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Visual Storytelling

Visuelles Erzählen in PR und Marketing

Petra Sammer
Ulrike Heppel

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Petra Sammer & Ulrike Heppel

Lektorat: Susanne Gerbert & Ariane Hesse

Korrektorat: Eike Nitz
Herstellung: Karin Driesen
Umschlaggestaltung: Michael Oreal
Satz: III-satz, www.drei-satz.de
Druck und Bindung: PHOENIX PRINTGmbH, www.phoenixprint.de

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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der
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sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN:

Buch 978-3-96009-001-4
PDF 978-3-96010-006-5
ePub 978-3-96010-007-2

1. Auflage 2015

Dieses Buch erscheint in Kooperation mit O’Reilly Media, Inc. unter dem Imprint »O’REILLY«. O’REILLY ist ein Markenzeichen und eine eingetragene Marke von O’Reilly Media, Inc. und wird mit Einwilligung des Eigentümers verwendet.

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Inhalt

Vorwort

1 Die Flut der Bilder – Wie Bilder über Text triumphieren

Abtauchen in den visuellen Tsunami

Auftauchen aus dem Meer der Bilder

2 Die Macht der Bilder – Wie Bilder wirken

Schau mir in die Augen: Der menschliche Sehsinn

Der Blick hinter die Kulissen: Die Neurophysiologie des Auges

Das lässt tief blicken: Psychologie der visuellen Wahrnehmung

3 Visuelles Storytelling – Mehr als Kino im Kopf

Definition von »Visual Storytelling«

Bilder brauchen Geschichten: Über die Kunst des Storytelling

Geschichten brauchen Bilder: Über die Kunst, visuell zu triggern

Visuelles Storytelling: Wechselwirkung aus Bild und Text

4 Werkzeuge des visuellen Erzählens

Werkzeug 1: Mit Grafik Zeichen setzen

Werkzeug 2: Mit Infografiken die Schönheit von Daten sichtbar machen

Werkzeug 3: Mit Fotos die Wirklichkeit abbilden

Werkzeug 4: Mit Videos Geschichten in Bewegung bringen

Werkzeug 5: Medienmix mit Multimedia

Werkzeug 6: Spielerisch erzählen mit interaktiven Medienformaten

5 Strategien des visuellen Storytelling

Im Trainingscamp: Werden Sie zum visuellen Storyteller

Auf ins Basislager: Grundstrategien des visuellen Storytelling

Neue Seilschaften: Visuelles Storytelling als Knotenpunkt viraler Netzwerke

Am Gipfelpunkt: »Über-Images« – Helden des visuellen Storytelling

6 Sixpack des visuellen Storytelling – Sechs Erfolgskonzepte

Hingucker

Schnellschüsse

Augenschmaus

Türöffner

Zeitgeist

Trittbrettfahrer

7 Ausblick – Vom visuellen Storytelling zur Visual Culture

Die Farben der Spiele

Visuelles Storytelling als Ordnungsaufgabe

Visual Culture

Visual Culture – Kraftfeld und Funke der Fantasie

Bilder bestimmen unsere Welt

A Bildnachweis

B Literaturübersicht

Index

Vorwort

New York 1996. Wir hatten einen Flug zum »Big Apple« gebucht und uns am West Broadway in ein Hotel einquartiert, das erst vor wenigen Wochen mit viel Glamour eröffnet worden war: das Soho Grand.

Den Protest unserer männlichen Reisebegleiter – wegen der doch sehr hohen Zimmerpreise – überhörten wir geflissentlich. Schließlich waren wir davon überzeugt, dass uns nach einem langen Arbeitsjahr ein paar Nächte in dem Luxustempel zustanden, in dem auch Madonna und George Clooney gelegentlich abstiegen.

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Abbildung 1 Das Soho Grand Hotel New York

Der Architekt David Helpern und Bill Sofield, der Innenarchitekt des Soho Grand, hatten dieses Hotels mit einem ungewöhnlichen Stilmix gestaltet: Sie orientierten sich mit Farben, Materialien und Formen für Rezeption, Restaurant und Zimmer sowohl an der Gründer- und ersten Blütezeit der amerikanischen Wirtschaft rund um 1870, sowie an der luxuriösen Kunst der 1970er, als der Stadtteil SoHo von Künstlern und Designern neu entdeckt worden war.

Inmitten dieses eleganten Ambientes aus hellem Grün, Taupe- und Champagnerfarben wollten wir dem Agenturalltag entfliehen und für ein paar Tage die Stadt der unbegrenzten Möglichkeiten entdecken. Und selbstverständlich: Shoppen. Schließlich war es kurz vor Weihnachten.

Doch was als schlichter Städtetrip geplant war, entwickelte sich für uns beide, die Autorinnen dieses Buches, überraschenderweise zu etwas ganz anderem – zu einer Inspirationsreise und Quelle neuer Geschichten.

Denn eigentlich war die New York-Reise keine Vergnügungsreise. Es war eine Flucht. Die Flucht vor einem Kunden, dessen Auftrag schon eine ganze Weile in München auf unseren Schreibtischen schlummerte. Die Flucht vor einem Kunden, dessen Produkt 1,5 Zentimeter klein war, sich seit den letzten tausend Jahren so gut wie nicht verändert hatte und nun zum großen Star in Deutschland werden sollte. Und auch die Flucht vor einem Kunden, der bei seinem Besuch in Deutschland zum ersten Mal in einem Federbett geschlafen hatte und auch erstmals in seinem Leben mit einem Zug gefahren war.

Amerikanische Sonnenblumenfarmer schlafen nicht in Federbetten. Sie trotzen der Kälte von bis zu minus 40 Grad im Winter von North Dakota mit beheizbaren Wolldecken. Sie fahren auch nie mit Zügen, denn öffentliche Verkehrsmittel sind im Norden Amerikas Mangelware. Dazu ist das Land viel zu dünn besiedelt. Von Farm zu Farm sind es oft über sechzig Meilen. Der nächstgelegene Supermarkt ist vier Autostunden entfernt. Ein Sonnenblumenfeld erstreckt sich in der Regel über 25 Hektar und manche Farmer reiten zwei Tage lang, um ihre Farm zu umrunden. Sonnenblumen so weit das Auge reicht: Das ist Bismarck, die Hauptstadt von North Dakota und der Sitz unseres Kunden, der National Sunflower Association.

Archäologisch sind Sonnenblumen seit 2.500 v. Chr. in Nord- und Mittelamerika nachgewiesen. Die sonnengelbe Blume mit dem kleinen Kern schätzten schon die Inkas. 1552 brachten die Spanier die Blume erstmals als Zierpflanze nach Europa.

