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LEOPOLD FEDERMAIR

Adalbert Stifter und die Freuden der Bigotterie

Leopold Federmair

ADALBERT STIFTER UND DIE
FREUDEN DER BIGOTTERIE

OTTO MÜLLER VERLAG

www.omvs.at

ISBN 3-7013-1095-5
eISBN 978-3-7013-6095-6

© 2005 OTTO MÜLLER VERLAG SALZBURG–WIEN
Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Ulrike Leikermoser
Satz: Media Design: Rizner.at, Salzburg

Druck und Bindung: Ueberreuter, Korneuburg

Inhalt

1. Brigitta & Co.

2. Rettende oder vernichtende Kritik?

3. Was ist Bigotterie?

4. Das zerschlagene Fenster

5. Das Mädchen mit dem Wasserkopf

6. Das weiße Ungeheuer

7. Der Spätling

8. Gute Beispiele für die beste Welt

9. Der Baum mitten in der Welt

10. Allmählichkeit

11. Rosen und Marmor

12. Der Kaktus

13. Der Kult des Kultivierens

14. Agrarrebellen

15. Ökologie oder Terror?

16. Gewißheiten

Die Schöpfung

Verteidigung des Christentums

Das Tigerartige in uns

Der Sinn der Geschichte

Die Wirklichkeit

17. Ordnungsliebe

18. Stifter und der Antisemitismus

19. Das Offene und das Geschlossene

20. Das Handwerk der Sprache

Sätze

Dialoge

Codes der Empfindsamkeit

Einfach? Kompliziert?

Der schweifende Blick

Schweigende Erzähler

21. Außenseiter und Grenzgänger

22. Auch Stifter war in Italien

23. „Es war eine Leere gekommen…“

24. Stifter goes Pop

25. Vorläufer, Nachfolger: Verklärung, Verstörung

Manzoni

Jules Verne

Nietzsche

Heidegger

Kafka

Kawabata

Ponge

Thomas Bernhard

Innerhofer

Stifter in Japan

26. Die Normalerzählung

27. Freudenstifter

Anhang

1. Brigitta & Co.

Ich kann mich nicht erinnern, in der Schule jemals etwas von Stifter gelesen zu haben. Als ich neulich Turmalin las, mein Gedächtnis sagt mir: zum ersten Mal, kam mir irgend etwas, die erzählte Geschichte oder ihre Atmosphäre oder auch nur der beschriebene Ort mit dem verfallenden Haus, in dem das Mädchen mit dem großen Kopf und sein Vater wohnen, bekannt vor. Es war, als wäre ich diese leicht abschüssige Straße in der Wiener Vorstadt, die mein inneres Auge aber nicht in Wien sieht, sondern an einem traumartigen Ort mit punktuellen Wirklichkeitsbezügen (Bezügen zu meiner Wirklichkeit), schon oft gegangen. Habe ich die Geschichte also doch irgendwann einmal gelesen, vielleicht bevor ich das Alter erreichte, in dem man solche Geschichten liest (gerade Turmalin ist, obwohl eine Kindergeschichte, „nichts für Kinder“), vielleicht nachdem ich zu einem der in Leinen gebundenen, mattgrünen Bände gegriffen hatte, die im Regal meiner Tante standen? Bunte Steine, Feldblumen, Die Mappe meines Urgroßvaters, Bergkristall, Brigitta, Der Hochwald… Solche Titel waren nicht dazu angetan, den Heranwachsenden in den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts zur Lektüre zu verlocken. Zusammen mit dem mattgrünen Leinen, der gotischen Schrift und den kitschigen Bildchen auf der ersten Seite konnten sie den Heranwachsenden nur abschrecken. Diese Titel klangen altertümlich, provinziell, die Frauennamen erinnerten an die Namen meiner Tanten oder, noch schlimmer, irgendwelcher Basen aus entfernt verwandten Bauernfamilien, sie ließen mich an die geduldigen Stickereien der Tanten denken, an die Goldhaube meiner Mutter, an der sie jahrelang arbeitete, um sie dann für immer in einem schwarzen Schutzbehälter verschwinden zu lassen, an jene Frauen, die mit großen schwarzen Flügeln in dunklen Gewändern und mit um die Stirn gewundenen Zöpfen vor weiß gekalkten Wänden saßen – die letzte von ihnen, die mir leibhaftig untergekommen ist, war meine Großmutter väterlicherseits. Nein, diese Welt war endgültig dem Untergang geweiht. In ihr gab es keine Autobahn, keine Tankstelle, keine Musikbox, kein Fernweh. Und Stifter habe ich nicht gelesen. Ich hatte genug Stifterliches in der täglichen Wirklichkeit vor meinen Augen. Mit den Relikten der Vergangenheit konnte und wollte ich nichts anfangen.

