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Haupttitel
Fritz Krafft

Die wichtigsten
Naturwissenschaftler
im Porträt

marixverlag
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ISBN: 978-3-8438-0220-8
 
www.marixverlag.de

Vorbemerkungen

Mit »Zwergen, die auf den Schultern von Riesen stehen«, diese nur deshalb überragen und nur deshalb einen besseren Überblick haben, charakterisierte Bernhard von Chartres, ab 1114 Lehrer, später auch Kanzler der Schule von Chartres, treffend das Bewusstsein von dem damit verbundenen Aufbruch zu einem neuen, nicht mehr an den biblischen Wundern, sondern an den großen Leistungen der Griechen orientierten Natur- und Weltverständnis. In ungewöhnlich kurzer Zeit war damals dem christlichen Abendland durch Übersetzungen einschlägiger Werke der Griechen aus dem Arabischen und Griechischen eine ungeheure Wissensfülle übermittelt worden, zu deren Anhäufung immerhin mehr als anderthalb Jahrtausende erforderlich gewesen waren. Dieses Bild lebte dann während des mit einer Abkehr von den in der Renaissance aus den Originalen wiedergewonnenen antiken Vorstellungen verbundenen Aufbruchs in die neuzeitliche Naturwissenschaft, auch als ›Wissenschaftliche Revolution‹ bezeichnet, wieder auf; und auch das 20. Jahrhundert bediente sich dieses Bildes zur Charakterisierung der eigenen intellektuellen Situation.

Im Sinne der mit diesem Bild verbundenen Einschätzung wird in diesem Bande die Bedeutung von einigen Naturwissenschaftlern und ihren Beiträgen zum Wissen ihrer Zeit weniger aus der Sicht dieser ›Zwerge‹ bestimmt, die ja durchaus von ihrer Zeit auch als ›Riesen‹ eingestuft worden sein können, also nicht von ihren Beiträgen zu der ›normalen Wissenschaft‹ im Sinne von Thomas S. Kuhn (1962) her. Vielmehr sind solche Naturwissenschaftler und Denker als die ›wichtigsten‹ aufgenommen worden, die, um im Bild zu bleiben, die Schultern der ihnen vorangegangenen ›Riesen‹ erstiegen haben, um aus einem anderen Blickwinkel das Sehen der nachfolgenden Naturwissenschaftler neu zu prägen – wenn diese sich auch nicht immer sogleich von dessen Vorteilen überzeugen ließen. So finden sich hier sicherlich für manchen Naturwissenschaftler fremde oder sogar unbekannte und nicht als ihrem Kreise zugehörig empfundene Gestalten und Vorstellungen, die aber über Jahrzehnte und Jahrhunderte, teilweise (wie im Falle des Aristoteles) sogar über Jahrtausende das naturwissenschaftliche Denken insgesamt oder innerhalb einer Disziplin bestimmten. Da diese später überwunden wurden und meist heute nicht mehr zum Repertoire der modernen Naturwissenschaften gehören, war allerdings erforderlich, etwas ausführlicher auf deren heute ungewohnten Vorstellungen und Denkweisen einzugehen. Dabei wurde stets darauf geachtet, die neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse mit der Biographie desjenigen, der sie erbracht hat, zu verknüpfen, soweit sie durch diese bedingt und beeinflusst waren, und aus dem Zusammenhang mit den Ideen und Vorstellungen heraus darzustellen, die vorgefunden wurden oder vorherrschten, und gegen diese abzusetzen.

Der Stellenwert dieses Bandes liegt so zwischen einer Sammlung monographischer Ergobiographien, einer Wissenschafts- oder Disziplingeschichte und einem Lexikon. Auch deshalb sind die ergobiographischen Porträts hier nicht in alphabetischer Abfolge angeordnet, sondern chronologisch (nach Geburtsdaten). So fallen auch Kontroversen und gleichzeitiges Wissen in einer Disziplin und in der Naturwissenschaft insgesamt besser ins Auge; und es zeigt sich, wie von verschiedenen Seiten her eine Erkenntnis gleichsam vorbereitet und spruchreif gemacht wurde, wie alles nach einer Neuerung gleichsam lechzte, und diese dann meist auch sofort Aufnahme fand. Sinngerecht hört diese Sammeldarstellung denn auch mit dem Ende des 19. Jahrhunderts auf, als der von vielen so empfundene Abschluss der Naturwissenschaften mit neuen, unerwarteten Mitteln und Erkenntnissen wieder in weite Ferne gerückt wurde. Erste Schritte dorthin, die gleichzeitig alte Widersprüche auf neuartige Weise überwanden, sollten unter anderen sein: das noch an das Ende des 19. Jahrhunderts gerückte Plancksche Wirkungsquantum, die weitere Erschließung subatomarer Strukturen im Kleinen und einer weit über das vorerst als Gesamtkosmos aufgefasste Milchstraßensy­stem hinausgehenden Welt der Galaxien im Großen, die spezielle Relativitätstheorie mit ihrer Zusammenfassung der vorher widersprüchlichen Mechanik und Elektrodynamik. Trotz grundsätzlichem Vermeiden einer teleologischen Geschichtsbetrachtung, sollte so auch deutlich werden, wie die einzelnen Disziplinen sich diesem Wechsel annäherten und ihn vorbereiteten, wenn auch nicht als vorhergesehenes und angestrebtes ›Ziel‹, sondern als Konsequenz aus Vorangegangenem, gleichsam kausal bedingt aus dem jeweiligen ›Erfahrungsraum‹ der Forscher und ihrer Wissenschaften heraus.