Bis heute sind die Amerikaner Marktführer im Sonnenblumenanbau und Deutschland ist einer ihrer wichtigsten Märkte. Der Absatz ist stabil – seit Jahrzehnten. Doch jetzt soll Bewegung in die Sache kommen. Einerseits muss die National Sunflower Association ihre Position gegenüber neuen Wettbewerbern aus China und Europa verteidigen, andererseits soll der Markt ausgeweitet werden. Die Deutschen kennen Sonnenblumenkerne zu wenig. Die meisten schätzen den Kern zwar im Brot, doch assoziieren sie eigentlich vor allem eines damit: Vogelfutter. Auch das soll sich ändern und langfristig die Nachfrage nach Sonnenblumenkernen ankurbeln.

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Abbildung 2 Storytelling für ein 2.500 Jahre altes Produkt: Die Kampagne »Be creative« für US-amerikanische Sonnenblumenkerne wird 1998 als beste Produkt-PR-Kampagne Deutschlands ausgezeichnet.

Und genau dieser Auftrag lag seit Wochen auf unseren Schreibtischen. Daher erst einmal ab in den Urlaub. Ins Soho Grand.

Und wie erfreulich: Dort lag die Antwort für uns. David Helpern erinnerte uns mit seiner architektonischen Hommage an die amerikanische Gründerzeit und an all die Geschichten, die seither in dem kleinen amerikanischen Kern steckten, denn auch die Agrarhauptstadt North Dakotas, Bismark, war genau zu jener Zeit gegründet worden. Bill Sofield präsentierte uns mit seinem Hoteldesign die Farben, die die visuelle Sprache definieren sollten, mit der wir die Aufmerksamkeit deutscher Verbraucher, Bäcker, Konditoren und Lebensmittelentwickler wecken würden. Und die zahlreichen Anspielungen des Hotels auf die Kreativszene der 70er in SoHo erinnerten uns daran, dass die Sonnenblume – neben dem Regenbogen – eines der positivsten Zeichen und Symbole jener Zeit war – alles Komponenten für ein wirksames visuelles Storytelling.

So kamen wir aus New York letztendlich nicht nur mit einem Haufen günstiger Klamotten zurück, sondern auch mit jeder Menge Ideen. »Be creative« – die Kreativkampagne für amerikanische Sonnenblumenkerne erhöhte das Ansehen des kleinen Kerns in Deutschland deutlich. 43 Prozent der Deutschen kannten laut einer GfK-Umfrage den Kern nun nicht mehr nur als Vogelfutter, sondern auch als Backzutat, Topping für Salate und Süßspeisen oder als Snack. Der Absatz stieg um 23 Prozent. 1998 wurde die Kampagne der National Sunflower Association mit dem Deutschen PR-Preis als beste Produktkampagne ausgezeichnet.

Die Reise ins Soho Grand in New York war für uns nicht nur der Start unserer Karriere als Visual Storyteller, sondern auch der Beginn einer Freundschaft, die seit über zwanzig Jahren anhält und der viele wunderbare Geschichten entsprungen sind.

Nicht für jeden unserer Kundenaufträge buchten wir ein Luxushotel – leider.

Und dies ist sicher auch nicht der wichtigste Tipp, den wir Ihnen mit diesem Buch ans Herz legen, wenn Sie visuelles Storytelling in der Unternehmenskommunikation oder im Marketing anwenden wollen.

Viel wichtiger ist dagegen ein Prinzip, dem wir – damals wie heute –, treu bleiben: neugierig hinzusehen. Schärfen Sie Ihre Wahrnehmung für Worte und Bilder. Denn genau darum geht es beim visuellen Storytelling. Geschichten zu erzählen, die mit packenden Worten und faszinierenden Bilder ein Publikum in ihren Bann ziehen können. Geschichten zu erzählen, die haften bleiben und vor allem Geschichten zu erzählen, die weitererzählt werden.

Alles Qualitäten, die heute, im digitalen Zeitalter mit seinen flüchtigen Medien, in denen wir immer härter um die Aufmerksamkeit von Zielgruppen kämpfen müssen, so entscheidend sind.

Daher Augen und Ohren auf, sehen Sie sich um – in diesem Buch, in dem wir für Sie Strategien, Instrumente und Beispiele guter visueller Storys zusammengetragen haben. All dies, um Sie zu animieren, nicht nur zum Geschichtenerzähler zu werden, sondern noch einen Schritt weiter zu gehen: zum visuellen Storytelling. Lassen Sie sich inspirieren, sich zukünftig nicht nur auf die Kraft Ihrer Worte zu verlassen, sondern vor allem auf starke Bilder zu vertrauen.

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1 Die Flut der Bilder – Wie Bilder über Text triumphieren

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In der Nacht von Samstag auf Sonntag hatte es über 80 Zentimeter geschneit. Feinster Pulverschnee war auf die Berghänge des Cowboy Mountain niedergerieselt. Unwiderstehliche Bedingungen für die Skifahrer, die sich an diesem Wochenende in Stevens Pass aufhielten, einem kleinen Skigebiet, etwa 120 Kilometer östlich von Seattle. Der idyllische Skiort liegt mit seinen zehn Liften am 1.781 Meter hohen Cowboy Mountain etwas abseits vom Touristenrummel und ist vor allem bei Einheimischen sehr beliebt. An diesem Wochenende, im Februar 2012, war der Marketingdirektor des Skiresorts, Chris Rudolph, daher überaus erfreut, dass er einige der bekanntesten und besten amerikanischen Skifahrer und Freerider sowie einige Sportjournalisten vor Ort begrüßen durfte. Stevens Pass zeigte sich von seiner besten Seite und es würde herrliche Bilder in den Filmdokumentationen, Reportagen und Fotoblogs geben. Rudolph erhoffte sich von dieser Berichterstattung einen gehörigen Werbeeffekt für die Region. Und jetzt fiel auch noch der perfekte Schnee.

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Abbildung 1-1 SnowFall – Pulitzerpreis für die Multimedia-Story der New York Times

»Der Schnee brach durch die Bäume ohne jegliche Vorwarnung. Es gab nur einen zischenden Ton in letzter Sekunde, eine weiße Wand, zwei Stockwerke hoch, und den durch Mark und Bein gehenden Schrei von Chris Rudolph: ›Lawine! Elyse!‹«

So beginnt die Reportage »Snowfall«, mit der Sportreporter John Branch 2013 nicht nur für seinen Auftraggeber New York Times den Pulitzerpreis in der Kategorie »Feature Writing« gewinnen, sondern auch eine weltweite Diskussion um die Bedeutung von Bild und Text im Journalismus entfachen sollte.

