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PD Dr. Marco Frenschkowski, Jahrgang 1960, ist evangelischer Theologe und Religionswissenschaftler. Seine Forschungsschwerpunkte: Antike und moderne Religionsgeschichte sowie das Verhältnis von Religion und Kultur.

Zum Buch

Heilige Schriften der Weltreligionen und religiösen Bewegungen

Der Band stellt in Form kurzer, lesbarer Essays nicht nur die Heiligen Schriften der klassischen Weltreligionen nach Inhalt, Geschichte, Gliederung und Bedeutung vor, sondern behandelt auch Neue Religiöse Bewegungen (einschließlich mancher Gründungen der letzten Jahrzehnte), alte Volksreligionen (deren »heilige Überlieferungen« oft erst nachträglich fixiert wurden) und schließlich die Geschichte der Erforschung dieser Schriften. Dabei werden auch zahlreiche Schriften und Religionsgemeinschaften besprochen, die noch in keinem vergleichbaren Buch berücksichtigt worden sind.

Viele weiterführende Hinweise (auch aus dem Internet) machen den Band zu einer umfassenden und praktischen Einführung in das Thema.

Marco Frenschkowski
Heilige Schriften der Weltreligionen
und religiösen Bewegungen

Marco Frenschkowski

Heilige Schriften
der Weltreligionen
und religiösen Bewegungen

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Alle Rechte vorbehalten

Copyright © by marixverlag GmbH, Wiesbaden 2012
Covergestaltung: Thomas Jarzina, Köln
Bildnachweis: akg-images GmbH, Berlin
eBook-Bearbeitung: Bookwire GmbH, Frankfurt am Main

ISBN: 978-3-8438-0224-6

www.marixverlag.de

INHALTSVERZEICHNIS

VORWORT

1. HEILIGE SCHRIFTEN: EINE ARBEITSDEFINITION

2. DAS ALTE TESTAMENT (HEBRÄISCHE BIBEL, TENACH), MIT EINEM ANHANG ÜBER DEN TALMUD

3. DAS NEUE TESTAMENT

4. DIE BIBEL ALS SAMMLUNG UND IHRE ÜBERSETZUNGEN

5 ANSÄTZE KANONISCHER TEXTSAMMLUNGEN IM ALTEN ORIENT

6. ANSÄTZE KANONISCHER TEXTSAMMLUNGEN BEI GRIECHEN UND RÖMERN

7. ANSÄTZE KANONISCHER TEXTSAMMLUNGEN BEI DEN VÖLKERN DES ALTEN EUROPA

8. DER KORAN

9. DAS AVESTA

10. GNOSTISCHE, MANICHÄISCHE UND MANDÄISCHE HEILIGE SCHRIFTEN

11. DIE VEDEN

12. DIE EPISCHEN ÜBERLIEFERUNGEN DES ALTEN INDIEN

13. DER PALI-KANON DES BUDDHISMUS

14. MAHAYANA- UND VAJRAYANA-SCHRIFTEN

15. KANJUR UND TANJUR, DIE HEILIGEN SCHRIFTEN DES TIBETISCHEN BUDDHISMUS, MIT EINEM ANHANG ÜBER DEN KANON DER BON-RELIGION

16. DER SANZANG DES CHINESISCHEN UND JAPANISCHEN BUDDHISMUS

17. DIE HEILIGEN SCHRIFTEN DER JAINAS

18. ADI GRANTH SAHIB

19. DIE HEILIGEN SCHRIFTEN DES KONFUZIANISMUS

20. DAS DAODEJING UND ANDERE HEILIGE SCHRIFTEN DES DAOISMUS

21. DIE HEILIGEN SCHRIFTEN DER SHINTO-RELIGION (KOJIKI UND NIHONGI)

22. ANSÄTZE ZUR ENTSTEHUNG HEILIGER SCHRIFTEN IN KULTUREN NORD- UND MITTELAMERIKANISCHER INDIANER (WALLAM OLUM, POPOL VUH U.A.)

23. DAS BUCH MORMON U.A. HEILIGE SCHRIFTEN DER MORMONEN

24. HEILIGE SCHRIFTEN IN NEUEN RELIGIÖSEN BEWEGUNGEN JAPANS UND KOREAS EINSCHLIESSLICH DER VEREINIGUNGSKIRCHE

25. HEILIGE SCHRIFTEN DER BAHAI, DER YEZIDEN, DER DRUSEN UND ANDERER AUS DEM ISLAM ENTSTANDENER RELIGIONSGEMEINSCHAFTEN

26. HEILIGE SCHRIFTEN WESTLICH GEPRÄGTER NEUER RELIGIÖSER BEWEGUNGEN

27. HEILIGE SCHRIFTEN NEOMAGISCHER, NEOGNOSTISCHER UND ESOTERISCHER RELIGIONSGEMEINSCHAFTEN

VORWORT

In einer multikonfessionellen und multikulturellen Gesellschaft ist es selbstverständlich, etwas über den Glauben, die Religion, die Wertesysteme anderer Menschen zu wissen. Zwar gibt es auch in unserer Gesellschaft zahlreiche religiöse Analphabeten, denen es nicht nur an Wissen, sondern auch an elementarer Sensibilität für religiöse Themen mangelt. Und leider sind auch Menschen nicht selten, deren persönlicher Zugang zu religiösen Themen durch die übermächtige Arbeits- und Freizeitkultur der westlichen Gesellschaft sozusagen beschnitten wurde – denen ein Leben lang das spontane Interesse am Religiösen gedämpft und unterdrückt worden ist, so wie kreative, musische oder andere Aspekte des Humanen gedämpft und unterdrückt sein können in einer Gesellschaft, in der Arbeitswelt und kommerzielle Freizeitkultur totalitäre Ansprüche auf die Zeit und die Energie von Menschen erheben.

Andererseits hat sich jedoch eine Grundannahme einer älteren und verbreiteten Religionstheorie der Moderne nicht bestätigt, nämlich die Säkularisationsthese. Diese – zuerst in Ansätzen im 18. Jhdt. im Zuge der Aufklärung formuliert, später im 19. und 20. Jhdt. in vielen religionskritischen Modellen präzisiert – rechnete damit, daß in der Moderne Religion grundsätzlich weniger wird. Tatsächlich war die Erwartung bei nicht wenigen Stimmen aus unterschiedlichen Lagern, das, was gemeinhin »Religion« heißt, werde noch eine Weile wimmernd zu Boden liegen – und dann einen glanzlosen Tod sterben, ersetzt durch Wissenschaft und Kunst. In bildungsbürgerlichen Kreisen war auch in Deutschland eine solche Annahme (schon in der Zeit um 1900, und besonders in den 1960er und 1970er Jahren) nicht selten, wenn sie auch kaum je so deutlich ausgesprochen wurde. Als Theorie der Religionswissenschaft hat die Säkularisationsthese noch vor etwa 30 Jahren eine Reihe von Neuformulierungen erfahren. Aber tatsächlich ist es ja ganz anders gekommen. Die Säkularisationsthese muß als empirisch widerlegt gelten. Religion wird nicht »weniger« in irgend einer sinnvollen Bedeutung des Wortes. Aber sie wechselt ihre Gestalt, sie durchlebt Metamorphosen, sie lädt gesellschaftliche Bereiche »religiös auf«, bei denen das nicht vorhersehbar war, wenn traditionelle Religionen schrumpfen. In jedem Fall ist Religion wieder in den Mittelpunkt gesellschaftlichen Interesses gerückt – in Faszination und Abwehr, in ihren hellen und dunklen Gestalten. Sie wurde nicht weniger – sie nahm andere Gestalten an, zu denen auch Formen der Verweigerung gegenüber der Moderne gehören, aber natürlich und vor allem Formen des Wiederentdeckens spiritueller und als heilvoll erfahrener Überlieferungen.

