichts wollte ihr mehr so richtig schmecken. Ihr wurde langweilig. Sie überlegte, endlich Salsa tanzen zu gehen, wie sie es sich erhofft hatte, doch alleine traute sie sich nicht ins kubanische Nachtleben.

In Havanna lebte sie in einem winzigen Apartment im vierzehnten Stock eines hässlichen, langsam verfallenden Hochhauses in einem der ärmeren Viertel. Immerhin hatte die Wohnung einen kleinen Balkon, von dem aus Frau Mayer auf den Strand blicken konnte. Eine Mauer trennte diesen von der trostlosen Straße entlang der Häuser. Bei Flut klatschten die Wellen wütend gegen die Mauer und rauschten dann beleidigt wieder über den Strand zurück. Bei Ebbe kamen die jungen Leute aus den Hochhausblöcken an den Strand, spannten eine Schnur zwischen zwei Pfähle und spielten Volleyball. Kein Beachvolleyball, wie es in Freiburg inzwischen alle spielten, sondern ganz klassisch sechs gegen sechs.

Eines Tages waren sie auf der einen Seite nur zu fünft.

Frau Mayer überlegte nicht lange. Sie zog ihren pinken Badeanzug an, den sie am ersten Tag in Havanna gekauft hatte, und band sich ein buntes Tuch mit allerlei Fransen und Perlen um die Taille, denn dort schlotterte der Anzug inzwischen allzu sehr. Auch das Dekolleté zierte eine Reihe gelber und grüner Plastikperlen. Eilig lief sie die vierzehn Treppen hinunter. Dem Fahrstuhl traute sie nicht mehr, seit sie in der ersten Woche fast eine ganze Stunde darin festgesessen hatte. Ihrer Fitness schadete das Treppenlaufen nicht.

Am Strand dann verblüffte, aber freundliche Gesichter. Ob sie mitspielen dürfte – so viel Spanisch konnte sie immerhin. Die Spieler wussten nicht so recht, was sie von ihr halten sollten, aber es gab auch keinen triftigen Grund, warum man zu fünft weiterspielen sollte. Frau Mayer hatte in der Schule Volleyball gespielt, es war lange her. Das Pritschen würde sie wieder üben müssen, doch ihr Aufschlag donnerte auf der gegnerischen Seite auf den Sandboden wie eine Granate. Überraschte Rufe auf beiden Seiten. Plötzlich fühlte Frau Mayer sich leicht, trotz der Hitze. Sie baggerte und hechtete und schmetterte, und die Fransen und Perlen an ihrer knappen Kleidung wogten auf und ab wie die bunten Fischerboote draußen auf dem Meer. Von da an spielte sie jeden Tag mit.

Einen Monat später hatte sie bereits 25 Kilo abgenommen. Sie warf den Badeanzug auf den Müll wie zuvor die Avocados, Yucas und Bohnen. Von dem wenigen Ersparten, das sie noch hatte, leistete sie sich einen türkisnen Bikini ganz ohne Schnickschnack. Sie flog nur so über das Volleyballfeld. Alle nannten sie nun „La paloma“.

Sie war sehr stolz, als sie beim wichtigsten Volleyball-Turnier der Saison mitspielen durfte. Alle wollten sie auf dem Spielfeld sehen, als ihre Mannschaft ins Finale kam. Den ersten Satz gewannen sie locker, den zweiten verloren sie knapp. Auch im dritten wurde es eng. Doch als ihr Team 17 zu 16 führte, holte Frau Mayer das Match mit einem hammermäßigen Aufschlag nach Hause. Chikiding!

Völlig überraschend geriet sie am Tag danach in eine Polizeikontrolle. Aufgrund ihres längst abgelaufenen Touristenvisums und mangels eines geeigneten Betrags, um die Beamten milde zu stimmen, wurde sie des Landes verwiesen. Ihre Freunde vom Strand hatten über Umwege von der Abschiebung erfahren und kamen alle zum nach dem kubanischen Nationalhelden José Martí benannten Flughafen von Havanna, um sie zu verbschieden. Adiós, la paloma!, riefen sie ihrer persönlichen Heldin nach. Tun konnten sie nichts. Wie in Trance saß Frau Mayer schließlich im Flieger zurück nach Deutschland. Vorbei die sorglose Zeit am Strand, vorbei die Flirts mit den Habaneros, vorbei ihre Volleyballerfolge im türkisnen Bikini.