16 erfahrene Skifahrer im Alter zwischen 29 und 53 Jahren waren am Sonntag, den 19. Februar 2012, um 11.15 Uhr zum Tunnel Creek aufgebrochen, einer Skiroute abseits der offiziellen Pisten von Stevens Pass auf der rückwärtigen Flanke des Cowboy Mountain. Unter ihnen waren Elyse Saugstad, Skiprofi und vormalige Gewinnerin der Freeride World Tour, John Stifter und Keith Carlsen, Redakteure und Fotografen des Skimagazins Powder, Megan Michelson, Freeski-Expertin der Sportwebsite ESPN.com, und Jim Jack, Turnierleiter und ehemaliger Präsident der International Freeskiers Association. Angeführt wurde die Gruppe von einem Einheimischen, dem bereits erwähnten Marketingdirektor Chris Rudolph, der stolz darauf war, dieser außergewöhnlichen Gruppe von Sportlern und Skiprofis sein Gebiet von einer ganz besonderen Seite zeigen zu können.

Von Anfang an lässt John Branch in seiner Multimedia-Reportage, in der er ein halbes Jahr später die Vorfälle am Tunnel Creek rekonstruiert, keinen Zweifel darüber aufkommen, dass es sich hier um einen ungewöhnlichen Skiausflug handelt.

Die Katastrophe beginnt mittags: Um 12.02 Uhr geht der erste Anruf in der Notrufzentrale ein, sieben Minuten nachdem die Gruppe eine Lawine am Tunnel Creek ausgelöst hatte. 6.000 Kubikmeter Schnee kommen ins Rutschen, rasen mit einer Geschwindigkeit von bis zu 100 Stundenkilometern ins Tal. Auf ihrer Fahrt ins Tal reißt die Lawine weitere 7.000 Kubikmeter Schnee, Geröll und Bäume mit. Nur wenige Minuten später kommt sie mit einem Gewicht von über fünfzig Tonnen 762 Meter tiefer zum Stillstand. Sie kostet drei Menschen das Leben. Unter ihnen ist auch Chris Rudolph.

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Abbildung 1-2 John Branch erzählt in sechs Kapiteln die Geschichte eines Lawinenabgangs.

Die New York Times stellt die Story am 20. Dezember 2012 online (http://www.nytimes.com/projects/2012/snow-fall/) und schon in den ersten sechs Tagen wird sie von 2,9 Millionen Lesern über 3,5 Millionen Mal angeklickt. Etwa ein Drittel der Besucher sind ganz neue Nutzer der Website.

Lawinenunglücke sind eigentlich nichts Ungewöhnliches. Seit den 80ern häufen sich die Unglückszahlen aufgrund der Popularität des Skisports und des Booms von Risikosportarten. Heute kommen jährlich weltweit etwa 200 Menschen durch Lawinen ums Leben. Die meisten Unglücksopfer lösen die Lawinen selbst aus, und unter den Opfern befinden sich erstaunlich oft erfahrene Skitourengeher. So tragisch es klingt, aber aus journalistischer Sicht ist eine Reportage über ein Lawinenunglück keine aufsehenerregende Geschichte.

Was also weckte das Interesse so vieler Onlineleser? Warum wurde die Geschichte mit so viel Lob, Ehre und Preisen überschüttet, bis hin zur höchsten Auszeichnung, die die journalistische Branche zu vergeben hat, dem Pulitzerpreis? Und warum glauben Medienexperten, in dieser Story die Zukunft des Journalismus und der Onlinekommunikation zu sehen?

Teil des Erfolges von »Snowfall« ist sicher die akribische Recherche, mit der John Branch die Fakten und Details dieses Skitages im Februar 2012 zusammengetragen hat. Auch die einfühlsame Einbeziehung der Überlebenden des Lawinenunglücks, die in der Story zu Wort kommen, ist gut gelungen. Und schließlich zeigt die klare und bildhafte Sprache, in der die Geschichte verfasst wurde, dass John Branch sein Handwerk als Journalist meisterlich beherrscht.

Doch all dies sind Qualitäten, die auch andere gute Reportagen aufweisen. Was »Snowfall« letztendlich zu einer außergewöhnlichen und zukunftweisenden Onlinegeschichte macht, liegt nicht im Text begründet, sondern in seinem Umgang mit dem Element »Bild«.

Aufwertung der Komponente »Bild«

Branch ist es gelungen, zusammen mit einem Team von Grafikern und Multimediaexperten, die visuellen Elemente der Geschichte in einer Art und Weise mit dem Text zu verflechten, wie man es im Journalismus bisher noch nicht gesehen hatte. Während gewöhnliche Reportagen in der Regel Bilder und visuelle Elemente ergänzend und schmückend einsetzen und gleichsam den Text »bebildern«, erfahren die Bildkomponenten in »Snowfall« eine ganz neue Aufwertung.

Branch und sein Team stellen Bild und Text gleichwertig nebeneinander. Textinformationen werden durch visuelle Informationen ergänzt und umgekehrt. Und sie gehen sogar noch weiter, denn jedem Bildelement, sei es eine Fotostrecke, eine Filmsequenz oder eine Infografik, kommt die Aufgabe zu, den Leser mit zusätzlichen Informationen zu versorgen und somit die Geschichte entscheidend weiterzuerzählen.

Bereits lange vor »Snowfall« experimentierten Onlineredakteure mit der Kombination aus Text und Bild, um die neuen Lese- und Rezeptionsmöglichkeiten, die das Internet bietet, besser auszunutzen. Doch niemandem war bisher eine so gute Symbiose gelungen wie Branch und seinem Team.

Anders als in zahlreichen anderen Digitalprojekten wird der Leser in »Snowfall« nicht von den technischen Möglichkeiten der Onlinekommunikation erschlagen und von der Geschichte abgelenkt. Ganz im Gegenteil: Branchs Multimediareportage fällt durch eine ruhige, unaufgeregte Gestaltung und Leserführung auf, in der die multimedialen Elemente flankierend und harmonisch neben den Text gestellt werden.

Einige Kritiker und Fans der Story interpretieren sogar die Leserführung selbst als Teil der Geschichte, denn das Parallax-Scrolling, also die Art und Weise, auf die man sich als Leser langsam durch den Text abwärts scrollt, kann als Analogie zur Abfahrt der Skigruppe oder der Bewegung der Lawine verstanden werden.