Einerseits hat die multikulturelle Gesellschaft das Kennenlernen von Religionen erleichtert. Andererseits hat sie es aber auch erschwert. Es ist zunehmend leicht geworden, im Zuge des weltweiten Tourismus fremde Länder und eben auch Kultstätten und religiöse Plätze kennenzulernen. Viele Menschen haben schon in einem jungen Alter Moscheen und buddhistische Tempel, indianische Rituale oder das katholische Brauchtum der romanischen Länder »erlebt«. Sie leben daher nicht selten in der Illusion, fremde (oder eigene) Religionen zu »kennen«: sie haben sie ja »gesehen«. Internet und Fernsehen haben »visible religion« leicht zugänglich gemacht, und es ist auch nicht schwer, den Papst oder den Dalai Lama einmal »live« zu erleben. Reisen um die Welt sind leicht zu haben – wenn man Geld hat. Aber nicht wenige Reisende scheinen begabt, alles in einem spirituellen Sinn Wichtige dabei zu verpassen.

Vielleicht hat diese mediale und auch reale Präsenz von »visible religion«, sichtbarer Religion den gedanklichen Reichtum des Religiösen, seine spezifischen Deutungs- und Symbolpotentiale eher verdeckt. Die leichte Zugänglichkeit elementarer Information hat es für viele, leider sogar für sehr viele Menschen faktisch verschleiert, wie wenig sie tatsächlich über die Tiefen ihrer eigenen, geschweige denn einer anderen Religion wissen. Andererseits hat die Zahl der Suchenden sicher nicht abgenommen. Und eine gute und gesunde Neugier hat immer gewußt, daß Religion interessant, merkwürdig und oft faszinierend ist – und in ganz unerwartete Bahnen führen kann. Freilich ist Religion auch gefährlich – der Mensch ist nicht immer und unbedingt am edelsten da, wo er religiös ist. Die Themen »Religion und Gewalt«, »Religion und Terrorismus« sind allgegenwärtig. Sie verdecken nicht die lebenserschließende und -erhellende Kraft und Funktion von Religion: aber sie zeigen ihre Schattenseiten. In jedem Fall: ein solides Kennenlernen einer Religion ist nur über eine Beschäftigung mit ihren Heiligen Schriften möglich. Daneben verspüren viele Menschen auch ein gut nachvollziehbares Bedürfnis, Religionen an ihren Quellen – und aus ihren Quellen heraus – kennenzulernen. Dazu bietet dieses Buch eine Hilfestellung. Es führt ein in die Heiligen Schriften der großen Weltreligionen, blickt aber auch auf traditionelle Volksreligionen und ergänzend auf die zahlreichen Neuen Religiösen Bewegungen, deren Zukunft noch nicht ausgemacht ist. Sie alle sind Teil der entstehenden globalen multireligiösen Gesellschaft.

1956 veröffentlichte der Religionswissenschaftler Günter Lanczkowski (1917–1993) seine kleine Einführung »Heilige Schriften. Inhalt, Textgestalt und Überlieferung«, damals in der Reihe der »Urban Bücher« des Kohlhammer Verlages Stuttgart. In 18 knappen Kapiteln hat Lanczkowski ein in seiner Art geniales Resümee dessen vorgelegt, was ein gebildeter Mensch über dieses Thema wissen möchte, ohne zum »Fachmann« werden zu müssen. Es ist mir, wie ich hier gern zugestehen möchte, eine besondere Freude, für den Marixverlag Wiesbaden ein Büchlein zu schreiben, welches (wenn auch in etwas kürzerer Form) einem ähnlichen Zwecke dienen soll wie Lanczkowskis »Heilige Schriften« – die faktisch das erste Buch zum Thema waren, welches ich 1971/72 gelesen habe, als ich anfing mich ernstlich für die Religionen der Welt zu interessieren. Ich kann mich noch gut an die immense Faszination erinnern, welche Lanczkowskis Buch bei mir – und sicher auch bei anderen Leserinnen und Lesern – auslöste, und an die Leidenschaft, möglichst viele, wenn nicht alle der von ihm besprochenen Texte auch selbst in die Hände zu bekommen. (Man wird sich erinnern, daß dies lange vor dem Internetzeitalter war, und selbst das Fotokopieren in vielen Bibliotheken nicht ohne Komplikationen ablief – und nicht selten noch gar nicht möglich war).

Seitdem ist manches ähnliche Buch erschienen, wenn auch keines die Souveränität von Lanczkowski erreichte. Im deutschen Sprachraum nenne ich exemplarisch noch »Heilige Schriften. Eine Einführung«, hrg. von Udo Tworuschka, Darmstadt 2000, eine gedanken- und materialreiche Sammlung von Essays zum Thema. Mit 318 Seiten deutlich umfangreicher als Lanczkowski oder auch als der vorliegende Band, bietet Tworuschkas Sammelband einerseits mehr, andererseits durch manche Beschränkung auch weniger als das ältere Werk aus den 1950er Jahren. Im Gegensatz zu dem von Tworuschka herausgegebenen Band soll das vorliegende Buch durchgehend allgemeinverständlich sein. Für das weitergehende Studium ist der von Udo Tworuschka hrg. Band eine nützliche und gern empfohlene Anschaffung, die vielfach über neuere Forschungen informiert. Vor allem im anglo-amerikanischen Sprachraum existieren zudem eine Reihe populärer, oft esoterisch geprägter Darstellungen zur Sache. Ich nenne exemplarisch Rufus C. Camphausen, »The Divine Library. A Comprehensive Reference Guide to the Sacred Texts and Spiritual Literature of the World«. Rochester, VT 1992. Der Wert dieses und mancher ähnlicher Bücher ist leider nur sehr begrenzt.

Insgesamt steht zu befürchten, daß die sehr viel leichtere Zugänglichkeit der Texte im Internet- und Amazon-Zeitalter doch die Zahl ihrer sorgfältigen Leserinnen und Leser nicht unbedingt erhöht hat. Das ist bedauerlich. Es wäre mir eine große Befriedigung, wenn die nachfolgende Einführung in die Heiligen Schriften der Religionen bei manchen Leserinnen und Lesern eine ähnliche Nachfrage nach den Texten selbst auslösen würde, wie es bei mir seinerzeit durch Lanczkowskis Buch geschehen war. Nur daran soll aus meiner Sicht sein Wert bemessen sein: führt es zu den Texten hin, öffnet es Türen zu den Heiligen Schriften selbst. Eine Textanthologie ist in diesem Rahmen nicht möglich. Wenn bei einem übersetzten Zitat der Übersetzer nicht angegegeben ist, stammen die Übersetzungen vom Verfasser dieses Buches. Die Darstellung beginnt mit biblischen Texten, weil an fortlaufende (nicht einfach blätternde) Lektüre gedacht ist, und Leserinnen und Leser unseres Kulturraumes von Vertrauterem zu weniger Vertrautem geführt werden sollen.