Doch als sie am Frankfurter Flughafen trotz Jetlag mit federnden Schritten durch die Ankunftshalle lief und ihr Blick auf ihre schlanke Silhouette fiel, die sich in den großen Scheiben spiegelte, wusste sie: Nichts ist jemals umsonst!

Das Gespräch beim Arbeitsamt verlief nicht schön. Die erstaunliche Hochsteckfrisur der Sachbearbeiterin lenkte Frau Mayer zuerst so ab, dass sie fast vergaß, was sie eigentlich wollte. Am liebsten hätte sie auf dem Absatz kehrt gemacht und sich in den nächsten Flieger nach Gottweiß-wohin gesetzt. Aber es erschien ihr einfach nicht erwachsen, jedem Problem durch eine Fernreise zu entgehen.

„Ich möchte Arbeitslosengeld beantragen“, sagte sie schließlich. „Oder Harz IV. Wozu ich halt berechtigt bin.“ Sie hatte keinen Schimmer.

„Für Arbeitslosengeld hätten Sie sich längst arbeitssuchend melden müssen“, erwiderte die Dame mit dem Vogelnest auf dem Kopf.

Oh Mist. Frau Mayers Gedanken ratterten wie einst die Anzeigentafel am Hauptbahnhof. Für ein paar Sekunden gab sie sich der kindlichen Hoffnung hin, dass, wenn sie nur die Augen fest genug zusammenkniff, sie gleich wieder am Strand von Havanna stehen würde, doch als sie die Augen wieder öffnete, saß sie immer noch in der Agentur für Arbeit.

„Ging nicht“, sagte sie schließlich bestimmt. „Hing auf Kuba fest. Von Havanna aus mal eben einen Antrag zu stellen, war unmöglich.“ Sie nahm ihre Finger zu Hilfe und zählte auf, wie sie es früher immer in den Präsentationen für ihren Chef hatte machen müssen: „Das Handelsembargo. Fidel Castro. Der Hurricane. Die Amerikaner. Sie verstehen?“ Ihre Mimik ließ auch bei 25 Kilo weniger noch an einen Vulkan denken, auf den man lieber keinen Deckel schrauben sollte.

Mrs. Vogelnest klappte den Mund auf und zu. „Formular E“, purzelte es schließlich zwischen ihren Lippen hervor. „Bei dringender Verhinderung können Sie Formular E ausfüllen.“ Mit spitzen Fingern reichte sie Frau Mayer ein Blatt Papier mit Durchschlag.

„Danke“, sagte Frau Mayer ebenso spitz und rauschte hinaus. Ihr war, als ob um sie herum eine ganze Armada von Rockzipfeln rauschte, dabei trug sie nur eine Röhrenjeans.

„Ich muss zu Danilo!“, war alles, was sie denken konnte. Die deutsche Bürokratie machte sie jetzt schon wahnsinnig.

Am Abend fuhr sie zu ihrer ehemaligen Tanzschule. Mittwochs hatte Danilo doch immer Salsakurse gegeben.

„Wo ist denn Danilo“, bellte sie etwas unfreundlich, als sie Cristina, die Leiterin der Schule, auf sich zukommen sah.

Cristina starrte sie an: „Kennen wir uns?“

Ach ja. Es fehlte ja ein Drittel von ihr.

„Ich bin’s doch. Frau Mayer.“

Jetzt sah Cristina noch verwirrter aus. „Danilo arbeitet nicht mehr hier. Hat seine eigene Schule aufgemacht. Scheint aber nicht so gut zu laufen“, schob sie schnippisch hinterher.

Danilo gehörte jetzt also zur Konkurrenz.

„Alles klar, danke.“ Und schon war Frau Mayer wieder abgerauscht, in ihrer imaginären Wolke aus Fransen, Rüschen und Körperfett.