Weimar (Lahn) im Dezember 2006 Fritz Krafft

Durchgesehene Neuauflage

Die gute Aufnahme des Bandes Die wichtigsten Naturwissenschaftler im Porträt erfordert schon nach vier Jahren eine Neuauflage – und bot damit gleichzeitig die Gelegenheit, kleinere Ergänzungen und Korrekturen vorzunehmen sowie Druckfehler auszumerzen. Eine Erweiterung war im vorgesteckten Rahmen der Reihe nicht möglich. Die Auswahl der Naturwissenschaftler über die ganz großen hinaus ist ja auch sowieso subjektiv. Bei aus anderer Sicht durchaus berechtigter Kritik daran sollte dann aber wenigstens das hier gewählte Kriterium des zeitlichen Rahmens beachtet werden.

Wie zu meinem Band Die bedeutendsten Astronomen< innerhalb der Reihe marix-wissen wird jetzt auch für diesen Band auf der Homepage des Verfassers eine laufend aktualisierte Zusammenstellung Weiterführender Literatur zum Einsehen und Herunterladen zur Verfügung gestellt:

<http://www.staff.uni-marburg.de/~krafft/Buecher/htm>, zum Titel Nr. 53 verlinkt.

Sie enthält neben allgemeinen biographischen Nachschlagewerken jeweils zu den einzelnen, alphabetisch aufgeführten Naturwissenschaftlern Werke und Werkausgaben sowie gegebenenfalls Übersetzungen, Bibliographien und monographische (ergo-)biographische Literatur.

Weimar (Lahn), im Dezember 2011 Fritz Krafft

Milesische Naturphilosophen

Thales

(* um 650 v Chr. Milet, † um 560)

Anaximandros

(*um 610 v. Chr. Milet, † 546)

Anaximenes

(*um 580 v. Chr. Milet, † um 520)

Über Einzelheiten des Lebens der drei großen milesischen Na­turphilosophen unter den sogenannten vorsokratischen Den­kern, denen wir die Grundlegung naturwissenschaftlichen Denkens verdanken, ist sehr wenig bekannt. Was sie vereint, ist die Herkunft aus Milet, einer der griechischen Kolonien an der klein­asiatischen Westküste, in denen durch den regen Handel mit den östlichen Anrainern fremdes und teilweise widersprüchliches Wissen der verschiedenen vorderasiatischen Hochkulturen einströmte und regelrecht nach Erklärungen auf der Grundlage des abweichenden griechischen (religiösen) Denkens verlangte. Ihre Schriften sind nur noch aus wenigen Zitaten und Berichten späterer Autoren bekannt; sie stammen aus der Frühphase griechischer ›Literatur‹, als die Verbreitung von nicht gebundenen Prosaschriften noch regional begrenzt blieb, so dass eine für das Entstehen und Verbreiten wissenschaftlicher Ideen und Erkenntnisse erforderliche Gemeinschaft noch von einer kleinen lokalen geistigen Elite gebildet wurde und noch nicht auf eine schriftliche Kommunikation als Diskussions- und Verbreitungsinstrument einer ›Wissenschaftlergemeinschaft‹ zurückgreifen konnte.

Während die Schrift des Anaximandros mit dem vermutlichen Titel ›Über die Natur‹ bis ins 2. vorchristliche Jahrhundert bekannt blieb, lag eine Schrift von Thales schon Aristoteles nicht mehr vor. Bekannt waren daraus nur einzelne markante Sätze, die darauf hindeuten, dass es sich um einen sogenannten ›Periplous‹ handelte, eine Reisebeschreibung längs des Küstenverlaufs des Mittelmeeres mit Schwergewicht auf den Häfen und gelegentlichen Hinweisen auf Besonderheiten im Hinterland, bei Thales vor allem in Ägypten, das er als Händler bereiste. Ägypten, in dem seit dem 8. Jahrhundert in Naukratis eine griechische Handelsniederlassung bestand, hat die Griechen stets besonders interessiert, so dass die Erklärung von Besonderheiten, die von ihnen bekannten Begebenheiten abwichen, auch früh gesammelt und von den Doxographen immer wieder ergänzt wurden – dazu gehörten die Pyramiden als eines der Weltwunder (Thales berichtete von der geome­trischen Höhenmessung der Ägypter), aber vor allem die Nilschwelle mitten im Sommer, wenn die Flüsse in Griechenland völlig ausgetrocknet waren (Thales versuchte sie erstmals rational als einen durch die in Griechenland zeitgleich aus Norden wehenden Etesien verursachten Rückstau des Nil-Wassers zu erklären).

Auf vorwiegend rationaler Grundlage, wie sie vor ihm schon von Thales erarbeitet worden war, indem er aus zeitgleichen Phänomenen eine ursächliche Abhängigkeit erschloss, ohne jedoch bereits Einzelerklärungen zu einem einheitlichen System zusammenzufassen, stellt die Schrift des Anaximan­dros eine alle Bereiche der Natur umfassende Synthese griechischen Ordnungsdenkens, wie es auf kosmogonischer Ebene die ›Theogonie‹ des Hesiodos repräsentiert (die als epische Dichtung überall in Griechenland von Rhapsoden vorgetragen wurde), und vorderasiatisch-ägyptischem kosmogonischen und naturkundlichen Wissens dar und sollte damit Wesen und Zielsetzungen wissenschaftlicher Naturbetrachtung der Griechen bestimmen. Die theo­gonische Kosmogonie des Hesiodos, der, um seine Ideen dem Zuhörer verständlich zu machen, noch des mythologischen Gewandes agierender Göttergestalten (als Naturhypostasen) bedurfte, wird dabei weitgehend entgöttert, wenn auch die Göttlichkeit des Gesamt-Kosmos erhalten bleibt. Er führte damit einen Ansatz bei Thales weiter, der noch davon ausgegangen war, dass »alles voller Götter sei«, diese sich aber nicht mehr als Personen, sondern als Bewegung und Leben (Veränderung) verursachendes Prinzip dachte, so dass er auch einerseits die Seelen als göttlich und andererseits den (Eisen bewegenden) Magneten als beseelt bezeichnen konnte.