Auf wissenschaftliche Transkriptionen mit zahlreichen diakritischen Zeichen wurde verzichtet. An einigen Stellen wurden vereinfachte wissenschaftliche Transkriptionssysteme verwendet, insbesondere wenn Begriff und Titel von Werken neu eingeführt werden.

Ein Wort noch zum Umschlag dieses Buches. Abgebildet ist eine indische Miniatur der Pahari-Schule (19. Jhdt.), welche im traditionellen »Guler-Stil« der Mogulkunst die Silbe OM darstellt, die in vielen indischen Religionen als Ausdruck der Essenz des göttlichen Prinzips gilt (Gouache auf Papier., Inv. 756, Benares, Bharat Kala Bhawan Museum).

Hofheim am Taunus, Januar 2007

1. HEILIGE SCHRIFTEN: EINE ARBEITSDEFINITION

Als heilige Schriften bezeichnet die Religionswissenschaft die normativen Texte von Religionen. Der Begriff ist damit allerdings vorerst nur ungenau bestimmt und wird in der Religionswissenschaft auch meist als eher vager Ober- oder Referenzbegriff verwendet. Die einzelnen Religionen verstehen unter ihren normativen Texten etwa je sehr unterschiedliches. Dazu treten die Außenwahrnehmung durch andere Religionen, und die vielschichtige Auslegungs- und Rezeptionsgeschichte Heiliger Texte. Es ergibt sich ein breites Spektrum von Möglichkeiten, was in einer Religion oder in einem kulturellen Umfeld als »heiliger Text« gesehen werden kann. Auch die Autorität, die diesem Text zugebilligt wird, kann ganz unterschiedlich gestaltet sein. Dennoch besteht – auch umgangssprachlich – ein gewisser Konsens, an den wir anknüpfen können. Die Bibel und den Koran, den Pali-Kanon des Theravadabuddhismus oder auch das Buch Mormon wird jeder sofort als heilige Schriften lebender Religionen identifizieren. In vielen Fällen ist die Entscheidung aber sehr schwierig. Schon die klassische griechische Kultur und Religion besaß kein »heiliges Buch« im Sinne einer Bibel. Aber Homer war mit seinen beiden großen Epen Ilias und Odyssee eine konstante Referenzgröße für die gesamte hellenistische Welt, und viele kleinere religiöse Gruppen (Orphiker, Pythagoreer, Hermetiker, manche Mysterienreligion) besaßen normative und von ihren Anhängern verehrte Texte. Wir werden sie aus unserer Betrachtung jedenfalls nicht von vornherein ausschließen, sondern fragen, wie sich die Rezeptionsphänomene solcher Texte dem Existenzmodus einer Heiligen Schrift zumindest annähern.

Wir bezeichnen als »Heilige Schriften« im Sinne einer »Familienähnlichkeit« Schriften, die eine größere Anzahl der folgenden Eigenschaften innehaben (wobei jede einzelne der genannten Eigenschaften aber auch fehlen kann):

1. Die Schrift wird von einer Religionsgemeinschaft als normativ betrachtet, d.h. Fragen des Glaubens, des Rituals und der Ethik werden unter Berufung auf sie entschieden. Diese Entscheidung wird meist als letztgültig betrachtet.

2. Die Schrift spielt eine grundlegende Rolle im Gottesdienst, in Kult und Ritual einer Religionsgemeinschaft und wird dort – oft in einer besonderen und feierlichen Art und Weise – im Wortlaut zitiert.

3. Die Mitglieder einer Religionsgemeinschaft betrachten die Schrift als Gründungsdokument, als zentralen Text oder zentrale Referenzgröße ihrer Religion.

4. Die Schrift wird intensiv ausgelegt, d.h. interpretiert; eventuell haben sich eigene Richtungen und Schulen um verschiedene Auslegungsmöglichkeiten gebildet.

5. Die Schrift gilt als in besonderer Weise von der Gottheit bzw. den Göttern inspiriert oder mit einer Gründerpersönlichkeit verbunden. Oft ist sie das eine und wesentliche Dokument (bzw. Sammlung von Dokumenten), welches die Lehre der Gründerpersönlichkeit (wenn die Religionsgemeinschaft eine solche kennt) ausdrückt. In jedem Fall legitimiert sich eine Heilige Schrift oft durch einen besonderen, mit dem anderer Bücher nicht zu vergleichenden Ursprung. Dabei spielen Interpretamente einer Offenbarung bzw. eines Offenbarungsempfanges eine besondere Rolle, z. B. die biblische Idee einer Inspiration, einer Eingebung durch den Heiligen Geist.

6. Umfang und Text der Schrift oder Schriftensammlung waren in einer Anfangsphase der Religion noch weniger bestimmt, wurden aber – oft in einem formalen, institutionell abgesicherten Akt – fixiert (»kanonisiert«). Im Falle einer Schriftensammlung ist der Umfang der Bücher, welche Teil der Sammlung sind, präzise festgelegt, oft gilt das auch für ihre Reihenfolge. Daneben existieren oft andere Gruppen von Texten (»Apokryphen«), die ehemals oder nur bei einer Teil- und Splittergruppe der Religionsgemeinschaft als Teil derselben Sammlung heiliger Schriften galten oder gelten. Aber die Geltung einer Heiligen Schrift hängt nicht unbedingt an einer Kanonisierung; diese ist nur ein möglicher Modus der Stabilisierung heiliger Bücher in ihrer Funktion für eine Gemeinschaft.

7. Die Schrift oder Schriftensammlung sammelt in als besonders authentisch geltender Weise die Überlieferungen, das Erzählgut, die Offenbarungsinhalte, Lieder, Rituale oder weisheitlichen Texte einer Religionsgemeinschaft.

8. Die Schriftensammlung sammelt oft die – faktisch oder der Überlieferung zufolge – ältesten Texte und Zeugnisse einer Religionsgemeinschaft.

9. Die Schriften werden in der Frömmigkeit einer Religion mit besonderer Liebe und Verehrung gelesen und zitiert, sie inspirieren Kunst, Ethik, Literatur, Musik und Erzählkultur stärker als andere religiöse Texte.

10. Die Schrift gilt als in einer himmlischen oder jenseitigen Welt sozusagen »archetypisch« präsent. Oft besteht die Vorstellung, daß sie den Menschen eigens offenbart wird, aber bei Gott oder den Göttern schon vor ihrer irdischen Niederschrift existiert hat.