Sechs Kapitel nehmen den Leser in »Snowfall« mit auf eine Fahrt durch die Ereignisse. Einem Skifahrer gleich bewegt man sich im Text von oben nach unten, schwingt links und rechts ein und macht Halt bei einer der Bildstrecken, die einem Fotoalbum ähnlich das Leben der Lawinenopfer im Zeitraffer nachzeichnen. In der Bilderstrecke zu Jim Jack sieht man zum Beispiel ein Foto mit dem 3-jährigen Jim und seinem Vater, Norman Jack, im Schnee auf dem Schlitten. Kindheitserinnerungen, die zeigen, dass die Leidenschaft für Schnee bei Jim Jack schon früh geweckt wurde – eine Leidenschaft, die ihn letztendlich das Leben kostete.

Weiter unten in der Geschichte stoppt man bei kurzen Videosequenzen, in denen Beteiligte und Angehörige zu Wort kommen und die den Leser einfühlsam und mit viel Emotionalität mit den Protagonisten der Story bekanntmachen. Dazu gehört auch das Interview mit der Freeriderin Elyse Saugstad, die zusammen mit Chris Rudolph die ersten Meter gefahren war, bis die Lawine sie erfasst hatte.

Und schließlich gelangt man zu einigen dynamisch animierten Infografiken, die detailreich und anschaulich Fakten und Daten über das ganze Ausmaß der Katastrophe wiedergeben. In unterschiedlichen Farben werden hier die verschiedenen Routen der Skifahrer nachgezeichnet, denn die Gruppe hatte sich während der Tour spontan in Zweier- und Dreierteams aufgeteilt. Während man den Text liest, kann man parallel die unterschiedlichen Routen der Teams nachverfolgen. Oder auch dem unaufhaltsamen Abgang der Lawine zusehen, der mithilfe einer Simulation des Schweizer Instituts für Schnee- und Lawinenforschung in einer Grafikanimation rekonstruiert wurde.

Erst den visuellen Elementen ist es zu verdanken, dass diese Geschichte ihre volle Kraft entfalten kann.

Und das war neu.

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Abbildung 1-3 »Snowfall« – eine tragische Multimediageschichte zeigt die Zukunft des Onlinejournalismus.

Traditioneller Journalismus hatte sich bisher hauptsächlich auf die Kraft der Worte verlassen und die Informationsvermittlung dem Text anvertraut. Erstmals zeigte hier ein renommiertes Traditionshaus wie die New York Times, dass sich die Zeiten geändert hatten und Journalismus und Onlinekommunikation der Zukunft anders »aussehen« würden als bisher.

»All the news that’s fit to print«

Ausgerechnet die renommierte New York Times, die wegen ihres hohen Alters und der bestimmenden Farbe ihrer Textseiten liebevoll »Gray Lady«, also »graue Dame« genannt wird, hatte John Branchs Multimediareportage unterstützt.

161 Jahre vor der Veröffentlichung von »Snowfall«, am 18. September 1851, erschien die erste Ausgabe dieser Zeitung. Henry J. Raymond und George Jones hatten das Blatt mit dem Titel »The New-York Daily Times« als seriöse Alternative zu den damals vorherrschenden reißerischen Boulevardzeitungen gegründet. Doch der hohe Anspruch zahlte sich nicht richtig aus: Jahr um Jahr verlor das Blatt Leser an Joseph Pulitzers »World« oder Randolph Hearsts »Journal«, die den typischen Klatsch und Tratsch der Regenbogenpresse verbreiteten und noch dazu wesentlich günstiger waren als die Times.

John Swinton, von 1860 bis 1870 Redaktionschef, gelangen zwar einige herausragende Storys, doch wurde der Times immer wieder prophezeit, dass es keinen Markt für anspruchsvollen Journalismus gäbe und dass das Geschäftsmodell mit seriösen Nachrichten niemals funktionieren würde.

1886 stand die New-York Daily Times dann tatsächlich fast vor dem finanziellen Ruin. Zum Glück für den Verleger Adolph Ochs, der mit geborgtem Geld die Mehrheit an dem Blatt günstig erwerben konnte und damit den Grundstein für eine Erfolgsgeschichte legte, die bis heute einmalig in der Medienlandschaft ist.

Ochs, dessen Eltern aus Fürth nach Amerika ausgewandert waren, änderte als erstes den Namen in »The New York Times« und definierte das Leitmotto der Zeitung, das noch heute auf jeder Ausgabe steht: »All the news that’s fit to print« – »Alle Nachrichten, die geeignet sind, gedruckt zu werden«.

„All the news that’s fit to print“

New York Times

Sieben Wörter, die ursprünglich als Marketinggag gedacht waren, die sich letztendlich jedoch zu den berühmtesten sieben Wörtern amerikanischer Mediengeschichte entwickeln sollten. In den folgenden 160 Jahren löste die New York Times ihr Versprechen von seriösem, anspruchsvollem und unabhängigem Journalismus ein und etablierte sich als Qualitätsmarke auf dem internationalen Medienmarkt wie keine andere Printzeitung weltweit.

Doch zu Beginn des 21. Jahrhunderts sah sich die Zeitung, wie die gesamte Zeitungsbranche, erneut heftiger Kritik ausgesetzt. Kritik an ihrem Geschäftsmodell, Kritik an ihrem Anspruch, Kritik an ihrer Arbeitsweise. Online-Angebote waren angetreten, um Printmedien wie der New York Times Konkurrenz zu machen und sie langfristig sogar abzulösen. Leser wechselten zu kostenlosen Informationsplattformen im Netz, Blogger und »Bürgerjournalisten« boten schnellere Informationen und passioniertere Geschichten, die Printabonnements gingen kontinuierlich zurück, Werbebudgets wurden zugunsten von Onlinewerbung, Suchmaschinenmarketing und Social-Media-Kampagnen ins Netz verlagert.

Ab dem Jahr 2000 gaben Medienexperten dem Printjournalismus, wie ihn die New York Times anbot, keine Chance mehr. Überall war vom Tod des klassischen Medienmodells zu hören, noch dazu wo erstmals eine junge Generation an Lesern herangewachsen war, die »Digital Natives«, die noch nie eine Zeitung in den Händen gehalten hatten.

Neue Konzepte mussten her, neue Geschäftsmodelle, neue Bezahlmodelle. Eine neue Art des journalistischen Arbeitens musste gefunden werden, um langfristig im Wettbewerb mit Blogs und Social Media bestehen zu können. Gleichzeitig galt es auch, die neuen Möglichkeiten des Internet selbst auszuprobieren, auszuschöpfen und geschickt zu nutzen.

Von Anfang an stand die New York Times als Leitmedium im Zentrum dieser Veränderungen und unter konstanter Beobachtung der Branche. Viele erhofften sich von der »Gray Lady« Antworten darauf, wie die Zukunft des Journalismus aussehen könnte.