Im Anschluss an das göttliche ›Chaos‹, das bei Hesiodos als erstes da war und in dem die folgenden, in schrittweiser Vervollkommnung die Fülle der materiellen und immateriellen Erscheinungen dieser Welt bis hin zur schließlich obsiegenden Generation von Zeus, der meist des Versmaßes wegen mit »Geist des Zeus« (Δις νόος) umschrieben wurde, also eine rationale Ordnung der Welt garantieren sollte, verkörpernden Göttergenerationen entstehen, nimmt Anaximandros als Urstoff und Urprinzip alles Seienden ein quantitativ und qualitativ noch nicht Bestimmtes, das ›Apeiron‹ an, dem auch dieselben Attribute wie den Göttern bei Hesiodos zuerkannt werden. Es ist kein eigentlich physikalisches Prinzip, sondern wiederum wie bei Hesiodos ein eher biologisches: Es soll aufgrund eines ewig bewegenden Zeugungsprinzips aus sich die Gegensätze des Warmen und Kalten, des Trockenen und Feuchten ›gebären‹. Diese qualitativ bestimmten gegensätzlichen Ausscheidungen hätten sich als Wasser und Feuer in Schichten um die wohl wie bei Hesiodos spontan nach und in dem Apeiron entstandene, jetzt jedoch frei schwebende feste Erdscheibe gelegt – Wasser innen, Feuer außen. Die Gegensätze sollten dann aufeinander einzuwirken: Das Feuer verdunste das die Erde bedeckende Wasser allmählich – die Erde erhalte trockene Stellen, die Meere würden immer kleiner und salziger –, und dieses lege sich als feuchter, undurchdringlicher Nebel unter das Feuer und »wie die Rinde um einen Baum« um dieses herum, so dass sich große mit Feuer gefüllte Nebelschläuche ergäben, die sich wie Räder um die Erde drehten. Sonne und Mond bestünden aus je einem solchen radförmigen Schlauch von der Dicke eines Erdradius, und was uns als Sonne und Mond erscheine, sei das aus einem kreisförmigen Loch in den Schläuchen »wie von einem Blasebalg« zur Erde hin geblasene innere Feuer. Der innere Durchmesser der Schläuche betrage für die Sonne 3×9, also 27, und für den Mond 2×9, somit 18 Erddurchmesser. Innerhalb von ihnen befinde sich die vermutlich wie bei Anaximenes ›eisartig‹ (kri­stallen) gedachte Himmelshohlkugel mit einem Durchmesser von 1x9 Erddurchmessern, durch die das äußere Feuer als Fixsterne durchschimmere – die Planeten werden nicht berücksichtigt und waren Anaximandros wohl noch nicht bekannt. Die Erdscheibe, deren Höhe einem Drittel ihres Durchmessers entspreche, schwebe frei in der Mitte, weil ein hinreichender Grund fehle, warum sie sich eher zu der einen als zu einer anderen Seite bewegen sollte.

Die frühen Denker wurden von den späteren Doxographen nach Lösungen bestimmter Probleme abgefragt, so auch Thales danach, wie er sich denn den ›Halt‹ der Erde vorstelle, und man fand: Die Erde schwimmt auf dem Wasser. Nur war bei ihm die Fragestellung eine andere gewesen, wie schon die Kritik bei Ari­stoteles zeigt, der vermisst, wie Thales dann dem Wasser Halt geben wolle. Für letzteren ging es um Einzelprobleme wie die schwimmenden Inseln in Ägypten und Einzelerklärungen etwa von Erdbeben: Wie ein Schiff im Sturm schwanke und leck schlage, so auch die Erd(scheib)e bei einem Erdbeben, bei dem neue Quellen entstünden; auch tauche sie wie ein solches Schiff beim Entladen der Fracht nach und nach weiter aus dem Wasser hervor, sie ›werde‹, wie Thales sagte. Er erklärte damit sicherlich bestimmte geologische Erscheinungen wie das Auftreten maritimer Fossilien in großen Höhen, das Anaximandros dann umgekehrt auf ein Sinken des Meersspiegels aufgrund der Verdunstung des Wassers zurückführte; erst die spätere Doxographie bei Aristoteles machte aus der älteren Erklärung bei Thales im Sinne der Fragestellung seiner eigenen Zeit das ›Entstehen‹ eines ›Urstoffes‹ Erde aus dem Wasser als dem ›Urstoff‹ für alles.

Der in geometrischen Proportionen geformte Kosmos war für Anaximandros allerdings nur sein gegenwärtiger Zustand; denn ähnlich wie das vom Feuer besiegte Wasser seinerseits das Feuer besiege, entstünden alle Dinge dadurch, dass sie sich durch ein Überschreiten ihrer Grenzen an die Stelle eines anderen setzten und aus diesem entstünden, sich also schuldig machten. Die ihre Schuld wieder ausgleichende Sühne bestehe darin, dass ihnen dasselbe Schicksal widerfahre. So entstünden in ständigem Wechsel die Dinge wie Sommer/Winter, Tag/Nacht, Geburt/Tod usw. Auch das Austrocknen und Überschwemmen der Erde erfolge abwechselnd nach solchen Perioden, so dass es viele ›Welten‹ (im Sinne von ›Kosmos‹ als geordnetem Zustand) nacheinander gebe und die gegenwärtige zu bestehen aufhöre, wenn alle Feuchtigkeit der Erde entzogen sei.