11. Die Schrift wird von einer Religionsgemeinschaft begrifflich oder in einem rituellen Vollzug von anderer religiöser Literatur unterschieden. Sie hat einen qualitativ anderen und höheren Stellenwert als sonstige religiöse Literatur, auch wenn diese andere Literatur durchaus hochgeschätzt wird. Besondere Zitationsformeln können das verdeutlichen.

12. Es gelten besondere Regeln für den respektvollen Umgang mit dem materiellen Träger der Schrift, d.h. mit dem Buch, der Schriftrolle o.ä. Diese unterscheiden Heilige Texte deutlich von sonstiger Buchkultur.

Keines dieser Kriterien definiert allein eine Heilige Schrift. Jedes dieser Kriterien kann auch fehlen. Insofern handelt es sich um eine »Familienähnlichkeit« von Texten. Familienähnlichkeiten definieren sich über eine Reihe von (optischen oder Verhaltens-) Eigenschaften, von denen jede einzelne auch ausfallen kann, die aber doch zusammengenommen das »Typische« einer Familie beschreiben. Einige weitere Erklärungen und erste Beispiele werden hilfreich sein.

Zu 1. Dabei sind Heilige Schriften – um eine Unterscheidung aus der altprotestantischen Orthodoxie zu verwenden – eher Norma normans (verbindliche Norm, die selbst anderes normiert) als Norma normata (Norm, die sich ihrerseits an einer übergeordneten Norm messen lassen muß). Mit dieser Begrifflichkeit unterschieden die lutherischen Kirchen im späten 16., frühen 17. Jhdt. zwischen der Art von Verbindlichkeit und Normativität, welche der Bibel (als der christlichen Heiligen Schrift) einerseits und den lutherischen Bekenntnisschriften (Texten wie der Confessio Augustana von 1530 oder dem zusammenfassenden Konkordienbuch von 1580) andererseits zukamen. In der Religionsgeschichte ist dieses Kriterium oft weniger zentral als vom Christentum her zu erwarten: viele Heilige Schriften normieren z. B. eher Rituale und Gebete (die Veden, das Avesta) als Glaubensvorstellungen.

Zu 4. Oft werden Streitigkeiten und Diskussionen in einer Religion unter Berufung auf ihre Heiligen Schriften geführt. Wörtliche Zitate sind dabei von großer Bedeutung. Auch gibt es – parallel in verschiedenen Religionen – verschiedene Typen von Auslegungen. »Puristen« wollen die Religion freihalten von späteren Entwicklungen, und vertreten oft ein »sola scriptura«-Prinzip wie der christliche Protestantismus. »Mystiker« wollen einen verborgenen Tief- und Hintersinn heiliger Schriften entdecken, der sich oft erst in der Versenkung oder existentiellen Berührung mit der Gottheit erschließt. »Dogmatiker« wollen die inhaltlichen Aussagen Heiliger Schriften in kohärente gedankliche Systeme fassen und diese vor den Fragen ihrer Gegenwart verantworten, usw. Die Muster der Schriftauslegung ähneln sich in den verschiedenen Religionen erstaunlich, auch wo es keine direkten kommunikativen Kontakte gegeben hat. Es ließe sich geradezu eine Typologie des interpretierenden Umganges mit Heiligen Schriften aufstellen, wie er in den verschiedenen Religionen praktiziert wird. Wichtig ist die nahezu universelle Gültigkeit des Phänomens »Auslegung«. Heilige Texte sind konstante Referenzgrößen für die gedankliche Entwicklung und Vertiefung von Religionen.

Zu 5. Offenbarungsliteratur – also Texte, die beanspruchen, aus einer göttlichen Offenbarung zu stammen, oder von denen das geglaubt wird – und Heilige Schriften überschneiden sich, sind aber keineswegs identisch. Während im jüdisch-christlichen Bereich das zentrale Interpretament der Offenbarung die Inspiration ist – Heilige Texte gelten als vom Heiligen Geist inspiriert (s. unter Kap. 2.) – existieren in anderen Religionen auch andere Interpretamente religiöser Legitimation. Die tibetische Literatur etwa – um ein uns kulturell fernerliegendes Beispiel zu kontrastieren – kennt eine eigenen Kategorie des »Schatzfundes«: Bücher, die nach der Legende vorzeiten von bedeutenden heiligen Männern geschrieben und in der Erde (etwa in Gräbern), in Klostermauern oder Götterstatuen verborgen und zu einem späteren Zeitpunkt »entdeckt« werden. Diese Texte heißen auf tibetisch gTer-ma »Schatz, Lagerhaus«, der Entdecker ist ein gTer-ston »Schatzfinder«. In der Nyingma-Schule des tibetischen Buddhismus sind sie v.a. mit dem hochverehrten Namen Padmasambhavas verbunden (tibetisch Guru Rinpoche), der den Buddhismus in Tibet im 8. Jhdt. begründete. Die tibetische Überlieferung kennt sogar Texte, welche der Sage nach mehrere Phasen der »Verborgenheit« erlebt haben, und jeweils wiederentdeckt wurden.

Eine Erzählung von der Auffindung Heiliger Bücher im Grab des altrömischen Königs Numa im Jahr 181 v. Chr. wurde in der späten Republik von Varro überliefert (bei Plinius d. Ält., Naturalis historia 13, 84–87; Augustinus, De civitate dei 7, 34, 1-15). Auch an das Buch Mormon und seine Auffindungsgeschichte wird man denken dürfen (s. Kap. 23), und eine arabische Legende wohl aus dem 8. Jhdt. weiß zu erzählen, wie der griechische Weise Balinas (Apollonius von Tyana, 1. Jhdt. n. Chr.) in einer Grabkammer die Urfassung der »Tabula Smaragdina« gefunden habe, des Grundtextes der arabischen Alchemie, die ein mumifizierter König auf einem goldenen Thron in Händen hält. Weitere und ganz unterschiedliche Legitimations- und Autorisierungsmuster Heiliger Schriften werden uns im folgenden passim begegnen. Wichtig ist es, hier nicht einfach die jüdisch-christlichen Vorstellungen zu verallgemeinern. Was eine Schrift »heilig« (o.ä.) macht, wird in den verschiedenen Religionen ganz unterschiedlich bestimmt bzw. narrativ ausgefüllt. Den Topos, die Heiligen Schriften seien einmal »vergessen« worden, und hätten dann neu von Esra veröffentlicht werden müssen, kennt freilich auch das Judentum (babylonischer Talmud, Sukka 20a); doch ist nicht an einem materielle Wiederauffindung gebracht (doch vgl. in Kap. 2 zur Auffindungslegende des Deuteronomiums). Er erreicht aber nie jene Bedeutung, die er v. a. in Tibet hat.