Danilo war immer der Beste von allen gewesen, dabei war er nicht einmal Kubaner, sondern kam aus der Dominikanischen Republik, aber kleinlich war Frau Mayer nun wirklich nie gewesen. Er war groß und schön und hatte einen kaffeefarbenen, perfekt trainierten Körper, nach dem sich die Kursteilnehmerinnen mehr oder auch eher weniger heimlich verzehrten.

Für Danilo war das Wiedersehen die perfekte Überraschung. Er schien der einzige in ihrer Heimat zu sein, der sie an ihrem energischen Gang und ihrer brodelnden Stimme sofort erkannte. Eine erfahrene Tanzpartnerin, die – aus seiner Sicht – urplötzlich auch in knappe Fransenfummel hineinpasste, in Personalunion mit einem Marketing- und Organisationstalent war genau das, was er in dieser Lebensphase brauchte. Sie setzten gleich einen Vertrag auf, und Formular E landete ungelesen in der Altpapiertonne, deren Existenz sich Frau Mayer gerade erst wieder bewusst wurde. Dieses ewige Sortieren von Müll! Und es gab viel zu entmüllen und auszumisten. Der Kleidercontainer an der Dreisambrücke war dank ihr innerhalb weniger Tage komplett vollgestopft.

Die Frauen in den Tanzkursen, von denen manche sie noch aus ihrer Zeit vor Kuba kannten, schwankten zwischen Staunen und Empörung. Frau Mayer habe sagenhafte 25 Kilo abgenommen! Da müsse man selbst doch auch irgendwie zwei Kilo Bauchspeck verlieren können! Alle wollten Tipps von ihr, aber sie wusste beim besten Willen nicht, was sie empfehlen sollte. Tamales gab es hier ja nicht.

Frau Mayer selbst interessierte sich am wenigsten für ihre Figur. Selbstvergessen schwebte sie über die Tanzfläche, sie glitt und drehte, sie wallte und wackelte, sie trippelte und trappelte, sie schwang sich und sie wand sich, stets perfekt im Takt. Unaufhaltsam. Nach fünf Wochen machte Danilo ihr einen Heiratsantrag.

Uta Neumann

Ohrringe

in Silber

besser in Gold

schmücken mich immer mehr

jung

Ein kleines Mädchen geht weg

Ilse Reichinger

Ich stand am Fenster und sah in den trüben Morgen hinaus. Es nieselte und alles war grau. Am Hoftor huschte ein kleiner Schatten vorbei, vielmehr ein viel zu großer Schulranzen schob eine kleine Gestalt vor sich her. Ein kleines Mädchen lief sehr schnell am Straßenrand entlang. „Seltsam, es ist ja fast noch dunkel und so ein kleines Mädchen ganz alleine“, dachte ich.

Neugierig geworden, warf ich mir den Mantel über und schnappte meine Einkaufstasche. Rasch verließ ich das Haus. Der Nebel verschluckte alle Geräusche. Zögernd folgte ich dieser verwischten Silhouette. Das Mädchen hatte einen dicken roten Wollrock an. Sie kam mir seltsam vertraut vor. Niemand war auf der Straße, nur wir zwei. Sie trug einen schweren Gegenstand. Jetzt erst sah ich, dass die zierliche Gestalt ein klobiges Holzscheit an die Brust drückte. Ihre kleinen Hände mit den zu dünnen Handschuhen konnten das Holzstück kaum umfassen. Sie ging langsamer, blieb stehen, schaute unschlüssig zurück, ging weiter, zaghaft setzte sie einen Fuß vor den anderen. Doch dann lief sie entschlossen los. Der Schulranzen war viel zu groß, der Rock viel zu lang, das Kindergesichtchen viel zu ernst. „Wo gehst Du denn mit dem Holzscheit hin?“, fragte ich, als ich sie endlich eingeholt hatte. Das Kind antwortete nicht. „Zur Schule geht es in die andere Richtung.“