In den Prozess des Verdunstens des Wassers und des Trockenwerdens der Erde bezog Anaximandros konsequent alle atmosphärischen Erscheinungen und Lebensprozesse mit ein: Vormals könne es nur aus dem Urschlamm entstandene Wassertiere gegeben haben, so dass auch der Mensch ursprünglich in einem solchen aufgewachsen sei – noch heute bedürfe er deshalb langer mütterlicher Fürsorge. Auch die maritimen Fossilien und Muschelschalen in gegenwärtig vom Meer abgeschlossenen Höhen finden aus diesem Zusammenhang heraus ihre Erklärung. Jenes Schuld-und-Sühne-Prinzip, das der menschlichen Sphäre entnommen wurde und sich im Ansatz auch bei Hesiodos schon als Grund für die Machtfolge der einzelnen Göttergenerationen fand, kann durch die Übertragung auf alles Geschehen in der Natur als erstes Erkennen einer Art von Naturgesetzlichkeit aufgefasst werden. Auch die geometrische Formung des Kosmos und der Erde, deren angenommene Verhältnismaße es Anaximandros ermöglichten, einen ersten Himmelsglobus und eine erste Erdkarte nach diesen Proportionen zu konstruieren, ist eine der Voraussetzungen für die spätere Wissenschaft von der Natur. Mit Hilfe von Schattenmessungen mit dem von den Babyloniern übernommenen Gnomon gelang ihm zudem erstmals eine Bestimmung der Mittagshöhe der Sonne zur Zeit der Sonnenwenden, deren Zustandekommen er meteorologisch erklärte, und damit der Schiefe der Ekliptik, die für die Lage seiner Gestirnsräder wichtig war. (Die erscheinende Bewegung der Gestirne beruht hiernach auf einer täglichen Drehung des schlauchförmigen Rades um die Erde, überlagert von einer dazu rechtwinkligen Auf- und Ab­bewegung des gesamten Rades im Rhythmus der Sonnenwenden.) – In des Anaximandros umfassendem kosmologisch-kosmogonischen Gedankengebäude werden Beobachtungen noch stark verallgemeinert, und es wird noch nicht getrennt zwischen physischem, biologischem, menschlichem und mathematischem Bereich. Aber ein Anfang war getan, und die Nachfolger konnten es an den Phänomenen messen, fehlende Aspekte ergänzen und unsachgemäß erscheinende verwerfen und damit allmählich die Grundlagen für eine Wissenschaft von der Natur legen.

Anaximandros’ jüngerer Landsmann Anaximenes gab beispielsweise dem noch völlig unbestimmten ›Apeiron‹ eine Bestimmtheit im Sinne dessen, was später ›Materie‹ wurde, und fasste als das bleibende Urprinzip dieser ›Materie‹ die Luft auf, aus der aufgrund des physikalischen Prozesses der Verdichtung und Verdünnung alle Erscheinungsformen (Dinge) entstehen und bestehen sollen. In verdichtetem Zustand werde Luft feucht, kalt und träge und erscheine als Wolken, Wasser, Eis und schließlich feste Stoffe, verdünnt werde sie trocken, warm und beweglich und erscheine als feurig-glühend. Die Welt und alle Dinge bestünden folglich aus ›Luft‹ in jeweils anderem Zustand; sie entstünden und veränderten sich in qualitativen Prozessen. Alle Unterschiede seien relativ, und die Kenntnis einer Eigenschaft vermittle jene der mit ihr jeweils in analoger Relation zusammen auftretenden, zum Teil den Sinnen verborgenen von selbst. Anaximenes gelang durch die physikalische Umbildung des ›Apeiron‹ eine für seine Zeit recht plausible Erklärung verschiedenartiger Erscheinungen und ihres Entstehens, von solchen meteorologischer und astronomischer bis zu solchen seismischer Art. Für die Erde meinte er jedoch wieder einen Halt annehmen zu müssen: Er lässt ihre flache Scheibe »wie ein dünnes Blatt« auf der Luft schwimmen, was allerdings zur Folge hat, dass er den ›eisartigen‹ (kristallenen) Himmel, an den die Fixsterne »wie Nägel geheftet sind«, nicht mehr als Hohlkugel ansehen kann: Er bestünde nur aus einer Glocke, die sich »wie ein Hut um den Kopf« schräg zur Erd­ebene um die Erdscheibe drehe. Hohe Randgebirge ließen die Fixsterne für uns unsichtbar werden und scheinbar untergehen. Ähnliches soll für Sonne, Mond und eine unbestimmte Anzahl anderer ›Gestirne‹ gelten, die als flache Scheiben aus verdünnter (selbstleuchtender) Luft sich schnell durch die ›Lüfte‹ bewegten oder als solche aus verdichteter (dunkler) ›Luft‹ von Winden unter dem Himmel umhergetrieben würden, ohne unter der Erde hindurch zu ziehen; vielmehr würden sie um die Erde herumziehen und bei ihrem scheinbaren Untergang sich so weit entfernen, dass die Randgebirge sie der Sicht der Erdbewohner entzögen. Der Mond, dessen Fremdlicht Anaximenes erstmals erkannte, sei eine solche dunkle erdige Scheibe, andere verursachten die Finsternisse von Sonne und Mond.

Die Grundzüge der kreisförmigen Erdkarte von Anaximan­dros lassen sich rekonstruieren, da Hekataios, der ebenfalls aus Milet stammte und dort wirkte, sie verbesserte und Teile von seiner Karte sich aus der Kritik erschließen lassen, die Herodotos aus Halikarnassos, der ›Vater der Geschichtsschreibung‹, daran aus besserer Anschauung heraus üben konnte. Die durch Mittelmeer, Schwarzes Meer und Phasis in Europa und Asien halbierte, vom Okeanos umflossene Erdscheibe (deren Südhälfte später durch den Nil nochmals in Afrika und Asien unterteilt wurde) setzt sich danach aus geometrischen Figuren zusammen, die durch Flüsse, Küsten, Gebirge und anderes als natürliche Grenzen gebildet werden. Diese ›ionische‹ Erdkarte in T-Form blieb bis Eratosthenes maßgeblich und wurde auch noch im Mittelalter verwendet, jetzt mit Jerusalem statt des »Nabels der Welt« Delphi als Mittelpunkt.