So war es dann auch die New York Times, die als eines der ersten Printmedien kostenpflichtige Inhalte im Netz ausprobierte und technische Innovationen für höhere Clickraten und mehr Leserservice testete. 2008 zum Beispiel wurde eine API-Schnittstelle zur Verfügung gestellt, die gezielte Suchanfragen im Archiv der Zeitung erlaubten und die man auch in andere Webseiten einbinden konnte. Ein Jahr später wurde die Anwendung »Skimmer« eingeführt, was so viel wie Querleser bedeutet, die es Nutzern ermöglichte, die Website der New York Times effizienter zu lesen, bis zu 15 Seiten parallel anzusehen und schneller zwischen ihnen hin und her zu springen. Höhepunkt der technischen Innovationen, mit denen die New York Times heute ihren Lesern mehr Service bietet, ist sicher die App NYT Now, die dem Modell einer modernen Zeitung derzeit wohl am nächsten kommt.

Grundlegende Veränderungen

Doch all die Diskussionen rund um neue Geschäftsmodelle und technische Innovationen sollten Journalisten, Medienmachern und Kommunikationsexperten nicht den Blick verstellen auf die eigentlichen Ursachen dieses Medienwandels. Auslöser dafür ist die grundlegende Veränderung des Rezeptionsverhaltens, also der Art und Weise, wann, wo und vor allem wie wir heute Informationen wahr- und aufnehmen. Ein Wandel, auf den die New York Times mit »Snowfall« eine erste Antwort zu geben wusste.

Wann

Die festen Rituale, die unsere Eltern pflegten, zum Beispiel das Lesen der Tageszeitung am Frühstückstisch oder während der Pendelfahrt zur Arbeit und die abendliche Zusammenfassung des Tages um 21.45 Uhr in der »Tagesschau« oder später um 1 Uhr im »Heute-Journal« – all diese Rituale sind einem kontinuierlichen Strom an Nachrichtenhäppchen gewichen. »Always On« und »Echtzeitkommunikation« lauten die Schlagworte, die beschreiben, wie wir uns mithilfe von WhatsApp, Twitter, Facebook und Co. im Minutenoder vielmehr Sekundentakt heute informieren.

Wo

Auch das Wo der Informationsaufnahme hat sich dramatisch gewandelt. Dem Leitmedium Print hatte das Fernsehen bereits in den 70ern den Rang abgelaufen, um heute von Tablet-Computer und Handy abgelöst zu werden. Die Zukunft der Kommunikation ist mobil und findet nach Meinung von Trendforschern bald auch mithilfe von Wearable Electronics wie Uhren, Accessoires oder gar Kleidungsstücken statt. Information löst sich von Zeit und Raum. Wir tragen heute das Wissen der Welt immer und überall bei uns.

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Abbildung 1-4 Als Fernsehen zum Leitmedium wurde: Vor dem Schaufenster von »Radio Hermann« in Neumünster ist der Andrang groß, als Deutschland 1954 Fußball-Weltmeister wird.

Wie

Noch viel grundlegender als das Wann und Wo sind jedoch die Veränderungen, die das Wie der Informationsaufnahme betreffen. Mit den Möglichkeiten der digitalen Kommunikation sehen wir einen radikalen Wandel des Rezeptionsverhaltens, also wie Menschen Informationen wahrnehmen, verarbeiten und weitergeben. Unübersehbar ist dabei die wachsende Bedeutung visueller Kommunikation.

Bild schlägt Text, in allen Bereichen: Bildern gelingt es im Netz besser, Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Bildern gelingt es besser, Leser zu interessieren und zu binden. Bildern gelingt es besser, Informationen merkbar zu machen und zu verankern.

Mit »Snowfall« machte die New York Times bereits Ende 2012 ein Kommunikationsangebot, das dieser Tatsache Rechnung trägt. Der Text der Geschichte ist ideal gekoppelt an seine visuellen Komponenten wie Bild, Bewegtbild und Infografiken, die die Aufmerksamkeit und das Interesse moderner Rezipienten ansprechen.

Definitiv einen Pulitzerpreis wert

Erfolgreiche Kommunikation von morgen erfordert eine neue Qualität des Erzählens. Eine Qualität, die nicht nur in der Kunst inhaltlich guter Storys liegt, sondern die auch die Darstellung und Präsentation guter Geschichten betrifft.

»Snowfall« kommt daher die Ehre zu, Mitbegründer einer neuen, modernen Art der Kommunikation und Informationsvermittlung zu sein, die zukunftweisend nicht nur für den Journalismus von morgen ist, sondern auch für erfolgreiche Unternehmenskommunikation und Marketing: die Kunst des visuellen Storytelling.

Die Zukunft der Kommunikation liegt definitiv im Bild. Schon heute prägen Bilder schließlich massiv die Medien und unsere Rezeption.

Abtauchen in den visuellen Tsunami

Eine Frage an Sie, lieber Leser: Sind Sie Smartphone-Besitzer? Dann blicken Sie doch einmal auf Ihr Handy und überprüfen Sie, wie viele Fotos Sie derzeit dort gespeichert haben. Sehen Sie doch gleich einmal nach.

2014 haben Schätzungen zufolge 1,5 Milliarden Smartphone-Besitzer weltweit über eine Billion Fotos produziert, jede Minute werden 200.000 Fotos auf Facebook gepostet, alle 60 Sekunden kommen 42.000 Bilder auf Instagram dazu, und wenn Sie diese Zeilen lesen, sind diese Zahlen mit Sicherheit schon weiter angestiegen.

Laut einer Schätzung von Kodak wurden im Jahr 2011 mehr Bilder gemacht als in der gesamten Zeit seit Erfindung der Fotografie.

Joseph Nicéphore Niépce benötigte 1826 acht Stunden Belichtungszeit, sowie eine mit Naturasphalt bestrichene Zinnplatte in der Größe 20 x 25 cm und eine Mischung aus Lavendelöl und Petroleum, um das erste Foto der Welt mit einer Camera obscura zu fixieren. Das Bild zeigt den Blick aus seinem Arbeitszimmer im französischen Saint-Loup-de-Varennes. Man erkennt den Rahmen des Fensterflügels, ein Taubenhaus, einen Baum, in der Ferne ein kleines Gebäude mit Pultdach und schließlich den Kamin eines Backhauses des Gutshofs, auf dem Niépce lebte und arbeitete.

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Abbildung 1-5 Joseph Nicéphore Niépce gelang 1826 erstmals das Fixieren eines Bildes auf eine Zinnplatte – das erste Foto.