Plötzlich standen wir vor dem Bahnhof. „Willst Du mit einem Holzscheit verreisen?“ Das Kind nickte: „Ich will hier nicht mehr wohnen und in einer Hütte brauche ich Holz für das Feuer. In meinem Schulranzen habe ich das Essen dabei. Meine Mutter schläft noch.“

„Du kannst doch nicht alleine fahren, lass mich doch bitte mit.“

Eine brennende Liebe für dieses kleine Wesen überfiel mich. Als ich mich zu dem nahenden Zug umdrehte, war sie verschwunden, wie von der Erde verschluckt. Quietschen, Dampf, dumpfes Grollen, der Schaffner hatte schnell wieder zur Abfahrt gepfiffen.

Ich hastete am Gleis entlang, öffnete alle Türen und rief: „Wo bist Du kleines Mädchen?“ Der Zug fuhr langsam an. Keuchend lief ich hinterher. Plötzlich sah ich sie auf der Plattform des letzten Wagens. Ein blasses, ernstes Kindergesicht. Sie hatte die Hand leicht erhoben. Der Zug entfernte sich, wurde bereits schneller.

Auf der anderen Seite am Bahnsteig rannte eine Frau im weißen Nachthemd hinter dem Zug her. Das Hemd umflatterte die dünnen Beine. Die Füße steckten in klobigen Holzschuhen. Sie hob eine verbeulte Blechkanne mit Wasser hoch, wollte sie dem Kind reichen. Unbedingt wollte sie auf den Zug aufspringen, sie, die Mutter. Körperlich fühlte auch ich ihn, den unendlichen Schmerz dieser Frau. Trotzdem, das Kind und ich wollten nicht, dass sie es schaffte.

Der Zug wurde schneller und schneller. Bald verschwand er in der Ferne.

Kleine Hoffnung

Alex Devesper

Die Gruppe hat sich schon gefunden, reihum abwartende Gesichter, gespannt, verlegen, neugierig. Ich bin spät. Die Begrüßung und Einführung ist vorbei. „Seht Euch um, lasst Euch inspirieren und schreibt. Los geht´s!“

Wir befinden uns im Museum. Wir wollen schreiben. Uns inspirieren lassen, der Kreativität Raum geben. Ein kleiner Rundgang, ein kurzer Überblick, ich kann mich nicht entscheiden. Schreibe ich bunt, schreibe ich grau? Will ich Wand, will ich Raum? Nehm ich Bild?

Ich sitze weit weg von meinem auserwählten Werk, im Zimmer nebenan, ohne Sichtkontakt. Das Bild hat mich gewählt, nein, besser noch, der Titel hat mich gefangen: „Kleine Hoffnung“ 2016 Mischtechnik auf Leinwand. Ist es eine Collage, welche Farbe? Ich sehe nach. Gelb, braun, grau und beige. Sind das die Farben der Hoffnung? Was ist mit grün? Heißt es nicht: Grün ist die Hoffnung?

Die große Hoffnung wahrscheinlich. Bestimmt. Bestimmt ist die große Hoffnung grün, die kleine ist es offensichtlich nicht.

Wann habe ich mir das letzte Mal Hoffnung gemacht? Und auf was? Was ist das Gegenteil von Hoffnung? Resignation?

Meine Gedanken galoppieren in hoffnungsvollen Pastelltönen durch meine Hirnwindungen, die Synapsen transmittern, die Elektronen hüpfen von einer Hemisphäre in die andere, ein Fünkchen glimmt …

… und Stopp. Zurück zur Hoffnung, zur kleinen. Ist sie messbar, gibt es sie in verschiedenen Größen als S M L und XL, in welcher Einheit? Drei Pfund Hoffnung, geschnitten oder am Stück? Abgefüllt in Flaschen, verpackt in Dosen, Schachteln, sackweise? Die kleine Hoffnung, von der ich spreche, misst 70 mal 1 Meter, ist 3 cm tief und hinten hohl. Und es gibt sie nicht im Plural. Dafür als Film und Song und jetzt als Bild.

Da fällt mir ein, meine Nachbarin ist guter Hoffnung, die nächstes Jahr im Februar erfüllt wird.

