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Prof. Dr. Martin Kaufhold, Jahrgang 1963, studierte an der Universität Heidelberg Geschichte und Germanistik. 1985/86 verbrachte er als Fulbright-Stipendiat ein Jahr an der University of Maryland at College Park (USA). 1993 wurde Martin Kaufhold in Heidelberg promoviert, seine Habilitation folgte im Jahr 2000. Seit dem Wintersemester 2003/2004 hat er den Lehrstuhl für Mittelalterliche Geschichte an der Philologisch-Historischen Fakultät der Universität Augsburg inne.

Zum Buch

Die Kreuzzüge

Der Band bietet einen Überblick über die Kreuzzugsgeschichte vom Aufruf zum ersten Kreuzzug 1095 bis zum Fall von Konstantinopel im Jahre 1453. Er schildert den Aufstieg und den Wandel der Kreuzzugsbewegung: von der anfänglichen Euphorie, über die Ernüchterungen des 11. Jahrhunderts bis hin zum Wandel der Kreuzzugsziele im späteren Mittelalter. Dabei erklärt der Autor die Wechsel der Kreuzzugsgeschichte vor dem Hintergrund der politischen, sozialen und religiösen Geschichte Europas.

Auf diese Weise eröffnen die Kreuzzüge einen Zugang zu den religiösen Weltbildern des Mittelalters und zu der bewegten Geschichte des Rittertums.

Martin Kaufhold
Die Kreuzzüge

Martin Kaufhold

Die Kreuzzüge

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Für meine Töchter
Maria und Kristina

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN: 978-3-8438-0233-8

www.marixverlag.de

INHALT

VORWORT

EINLEITUNG

DIE SOZIALE DYNAMIK DES 11. JAHRHUNDERTS

DIE ANFÄNGE DES RITTERTUMS

CHRISTENTUM UND KRIEG

DER RELIGIÖSE AUFBRUCH DES 11. JAHRHUNDERTS

DIE AGGRESSIVEN ZÜGE DER REFORM

DER KREUZZUGSABLASS

DER AUFRUF URBANS II. ZUM ERSTEN KREUZZUG

DER AUFBRUCH ZUM ERSTEN KREUZZUG

ERSTE ERFOLGE DES KREUZFAHRERHEERES

DIE EROBERUNG JERUSALEMS

DIE ANFÄNGE DES KÖNIGREICHS JERUSALEM

CHRISTEN UND EINHEIMISCHE

DIE ANFÄNGE DER RITTERORDEN

DER FALL EDESSAS

DIE MOBILISIERUNG FÜR DEN ZWEITEN KREUZZUG

DIE PREDIGTEN BERNHARDS VON CLAIRVAUX

DER ZWEITE KREUZZUG

DIE ERNÜCHTERNDE BILANZ DES ZWEITEN KREUZZUGS

DIE LAGE DES KÖNIGREICHS JERUSALEM NACH DEM ZWEITEN KREUZZUG

SALADIN UND DAS ENDE DER CHRISTLICHEN HERRSCHAFT
ÜBER
JERUSALEM

DER NIEDERGANG DES KÖNIGREICHS JERUSALEM

DER WESTEN EUROPAS VOR DEM AUFBRUCH ZUM DRITTEN KREUZZUG

DER AUFBRUCH ZUM DRITTEN KREUZZUG

DIE RÜCKEROBERUNG AKKONS

DER DRITTE KREUZZUG NACH DER EROBERUNG AKKONS

DAS RITTERTUM UND DER DRITTE KREUZZUG

DIE POLITISCHE PERSPEKTIVE

DER VIERTE KREUZZUG: DIE EROBERUNG KONSTANTINOPELS 1204

DER FÜNFTE KREUZZUG

ZWEI FRIEDLICHE KREUZZÜGE NACH JERUSALEM

DIE KREUZZÜGE LUDWIGS IX. VON FRANKREICH

DIE KREUZZUGSBILANZ DES DREIZEHNTEN JAHRHUNDERTS

DER FALL AKKONS

DAS SCHICKSAL DER RITTERORDEN

KREUZZUGSPLÄNE AM FRANZÖSISCHEN KÖNIGSHOF

DAS ENDE DES TEMPLERORDENS

DIE MONGOLEN UND DER WANDEL DES EUROPÄISCHEN WELTBILDES

DIE ERFOLGE DER OSMANISCHEN TÜRKEN

DER FALL KONSTANTINOPELS 1453

BILANZ: DER WANDEL DES CHRISTLICHEN GLAUBENS

BILANZ: DER WANDEL DES RITTERTUMS

QUELLENVERZEICHNIS

LITERATUR

VORWORT

Die Kreuzzüge sind ein besonderes Thema. Sie waren eine Erscheinung des Mittelalters, aber das Thema der Glaubenskriege war mit dem Ausgang des Mittelalters nicht überwunden. Vielmehr sorgten die Konfessionskämpfe im Gefolge der Reformation in der frühen Neuzeit für ein blutiges Weiterleben dieser Tradition. Die aktuelle Frage nach dem Verhältnis des in christlicher Tradition stehenden Westens zur islamischen Welt verleiht dem Thema zudem eine mitunter beunruhigende Brisanz. In dieser Darstellung geht es um die Kreuzzüge als eine mittelalterliche Erscheinung. Tatsächlich waren die Kreuzzüge, wenn man sie nicht einfach als Glaubenskriege versteht, sehr mittelalterliche Unternehmungen. Ohne das mittelalterliche Weltbild wären sie kaum denkbar, und von daher bietet die Geschichte der Kreuzzüge auch weniger Anhaltspunkte für eine Überheblichkeit des christlichen Europa gegenüber der Kultur des Islam und anderen Religionen, als man zunächst vermuten würde. Die Glaubenslehrer und die Gläubigen waren überzeugt von der überlegenen Wahrheit der christlichen Lehre – so wie die Moslems von der Überlegenheit des Islam und ihrer Kultur –, aber in der praktischen Ausführung beschränkte sich Europa zunächst auf die Heiligen Stätten und Jerusalem. Denn dort erwartete man die Wiederkehr Christi.