So unspektakulär das Motiv der Aufnahme ist, so bahnbrechend war die Technologie, die dieses Bild ermöglichte. Niépce gelang die erste dauerhafte und bis heute erhaltene Fotografie. Leider war es ihm nicht vergönnt, diesen Triumph voll auszukosten, denn er starb sieben Jahre später. Sein Partner Louis Daguerre stellte erst nach seinem Tod, am 19. August 1839, der Öffentlichkeit die neue Technik vor – dieses Datum markiert die Geburtsstunde der Fotografie.

160 Jahre später erreicht die Fotoindustrie ihren Höhepunkt. 1999 wurden laut einer GfK-Studie 70 Millionen Kameras verkauft. Laut Kodak wurden in diesem Jahr 80 Milliarden Fotos geschossen. Und das ist nicht das Ende des Fotobooms. Nur 15 Jahre später, 2014, werden 10 Mal mehr Geräte verkauft, mit denen man Fotos machen kann. Doch dies sind keine Fotokameras mehr: Mit Einführung der Fotofunktion in Smartphones geht ab dem Jahr 2000 die Ära der Fotokamera stetig ihrem Ende entgegen.

2014 besaßen 41 Millionen Deutsche ein »intelligentes Telefon«. In nur wenigen Jahren war es dem Smartphone gelungen, zu unserem wichtigsten Gerät zu werden, einem Gerät, auf das wir nicht mehr verzichten können und wollen: »Smartphones und Tablet Computer verbreiten sich (...) nicht nur stetig, sondern werden auch zu unverzichtbaren Begleitern. So erklärten 2014 fast zwei Drittel der Smartphone-Besitzer (61 Prozent) ›gar nicht‹ auf das Gerät verzichten zu können. Bei Jüngeren unter 30 Jahre sind es sogar 74 Prozent. Eine ähnlich hohe Bedeutung haben nur noch Tablet Computer für ihre Nutzer. Hier wollen 58 Prozent ihr Gerät ›gar nicht‹ missen. Damit sind Smartphones und Tablet Computer weit wichtiger für ihre Nutzer als andere Hightech-Geräte wie herkömmliche Mobiltelefone, Laptops oder Desktop-PCs«, so eine Studie des Digitalverbandes Bitcom, der Deloitte 2014 mit einer Marktstudie zur »Zukunft der Consumer Electronics« beauftragte.

Zum Thema »Digitales Fotografieren« stellt die Studie weiter fest, »dass das Smartphone der dominierende Fotoapparat im Alltag geworden ist. Es dient allen Nutzern als Digitalkamera. Denn jeder Smartphone-Nutzer (100 Prozent) in Deutschland ab 14 Jahren macht mit seinem Gerät auch Fotos. Dieser Nutzungsgrad mag im ersten Moment unspektakulär anmuten, ist (...) aber bemerkenswert. Vor drei Jahren machte gerade einmal gut jeder dritte Smartphone und Handy-Nutzer (38) mit seinem Gerät auch Fotos. Wie sehr das Smartphone zum universellen Device geworden ist, zeigt sich nicht zuletzt an diesen Steigerungen.«

Und unter dem Titel »Das Smartphone – Der Deutschen liebster Fotoapparat« schreiben die Autoren: »Bereits 2013 hat sich gezeigt, dass das Smartphone im Vergleich zu digitalen Kompakt-, Spiegelreflex- sowie Systemkameras die beliebteste Kamera war. Sofern die entsprechenden Geräte im persönlichen Besitz des Befragten oder zumindest im Haushalt vorhanden waren, nutzten 62 Prozent ein Smartphone häufig oder sogar immer, um Fotos zu machen. (...) Diese Entwicklung erklärt sich neben der Tatsache, dass das Smartphone stets zur Hand ist, auch mit der immer besseren Kameraqualität. Einige Modelle schießen Fotos mit bis zu 38 Megapixeln Auflösung und verfügen über ein besonders helles Blitzlicht für dunklere Umgebungen. Entsprechend häufig werden Smartphones auch für Schnappschüsse im Alltag genutzt. Neun von zehn Smartphone-Nutzern (92 Prozent) machen spontane Schnappschüsse.«

Videotipp

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Photos Every Day (2013), Apple-Werbung für das iPhone 5, http://bit.ly/1lbRXIS.

2014 nahmen wir unser Handy im Durchschnitt 221 Mal am Tag in die Hand und 3,38 Mal, um zu fotografieren (Tecmark SmartphoneStudie 2014).

Die digitale Fotografie mit dem Handy erzeugt einen Strom von Bildern, einen Tsunami von Fotos. Mit dieser Masse an Bildern war noch keine Generation vorher konfrontiert.

Demokratisierung der Bildproduktion

Kommunikations- und Verhaltensforscher versuchen derzeit, unser neues Verhältnis zum Medium Bild zu analysieren und die Auswirkungen dieser Veränderungen einzuschätzen, doch noch ist das Phänomen des »visuellen Tsunami« relativ jung. Schon heute sind sich die Wissenschaftler jedoch darüber einig, dass sich unser Rezeptionsverhalten langfristig grundlegend ändern wird.

Einige Wissenschaftler ziehen Parallelen zu den Auswirkungen, die die Erfindung des Vinyls Ende des 19. Jahrhunderts und damit der Siegeszug der Schallplatte sowie die serielle Fertigung des Transistorradios Anfang der 50er Jahre auf den Umgang mit Musik hatten.

Alle diese technischen Errungenschaften halfen der Musik, »laufen zu lernen«, und das Medium Ton zu demokratisieren.

Jahrhundertelang war Musik eine Kunstform, die von Künstlern und professionellen Musikern »in Echtzeit« ausgeübt wurde. Musik auf hohem Niveau war einer Elite vorbehalten, die sich entweder eine Eintrittskarte für den Konzertsaal oder das Opernhaus leisten konnte oder die sich die Künstler selbst ins Haus holte.

Ende des 19. Jahrhunderts machten die Schellackplatte und später die Vinylplatte aus Polyvinylchlorid (PVC) dann das Unmögliche möglich: Musik wurde konservier- und reproduzierbar. Mit einer Schallplatte und einem Grammophon oder Plattenspieler konnte man sich seine Lieblingsmusik und Lieblingsmusiker einfach und bezahlbar nach Hause holen. Und schließlich brachte das tragbare Transistorradio Tonaufnahmen – Musik, Nachrichten oder auch Veranstaltungen und Sportereignisse – überall hin, wo man zuhören wollte, zu Hause, aber auch unterwegs. Erstmals waren Menschen live dabei, obwohl sie nicht vor Ort waren.