Noch eine weitere, dem heutigen Menschen fremde Vorstellung kann das verdeutlichen. Eher eine volkstümliche Form von Offenbarungsliteratur ist auf den ersten Blick der Himmelsbrief, ein Text (oft in Briefform), der beansprucht, im buchstäblichmateriellem Sinn aus dem Himmel zu stammen, also z. B. von einem Engel überreicht worden zu sein. Solche Himmelsbriefe spielen in der christlichen, aber z. B. auch der chinesischen Sagen- und Legendenbildung eine Rolle, sie werden vielfach als Amulette und Talismane verwendet (z. B. als Stallsegen, als Sprüche gegen Kriegsgefahr oder Feuersbrünste, oder als Orakeltexte), und gehören meist in den Bereich des Schutzzaubers und seiner Legitimitionsvorstellungen. In den Bereich eigentlicher Heiliger Schriften im engeren Sinn führen sie zwar kaum, sondern bilden eher ein Stück verbreiteten Volksglaubens. In Deutschland waren noch in den 1920er Jahren in Form bedruckter Bilderbogen wohlbekannt. Dabei hatten sich bestimmte feste Typen herausgebildet (Gredoria-Typ, Holsteiner-Typ, Graf-Philipp-Brief, Kaiser-Karl-Brief u.a.). Die christlichen Kirchen haben ihre Verbreitung meist als abergläubisch zu verhindern versucht, allerdings ohne großen Erfolg. »Himmesbriefe« gab es jedoch auch schon z.B. in der antiken jüdischen und altchristlichen Literatur (Hesekiel 2, 9-3, 2; vgl. Apk. 10 und die »Adlerbriefe« Paralipomena Jeremiou 7f.), in altkirchlichen Sekten (Eusebius, Historia ecclesiatica VI, 38 von den Elkesaiten), und auch schon im alten Ägypten (Totenbuch). In der hellenistischen Literatur ist das Motiv nicht selten (Briefe des Asklepios), zuweilen satirisch verfremdet (so bei Lukian im 2. Jhdt.). Vielleicht verwendet 2. Kor. 3, 3 den Himmelsbrief als Metapher für den von Gott gesandten Apostel.

Zu 8. Manche Sammlungen Heiliger Schriften enthalten daher – wie das Alte Testament – auch durchaus profane (weltliche) Texte, weil diese eben Teil der wenigen wirklich »alten« erhaltenen Schriften sind. »Alter« hat im Kontext Heiliger Schriften oft eine besondere, religiöse Qualität. Heilige Schriften sind oft Dokumente eines sakralen »Anfangs«, einer heiligen Zeit.

Zu 9. Zum besonderen Umgang mit den heiligen Schriften einer Religion gehört insbesondere das Auswendiglernen von Texten. In vielen islamischen Ländern sind z. B. Wettbewerbe in der Kenntnis des Korans beliebt – mittlerweile auch als Fernsehinszenierungen mit Showelementen (etwa im ägyptischen Fernsehen). Zahlreiche Heilige Schriften wurden jahrhundertelang überhaupt nur mündlich übermittelt, bei vielen hat die mündliche Tradition immer ein Eigengewicht neben der schriftlichen Überlieferung gehabt. So gilt es etwa für den hinduistischen Raum, wo die Veden bis in die jüngste Zeit immer eher von einem Lehrer und daneben im kultischen Vollzug als allein aus Büchern erlernt wurden. Zahlreiche gebildete Hindus können zumindest die (jüngere) Bhagavadgita auswendig. Die evangelischen Kirchen in Deutschland haben sich erst seit wenigen Jahrzehnten von der alten Praxis des Auswendiglernens heiliger Texte etwa im Konfirmandenunterricht verabschiedet (beziehungsweise sie auf ein Minimalmaß reduziert). In anderen Religionsgemeinschaften wäre eine solche Minimierung des religiösen Lernstoffes undenkbar, so ist es in den Ländern des Theravada-Buddhismus üblich, daß Kinder eine Reihe elementarer ethischer Regeln (z. B. die 5 silas), daneben aber auch manche Verse aus dem Dhammapada auswendig lernen, wenn irgend möglich auch auf Pali. Daneben wird die Schrift selbst oft an Texten aus den Heiligen Büchern erlernt. So erwerben bereits 4- und 5-jährige Kinder in Koranschulen (Madrassen) Koran- und damit auch Arabischkenntnisse. Zumindest die 1., die 96. und die 112. Sure kann sehr bald jedes islamische Kind auswendig; bis zum Erwachsenenalter tritt auch bei nicht-akademisch gebildeten Muslimen nicht selten praktisch der ganze Koran hinzu. Wer alle 6236 Verse des Koran (die Zählungen variieren) auswendig und auch tatsächlich aufsagen kann, darf sich stolz »Hafiz« nennen – eine Ehre, die in allen islamischen Ländern mit Prestige und Ansehen verbunden ist. Auch blinde oder sonst körperbehinderte Menschen werden gerne »Hafiz«, und können sich auf diese Weise Prestige und eventuell eine Einnahmequelle erwerben, wenn sie zu feierlichen Koranrezitationen geladen werden. Der traditionelle (rabbinische) jüdische Unterricht begann mit der Lektüre des Buches Leviticus und orientierte sich die ersten Jahre fast ausschließlich an Texten der hebräischen Bibel, eher er später zu Mischna und Talmud fortschritt. Auch dabei hatte das Auswendiglernen einen altgeheiligten Platz inne.

Häufig sind bestimmte, für andere Bücher nicht übliche Methoden und Stile des Rezitierens, des öffentlichen Vortrags, überhaupt der inszenierenden Performanz. Die jüdische Tora und der islamische Koran werden traditionell in ganz spezifischer, kantilierender Weise vorgetragen, die eigens erlernt werden muß. Auch im christlichen Kontext hat eine Schriftlesung im Gottesdienst einen anderen »Klang« als ein sonstiges Zitat. (Selbst evangelischer und katholischer Vortragsstil lassen sich dabei oft deutlich unterscheiden). Diese Besonderheit des »Klangs« macht die Heiligen Texte einer Religion für die Gläubigen leichter identifizierbar, und drückt eine besondere Wertschätzung aus. Das »Chanten« heiliger Texte in buddhistischen Klöstern, das in gleichbleibendem Rhythmus und meditativer Versenkung geschieht, gehört zu den unvergesslichen Eindrükken für jeden Besucher. (Ihm korreliert die inhaltliche Redundanz vieler buddhistischer Texte, die eben für einen solchen meditierenden Vollzug geschrieben sind, der mit abendländischen Lesegewohnheiten praktisch unvereinbar ist). Das »Chanten« dient für Mönche und Nonnen im Buddhismus sowohl meditativen Zwecken als auch der Überwindung böser (z. B. unangemessener libidinöser) Einflüsse. Es schaltet den Geist von unruhiger Bewegtheit zu ruhiger Betrachtung um, und darf keinesfalls als »mechanische« rituelle Übung mißverstanden werden. Die Nachahmung des typischen Rezitationsstils für Heilige Schriften mit profanen Texten in einer nichtreligiösen Situation (z. B. einem Kabarett) hat für Gläubige oft etwas absichtlich Provozierendes, Religionsverachtendes, zuweilen geradezu Blasphemisches. Das Wissen um solche Empfindlichkeiten (die in hohem Maße kulturell variabel sind) gehört zur notwendigen Allgemeinbildung einer künftigen multireligiösen Gesellschaft (womit noch keineswegs präjudiziert sein soll, wie mit dabei entstehenden Problemen umzugehen sein wird).