In dieser Darstellung geht es darum, die Geschichte der Kreuzzüge im Zusammenhang mit der Geschichte Europas während des hohen und späten Mittelalters zu erzählen und zu erklären. Die Wandlungen der Kreuzzugsgeschichte waren eng mit den Wandlungen der europäischen Verhältnisse dieser Jahrhunderte verbunden. Die militärische Geschichte der Kreuzzüge kommt eher am Rande vor. Dafür wird die politische, religiöse und soziale Geschichte der Kreuzzugszeit stärker hervortreten. Dies entspricht den Fachkenntnissen des Verfassers, der hoffen möchte, dass die Leser seine Erfahrung beim Schreiben dieses Bandes im Laufe der Lektüre teilen können: Die Kreuzzüge sind noch immer ein spannendes und lehrreiches Thema für die historische Arbeit.

Martin Kaufhold

EINLEITUNG

Die Kreuzzüge sind kein einfaches Thema. Einem modernen Betrachter erscheinen sie überaus widersprüchlich: Kriege im Namen Christi – dem der Frieden ein so bedeutendes Anliegen war –, und Eroberungszüge im Zeichen des Kreuzes –, das sich als Machtsymbol so gar nicht zu eignen scheint. Die Realität der Kreuzzüge vereinte Männer, denen es tatsächlich um ein religiöses Ideal ging – das sie mit dem Einsatz ihres Lebens unter großen Mühen verfolgten –, mit verkommenen Gestalten, wie sie jeder Krieg anzieht. Wer die Kreuzzüge für ein Unternehmen hält, das in etwas problematischer Weise hohe Ideale verfolgte und große Taten hervorbrachte, der wird für diese Sicht ebenso eindrucksvolle Beispiele finden wie derjenige, der in ihnen die Geschichte religiös motivierter Gewalt sieht, und der dazu auf die Morde an den Juden im Rheinland und die Tötung der Bewohner des eroberten Jerusalems im ersten Kreuzzug verweist. Es gibt keine eindeutige Geschichte.

Doch ist gerade das eine Herausforderung. Historiker sollten mit ihren Werturteilen zurückhaltend sein. Sie sollten das Geschehen vielmehr so rekonstruieren und darstellen, dass ihre Texte für Menschen mit unterschiedlichen Standpunkten lesbar sind. Dazu müssen sie ihren Gegenstand klar benennen. Sie müssen, wissenschaftlich gesprochen, ihre Begriffe definieren. Die zentrale Frage am Anfang dieser Untersuchung lautet: Was war eigentlich ein Kreuzzug? Immerhin gab es im Laufe der Kreuzzugsgeschichte Kreuzzüge nach Jerusalem, aber auch Kreuzzüge an der Ostseeküste und in Spanien. Es gab Kreuzzüge gegen Moslems, gegen Häretiker (z. B. die Katharer im Süden Frankreichs), aber auch gegen Christen. Es ist klar, dass die Kreuzzugsgeschichte im späten 11. Jahrhundert begann, aber es ist durchaus umstritten, wann sie endete. Die alte Definition eines Kreuzzugs verstand darunter einen Kriegszug, der auf Initiative des Papstes zur Errichtung einer christlichen Herrschaft über das Grab Christi nach Jerusalem aufbrach, dessen Teilnehmer sich durch einen Eid banden, wofür sie einen Sündenablass und verschiedene weltliche Privilegien erhielten (H. E. Mayer). In jüngerer Zeit ist an dieser Festlegung vielfältige Kritik geübt worden. Insbesondere der englische Kreuzzugshistoriker Jonathan Riley-Smith und seine Schüler haben die Ausrichtung auf Jerusalem als notwendiges Kriterium in Frage gestellt und darauf bestanden, dass auch die zahlreichen anderen Kriegszüge, die im Namen des Kreuzes unternommen wurden, als Kreuzzüge gelten müssten. Sie haben der zeitlichen Einschränkung widersprochen, die ein Abklingen der Kreuzzugsgeschichte im 13. Jahrhundert angenommen hatte – weil es seit dieser Zeit keine Kreuzzüge ins Heilige Land mehr gab. Vielmehr gehörten in ihrer Sicht auch die Kriege im Namen des Kreuzes im späteren Mittelalter (14. und 15. Jahrhundert) zur Kreuzzugsgeschichte, die dadurch eine erhebliche Ausweitung erfuhr. Die Debatte ist keinesfalls abgeschlossen, und dies liegt nicht an dem mangelnden Einigungswillen der Historiker, sondern es ist in der Sache selbst begründet. Denn es war im Mittelalter gar nicht klar, was eigentlich ein Kreuzzug war. Der Begriff kommt im Zusammenhang mit den großen Kreuzzügen nach Jerusalem nicht vor. Er wurde erst später (im 13./14. Jahrhundert) geprägt – zu einer Zeit, als die Kriegszüge nach Jerusalem vorbei waren. Es handelt sich letztlich um einen Forschungsbegriff, und die Auseinandersetzung darum, wie er genau zu verstehen ist, ist solchen Begriffen zur Bezeichnung widersprüchlicher Phänomene in gewisser Weise eigen. In Hinblick auf die Vorstellung der Zeitgenossen des ersten Kreuzzugs spricht man in der Regel von einer »bewaffneten Pilgerfahrt«, um das Unternehmen zu bezeichnen. Es gab ja für diesen Zug noch keine eindeutigen Vorbilder. In jüngeren Arbeiten (E.-D. Hehl) werden die Kreuzzüge weniger als ein militärisches Ereignis an den Grenzen des christlichen Europa, sondern vielmehr als ein authentischer Ausdruck des inneren Zustandes dieses christlichen Europa verstanden – weil die Motivation für das Unternehmen nur aus der besonderen religiösen Aufbruchsstimmung zu verstehen sei, die das Abendland im 11. Jahrhundert erfasst habe.