Anaxagoras

(*um 500 v. Chr. Klazomenai/Kleinasien,
† um 425 Lampsakos)

Empedokles

(um 485 v. Chr, Akragas [heute Agrigento], † um 425)

In Milet, wo seinerzeit allem Anschein nach eine erste Philosophenschule bestand, wurde auch der aus dem nahen Klazomenai stammende Anaxagoras stark durch die Lehren von Ana­ximandros und Anaximenes beeinflusst und kam dann um das Jahr 480 in das noch altgläubige Athen, wo er mit seinen die Welt entmythologisierenden aufklärerischen Lehren rasch bedeutende Männer wie Perikles und Euripides zu Freunden und Anhängern gewann. Um das Jahr 430 v. Chr. wurde er jedoch gerade wegen dieser Lehren der Gottlosigkeit (Götterleugnung) angeklagt – wie später Sokrates. Allein das Eingreifen von Perikles bewahrte ihn vor der Todesstrafe. Er musste allerdings Athen verlassen und begab sich nach Lampsakos am Hellespont, wo er nach wenigen Jahren hoch geachtet verstarb.

Empedokles, dessen Wanderleben als Redner, Arzt, Sühnepriester und ›Magier‹ ihn durch Sizilien und die Peloponnes führte, war wie Pythagoras eine jener frühen, offenbar vom Orient her beeinflussten mystischen Gestalten, die heilend, ordnend und schlichtend durch die Lande zogen, scheinbar mit übernatürlichen Kräften über die Elemente und Geister ausgerüstet – wie sich Empedokles durchaus auch selber sah – und von ihren Anhängern abgöttisch verehrt, weshalb sie schnell von vielen Legenden umrankt waren. Empedokles war die wohl profilierteste dieser widersprüchlichen Persönlichkeiten. Er bediente sich für die ›Verkündung‹ seiner Erkenntnisse und Lehren auch hexametrischer Lehrgedichte in der gebundenen Sprache des Epos, die auch wie Ilias und Odyssee von Rhapsoden vorgetragen und so verbreitet wurden. Aus umfangreichen Fragmenten sind noch zwei seiner großartigen Dichtungen in groben Umrissen bekannt, von denen die später ›Über die Natur‹ benannte seine Naturlehre enthielt.

Beide unternahmen gleichzeitig mit den Atomisten Leukippos und Demokritos die drei älteren Versuche, das allein erkennbare unveränderliche Sein der Ontologie des aus Elea stammenden Parmenides mit der von den milesischen Naturphilosophen erkannten Veränderlichkeit aller natürlichen Dinge in Einklang zu bringen, wonach, wie Herakleitos pointiert formulierte, ein Ding etwas ist (eine Eigenschaft hat: groß, bunt, hart usw.) und im nächsten Augenblick dies nicht (mehr) ist. Solches Loslösen der Kopula ›ist‹ aus dem Satzverband, das ihr ohne das Prädikativum den Sinn einer Aussage schon selber beimisst, so dass dasselbe ist und nicht ist, führte Parmenides zu einer strengen Scheidung von Sein und Nicht-Sein: Das Sein (oder das Seiende) selbst sei der gewohnten sinnlichen Erfahrbarkeit entrückt, sei nicht-gegenwärtig, anderswo als das sinnlich Erfahrbare; es sei als Nicht-Gegenwärtiges nur durch die Fähigkeit zu erfassen, die Fernes vergegenwärtigen kann, durch die Vorstellungskraft, das Denken. Da Gleiches Gleiches erkenne, seien erkennendes Subjekt und erkanntes Objekt, seien Denken und Sein identisch; und da es nicht unterschiedliches Denken gebe, sei auch das Sein (das Seiende) ein einheitliches und unterschiedsloses, das Eine, das keiner Veränderung (Bewegung), keinem Entstehen und Vergehen ausgesetzt sein könne. Das Nicht-Seiende wäre das Körperlose und Leere. Da das Sein sowohl das Volle als auch das Reale sei, könne ein Leeres nicht sein; das Sein sei dagegen das alles Ausfüllende und damit die alles umfassende (sphärische) Einheit. Allein diese Gemeinschaft alles Seienden sei denkbar, und damit auch erkennbar, nur von ihm ließen sich aufgrund seiner Unveränderlichkeit allgemein gültige, ›wahre‹ Aussagen treffen. Einzeldinge können nicht gedacht werden. Ihre sinnlich wahrnehmbare Vielheit und Gesondertheit rühre von der Trennung durch die nicht reale Leere her; folglich seien sowohl ihre Vielheit als auch ihre Bewegung und Veränderlichkeit nicht-seiend, und deren scheinbare Erfahrbarkeit beruhte auf bloßem Trug und Schein, man könne etwas über sie meinen, aber nicht denken und wissen. – Diese zwei ›Welten‹ bilden dann auch die Grundlage für die Ideenlehre eines Platon.

Unter dem Einfluss dieser Ontologie musste die Veränderlichkeit der wahrnehmbaren natürlichen Welt relativiert werden, um ihr ›Sein‹ im Sinne von ›Existenz‹ zu wahren, und dazu bedurfte es einer Vervielfältigung dieses parmenideischen Seienden, um die Veränderlichkeit dieser Welt im Sinne des Parmedides als scheinbar erklären zu können: Es gebe keine Veränderung, kein Entstehen oder Vergehen; was so erscheint, sei bloße Mischung und Trennung von unveränderlichem Seienden in Form von notwendig gleichartigen Partikeln.