Eine verehrende Rezeption muß nicht primär inhaltlicher Art sein (und dann pädagogisch vermittelt werden), sondern kann z. B. auch Ikonographie, Theater, Musik prägen. Heilige Schriften bestimmen nicht nur, was Religionen glauben – sie spannen einen Symbolraum aus, ein symbolisches Universum, in dem Gläubige leben und das ihre Lebenserfahrungen deutet und verstehbar macht. Sie prägen nicht nur ethische Praxis, sondern auch und oft vor allem rituelle Vollzüge. Dieser rituelle Bezug Heiliger Texte ist für Christen oft gewöhnungsbedürftig, die geneigt sind, Texte in erster Linie als Träger von »Inhalt«, »Bedeutung« zu verstehen. Aber viele Heilige Texte sind rituelle Handlungsanweisungen (z. B. im Falle von Avesta und Veden), die daher oft nur in Form von Andeutungen und Anspielungen erzählendes Gut tradieren. Begrifflich entfaltete »Theologie« kann aus solchen Texten oft überhaupt nicht entnommen werden; diese liegt nicht in ihrem Blick.

Zu 10. Die Tora gilt in manchen Richtungen des Judentums als Bauplan der Welt, d.h. es besteht die Vorstellung, Gott habe die Welt nach der schon vor Beginn der Welt (»präexistent«) bestehenden Tora geschaffen und gestaltet. Ähnlich glauben viele Muslime, der Koran existiere im Himmel als himmlisches Urbild bzw. sogar als eine Art »Urexemplar«, welches dem Propheten Mohammed sukzessive offenbart worden sei. Damit wird die Welt in ihrer Geschöpflichkeit zu einer Art Entfaltung der Tora bzw. des Korans. Solche Gedanken eignen sich zur philosophischen Vertiefung und Ausdeutung. Sie stehen im allgemeinen nicht am Anfang der Geschichte der betreffenden Religionen, sind aber doch von hohem Alter. Verwandt ist im Judentum z. B. die schon sehr früh bezeugte Idee, die Stiftshütte oder später der Tempel, also das zentrale Heiligtum der Überlieferung, sei nach einem »himmlischen Bauplan« erbaut worden (Ex. 25, 9. 40: die Stiftshütte wird nach dem tabnit »Modell« geschaffen, das Mose auf dem Berg Sinai gesehen hat). In einem weiteren Schritt wurde die Tora mit der präexistenten Weisheit, mit deren Hilfe Gott die Welt geschaffen habe, identifiziert (Sirach 1, 1-5. 26; 15, 1; 24, 1ff.; 34, 8; vgl. schon Sprüche 8, 22-31). Zur Annahme einer förmlichen Präexistenz der Tora war es dann nicht weit (Genesis Rabba 1, 4; babylonischer Talmud, Pesachim 54a u.ö. gehört die Tora zu den sechs bwz. sieben Dingen, die vor der Welt selbst erschaffen wurden). Nach dem Jerusalemer Talmud, Scheqalim 6, 1, 49d war sie in schwarzem Feuer auf weißem Feuer geschrieben. Nach Rabbi Aqibah (2. Jhdt.) war sie das Instrument, mit dem Gott die Welt schuf (Mischna Abot 3, 14). Andere jüdische Denker wie Saadja Gaon haben solche Ideen abgelehnt; sie waren für Juden nie »Dogma«, sondern ein traditionelles Interpretament der Toraverehrung. Auch der Koran wurde nach islamischer Überzeugung »herabgesandt« (Koran, Sure 26, 195 u.ö.), d.h. er existiert bereits vor seiner Offenbarung an den Propheten. Damit wird er zur »Mutter des Buches« (Sure 43, 3f.). Nur die Engel können diese Urschrift berühren (Sure 56, 77-80). Zwar versuchten auch im Islam die Mu imagetaziliten u.a. eher rationalistisch geprägte Theologien, die Vorstellung eines »himmlischen Buches« zu vermeiden, haben sich damit aber nicht durchsetzen können. Andere mythologische Interpretamente für den Ursprung Heiliger Schriften werden uns im folgenden immer wieder begegnen.

Das Motiv des Heiligen Buches überschneidet sich hier mit dem an und für sich nicht identischen Motiv des »Himmlischen Buches«. Schon altorientalisch sind die »Schicksalstafeln« der Götter, die auch im Schöpfungsgeschehen eine Rolle spielen. Seltener ist die Verehrung eines irdischen »Urexemplares«, obwohl alte Papyri, Inschriften o.ä. mit Heiligen Texten, die dicht an der Zeit ihres Ursprunges liegen, immer besonderes Interesse gefunden haben. Im Normalfall aber verfügen Religionen kaum über die Autographen ihrer Heiligen Schriften; die ältesten Textzeugen des Neuen Testaments etwa stammen aus dem 2. Jhdt.

Zu 12. Muslime wundern sich oft über den von ihnen als respektlos erlebten Umgang von Christen mit der Bibel, d.h. mit dem materiellen Gegenstand eines Bibelbuches. Muslime selbst dagegen waschen sich z. B. meist die Hände, bevor sie einen Koran aufschlagen, sie bewahren ihn in einer besonderen Hülle, an einem geschützen und hervorgehobenen Ort und auf jeden Fall getrennt von anderen Büchern auf. Sie würden den Koran niemals auf dem Boden oder an einem unreinen Ort liegenlassen. Viele Religionen haben feste Tages- oder Wochenzeiten, zu denen das Studium oder die Lektüre der heiligen Schrift zur festen Gewohnheit gehören. Oft ist dies z. B. der frühe Morgen, so bei den Sikhs oder den Mitglieder der koreanischen Vereinigungskirche (vgl. auch Koran, Sure 17, 78). Häufig sind auch im privaten Vollzug besondere Traditionen des Zitierens oder Kantilierens der Texte, die ein Schriftzitat oder eine Schriftlesung sofort erkennbar machen.

Im traditionellen Judentum werden unbrauchbar gewordene Heilige Schriften (auch andere Bücher, die den Gottesnamen enthalten) nicht weggeworfen, sondern in einem besonderen Raum der Synagoge gesammelt (der »Geniza«), der schließlich, wenn er angefüllt ist, zugemauert wird. Ähnlich werden auf Sri Lanka schadhaft gewordene Texte in Dagobas aufbewahrt, den »Hügelschreinen«, die auch als Reliquienstätten dienen und weithin sichtbar sind (andernorts im indischen Raum heißen sie Stupas).

Literatur (Allgemeines): Außer den im Vorwort genannten Büchern vgl. u.a. Frederick F. Bruce, Ernest G. Rupp (Hrg.), Holy Book and Holy Tradition. Manchester 1968 * Frederick M. Denny, The Holy Book in Comparative Perspective. Columbia, SC 1985 * Harold G. Coward, Sacred Word and Sacred Text. Scripture in World Religions. Maryknoll, NY 1988 * Jacob Neusner (Hrg.), Religious Writings and Religious Systems. Systematic Analysis of Holy Books in Christianity, Islam, Buddhism, Graeco-Roman Religions, Ancient Israel, and Judaism. Atlanta, GA 1989 * Wilfred Cantwell Smith, What is Scripture? A Comparative Approach. Minneapolis, MN 1993.