So ist die Kreuzzugsgeschichte immer weniger eine Geschichte militärischer Züge und wird zu einer Geschichte kultureller Entwicklungen – und kultureller Konfrontationen. Dies entspricht einer allgemeinen Interessenverschiebung historischer Forschung in Hinblick auf die militärische Geschichte. Allerdings sollten wir das Phänomen noch etwas präzisieren, um zu erklären, warum dieser kleine Band die Kreuzzüge in der Auswahl präsentiert, die in den nächsten Kapiteln folgt.

Diese Darstellung konzentriert sich zunächst auf die Kreuzzüge in das Heilige Land, also auf die Kreuzzüge mit dem Ziel Jerusalem. Die weitere Entwicklung kommt durchaus in den Blick, sie wird aber in einem konzentrierten Ausblick zusammengefasst. Damit sollen nicht etwa die Erträge der neueren historischen Forschung beiseite geschoben werden. Es geht vielmehr um eine Konzentration auf ein Thema, das in dem hier vorgegeben Rahmen sinnvoll behandelt werden kann. Es ist keine Frage, dass die Kreuzzugsbewegung mit den Zügen in das Heilige Land nicht vollständig erfasst ist. Aber die Züge nach Jerusalem haben einen eigenen Platz in der Geschichte Europas. Sie beginnen im späten 11. Jahrhundert und sie gehen im 13. Jahrhundert allmählich zu Ende. Diese begrenzte Geschichte lehrt uns viel über das christliche Europa in einer dynamischen Phase des Aufbruchs. Dieser Aufbruch führte schließlich dazu, dass die Akteure ihre Grenzen erkannten. Die militärische Expansion über die Grenzen Europas hinaus war erst wieder eine Entwicklung der frühen Neuzeit. Die Kreuzzüge lehren die Kraft und die Problematik einer religiösen Begeisterung, die sich sehr weltliche Ziele steckte. Religiöse Begeisterung kommt in allen Epochen vor, und der religiöse Enthusiasmus des Mittelalters hat sich noch in vielen anderen Formen als in der militärischen der Kreuzzüge gezeigt. Die Kreuzzüge, deren Vorstellung noch immer die historische Imagination in widersprüchlichster Form belebt, erreichten ihre Höhepunkte innerhalb eines Jahrhunderts. Keine hundert Jahre lagen zwischen der Eroberung Jerusalems durch die Kreuzfahrer im Juli 1099 und dem Verlust der Stadt im Oktober 1187, zwischen dem Aufbruch zum ersten Kreuzzug und dem wohl berühmtesten Kreuzzug, an dem sich Kaiser Friedrich Barbarossa, König Philipp von Frankreich und der englische König Richard Löwenherz beteiligten. Diese Phase hat unser Bild von den Kreuzzügen in besonderer Weise geprägt. Es war die große Zeit der Ritter, der antreibenden, eindrucksvollen Gestalten dieser Geschichte. Es ist eine begrenzte Geschichte, denn die Schlagkraft dieser Ritter wich im späteren Mittelalter allmählich moderneren Techniken des Kampfes. Dieser Bedeutungsverlust spiegelt sich in der Geschichte der Kreuzzüge.

Der Rahmen der hier vorgestellten Skizze der Kreuzzugsgeschichte wird durch die historische Kräfteentwicklung gesetzt, und sie beginnt mit der dynamischen Aufbruchsituation des 11. Jahrhunderts. Doch bevor wir uns dem westlichen Europa um die Mitte des 11. Jahrhunderts zuwenden, ist noch eine Klarstellung erforderlich. Mit guten Gründen könnte man den Anspruch formulieren, dass eine Geschichte der Kreuzzüge auch die historische Entwicklung im Byzantinischen Reich und im Nahen Osten berücksichtigen sollte. Immerhin zogen die Kreuzritter durch diese Reiche, und sie errichteten in deren Gebieten ihre Herrschaften. Dennoch nimmt dieser kleine Band in erster Linie die Perspektive des westlichen Europa ein. Das bedeutet nicht etwa die Perspektive der Kreuzfahrer. Aber ihre Handlungen stehen im Vordergrund. Eine Beschränkung ist nötig, und in diesem Falle sollte man sich auf einen Stoff konzentrieren, von dem man im Laufe der eigenen Arbeit eine Vorstellung gewonnen hat. Die Kreuzzüge werden hier vor allem als ein west- und mitteleuropäisches Phänomen behandelt.

Wir werden im Verlauf dieses Bandes darauf zu sprechen kommen, dass die Kreuzzüge zwar durch den Papst ausgerufen wurden (und diese Initiative des Papstes ist zu einem wichtigen Bestandteil der meisten Kreuzzugsdefinitionen geworden), dass der Papst aber eine andere Reaktion auf seinen Aufruf zum ersten Kreuzzug erfuhr, als er erwartet hatte. Die Reaktion der Zuhörer seines ersten Aufrufs und auch der Zuhörer seiner späteren Predigten fiel erheblich heftiger aus, als Urban II. dies erwartet hatte. Dies ist der historisch eigentlich interessante Vorgang, und er wird durch die Betonung der päpstlichen Rolle beim Zustandekommen des Kreuzzugs etwas überdeckt. Die Reaktion war Ausdruck einer dynamischen Spannung, die viele Menschen in Europa im späten 11. Jahrhundert erfasst hatte. Es war eine Spannung, die zentrale Lebensbereiche ergriffen hatte, und die zeigte, dass sich die lateinische Christenheit in einer Aufbruchsphase befand.