Ähnlich wie die Musik waren auch visuelle Ausdrucksformen wie Grafik, Foto und Film einst Künstlern und professionellen Anwendern vorbehalten. Abgesehen von den künstlerischen Fähigkeiten, die die Berufe des Grafikers, Fotografen und Filmemachers ausmachen, arbeiten diese Profis meist mit aufwändigem, kompliziertem und teurem Equipment, dessen Bedienung eine Ausbildung und jahrlange Erfahrung erfordert.

Heute hingegen kann jeder zum Grafiker, Fotografen und sogar Filmemacher werden – in nur wenigen Minuten, mithilfe eines Computers und eines Smartphones. Softwareprogramme und Apps stehen zur Verfügung, die die Fertigkeiten der Profis – in gewissem Rahmen – für jeden zugänglich machen. Sie sind leicht zu bedienen sind und obendrein oft auch noch kostenlos.

Jedermann hat heute Zugang zu Grafikprogrammen wie »Canva«, mit denen man in nur wenigen Schritten und ohne Vorwissen eine individuelle Grußkarte, ein Facebook-Banner oder eine Infografik erstellen kann.

Wer Fotos bearbeiten möchte, muss sich heute nicht mehr mühevoll in ein Programm wie »Photoshop« einarbeiten, sondern kann schnell und bequem die unterschiedlichen Filter und Bearbeitungstools nutzen, die »Instagram« zu bieten hat.

Der amerikanische Hersteller GoPro vermarktet Action-Kameras, die einfach zu bedienen sind und in jeder Lebenslage funktionieren, ob auf der Skipiste oder unter Wasser. Die Aufnahme erfolgt in hochauflösender HD-Qualität, in der auch Kinofilme gedreht werden.

Für den anschließenden Filmschnitt muss man nicht mehr teuer einen Schnittplatz und den dazugehörigen Cutter in einem Studio anmieten. Apple liefert zum Beispiel in seiner Standardausstattung das Schnittprogramm »iMovie« gleich mit.

Und wer seinen Film als Trickfilm animieren möchte, dem stehen kostenlose Programme wie »PowToon« zur Verfügung. Mit Apps wie »Vine«, »Meerkat« oder »Periscope« kann man seine Bewegtbilder dann auch gleich direkt vom Smartphone aus veröffentlichen.

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Abbildung 1-6 Wer herausfinden will, was der Instagram-Filter über seinen Nutzer aussagt, der klicke auf http://bit.ly/OfdExd.

Revolution von unten

Doch der Vergleich mit der Technisierung und Demokratisierung der Musik hinkt, denn Kommunikationswissenschaftler sehen in der Art, wie wir heute mit Bildern umgehen, einen entscheidenden Unterschied:

Vinyl und Radio befreiten den Ton aus dem Konzertsaal und ermöglichten einem breiteren Publikum Zugang zu professioneller Musik. Doch diese technischen Innovationen veränderten nur den Verbreitungsweg, nicht jedoch die Musikproduktion selbst. Schallplatte und Transistorradio brachten Musik in die Welt, damit sie überall und an jedem Ort zugänglich war und von jedem genossen werden konnte, doch die Musik selbst wird weiterhin von Künstlern und Musikern eingespielt. Zwar gibt es auch im Bereich Musik und Sound heute für Laien Computerprogramme und Apps, um einfach zu komponieren, aufzunehmen und abzumischen, doch der Großteil der Musikproduktion bleibt nach wie vor einem Kreis von Profis vorbehalten und wird – »top down« – an das Publikum weitergegeben.

Die Flut der Bilder funktioniert jedoch genau andersherum: »bottom up«. Nicht nur Profis, sondern wir alle kreieren heute visuelle Inhalte. Wir gestalten Grafiken, nehmen Fotos auf und produzieren Filme. Computer, Smartphones und die neuen Möglichkeiten der digitalen Welt helfen uns, in den Wettbewerb mit professionellen Grafikern, Fotografen und Filmemachern und sogar an ihre Stelle zu treten.

Jeder Mensch ist ein Künstler

Joseph Beuys prophezeite, dass eines Tages jeder Mensch zum Künstler werden würde, und Andy Warhol versprach jedem von uns 15 Minuten Ruhm.

Videotipp

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»Joseph Beuys – Jeder Mensch ist ein Künstler« von Werner Krüger, 1979, http://bit.ly/1yoWyOu.

Videotipp

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»15 Minutes: Andy Warhol«, Podiumsdiskussion zu Werk und Bedeutung von Andy Warhol, insbesondere seiner Fotokunst, veranstaltet von der Columbia University und der Brand Foundation, Mai 2014, http://bit.ly/1G4Iv6T.

Beide Prophezeiungen gehen nun in Erfüllung und nirgends ist dies so deutlich sichtbar wie im Bereich der visuellen Kommunikation, die nicht nur kontinuierlich zunimmt, sondern die von jedem einzelnen von uns täglich mitgestaltet wird.

Dabei ist besonders interessant zu beobachten, wie sich die Inhalte und Motive von Bildern, insbesondere Fotos und Filmen, durch die Demokratisierung der Mittel verändern.

Als man noch einen teuren Fotofilm in die Kamera einlegen musste, war die Anzahl der Aufnahmen begrenzt und dementsprechend jedes einzelne Bild »kostbar«. Motive wurden sorgfältig ausgewählt. Fotografiert wurde nur zu besonderen Anlässen. Man ließ sich Zeit und arrangierte viele Aufnahmen. Visuell festgehalten wurde Herausragendes und Erinnerungswürdiges, fotowürdig waren die geplanten, besonderen Momente des Lebens.

Heute, da uns die Digitalfotografie ermöglicht, eine unbegrenzte Anzahl von Bildern zu machen, überwiegen hingegen Schnappschüsse, Spontanes, Beiläufiges, Alltägliches.

Alles gerät ungefiltert ins Fadenkreuz der Kameralinse unseres Smartphones: unsere direkte Umgebung, unsere Wohnungen, Häuser, Straßen, Landschaften. Wir halten fest, wie wir leben, was wir essen, wie wir arbeiten, was wir in unserer Freizeit tun. Wir bilden Banalitäten ab. Wie wir aufstehen, frühstücken, aus dem Haus gehen, wieder heimkommen, zu Bett gehen. Wir dokumentieren, wo wir uns gerade befinden und mit wem wir zusammen sind.

Der Strom von Bildern ist Teil eines umfassenden Experiments: der Visualisierung und Dokumentation unseres Lebens in all seiner Alltäglichkeit und bis ins kleinste Detail.

Wir verlagern unsere Erinnerungen und unser Selbstverständnis nach außen – in die Bilder, die wir auf unseren Smartphones speichern. Und es hat fast den Anschein, dass wir uns durch diese Bilder auch selbst bestätigen und uns vergewissern, dass wir existieren – durch Bilder, die wir in der Tasche tragen und die wir mit unseren Freunden und der Öffentlichkeit teilen.