Von heiligen Schriften zu unterscheiden sind Klassiker. Diese gelten in Inhalt und Stil oft als vorbildlich, besitzen aber nicht den begründenden Rang, den Heilige Schriften für eine Religion innehaben. Insbesondere verbinden sich mit ihnen meist nicht die spezifischen Legitimationsvorstellungen, die Heilige Schriften kennzeichnen (»göttliche Inspiration« oder sonst übernatürlicher Ursprung). Doch sind die Grenzen fließend. Zusammenfassende Studien über Heilige Schriften enthalten z. B. oft auch ein Kapitel über die jüdischen Talmude (den babylonischen und palästenischen Talmud, die in der Spätantike entstanden sind). Diese galten im Judentum niemals als Heilige Schriften, sind aber in gewissem Maße für das rabbinische Judentum normativ (vor allem der babylonische Talmud) und stellen in jedem Fall Klassiker einer wesentlichen Richtung des Judentums dar. Und etwa im Buddhismus gelten auch viele späte Texte, die niemals Teil eines Kanons im engeren Sinn wurden, als »übernatürlich verursacht bzw. offenbart«. Andere Schriften sind im religiösen Alltag als Bild- und Metaphernspender und Quelle wesentlicher Vorstellungen allgegenwärtig, aber dennoch keine Heiligen Schriften. Viele solcher Grenzfälle werden in diesem Buch näher zu diskutieren sein. Puristische Grenzziehungen und allzu enge Definitionen sind für unser Thema nicht nützlich. Doch sind verehrte religiöse Texte einer Tradition deswegen noch keine Heiligen Schriften. Eine zu weite Ausweitung des Begriffs entspricht nicht dem Verständnis der Religionen von ihren schriftlichen Überlieferungen und ist deshalb auch religionswissenschaftlich nicht sinnvoll. Im allgemeinen betrachten wir als die Heiligen Schriften einer Religion solche Texte, die von diesen selbst – etwa im interreligiösen Gespräch – mit einem solchen Rang und Status versehen werden. Die unterschiedlichen Legitimationsmodelle u.ä., die dabei zum Tragen kommen, sind selbst Gegenstand religionswissenschaftlicher Forschung, nicht aber Bewertung.

Ein weiterer wichtiger Punkt ist zur Sprache zu bringen. Heilige Schriften sind dies als Ausdruck einer Religionsgemeinschaft. Sie sind eine soziale Größe, d.h. sie erhalten ihren Rang, ihren Status, ihr Ansehen wesentlich durch eine Gemeinschaft. Innerhalb dieser Gemeinschaft können sie in ganz unterschiedlicher Weise Verwendung finden, aber ohne Religionsgemeinschaft gibt es keine Heiligen Schriften. Auch dies unterscheidet sie von »spirituellen Klassikern«, vor allem in der modernen westlichen Welt. Klassiker sind Teil einer allgemeinen Kultur; sie werden nicht durch ihre Funktion für eine Religionsgemeinschaft bestimmt. Viele Heilige Schriften werden zu spirituellen Klassikern – oft gerade auch, manchmal sogar in besonderer Weise, außerhalb der sie tragenden Religionsgemeinschaft, wie es mit der Bhagavadgita oder dem Daodejing im Westen geschehen ist. Aber umgekehrt sind Klassiker deswegen noch keine Heiligen Schriften, vor allem wenn ihre Rezeption nur ein individueller Akt bleibt, und sie keine in irgendeinem Sinn »offizielle« Funktion für eine Religionsgemeinschaft haben.

Nicht alle Religionen sind Schriftreligionen. Tatsächlich ist der Typ der Schriftreligion erst historisch entstanden, und zwar keineswegs parallel zur Entstehung von Schriftlichkeit bzw. einer Schriftkultur überhaupt. Carsten Colpe hat vor Jahren die These vertreten, es habe überhaupt nur zwei voneinander unabhängige Prozesse der Kanonisierung Heiliger Texte in der Religionsgeschichte gegeben: denjenigen des Alten Testaments (der Hebräischen Bibel), und denjenigen des Tripitaka, des ältesten buddhistischen Kanons. Alle anderen Kanonisierungsprozesse seien in Anknüpfung und Widerspruch von diesen letztlich abhängig – das Neue Testament, der Koran, das Buch Mormon etc. vom Alten Testament, der jainistische und hinduistische Kanon und auch die diversen Kanones der chinesischen Religionen letztlich vom buddhistischen Kanon (z. T. in bewußter Nachahmung, die aber auch der Abgrenzung dienen kann). Diese These ist mit einiger Sicherheit überzogen – sie ist z. B. weder für das Avesta noch für den chinesischen Raum plausibel. Sie weist aber doch darauf hin, daß sich viele Heilige Schriften – gerade als Heilige Schriften, als Kanon einer Religionsgemeinschaft – im stillschweigenden oder auch lauten kritischen Gespräch mit anderen Religionen befinden. Der Koran ist ohne die islamischen Theorien über angebliche Verfälschungen der jüdischen und christlichen Heiligen Texte nicht zu verstehen. Der Pali-Kanon polemisiert heftig gegen die Welt des älteren Brahmanismus, einer frühen Form des Hinduismus. Das Buch Mormon ist von Anfang an als »3. Testament«, als Ergänzung der christlichen Bibel geschrieben, usw. Andererseits versteht sich etwa das Neue Testament des Christentums als Zeugnis einer »Erfüllung« der Prophetien des Alten Testaments, setzt dieses also ständig voraus. Diese sehr unterschiedlichen Formen der Bezugnahme auf frühere »Kanones« als Referenzgrößen müssen in eine vergleichende Analyse der Heiligen Schriften einbezogen werden. Man kann dies die durchgehende Referentialität Heiliger Texte nennen.

Literatur: Carsten Colpe, Art. Heilige Schriften, Reallexikon für Antike und Christentum 14 (1988), 184–223 * Ders., Sakralisierung von Texten und Filiationen von Kanons. In: Aleida und Jan Assmann (Hrg.), Kanon und Zensur. München 1987, 80–92.