DIE SOZIALE DYNAMIK DES 11. JAHRHUNDERTS

Der große französische Mediävist Marc Bloch, dessen Buch »Die Feudalgesellschaft« von 1939 ein Klassiker der Sozialgeschichtschreibung des Mittelalters ist, hat für die Zeit um 1050 von einem »take-off« in Europa gesprochen. Es begänne eine Zeit, die er die »zweite Feudalzeit« nannte, charakterisiert durch den »Landesausbau an den Grenzen der westlichen Welt, auf den iberischen Hochflächen und in der großen Tiefebene jenseits der Elbe. Selbst im Innern der alten Landschaften sind die Wälder und Einöden vom Pflug angefressen worden, auf den ausgerodeten Lichtungen griffen dicht bei Bäumen und Gebüsch ganz neue Dörfer nach dem jungfräulichen Boden; andernorts ging rings um die seit ewigen Zeiten bewohnten Landschaften die Vergrößerung des Ackerbodens unter dem unaufhaltsamen Druck der Rodenden vor sich.« Was Marc Bloch beschrieb und dann analysierte, ist ein deutlicher Hinweis auf eine zunehmende Bevölkerung. Mehr Menschen brauchten mehr Platz, ihre Siedlungen wurden größer, sie nahmen zu und rückten enger zusammen. Alte Straßen wurden wieder ausgebaut. Das ist es, was wir im Rückblick, gestützt durch die Erkenntnisse der Archäologen und Sprachwissenschaftler, erkennen können. Dies war eine Zeit ohne Grundbücher, ohne Geburts- und ohne Taufregister. Bevölkerungszahlen und das Wachstum der Bevölkerung können nur aus solchen äußeren Anzeichen wie dem Landesausbau erschlossen werden. Landesausbau bedeutet in Mitteleuropa Rodung von Wald. Der Wald war das beherrschende Element. Wohin man sah, sah man Bäume, und wenn man nicht aufpasste und die Felder rechtzeitig von jungen Schösslingen befreite, holte sich der Wald die gerodeten Flächen zurück. Die Ausweitung der Rodung lässt sich durch Siedlungsüberreste und durch Siedlungsnamen ermessen. Siedlungen und Dörfer, die damals entstanden, haben Namen, die ähnlich gebildet wurden, und die etwa auf -rode, -hagen, oder -hausen endeten. Die Rekonstruktion ist nicht einfach. Zahlen zu nennen ist besonders schwer. Man geht davon aus, dass um die Mitte des 11. Jahrhunderts in Europa ca. 46. Mio Menschen lebten. Bis zum 13. Jahrhundert, also etwa in der Zeit, als die Kreuzzüge nach Jerusalem zu Ende gingen, wurden es ungefähr 60 Millionen. Hier geht es nicht um einzelne Millionen, sondern um Tendenzen. Mehr ist nicht möglich. Die Landwirtschaft war die vorherrschende Wirtschaftsform, und sie blieb es. Das ganze Mittelalter war eine agrarische Zeit. Aber der Handel nahm zu, und er wandelte seinen Charakter allmählich. Nach dem Untergang des Römischen Reiches war der Handel im frühen Mittelalter überwiegend ein Handel mit Luxusgütern gewesen, die an Höfen von wenigen Fernkaufleuten umgesetzt wurden. Europa war ein primitiver Wirtschaftsraum, der kaum Waren exportierte. Das änderte sich.

Seit dem Ende des 11. Jahrhunderts exportierte man Tücher aus Flandern bis nach Nowgorod in Russland. Es war ein langsamer Wandel. Die Geldwirtschaft spielte nur eine geringe Rolle. Die einzige reale Währung, über die man verfügte, war der Pfennig, eine stark regional geprägte Münze. Karl der Große hatte den Pfennig im Rahmen einer Münzreform normiert. Bei dieser Reform hatte man ein Pfund Silber in 240 Pfennige oder Denare unterteilt. Allerdings wurden die Münzen in einer Vielzahl von Münzstätten geprägt und es gab keine zentrale Kontrolle des Silbergehaltes. Die meisten Münzen hatten nur eine regionale Verbreitung. So entwickelte sich die Inflation mit unterschiedlicher Geschwindigkeit, wenn die Münzer je nach dem Bedarf ihrer Herren den Silbergehalt der Pfennige weiter reduzierten.

Es gab im hohen Mittelalter nur ein unterentwickeltes Münzsystem, und wir müssen uns die Anfänge eines weiter gespannten Handels noch sehr einfach vorstellen. Mit der Veränderung der gehandelten Waren von Luxusgütern zu Gebrauchsgütern wie Tuchen, aber auch Fellen, Waffen, Wachs, Alkohol und später Getreide wurde die Frage des Transportes zu einem dringlicheren Thema. Auch im Mittelalter war der Transport auf dem Wasserweg sehr viel günstiger – und häufig auch sicherer als der Transport über Land. Der Handel ging über Flüsse und Meere. Auch die Kreuzritter reisten später bevorzugt mit Schiffen in das Heilige Land. Das Mittelmeer war seit der Antike ein klassischer Wirtschaftsraum, der sich seit dem 11. Jahrhundert deutlich belebte.