Es ist daher nicht erstaunlich, dass vor allem ein Motiv immer und immer häufiger zu sehen ist: wir selbst.

Ich, Ich, Ich

Am 11. Januar 2000 beschließt der Fotograf und Künstler Noah Kalina, sich täglich selbst zu fotografieren. Immer in der gleichen Pose und mit dem gleichen Gesichtsausdruck. Zwölfeinhalb Jahre lang produziert er jeden Tag ein »Selfie«.

Nach 4.545 Tagen montiert Kalina diese Bilder zu einem Film zusammen, den er auf Vimeo und YouTube veröffentlicht. »Everyday« zeigt die Wandlung eines jungen, glattrasierten 19-jährigen Teenagers zu einem reifen Mann im Alter von 32 mit Vollbart – in 4.545 Selbstportraits. Bis heute wurde Noah Kalinas Film auf YouTube über 26 Millionen Mal angesehen: ein Siegeszug des Selfies.

Seit Erfindung der Fotografie stand der Fotograf traditionell hinter der Kamera. Der Macher des Bildes war nie sichtbar, er blieb anonym.

Urlaubsfotos waren geprägt davon, dass man den Fotografen nie zu Gesicht bekam, als wäre er gar nicht vor Ort gewesen. Für eine gemeinsame Aufnahme musste man entweder einen Passanten um Hilfe bitten oder den Selbstauslöser bedienen und schnell ins Bild hechten.

Heute halten wir einfach unser Smartphone vor uns und die Sehenswürdigkeit. Wir müssen nicht mehr einen Fremden bitten und darauf hoffen, dass dieser den richtigen Ausschnitt wählt, sondern sind selbst Macher unserer Eigenaufnahme. Dabei zücken wir unseren Selfie-Stick, eine Verlängerungsstange, die es ermöglicht, das Smartphone weiter weg zu halten, und vergrößern sogar unseren Blickwinkel. (Museen wie das Metropolitan Museum in New York verbieten mittlerweile die Anwendung dieser Stöcke, da sie die Beschädigung ihrer Kunstwerke fürchten.)

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Abbildung 1-7 Eine Homage an das Selfie: »Everyday« von Noah Kalina, http://bit.ly/1h7xvLy

Wir sind von der Tatsache fasziniert, dass wir uns immer und jederzeit selbst fotografieren können, und es ist, als würden wir uns auf dem eigenen Bild besser erkennen.

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Überall Selfies im Netz, zum Beispiel: Naked Handstander (www.nakedhandstander.com): Seit fünf Jahren reist dieser anonyme Künstler um die Welt, um sich vor Sehenswürdigkeiten nackt, von hinten im Handstand, zu fotografieren. Das Fotoprojekt ist mehr als nur eine bebilderte Weltreise. Naked Handstander will mit seinem ungewöhnlichen Motiv auf die Wegwerfgesellschaft aufmerksam machen und die Tatsache, dass immer mehr Produkte für den schnellen Gebrauch gemacht werden und damit der Umwelt schaden. So vergänglich und überflüssig wie sein Handstand, sind auch viele Produkte, die wir täglich nutzen. Ungewöhnliche Selfies mit Tiefgang.

Follow me to (www.instagram.com/muradosmann): Der Fotograf Murad Osmann fotografiert seine Freundin Nataly Zakharova an den unterschiedlichsten Orten weltweit in der immer gleiche Pose. Sie zieht ihn an der Hand hinter sich her. In den herausragenden Bildern sieht man daher immer nur Osmanns Hand und den Rücken von Nataly. Die Instagram-Sammlung ist auch als Buch erschienen.

Das »Selfie« wird zum Spiegelersatz und zum erfolgreichsten Bildmotiv der Neuzeit: »Rund zwei Drittel (65 Prozent) der deutschen Smartphone-Nutzer ab 14 Jahren machen (...) sogenannte Selfies. Dies entspricht gut 25 Millionen Bundesbürgern. Jeder sechste Smartphone-Nutzer (16 Prozent) macht dies sogar häufig. Vor allem jüngere Smartphone-Nutzer machen gerne Schnappschüsse von sich selbst. 71 Prozent der 14- bis 29-jährigen nutzen ihr Smartphone für Selfies, bei den 30- bis 49-jährigen zwei Drittel (66 Prozent). Selbst von den Senioren über 65 Jahren nehmen 44 Prozent Selbstporträts mit der Handykamera auf. Mit 68 Prozent machen etwas mehr Männer als Frauen (62 Prozent) Fotos von sich selbst. Dabei werden Selfies nicht nur für eigene Erinnerungen aufgenommen. Drei von fünf Selfie-Machern (59 Prozent) teilen ihre Selbstporträts auch in sozialen Netzwerken. 16 Prozent verbreiten sie sogar häufig, ebenfalls 16 Prozent hin und wieder und 27 Prozent zumindest selten. Besonders stechen die jüngeren Altersgruppen zwischen 14 und 29 Jahren hervor. Bei ihnen versenden fast zwei Drittel (64 Prozent) ihre Selfies über Facebook, Google+ oder Instagram.« Wie die hier zitierte Bitcom-Studie »Die Zukunft der Consumer Electronics 2014« zeigt, nehmen wir Selfies nicht nur für uns selbst auf, sondern teilen einen Großteil dieser Aufnahmen mit Freunden und unserer digitalen Community.

Wir sind also nicht nur Produzenten unserer selbst, sondern zugleich auch Distributoren. Social Media und Co. befähigen uns, unsere Werke jederzeit zu veröffentlichen und sie weiter zu verbreiten.

Elf Prozent aller aufgenommenen Fotos werden geteilt, und dies innerhalb von nur 60 Sekunden nach der Aufnahme. Bildern kommt demnach eine andere Funktion und Bedeutung zu als zur Zeit von Fotokamera und Fotofilm. Heute dienen Fotos nicht mehr nur dem Einfrieren spezieller Momente und Festhalten erinnerungswerter Augenblicke, sondern sie werden mehr und mehr als universelle Form der Konversation genutzt.

Das Festhalten und anschließende Teilen banaler Alltagsaufnahmen, in denen wir dokumentieren, wo wir uns gerade befinden, mit wem wir zusammen sind, mit was wir uns beschäftigen oder gar was wir essen – all diese Foto-Posts und Shares ersetzen zunehmend Textkonversation. Fotos übernehmen die Funktion von Worten. Statt Buchstaben benutzen wir Bilder, um uns auszudrücken.

»Words are so Generation Y«