Es besteht die sehr auffällige Tendenz, daß alle Religionen, die im Kontakt mit – oder im Schatten – einer Schriftreligion stehen, Züge einer solchen annehmen. Dies geschieht durch Verschriftlichungs-, Kanonisierungs- und Sakralisierungsprozesse von traditionellen Inhalten. Dies Beobachtung gilt keineswegs nur im Umfeld von Christentum und Islam. Z. B. bildet die alttibetische Bonreligion im Umfeld des buddhistischen Kanons (in seiner tibetischen Gestalt als Kanjur und Tanjur) selbst nicht nur Heilige Schriften, sondern einen organisierten Kanon ihrer Heiligen Texte heraus. Im islamischen Kulturraum hat die Differenzierung zwischen Religionen, die ein Offenbarungsbuch besitzen (ahl al-kitab »Volk des Buches«), und solchen, bei denen das nicht der Fall ist, zu weitreichenden Veränderungen in der »religiösen Landschaft« des Orients geführt. Religionsgemeinschaften konnten sich in der islamischen Welt nur behaupten, wenn sie Schriftreligionen waren. Als solche waren sie im Islam zumindest grundsätzlich geduldet (mußten aber z. B. eine Kopfsteuer zahlen), während Polytheisten ohne »Heilige Texte«, die sich auf eine nach islamischer Theologie authentische Offenbarung nicht berufen konnten, im Zuge der Ausbreitung des Islam regelmäßig vor die Wahl Tod oder Konversion gestellt wurden. Mandäer, Zoroastrier und andere Gruppen haben sich im Zuge dieser Rahmenvorgaben klarer als vormals als Buchreligionen und Gründungen durch eine biblische bzw. koranische Prophetengestalt profiliert; die erwähnten gnostischen Mandäer etwa haben Johannes den Täufer zum zentralen Gewährsmann ihrer Überlieferung gemacht, was er in vorislamischen mandäischen Traditionen noch nicht ist.

Sinnvoller als eine zu enge literarische Abgrenzung Heiliger Schriften ist eine mehrschichtige Typologie, die auch Rand- und Grenzphänomene berücksichtigt, insbesondere in religions-soziologischer Hinsicht. Dabei sind verschiedene Unterscheidungskriterien möglich. Eine auf den ersten Blick schlichte Unterscheidung nach der Länge der Texte führt in Wahrheit bereits auf wichtige soziologische Differenzen:

1. Manche religiöse Gruppen besitzen ein heiliges Buch von beschränktem Inhalt und Umfang, welches in vielen Fällen v.a. die Differenz gegenüber einer Mutterreligion definiert. So wird man sich den judenchristlichen Gebrauch von Varianten des Matthäusevangeliums vorzustellen haben (»Hebräerevangelium«, »Nazoräerevangelium« etc.; sie alle waren Varianten des großkirchlichen Matthäusevangeliums und sind heute nur noch in Fragmenten erhalten), und ähnlich auch das Buch Elxai oder Elchasai der oben schon einmal erwähnten altkirchlichen Gruppe der Elkesaiten aus dem frühen 2. Jhdt. (ebenfalls in Fragmenten erhalten). Manche gnostischen Gemeinschaften haben sich offenbar ebenfalls durch einen einzelnen Text definiert, so vielleicht eine »Thomas-Gruppe« durch das gnostische Thomasevangelium. Über die Details wissen wir leider nur wenig. Deutlichstes Beispiel ist der Islam, dessen Koran sehr dezidiert ein Buch ist (im Gegensatz zu AT und NT, die Büchersammlungen darstellen). Auch viele Mahayana-Richtungen kennen zwar einen großen Kanon mit vielen Schriften, verehren aber in ihrer religiösen Praxis doch ganz überwiegend einen Text, z. B. das Lotossutra oder die drei zusammengehörigen Reines-Land-Sutras (s. Kap. 14).

2. Manche religiöse Gruppen besitzen einen kleinen Kanon mit wenigen Texten, die aus zahlreichen möglichen anderen Texten ausgewählt wurden. Ein solcher Kanon hat oft ebenfalls klar abgrenzenden Charakter. Er soll vielfach genau definieren, was in einer Glaubensgemeinschaft geglaubt wird – und was nicht. Zugleich bestimmt er oft die soziale Gestalt der Religionsgemeinschaft. Hier ist an das Neue Testament der christlichen Kirchen zu denken, oder an Sammlungen vieler Neuer Religiöser Bewegungen wie der Bahai. Auch der konfuzianische Kanon mit seinen 5 »Klassikern« und ergänzenden 4 »Büchern« (die erst in der Song-Dynastie zusammengestellt wurden) ist in seinem Umfang überschaubar. In seiner in China jahrhundertelang staatstragenden Funktion (v. a. in der Beamtenausbildung) dient er ebenfalls einer Grenzziehung gegen alles »Fremde«.

3. Andere religiöse Gruppen besitzen größere Sammlungen, die eine längere Geschichte der Religion, etwa in einer Gründungsphase, oder auch über mehrere Jahrhunderte einer »Frühzeit«, dokumentieren. Das Alte Testament – die Hebräische Bibel bzw. der Tenach des Judentums – enthält Texte aus fast einem Jahrtausend. Ähnliches dürfte für das Avesta gelten. Diese und ähnliche Sammlungen dokumentieren die frühe Zeit einer Religion; manchmal stellen sie faktisch die einzigen literarisch überlieferten Quellen für diese Epoche dar. Umgekehrt definieren die Heiligen Texte einer Religion in diesem Sinn eine »kanonische«, d.h. maßgebende Zeit. Nach einer altjüdischen Auffassung (die von der alttestamentlichen Wissenschaft nicht mehr geteilt wird) endet der Kanon zeitlich mit Esra – dem letzten der Propheten, der dann manchmal mit Maleachi identifiziert wird (nach dem babylonischen Talmud, Traktat Megillah 15a; vgl. im apokalyptischen 4. Esra-Buch 12, 42). Es ist nicht die Heilszeit, die hier den Kanon definiert, sondern eher umgekehrt der Kanon, der eine frühere Zeit der Offenbarungsgeschichte abgrenzt. Mit dem zeitlichen Ende bzw. Abschluß des Kanons ist auch eine maßgebliche »Urzeit« vorbei, auf welche die gegenwärtige Zeit nur sehnsuchtsvoll zurückblicken kann. Die japanischen Sammelwerke Kojiki und Nihongi definieren die mythischen und legendären Anfänge Japans und damit zugleich den nationalen Charakter vor aller Durchdringung mit »Fremden«. Sie sind daher ebenso kulturelle wie religiöse Referenzgrößen. Ähnliches gilt auch für viele andere kanonische Sammlungen.

4. Wiederum läßt sich ein weiterer Typ beschreiben, der aus sehr umfangreichen, additiv angelegten Sammlungen besteht, die hunderte, oft sogar tausende von Texten umfaßen. Hierher gehören die Sammlungen des Daoismus und des chinesischen Buddhismus (Daozang und Sanzang), die große Teile der jeweils erreichbaren älteren religiösen Literatur dieser Religionen vereinen, und auch die tibetischen Sammelwerke Kanjur und Tanjur, die ein Vielfaches des Umfanges der Bibel besitzen. Solche »umfangreichen Kanones« gibt es auch – mutatis mutandis – in jüngeren Religionen. Die Church of Scientology etwa verehrt das gesamte nichtliterarische Werk ihres Gründers L. Ron Hubbard nach Gründung von Scientology 1954 als ihre Heiligen Texte. Diese haben einen Umfang von mindestens etwa 300 Bänden (wenn man transkribierte Vorträge hinzurechnet). Nur in einem weiteren Sinn hierzu gehören die frühen dianetischen Texte Hubbards (1950–1954), während das umfangreiche späte Romanwerk Hubbards (das zeilich jünger ist als seine scientologischen Schriften!) nicht den Status einer Heiligen Schrift innehat, sondern nur als »klassische Literatur« gilt (weitere Details hierzu in Kap. 26).

Kap. 26