Der Handel vermochte allmählich manche Lücken zu füllen. So wuchs im nördlichen Europa kaum Wein. In einer christlichen Kultur, die es seit dem Ende des ersten Jahrtausends auch im Norden gab, war der Wein unverzichtbar, nicht nur in der Liturgie. Allmählich konnte man ihn importieren. Die Handelsnetze erstreckten sich von Island bis in das Mittelmeer. Noch wurden keine größeren Warenmengen gehandelt, aber um die Mitte des 11. Jahrhunderts bestanden weit gespannte Kontakte, die sich verstärken ließen. Zwei ganz unterschiedliche Ereignisse, die zunächst kaum etwas miteinander zu tun hatten, geben einen Hinweis auf die Verflechtung und das Potenzial des größeren Bildes, das Europa in der Mitte des 11. Jahrhunderts bot. Um das Jahr 1050 verließ der Isländer Isleif seine Insel, um auf dem Kontinent zum Bischof geweiht zu werden. Er reiste zum Kaiser und soll auch nach Rom gelangt sein, bevor er schließlich nach Island zurückkehrte, um dort als erster Bischof Islands sein Amt anzutreten. Isleif kam aus dem hohen Norden nach Rom, um dort dem Papst seine Aufwartung zu machen. Nur wenige Jahre später, im Jahr 1059, verlieh der Papst dem Normannen Robert Guiskard die Rechte eines Herzogs von Apulien, Kalabrien und Sizilien – wobei Robert Sizilien noch erobern musste. Island und Sizilien bezeichneten in etwa die Grenzen Europas im Norden und im Süden, und ein Zusammenhang ist zunächst nicht erkennbar. Tatsächlich aber waren sowohl die Bischofsweihe Isleifs, als auch die Belehnung des Normannen Robert durch den Papst die Fortführung einer Entwicklung, die gemeinsame Ursprünge hatte, und die nun ein Stadium erreicht hatte, in dem die Menschen nach neuen Herausforderungen Ausschau hielten.

Robert und Isleif waren beide Normannen. Die Männer aus dem Norden, die auch als Wikinger bezeichnet werden, hatten im 9. und 10. Jahrhundert England und das Frankenreich mit ihren Zügen in Unruhe versetzt, und sie hatten in dieser Zeit auch Island besiedelt (ca. 870–930). Zu der Zeit, in der die Normannen auf Island heimisch wurden, waren auf dem Kontinent erste Wikingerverbände heimisch geworden (um 911). Die Gegend, in der sie siedelten, war ihnen vom fränkischen König verliehen worden. Daraus wurde die spätere Normandie. Die Normannen hatten sich bei ihrer Ansiedlung taufen lassen, und im Laufe des 10. Jahrhunderts nahmen sie den neuen Glauben an. Die immer noch kampfbegabten, aber inzwischen christianisierten Normannen aus der Normandie suchten nun neue Ziele für ihre Fahrten und segelten zu christlichen Pilgerzielen im Mittelmeer, nach Rom und vereinzelt auch in das Heilige Land. Auf der Fahrt landeten sie in Sizilien, wo es für fähige Kämpfer lohnende Herausforderungen gab.

Im Süden Italiens stießen Kulturen und Herrschaftsbereiche zusammen. Das alte Byzantinische Reich war noch präsent, es gab viele sarazenische Ansiedlungen, und das erstarkende Papsttum hatte ein eigenes Interesse an einem friedlichen Nachbarn im Süden. Die normannischen Pilger berichteten zu Hause von ihren Erfahrungen und weitere Landsleute kamen nach Apulien und Kalabrien. Aus den vormaligen Söldnern wurde eine Herrscherschicht, und aus den Nachfahren der Heiden, die das Frankenreich der Karolinger überfallen hatten, wurden christliche Herzöge, die im Namen des Papstes im Süden Italiens eine eigene Herrschaft errichteten. Die Isländer hatten das Christentum etwas später, aber dann durch einen gemeinsamen Beschluss auf ihrer jährlichen Versammlung angenommen. Das war im Jahr 1000 gewesen. Und 50 Jahre später suchten auch sie den Anschluss an das christliche Europa, indem sie ihren Bischof mit den nötigen Weihen versehen ließen. Es waren unterschiedliche Vorgänge, und es waren Vorgänge verschiedener Größenordnung, aber es waren Aufbrüche, die auf gemeinsame Wurzeln und Erfahrungen zurückzuführen waren. Auf die Rolle, die die Christianisierung in dieser Entwicklung einnahm, kommen wir im nächsten Kapitel zu sprechen. Noch geht es um Eroberungen. Der folgenschwere normannische Aufbruch zur Gewinnung neuer Horizonte stand noch bevor. Im Jahr 1066 brach der normannische Herzog Wilhelm auf, um den Thron des angelsächsischen England zu erringen. Er machte geltend, dass der letzte angelsächsische König, Edward der Bekenner, der zeitlebens kinderlos geblieben war, ihm die englische Krone vermacht habe. Es gab Konkurrenten in England und in Norwegen, aber Wilhelm ging aus den Kämpfen um die englische Krone schließlich als Sieger hervor. Und in diesen Kämpfen treten uns erstmals die Akteure vor Augen, die das Bild der Kreuzzüge so entscheidend prägen sollten. Die Rede ist von den Rittern.