Die Hoffnung ist lebendig, man kann sie nähren, auf ihr ruhen und sie an etwas knüpfen. Manchmal ist sie trügerisch oder übertrieben. Sie wächst, sie wird aufgegeben, manchmal ist sie alles, was bleibt und sie stirbt zuletzt.

Uta Neumann

Besenkammer

oh Jammer

die dunkle Kammer

ach, du bist es

Willkommen

Nerven für die Mama

Claudia Hellstern

Bärbel zog sich ihren hellblauen Anorak und die blau gestreifte Mütze an und packte ihren Rucksack. Sie war ganz aufgeregt, denn sie durfte heute ganz alleine mit dem Bus in die Stadt fahren, um Weihnachtsgeschenke zu kaufen. Bärbel hatte eifrig gespart. Sie hatte den Rauhaardackel Struppi von Herrn Bennewitz Gassi geführt, der alten Frau Kraus aus dem dritten Stock kleine Besorgungen gemacht und bei der Apfelernte mitgeholfen. Für gute Noten hatte ihr der Opa immer ein paar Münzen zugesteckt. Das Taschengeld hatte sie nie ganz verbraucht.

Die Mutter brachte sie zur Bushaltestelle und ermahnte sie, den Bus um 16:45 Uhr nicht zu verpassen, damit sie noch vor dem Dunkelwerden wieder daheim sei. Bärbel wollte ihre Besorgungen alleine machen, denn ihre Geschenke sollten eine Überraschung sein.

Als erstes ging sie ins Sporthaus Hör, wo sie ihrem Vater ein Stirnband kaufte. Der Vater hatte immer, wenn er von draußen kam, knallrote Ohren und eine fast blaue Stirn, so sehr fror er. Sie wählte ein dunkelblaues Stirnband, das super gut zu Vaters Winterjacke passte. Die Verkäuferin packte es ihr als Weihnachtsgeschenk ein. Bärbel steckte es sorgfältig in den Rucksack, bedankte sich und ging weiter zu Radio Rombach, denn ihr Bruder Max sollte Kopfhörer bekommen. Seit Wochen schimpfte er über seine Kopfhörer, die ihm nicht gut im Ohr saßen. Max, der vier Jahre älter war als Bärbel, hatte nie Geld übrig und würde sich bestimmt nie selber Ohrhörer kaufen. Er war der absolute Musikfreak und hatte, wann immer man ihn sah, Ohrstöpsel in den Ohren. Der junge Mann bei Radio Rombach beriet sie freundlich und empfahl ihr welche, die er selber hatte. Er packte die Ohrhörer in buntes Weihnachtspapier mit einer Schleife darum gewickelt. Bärbel freute sich und verließ stolz den Laden. Oma bekam Stofftaschentücher, denn sie benutzte keine aus Papier. In jeder Tasche, ob im Mantel, in der Jacke oder in der Schürze hatte sie ein Taschentuch. Kürzlich hatte sie sich beklagt, dass sie immer weniger Tücher habe. Sie hatte wohl einige verloren. Im Heimtextilienladen von Vroni Burger würde sie welche finden. Das Geschäft war vollgestopft mit vielerlei Artikeln. Man konnte dort Wolle und Stricknadeln, Nähzeug, Unterwäsche, Nachtwäsche und Vorhänge kaufen, Handtücher, Küchentücher und Taschentücher. Frau Burger war sehr freundlich. Sie begrüßte Bärbel mit einem breiten Lachen. Die Oma hatte früher bei den Burgers ausgeholfen und Vorhänge genäht. Daher kannte Frau Burger Bärbel schon von klein auf.

„Groß bist du geworden. Du bist doch schon elf Jahre alt, oder habe ich mich verrechnet?“

„Nein, das stimmt, ich bin im Oktober elf geworden“, antwortete Bärbel höflich.