Empedokles legte vier unveränderliche ›Wurzelkräfte‹, die späteren Elemente Erde, Wasser, Luft und Feuer, als materielles Sein zugrunde, ergänzt durch die verbindende ›Liebe‹ und den trennenden ›Streit‹ als bewegende Kräfte. Diese ließen aus der ursprünglich gleichmäßigen Verteilung der Elemente innerhalb des ›Sphairos‹ (wie bei Parmenides) den Kosmos entstehen und bewirkten an den Grenzen zwischen Erdscheibe und Luft/Feuer-Reich ein ständiges vermeintliches ›Entstehen‹ und ›Vergehen‹. Die einzelnen Partikel mischten sich mechanisch, wenn sie in ihren äußeren Formen zu- und ineinander passten, doch weitgehend zufällig und ohne Plan. Eine Teleologie fehlt noch gänzlich: In der stufenweisen Entwicklung der Lebewesen seien vielmehr die anfänglichen, zufällig zusammengekommenen Miss- und Mischgestalten im Kampf ums Dasein den tauglicheren Formen der Lebewesen mit zueinander passenden Organen unterlegen gewesen.

Diese erste Elementenlehre, die auf die Folgezeit besonders mit ihrer Vierzahl unterschiedlicher Partikel starken Einfluss ausübte, ist verbunden mit einer umfassenden naturphilosophischen Theo­rie, der Porenlehre, mit deren Hilfe es Empedokles gelang, zahlreiche Erscheinungen und Wirkungen einheitlich zu erklären: Alle Partikel besäßen Poren, die ineinander passten oder nicht, die Gänge offen ließen (Durchsichtigkeit) usw. Die fünf Wahrnehmungsarten konnten so erstmals auf einen gemeinsamen Nenner gebracht werden: Wie beim Tasten und Schmecken müsste auch für die anderen Sinne ein Kontakt zwischen Wahrgenommenem und den Sinnen stattfinden. Er denkt dabei an feine Ausflüsse der wahrgenommenen Dinge, die genau in die Poren der entsprechenden Sinnesorgane passen. Treffe Passendes aufeinander, so werde wahrgenommen. Das Blut bilde die harmonischste Mischung und reflektiere die Wahrnehmungen als Denkorgan.

Anaxagoras erklärt die Veränderlichkeit der Natur mit der Annahme, dass alle Dinge und Stoffe bereits in allem vorhanden seien, so dass nichts neu ›entstehe‹: Wachse ein Lebewesen nach Aufnahme von Nahrung, bildeten sich also aus dieser organische Stoffe wie Fleisch und Knochen, so müssten solche Knochen- und Fleischteilchen, da Veränderungen nicht möglich wären, bereits in der Nahrung enthalten gewesen sein. Auch diese Idee wird konsequent zu Ende gedacht: Alle Stoffe seien in unendlich kleinen gleichartigen Teilchen von unendlicher Anzahl, die Aristoteles später ›Homoiomerien‹ nannte, in jedem noch so kleinen Stückchen Materie enthalten. Welche Teilchenart überwiege, als das erscheine uns ein Ding oder Stoff. Entstehen und Vergehen werden als Zusammen- und Auseinandertreten vorwiegend gleichartiger Teilchen gedeutet. Ursprünglich seien sämtliche Teilchen, zu einer notwendig qualitätslosen Masse gemischt, gleichmäßig verteilt gewesen. Von dem neben dem Stoff bestehenden ›Geist‹ in Bewegung gesetzt, sei es allmählich zu einer Scheidung gekommen. Verwandtes strebte zueinander und vergrößerte, selbst bewegt, den allgemeinen Wirbel, in dessen Mitte sich schließlich die flache Erdscheibe aussonderte, wie ein Deckel von der Luft getragen. Der Wirbel der feurig-ätherischen Luft habe der festen Erde dann Felsmassen entrissen, emporgetragen und teilweise zum Glühen gebracht. Dies seien die leuchtenden Gestirne, während andere, dunkle Massen in den unteren Himmelsregio­nen herumwirbelten, uns mit Ausnahme des Mondes, der das Sonnenlicht reflektiere, unsichtbar – Anaxagoras erkannte erstmals die Bedeutung der Stellung des Mondes zur Sonne für die Phasenbildung und deutete die Helligkeitsunterschiede als Berge und Täler auf dem bewohnten Mond; auch das Entstehen von Sonnen- und Mondfinsternissen erklärte er richtig. Das Entstehen einer Leere sei gar nicht möglich, weil Winde als Wärme und Volumen ausgleichende Luftströmungen fungierten, und dass die Sonnenwärme die Luft ständig in Bewegung halte, zeigten ja die sogenannten Sonnenstäubchen. Sie habe auch die Feuchtigkeit der Erde auf die jetzigen Meere reduziert, und die Intensität ihrer Rückstrahlung von der Erde bewirke die verschiedenen Wolkenhöhen: Der Niederschlag besonders hoher Wolken, die aufgrund starker Rückstrahlung in kalte Regionen gehoben würden, gefriere dort zu Hagel. Den Regenbogen erklärte er als Reflex des Sonnenlichtes an einer Wolke, und die Nilschwelle führte er auf sommerliche Schneeschmelzen im Quellgebiet zurück. Das erste Leben auf der Erde sei aus in der Luft enthaltenen Keimen entstanden. Nachdem die Erde belebt worden sei, habe der ganze Kosmos sich nach Süden geneigt, so dass der Himmelsäquator jetzt schräg zum Horizont stehe.