DIE ANFÄNGE DES RITTERTUMS

Mit der Eroberung Englands treten sie tatsächlich in unser Blickfeld. Das ist ganz bildlich gemeint. Denn eine der Hauptquellen für die normannische Eroberung Englands im Jahr 1066 ist der so genannte Teppich von Bayeux. Ein imposanter Wandteppich von fast 80 Metern Länge, der die Vorgeschichte der Eroberung und die Invasion bis zum Sieg bei Hastings in Form einer sorgfältigen und detailfreudigen gestickten Bildgeschichte zeigt. Er entstand etwa 20 Jahre nach dem Sieg der Normannen, und er stellt die Geschichte aus der Perspektive des Siegers dar, der sich um die Legitimation seiner Eroberung bemüht. Bemerkenswert ist die präzise Wiedergabe der technischen Ausrüstung. Die Bewaffnung und Ausstattung des normannischen Heeres ist sehr gut zu erkennen. Anders als die angelsächsischen Krieger, die zu Fuß kämpften, ritten die Normannen auf ihren Pferden in die Schlacht. Geschützt durch ein Kettenhemd, bewaffnet mit Lanze und Schwert, waren sie den Fußkämpfern überlegen, und die Schlussdarstellungen des Teppichs von Bayeux geben ein anschauliches Bild von den blutigen Realitäten dieser Schlachten.

Doch es ging um mehr als um technische Überlegenheit und um den Sieg. Erst durch eine besondere Ethik wurden die berittenen Kämpfer zu Rittern (milites), und erst durch die Verbindung von Kampfkraft und einem besonderen Verhaltenscodex wurde das Ideal des Ritters zu jener langlebigen, mitunter heroischen, mitunter fragwürdigen und komischen, Erscheinung in unserer Geschichte.

Berittene Krieger hatte es seit dem 9. und 10. Jahrhundert gegeben. Sie hatten in den Heeren Karls des Großen und in den Heeren der Ottonen gekämpft. In dieser Zeit war die materielle Grundlage für die ritterliche Kampfform zur vorherrschenden Form der sozialen Ordnung geworden. Ein Kriegspferd war ein wertvolles Gut. Ein Pferd für den Kampf und ein weiteres Pferd für die Ausrüstung, dazu die Rüstung und die Waffen – dafür benötigte ein Mann erhebliche Mittel. Geld spielte in dieser Ökonomie keine besondere Rolle. Reichtum drückte sich in Landbesitz aus. Der war sehr unterschiedlich verteilt, und es gab viele Menschen, deren Land keinen ausreichenden Ertrag abwarf. Das Rittertum war keine Erscheinung der bäuerlichen Schichten, die die große Mehrheit der Bevölkerung ausmachten.

Aber auch in der Schicht, die über einen gewissen Besitz verfügte, gab es mitunter mehr Kinder als Land. So konnte man von dem eigenen Boden nicht standesgemäß leben, und ein junger Mann konnte davon kein Kriegspferd unterhalten. Doch er konnte sich einem höhergestellten und wohlhabenderen Herrn als Mann zur Verfügung stellen. Das heißt, er wurde sein Vasall. Er war seinem Herrn künftig zu Rat und Hilfe verpflichtet und musste ihn durch seine Kampfkraft unterstützen. Dafür erhielt er ein Stück Land, das er durch Bauern bewirtschaften ließ, das so genannte Lehen. Der Vasall war seinem Herrn gegenüber zur Treue verpflichtet. Das sollten wir jedoch nicht modern interpretieren. Es bedeutete im Wesentlichen, dass der Vasall seinem Herrn nicht schaden durfte. Allerdings waren auch selbstlose Loyalitätsbeweise möglich. Diese Lehnstreue, die in jedem Fall ein besonderes Band zwischen dem Lehnsherrn und seinen Vasallen schuf, hat erheblich zum Rittermythos beigetragen.

Tatsächlich waren die Ritter Reiterkrieger, die in vielen Fällen für ihre nähere Umgebung ebenso gefährlich waren, wie für ihre potentiellen Gegner. Die Worte des Papstes beim Aufruf zum ersten Kreuzzug sprechen eine deutliche Sprache in Hinblick auf die Gewaltbereitschaft dieses Standes. Die Kirche hatte seit dem späten 10. Jahrhundert versucht, die Gewalt, die von diesen bewaffneten jungen Männern ausging, durch so genannte Gottesfrieden einzuschränken. Dies waren lokale und regionale Zusammenschlüsse, in die die möglichen Gewalttäter eingebunden wurden, und in denen sie sich durch eine Selbstverpflichtung zum Gewaltverzicht an bestimmten Tagen und an bestimmten Orten bekannten. Durch Kirchenstrafen (Exkommunikation) sollte die Verbindlichkeit dieser Absprachen erhöht werden. Dennoch blieb die Gewalt lange Zeit ein Problem.

Diese Versuche der Gewalteindämmung zeigen ein Bemühen der Kirche um die Befriedung des professionellen Kriegerstandes, das lange Zeit durch Fremdheit und gegenseitige Ablehnung gekennzeichnet war. Diese Männer vergossen Blut und davor schreckten die Männer der Kirche zurück. Die große Leistung in der Ausbildung des Ritterstandes bestand darin, diese jungen (und teilweise älteren) zur Gewalt neigenden Krieger in eine Lebensordnung hineinzuholen, die ihnen den Freiraum gab, den sie sich ohnehin genommen hätten, die ihnen aber gleichzeitig ein Leitbild vermittelte, das eine befriedende Wirkung hatte. So erhielten diese Krieger einen Platz im sozialen Gefüge des hohen Mittelalters. Das ist auch daran zu erkennen, dass in Ordnungsentwürfen, die die Theoretiker jener Epoche für das menschliche Zusammenleben formulierten, die Krieger (bellatores) eine eigene Gruppe neben den Betenden (oratores) und den (körperlich) Arbeitenden (laboratores) darstellten. Bischof Adalbero von Laon (977–1033) sah es folgendermaßen: Dreigeteilt ist das Haus Gottes: die einen beten, die anderen kämpfen, die dritten arbeiten. Es gibt nur diese drei Gruppen, und eine weitere Teilung gibt es nicht.