Sie war seit jeher fasziniert von Frau Burger, deren Kopf unentwegt hin- und herwackelte. Frau Burger machte eine große Schublade auf und zeigte Bärbel eine Unmenge von Taschentüchern. Bärbel entschied sich für eine Packung aus fünf mit verschiedenen Blumen bestickten weißen Taschentüchern. Diese werden der Oma gefallen. Frau Burger packte sie in glänzendes Papier, wickelte eine Schleife darum und hängte einen kleinen Engel daran. Bärbel steckte das Geschenk freudig in ihren Rucksack. Frau Burger schenkte ihr eine kleine Packung Weihnachtsgebäck. Bärbels Wangen glühten. Nun zu Zigarren Mack. Sie liebte das Geschäft, weil es dort so unbeschreiblich gut roch. Sie schnupperte und schaute sich in dem Laden um. Er hatte sich nicht verändert, wie auch Herr Mack, der immer gleich aussah. Weißes Haar und eine hängende Unterlippe. Er trug eine weiße Schürze wie ein Frisör und hatte eine ganz tiefe Stimme. Sie war schon oft mit Opa hier gewesen, wenn sich dieser seinen Pfeifentabak und seine Fußballzeitschrift kaufte. Sie war das erste Mal alleine in dem etwas düsteren Laden und stellte sich auf die Zehenspitzen, um besser über die Theke schauen zu können. Der Opa sollte Pfeifenreiniger bekommen. Herr Mack zeigte ihr die Lieblingsreiniger vom Opa und reichte sie ihr über die Theke. Sie wollte ihn nicht fragen, ob er sie ihr als Geschenk verpacke, denn dem alten Mann traute sie das nicht zu. Herr Mack schenkte ihr eine Packung Kaugummi und wünschte ihr frohe Weihnachten.

Bärbel schaute auf die Uhr. Eine gute Stunde hatte sie noch Zeit. Nun kam die schwierigste Aufgabe, das Geschenk für ihre Mutter. Sie wollte es bei Frau Weiß versuchen und betrat deren Laden. Frau Weiß stand ganz hinten in ihrem Gemischtwarenladen und winkte ihr zu.

„Nun Bärbel, was kann ich für dich tun?“, fragte sie freundlich.

„Ich brauche ein Weihnachtsgeschenk für meine Mama und weiß gar nicht, wie es aussieht. Sie wünscht sich Nerven.“

„Aha“, sagte Frau Weiß, „Nerven. Wie kommst du denn darauf?“ „Ich habe sie in letzter Zeit oft gehört, wenn sie sagte, ich habe fast keine Nerven mehr. Und da dachte ich, das ist ein gutes Geschenk.“

Frau Weiß überlegte eine Weile und strahlte plötzlich. Sie holte aus dem Regal eine dicke Tafel Schokolade.

„Nerven selber habe ich keine, aber etwas, was den Nerven gut tut und sie stärkt. Da freut sich deine Mutter sicherlich.“

Bärbel betrachtete die Schokoladentafel und nickte. Frau Weiß packte ihr die Schokolade mit Nüssen und Nougat in buntes Papier und schenkte ihr ein paar Gummibärchen.

„Du kannst es ja gegenüber bei Herrn Spörl noch versuchen. Vielleicht hat er Nerven zu verkaufen.“

Bärbel überquerte die Straße und betrat die Drogerie von Herrn Spörl, der groß war wie ein Riese und dennoch auf der Leiter stand und Waren einsortierte. Sie mochte Herrn Spörl, denn er wirkte immer ganz ruhig und hatte ihr einmal für den Kaufladen eine ganze Tüte voller Pröbchen geschenkt. Sie erzählte ihm ihren Wunsch. Herr Spörl war wie Frau Weiß etwas überfordert, doch dann holte er aus seinen Schubladen verschiedene Sachen heraus, die er vor Bärbel auf die Theke stellte. Nerventee, ein Beruhigungsbad, Klosterfrau Melissengeist und Johanniskrautdragees.

Nerven selber habe er keine, aber diese Dinge tun den Nerven gut und lassen sie stark werden und wieder wachsen.