Noch stärkeren Einfluss als dieses uns heute als eigenartige Mischung von richtigen Ahnungen und falschen Vorstellungen erscheinende physikalische Weltbild übte der erstmals streng durchgeführte Dualismus von Geist und Stoff auf die großen attischen Philosophen Platon und Aristoteles und damit auf die Folgezeit aus: Die Materie sei selbst unbewegt, der unabhängig neben ihr bestehende Geist der Welt (und der Lebewesen) verursache erst die Bewegung und das daraus resultierende Entstehen und Vergehen. Hiermit war die spätere Antinomie Kraft–Stoff vorbereitet, und Platon und Aristoteles warfen Anaxagoras nur vor, nicht die von ihnen gezogenen Konsequenzen aus diesem weltbewegenden Geist gezogen zu haben, insofern er ihm nur den ersten Anstoß zur Bewegung ausführen ließ, um das natürliche Geschehen dann ›mechanisch‹ ablaufen zu lassen.

Atomisten

Leukippos

(* um 480 v. Chr. Milet, † um 420),

Demokritos

(* um 460 v.Chr. Abdera, † um 370)

Epikuros

(* 10. Gamelion 341 v. Chr. Samos, † 270 Athen)

Auch Leukippos hatte aus politischen Gründen seine kleinasiatische Heimat verlassen und war in den Westen gezogen. In Elea war er dann Schüler Zenons, des Nachfolgers von Parmenides, und hatte hier nach den heimischen Eindrücken milesischer Naturauffassung Einblicke in die ihr widersprechende eleatische Ontologie erhalten. Anders als Anaxagoras und Empedokles versuchte er, diesen Widerspruch durch seine Idee einer Atomi­s­tik zu überbrücken. Nach 450 begab er sich in das thrakische Abdera und gründete dort eine eigene Schule. Sein bedeutend­ster Schüler wurde hier Demokritos, der in einer Fülle nicht mehr erhaltener Schriften die Atomistik auf alle damaligen Gebiete der Wissenschaft ausdehnte und damit trotz der Ablehnung durch die von Platon und Aristoteles geprägte spätere Naturwissenschaft starken Einfluss auf deren Denken ausübte. Die Einwände, die besonders Aristoteles gegen die Atomistik vorbrachte, versuchte dann Epikuros, der 327 bis 324 in Teos demokritische Philosophie und anschließend während seiner Militärzeit in Athen bei Aristoteles studiert hatte, mit seiner Modifizierung zu entkräften. Seine ab 321 in Kolophon entwickelte Philosophie lehrte er in Mytilene und Lampsakos, bevor er in Athen im Jahre 307/06 auf einem großen Gartengrundstück eine eigene Schule gründete – die dritte nach der Akademie Platons und dem Peripatos Ari­stoteles’, der um 300 als vierte länger bestehende Schulgründung hier die der Stoa folgen sollte. – Es hängt sicherlich mit der scharfen Ablehnung durch die einflussreichsten griechischen, später auch christlichen Philosophen zusammen, dass bis auf drei Briefe, in denen Epikuros seine Philosophie Epikureerzirkeln erläutert, aus den Schriften der Atomisten nur Bruchstücke aus Zitaten bei späteren Autoren erhalten sind. Der epikureischen Form der Atomistik ist allerdings auch ein vollständig erhaltenes, lateinisches hexame­trisches Lehrgedicht in mehreren Büchern des Epikureers Lu­krez (Titus Lucretius Carus) mit dem Titel ›De rerum natura‹ gewidmet, das posthum im Jahre 54 v. Chr. von Cicero herausgegeben wurde.

Leukippos scheint direkt durch die scharfsinnigen Paradoxien Zenons gegen die Vielheit und Bewegung der Dinge und den Raum zu der Annahme von nicht weiter unterteilbaren klein­sten Teilchen geführt worden zu sein: Ohne ein dazwischen tretendes Leeres sei eine Zerlegung eines Körpers nicht möglich. Eine Zweiteilung von Körpern bis ins Unendliche (wie bei Ana­xagoras) setze deshalb voraus, dass die Körper auch bis ins Unendliche kleinste Hohlräume enthielten, ja schließlich nur aus Hohlräumen bestünden – also seien die Teilbarkeit und somit die Vielheit sowie als Voraussetzung dafür die Leere nichtseiend, hatte Zenon mit Parmenides geschlossen; also muss die Teilbarkeit eine untere Grenze haben, schloss dagegen Leukippos. Die Teilchen der Materie, durch die ein Körper stofflich und raumerfüllend ist, müssten folglich vollkommen frei von irgendwelchen Hohlräumen, also ganz ›voll‹ sein. Was aber überhaupt keine Leere enthält, ist unteilbar, griechisch ›atomos‹, und damit in jeder Hinsicht unverletzlich, also auch unveränderlich. Diese ›Atome‹ müssen aber als Seiende im Sinne des Parmenides auch unentstanden, einheitlich und – jetzt, als Kunstgriff: wegen ihrer Kleinheit – nur denkbar sein. Da Veränderung auf örtlicher Bewegung beruhe, komme ihnen als einzige Eigenschaft diese Bewegung zu; um sich als unveränderlich Raumerfüllendes bewegen zu können, bedürfe es des Platzes, des Nicht-Erfüllten, der Leere, des unbegrenzten leeren Raumes, in dem die deshalb unendlich vielen Atome jeweils unendlich vieler verschiedener Formen sich ungeregelt bewegen, sich anstoßen und dann wirbelnd zusammenballen, um sich durch stärkere äußere Einflüsse wieder zu entwirren. Nicht nur einzelne Dinge, sondern ganze Welten, unendlich an Zahl und Unterschieden, entstünden und vergingen so überall. Die Kohäsion wird neben der Wirbelbewegung durch mechanisches Ineinandergreifen dazu geeigneter Atomformen (Haken, Ösen und dergleichen) gedeutet. Aber nicht nur in der Form unterschieden sich die Atome, wie die Buchstaben A und N, sondern auch die Lage (wie N und Z) und die Gruppierung (AN/NA) führe zu anderen Gesamtformen und Wirkungen – erst Demokritos, aus dessen Schriften die Lehren des Leukippos in erster Linie bekannt wurden, scheint als vierten Unterschied die Größe hinzugefügt zu haben; denn er lässt auch Atome weit über der Sichtbarkeitsgrenze zu, etwa einatomige Gestirne.