So hatten die Krieger neben den Betenden einen vornehmen Platz. Richard Southern hat darauf hingewiesen, dass auch die Betenden sich als Kämpfer gegen das Böse verstanden, als Männer, die harte spirituelle Kämpfe ausfochten. Der Preis für diese Integration der Krieger war freilich, dass das Christentum sich mit einigen ihrer kriegerischen Lebensformen stärker einließ, als es das Evangelium auf den ersten Blick nahe gelegt hätte. Die Spannung von Ideal und zum Teil brutaler Realität, die das ganze Kreuzzugsgeschehen durchzieht, beruht in hohem Maße auf dieser zivilisatorischen Leistung der hochmittelalterlichen Kirche. Sie schuf einen Platz für Männer, die mit dem Schwert umzugehen wussten. Dadurch wurde der Gebrauch der Schwerter in vieler Hinsicht kontrollierter, aber es blieben tödliche Waffen, die auch weiterhin zum Kampf genutzt wurden. Und nicht jeder, der mit ihnen umzugehen wusste, ließ sich dauerhaft auf das christliche Ideal verpflichten. Doch war dieses Ideal für die Ausbildung des Rittertums eine entscheidende Größe.

Das 11. Jahrhundert kann daher als die Anfangszeit des Rittertums angesehen werden, weil in dieser Phase die reitenden Krieger das neue Ethos als Leitbild annahmen. Der Teppich von Bayeux lässt das erkennen. Er zeigt etwa eine Gruppe von Kriegern, die mit eingelegten Lanzen in den Kampf reiten. Über dieser Gruppe steht in dem einfachen und klaren Latein, das alle Bilder dieser Darstellung begleitet: mutig und umsichtig in den Kampf (viriliter et prudenter ad prelium). Es ging um mehr als um den geübten Gebrauch von Schwert und Lanze. Der Anspruch an einen umsichtigen, urteilsfähigen Krieger, der seine Kampfkraft in den Dienst einer gerechten Sache stellte, schlug sich schon bald in eigenen Ritualen nieder. Schon auf dem Teppich von Bayeux ist eine Vorform jenes späteren feierlichen Ritus des Ritterschlags zu sehen, dessen Inszenierung vor dem dritten Kreuzzug auf dem großen Hoftag Friedrich Barbarossas zu Pfingsten 1184 einen Höhepunkt erreichte. Auf dem Teppich von Bayeux ist der Vorgang noch sehr viel bescheidener dargestellt. Hier wird der Überbringer der Thronfolgenachricht an Herzog Wilhelm von diesem nach gemeinsam bestandenen Kämpfen mit den Waffen eines Ritters eingekleidet. Hundert Jahre später war daraus ein feierlicher rite de passage geworden, der aufwendig begangen wurde. Die Ritter profitierten von der Dynamik der so genannten zweiten Feudalzeit, sie verbesserten ihre Kampftechnik und formulierten die Ansprüche an die Ritterschaft auf hohem Niveau. All dies vollzog sich zwischen dem ersten und dem dritten Kreuzzug. Aber es beantwortet eine drängende Frage nicht: Wie kam es dazu, dass der höchste Vertreter des Christentums, dessen Kern eine Friedensbotschaft ist, zu einem Krieg im Zeichen des Kreuzes aufrufen konnte?

CHRISTENTUM UND KRIEG

Vor über 70 Jahren hat Carl Erdmann, dessen Familiengeschichte von den Kriegen des 20. Jahrhunderts zutiefst geprägt war, in einer wegweisenden Studie die Entstehung des Kreuzzugsgedankens dargelegt. Eine entscheidende Wendung gegenüber der Ablehnung jeglicher Gewalt trat in jener Phase ein, als das spätantike Christentum zu einer offiziellen Religion des römischen Reiches wurde. Augustinus (354–430), der als Bischof von Hippo in Nordafrika auch die Funktion einer Ordnungsgewalt wahrnahm, formulierte in der Auseinandersetzung mit Gegnern des katholischen Glaubens eine Grundlage für die christliche Möglichkeit einer legitimen Kriegsführung. Für Augustinus blieb der Krieg ein letztes Mittel der Verteidigung, ein Krieg zur Verbreitung des Glaubens erschien ihm nicht gerechtfertigt. Für einen gerechten Krieg (bellum iustum) mussten vier Voraussetzungen erfüllt sein: 1. Der Krieg musste durch eine legitime Autorität erklärt werden (er war nicht der individuellen Entscheidung überlassen), 2. Es musste ein legitimer Kriegsgrund vorliegen (Verteidigung von Glauben, Leben oder Eigentum), 3. Eine andere Lösungsmöglichkeit war ausgeschlossen, 4. Der Krieg wurde mit angemessenen Mitteln geführt.

Für das mittelalterliche Christentum hatte sich auf der iberischen Halbinsel ein frühes Feld für mögliche Kriege im Namen des Glaubens ergeben. Seit die iberische Halbinsel im frühen 8. Jahrhundert zum großen Teil von arabischen Kriegern erobert und unterworfen worden war, war es in Spanien wiederholt zu Kämpfen mit Andersgläubigen gekommen, und es hatte auch Ansätze einer begleitenden Doktrin gegeben. Die Auswirkungen dieser Lehre auf die Idee des Kreuzzugs sind jedoch nicht ganz klar. Erkennbar ist allerdings, dass die neue Ausrichtung des Christentums auf die Gewinnung der diesseitigen Welt auch die Notwendigkeit einer militia Christi verstärkt hatte, einer Kraft, die der Kirche im Bedarfsfall beistehen konnte. Das Bündnis, das das Papsttum mit den Normannen in Hinblick auf Sizilien im Jahr 1059 eingegangen war, ließ ja eine solche Notwendigkeit erkennen.