Bärbel nickte. Herr Spörl packte alles in eine wunderschöne Tüte. Er band einen Christbaumanhänger daran fest und schenke Bärbel ein paar Traubenzuckerbonbons. Sie füllte ihren Rucksack, bedankte sich und ging wieder hinaus in die Kälte. Sie wollte noch zu Herrn Lutz in die Apotheke. Doch unterwegs sah sie das Kaufhaus Kuner. Dort konnte man eigentlich alles bekommen. Damit wirbt das Kaufhaus und so ging sie kurz entschlossen hinein. Sie hatte gehofft Herrn Kuner dort anzutreffen, doch es war nur seine Frau da, die sie seit jeher fürchtete. Sie war ganz dick und hatte einen spitzen Riesenbusen, der unentwegt auf und ab wippte. Außerdem hatte die Frau einen Bart. Das ließ sie wie eine Hexe aussehen. Bärbel wäre am liebsten wieder umgekehrt, doch die Frau hatte sie schon entdeckt und war gleich auf sie losgestürzt.

„Was brauchst du Kindchen?“, fragte sie mit zuckersüßer Stimme. Bärbel sagte ihr, was sie suche und da lachte Frau Kuner.

Sie ist ja richtig schön, wenn sie lacht, dachte Bärbel. Frau Kuner überlegte kurz und sagte, dass sie mal im Katalog nachsehen wolle, was der so empfiehlt, denn Nerven selber seien echt schwierig zu bekommen.

Sie setzte sich an den Schreibtisch und holte den Katalog. „Sie sticht mit ihrem spitzen Busen noch die Blätter durch. Er liegt ja schon auf dem Tisch“, beobachtete Bärbel sie. „Vielleicht hat Mama deshalb so wenig Nerven, weil ihr Busen nicht so groß und nicht so spitz ist“.

Da schaute Frau Kuner auf: „Ich habe eine Idee. Sie holte eine kleine Schachtel aus dem Regal. Das ist Tangram, ein Legespiel, das wunderbar beruhigt und ablenkt und die Nerven stärkt. Das ist eine Supersache für deine Mama.“

Bärbel nickte. Frau Kuner packte ihr die Schachtel liebevoll in Weihnachtspapier und machte einen Sonderpreis für Bärbel.

Auf dem Weg zur Bushaltestelle kam Bärbel bei Apotheker Lutz vorbei und als sie feststellte, dass sie noch etwas Zeit hatte, ging sie hinein.

Apotheken sind fast wie Kirchen, ging es ihr durch den Kopf. Hier wird nur geflüstert und ganz sachte aufgetreten. Herr Lutz begrüßte sie freundlich und fragte nach ihren Wünschen. Bärbel erklärte ihm, was sie suchte und was sie schon alles für die Nerven erstanden hatte, aber Nerven habe ihr keiner verkauft.

Herr Lutz schaute ernst und überlegte.

„Nerven sind schwierig zu bekommen“, sagte er. „Ich muss mal hinten im Labor nachschauen, ob ich noch welche habe.“

Er bat Bärbel kurz zu warten. Er ging nach hinten und tuschelte mit einer Helferin. Es dauerte eine Weile, bis er wieder nach vorne kam und Bärbel eine 30 cm lange Schachtel überreichte, auf der in großen schwarzen Druckbuchstaben NERVEN geschrieben war. Mit ernster Miene übergab er Bärbel die Schachtel und erklärte ihr, dass darin eine Beilage liege, die die Mutter gut lesen solle. Wichtig war, dass sie die Nerven einzeln und in aller Ruhe essen sollte. Ganz langsam kauen, am besten mit geschlossenen Augen.

Seine Helferin wickelte vielsagend Weihnachtspapier um die Schachtel. Bärbel war glücklich. Die Mama würde sich bestimmt freuen, so viel Geschenke; echte Nerven und dazu allerlei Mittel, die ihr halfen die Nerven zu stärken und beruhigen. Sie machte einen Knicks vor dem Apotheker und rannte zufrieden hinaus zum Bus.

Herr Lutz und seine Helferin zwinkerten sich zu. Sie hatten auf die Schnelle Haribo-Schlangen eingepackt. Wunderbare Nerven.