Aus solchen verschieden gestalteten, verschieden zueinander gelagerten und verschieden gruppierten, unteilbaren und qualitativ nicht unterschiedenen, von sich aus immer bewegten, unvergänglichen und unveränderlichen kleinsten vollen Teilchen bestünden alle sichtbaren und nicht sichtbaren Körper, auf ihnen beruhten all ihre scheinbaren Eigenschaften und deren Wahrnehmbarkeit (als Folge von atomaren Ausflüssen der Dinge, beim Sehen von kleinen ›Bildchen‹) – wie aus denselben Buchstaben die verschiedensten Texte unterschiedlicher literarischer Gattungen und Wirkungen entstünden. Ihre qualitativen und quantitativen Veränderungen seien scheinbar und beruhten auf solchen der Gruppierung und Lage der Atome oder auf einem Eindringen neuer Atome, die den alten Atomverband aber auch sprengen könnten. Die Formen müssen also so beschaffen sein, dass sie bei der Zusammenballung mehr oder weniger große Hohlräume lassen, wie sie auch zwischen den diskreten Dingen bestehen.

Die ältere antike Atomistik konnte so zwar alle Dinge und Erscheinungen irgendwie deuten, aber nicht erklären, wie es zu diesen Dingen und Vorgängen kommt, da die Bewegungen ausdrücklich auf Zufall beruhen sollten; es fehlte ihr ein Prinzip, das immer wieder gleichartige Dinge entstehen lassen würde. Ein zweiter Grund für die generelle Nichtanerkennung der Ato­mistik in Antike und Mittelalter war der Widerspruch, dass sowohl das Seiende, die Atome, als auch das Nicht-Seiende im Sinne des Parmenides, die Leere, als gleichermaßen seiend, als existent gedacht werden mussten. Epikuros vermochte zwar später einzelne Einwände auszuräumen, konnte aber diese beiden fundamentalen auch nicht entkräften, so dass die Atomistik naturwissenschaftliche Bedeutung erst wieder als Modifizierung der ›minima naturalia‹-Lehre des Aristoteles erhalten sollte, die zu den neuzeitlichen Ansätzen einer Atomtheorie bei Da­niel Sennert und Robert Boyle führte, zumal Pierre Gassendi bereits bei seiner Neuerschließung der epikureischen Schriften einen starken Einwand des christlichen Mittelalters entkräftete, indem er die Atome als von Gott erschaffen statt als ewig und ungeworden deklarierte.

Ein starkes Kriterium für die Ablehnung insbesondere auch durch die christlichen Philosophen und Naturwissenschaftler des Mittelalters und der frühen Neuzeit war aber die ausdrückliche Leugnung jeden Gottes und der Hedonismus bei Epikuros: Das Sein sei nicht transzendent hinter oder über den Dingen, sondern in ihnen, es bestehe in und aus den Atomen und stehe nicht im Gegensatz, sondern in Relation zum Werden; folglich könne dem Sein oder einem Seienden, das in die Ursache-Wirkung-Relation der Atomwirbel einbezogen sei, keine absolute Geltung zukommen, und gebe es keine außermenschlichen Normen und Rechte. Selbst die – als Konzession an die Tradition – menschengestaltigen Götter bestünden aus Atomballungen; sie seien zwar unvergänglich, könnten aber gerade wegen ihrer Unveränderlichkeit niemals Ursache für irgendein Geschehen sein. Sie stünden außerhalb dieser Welt und könnten von dieser auch nicht erreicht werden. Es gebe aber auch keine absolut gültige Aufgabe für den Menschen; die Erkenntnis von Naturvorgängen habe vielmehr ihren relativen Wert allein darin, den Menschen frei von Schmerz, äußerer Unruhe und Götterfurcht zu machen, ihm zu innerer Ruhe zu verhelfen. Diese Forderung nach Befreiung und Abschirmung gibt der Philosophie von Epikuros den Charakter einer Heilsbotschaft, die einerseits stärker als der naturkundliche Unterbau in Hellenismus und Spätantike wirkte und zur Entstehung kleiner sich nach außen abschließender Epikureerzirkel führte, die – wie das Beispiel des Lukrez zeigt – auch die Physik pflegten, andererseits aber Außenstehenden die unverstandene ganze Philosophie suspekt erscheinen ließ. Besonders die frühen Kirchenväter machten die Epikureer zum Inbegriff eines unmoralischen und gottlosen Lebens.

Auch der Atomismus selbst unterscheidet sich bei Epikuros in einigen Punkten aufgrund der Berücksichtigung zwischenzeitlicher Einwände von dem älteren: Die Zahl der Formen der Atome ist nicht mehr unbegrenzt; für Größe und Gestalt gelten vielmehr Ausschlussprinzipien. Die ursprüngliche Atombewegung verläuft nicht vollkommen ungeordnet nach allen Seiten, sondern einheitlich von oben nach unten: Zufällige Abweichungen von dieser Richtung führten zu zusätzlichen Stoßbewegungen, woraus Wirbel entstünden, die eine Weltbildung einleiteten. Die Erkenntnistheorie ist im Anschluss an Empedokles und die älteren Atomisten und im bewussten Gegensatz zu Platon und Aristoteles rein materialistisch: Jede Erkenntnis beruhe auf Wahrnehmung, und alle Wahrnehmungen seien wahr – Irrtümer beruhten auf falschen Schlüssen und Urteilen –; denn sie entstünden durch atomistisch-materielle Bildchen (›eidola‹), welche von allen Dingen ausgestoßen und durch die passenden Poren in den Sinnesorganen zur menschlichen Seele dringen würden.