Doch wird man die Ausbildung einer militärischen Kreuzzugsidee im christlichen Europa nicht in erster Linie als einen abstrakten Vorgang verstehen können. Es ging wohl ebenso sehr um Erfahrungen wie um Ideen. Und in Hinblick auf das mittelalterliche Christentum um 1100 ist eine Feststellung unabweisbar. Das Christentum hatte sich in Europa vor allem auf militärischem Wege durchgesetzt. Es war, knapp formuliert, die Religion der Sieger. Das hatte bereits der spätere Kaiser Konstantin erfahren, dem vor der entscheidenden Schlacht mit seinem Rivalen Maxentius an der Milvischen Brücke im Jahre 312 das Kreuz als Zeichen des Sieges erschienen sein soll, und in ähnlicher Weise soll sich der Frankenkönig Chlodwig (466–511) vor 500 zum katholischen Christentum bekehrt haben. Chlodwig soll in einer wichtigen Schlacht mit den Alemannen durch die Anrufung des christlichen Gottes die Wende zugunsten der Franken herbeigeführt haben. Die Entscheidung für das Christentum war eine Entscheidung für den Gott, der zum Sieg gegen die Feinde half. Das angelsächsische England wurde auf diese Weise christianisiert, ebenso die heidnischen Nachbarn der Franken. Allein im Norden Europas kam es zu einer Übernahme des christlichen Glaubens ohne direkte Eroberung. Politische Hegemonie war indes auch bei der Bekehrung Dänemarks, Norwegens und Schwedens im Spiel. Es war eine Selbstverständlichkeit, dass Christen mit ihrem Gott gegen ihre Feinde kämpften. Selbstverständlich stellten Klöster und Bistümer große militärische Aufgebote im Heer Karls des Großen. Und die Prälaten kämpften selber mit. Dies war bei allen aufrichtigen Bemühungen um Frieden eine Welt, in der Gewalt eine Selbstverständlichkeit war. Sie war reguliert, aber sie bedurfte keiner besonderen Begründung. Es ist wichtig, dies in Hinblick auf das mittelalterliche Christentum im Kopf zu behalten. Es war eine »robuste« Religion.

Bei aller Dynamik, auf die wir bislang verwiesen haben, müssen wir uns doch klar machen, dass dies eine einfache Welt war. Das westliche Europa befand sich im Aufbruch, aber es war noch immer vom Hunger bedroht. Wir müssen uns klar machen, dass auf einen Sack ausgesäten Weizen in Burgund in dieser Epoche nur ein Ertrag von etwa drei Säcken kam, wenn das Wetter schlecht war, waren es weniger. Und Burgund war eine vergleichsweise fruchtbare Region. Davon musste ein Sack als Saatgetreide für die nächste Aussaat aufgehoben werden. Unter ungünstigeren Bodenverhältnissen waren die Erträge noch kleiner. In der Regel arbeitete man mit einer Zwei-Felder-Wirtschaft: das Feld wurde geteilt, die eine Hälfte wurde bestellt, die andere Hälfte ließ man brach liegen, damit sich der Boden erholte. Dünger gab es kaum. Die neuere Forschung zum bäuerlichen Leben geht davon aus, dass die Dörfer und Siedlungen häufiger abgebrochen und an anderer Stelle neu errichtet wurden, wenn der Boden ausgelaugt war. Die bäuerlichen Dörfer bestanden aus Holzhütten, Stein verwendete man allenfalls für Kirchen. In den Städten war es ähnlich – wo es schon Städte gab. Man hat in Hinblick auf die Motive der Kreuzfahrer auch auf die dürftigen Lebensverhältnisse in der Heimat der Kreuzfahrer verwiesen. Diese Verhältnisse besserten sich, aber wenn das Ziel verheißungsvoll genug erschien, mochte es manchen, der sich ein besseres Leben erhoffte, auf den Weg bringen. Für das Verständnis des überraschenden Erfolges, den der Aufruf zum ersten Kreuzzug hatte, ist der Eindruck einer vielgestaltigen Unruhe von Bedeutung, die ganz verschiedene Regionen Europas erfasst hatte. Diese Aufbruchsbewegung wurde von einer leidenschaftlichen Auseinandersetzung um die richtige Ordnung der christlichen Welt begleitet, die ebenfalls um die Mitte des 11. Jahrhunderts erkennbar wurde, und die ihren Höhepunkt zum Zeitpunkt des ersten Kreuzzugs kaum überschritten hatte.

DER RELIGIÖSE AUFBRUCH DES 11. JAHRHUNDERTS

Die soziale Dynamik, die die Kreuzzüge beförderte, hatte nicht nur wirtschaftliche und politische Ursachen, sondern sie wurde in hohem Maße durch religiöse Ideale belebt. Die konkurrierenden Definitionen der Kreuzzüge, die wir eingangs vorgestellt haben, stimmten in Hinblick auf einen Aspekt überein: Die zentrale Bedeutung des Papstes als Initiator der Kreuzzüge. Das erscheint im Rückblick nicht sehr überraschend. Die zentrale Bedeutung des Papsttums für die mittelalterliche Kirche erscheint evident. Wem anders, als dem Papst, sollte es zukommen, die Christen zu einem bewaffneten Hilfszug zu den Heiligen Stätten aufzurufen? Allerdings ist das die moderne Perspektive, die sich aus der Führungsrolle des Papsttums in der hoch- und spätmittelalterlichen Kirche ergibt. Die Kirche des frühen Mittelalters zeigt ein ganz anderes Bild. Und es ist eben diese Veränderung in der Kirchenstruktur, die in der Mitte des 11. Jahrhunderts einsetzte, und aus der das Papsttum schließlich als Kopf der lateinischen Christenheit hervorging, die das frühe Mittelalter beendete und die Phase des hohen Mittelalters einleitete, die wir mit den Kreuzzügen verbinden.