Bärbel kam noch rechtzeitig zum Bus. Zu Hause versteckte Bärbel ihre Päckchen im Kleiderschrank. An Weihnachten überraschte sie die Familie.

Der richtige Zeitpunkt

Uta Neumann

Noch drei Mädchen stehen vor mir. Meine Hände sind feucht.

Es riecht nach Gummi und Schweiß.

Ich werde ausrutschen!

Ich werde es nicht schaffen!

Wieder hintenanstellen?

Geht nicht. Gegen die Regel.

Noch zwei Mädchen vor mir!

Iris! Schlank, schnell; springt locker, sogar über einen extra Aufbau.

Sie ist schon drüber.

Sieht wunderschön aus.

Elegant und frei, selbstverständlich.

Ich habe bestimmt rote Flecken am Hals,

und außerdem: so heiß, alles schwitzt.

Das Mädchen vor mir rennt los. Sie fliegt über den Bock.

Meine Füße kleben am Boden, sind schwere Klötze geworden.

Ich stehe am Start.

Die Turnlehrerin schaut zu mir.

Sie verspricht mir, mich zu halten und zu helfen!

Sie sieht doch, dass ich mich nicht bewegen kann.

Ich fühle Tränen, jetzt nicht heulen.

„Ich kann nicht“, sage ich, „es ist zu hoch! Ich schaffe das nicht.“

„Trau dich. Ich bin da. Komm, los, du schaffst das. Kriegst ´ne Tafel Schokolade.“

Sie gibt Anweisung: „Rennen, nicht stoppen, die Hände vor dem Bauch aufsetzen

und dann schnell wieder wegnehmen.“

Schokolade, das wär vielleicht was! Das hat sie noch nie gesagt, niemandem!

So viel für einen kleinen Sprung, denken bestimmt alle anderen.

Meine Beine sind Zentner schwer.

Ach was: Warum sollte ich es nicht auch können? „Ich rieche meine Angst und ich fühle Mut.“

Hab ich mal im Fernsehen gehört. Dieses Mal könnte es klappen!

Es ist leicht für alle.

Ich muss nur:

Rennen, die Hände aufstellen und gleich wieder loslassen beim Rüberspringen, und zum richtigen Zeitpunkt die richtigen Bewegungen machen.

Ich muss beim Rennen Schwung bekommen.

Jemand tippt mich an: „Los, mach schon, es soll weitergehen.“

Ich wiederhole die Anweisung still.

Ich renne los, werde angefeuert: „Ina, Ina.“

Kurz vorm Sprung komme ich ins Stocken, denke: „Der richtige Zeitpunkt, ich muss die Hände aufstellen.“

Laufe noch zwei Schritte, springe so hoch es geht, stütze mich mit den Händen ab, versuche mich festzuhalten.

Klebe mit den Händen fest!

Keine Hand hält mich!

Den richtigen Zeitpunkt?

Verpasst!

Ich falle nach vorn, mit dem Gesicht zuerst. Die Hände lösen sich zuletzt.

So schwer, dieser Körper.

Eine Bewegung! Mit dem Gesicht zuerst auf der Matte.

Erst dann kommen Arme, Hände und Beine in die richtige Position. Es schmeckt nach Blut.

Etwas klebt an meinen Händen. Ich höre Lachen.

Sie lachen alle über mich.

Sie hat mich nicht gehalten.

Es tut so weh!

Perspektiven

Alex Devesper

„Früher gab es immer frische Sachen zum Essen“, sagt er, während er sich den knackigen Eisbergsalat mit Gurkenscheibchen, Paprika und Tomaten in den Mund schaufelt. „Und Du hast immer mal beim Feinkost oder auf dem Markt eingekauft, jetzt gibt es nur noch Verpacktes, Fastfood, lieblos und billig.“

Er kam zum Abendessen vorbei, einfach so. Er wollte seine Familie besuchen. Das kommt in letzter Zeit häufiger vor.

Den Autoschlüssel in der Hand verabschiedet er sich: „Nespresso hat jetzt eine neue Sorte, mit Kokos-Aroma. Das ist ja so einfach mit den Kapseln.“