Ich bekam zu der schönen Kultur meines Landes, die einerseits vor meinen Augen lag, andererseits im Bücherregal meiner Tante Fanny aufbewahrt war, ebensowenig Zugang wie zu der bösen, noch nicht weit zurückliegenden, ebenfalls mit den Händen zu greifenden Geschichte meines Landes. Eines Tages, als ich erwachsen war, stieg ich in mein Auto, allein, ohne jemandem etwas zu sagen, und fuhr die dreißig Kilometer bis zum Konzentrationslager Mauthausen und war überrascht über die Schönheit dieses einschichtigen Ortes, die Schönheit der vom Gras umwucherten Steinbruchtreppe, die schaurige Erhabenheit der Baracken und der leeren Plätze. Eines Tages nahm ich den Nachsommer zur Hand, allein, ohne daß mich irgendwer hingewiesen hätte, und trat ein in eine Welt des Liebreizes und der Achtung vor den lebenden und den toten Wesen, der Achtung vor der Geschichte und dem, was aus ihr werden sollte. Ganz anders als Arno Schmidt, der sein Abscheubedürfnis zu befriedigen hatte, entdeckte ich in diesem sanft wogenden, schier unendlichen Buch, das mir einen Rhythmus der rieselnden Sätze zu spüren gab, den ich so ähnlich erst wieder bei der Lektüre von Hundert Jahre Einsamkeit empfand, die unbegrenzten Möglichkeiten des Wohltuns, die der Mensch hat und die er jederzeit ausüben sollte, mit der hilfreichen Hand des Gärtners, der die Bäume beschneidet, damit sich ihre Kraft nicht verzettelt und sich nicht verliert, sondern aufs Wesentliche konzentriert bleibt, auf die Erfüllung der Form und die Ausbildung der Frucht. Diese Dinge entdeckte ich voll Staunen, ohne den Ursprung von Stifters Utopie aus meinem eigenen Heimatland zu erkennen – ich hielt die Nachsommerwelt für eine ferne, idealische, nord-südliche Gegend, ein Renaissance-Italien mit gemäßigtem Klima, vielleicht wie die Toskana, aber sicher nicht Sattledt oder Bad Hall oder Kremsmünster. Und doch wurde ich von dem Buch zurückgelenkt auf die mich umgebende Wirklichkeit, die ich zwar nicht benannte, die für mich nur „das Feld“ im November war, wenn Nebelschwaden über der langgezogenen Mulde schwebten, oder der Lindenbaum vor einem der großen Bauernhäuser draußen zwischen den Feldern, deren Kinder einst mit mir in der Volksschulklasse gesessen und die alle aus meinem Leben verschwunden waren – nein, nicht alle, das ist nicht wahr, noch heute kehre ich zurück in das Dorf, um zwischen den Feldern zu gehen, den Autobahnlärm hinter mir lassend, und zu staunen, wie schön die Gemeinschaft zwischen Mensch und Natur sein kann, wenn sie einander helfen, und ich kehre ein beim Heideleder, wo der Mostkrug und das Geselchte auf den großen viereckigen Küchentisch gestellt werden, während ich mich auf die Eckbank setze.

In diese Welt, die ich schon immer bewohnte, hat mich der Nachsommer als ein bodenständig-überirdisches Buch geführt, ohne daß er mich verlockt hätte, mich auch den Novellen Stifters oder gar dem Witiko – wieder so ein schrecklicher Titel – anzunähern. Erst Jahre später habe ich akzeptiert, daß der Nachsommer keine von einem heiligen Geist herstammende Bibel ist, sondern von einem Autor geschrieben wurde, der mit vielen, sehr realen Schwierigkeiten zu kämpfen hatte und so unsäglich dreinsah wie auf den meisten der überlieferten Porträts: eher ein Fleischhauer oder ein frustrierter Schulmann als ein über den Dingen des Lebens stehender Autor. Warum hat Stifter bloß diese unsäglichen Titel gewählt? Oder passen sie vielleicht doch zu den Werken? Sind sie durch einen Zeitgeist bedingt, das Biedermeier, das den Autor Das Haidedorf über die Geschichte von der langen Dürreperiode setzen ließ, so wie sich die Bücher heute Generation Golf oder Zonenkinder nennen, weil die Namen halt in der Luft liegen und den Verkauf fördern? Ich erfuhr, als ich mich schließlich doch für die Person des Autors zu interessieren begann, wie oft Stifter seine Titel, und nicht nur die Titel, änderte und wie unsicher er war, obwohl die zur geschlossenen Form neigenden Texte auf den ersten Blick keine Unsicherheit verraten. Man müßte diese Erzählungen alle umbenennen, die Titel neu erfinden oder die ursprünglichen, die oft die besseren sind, wieder einsetzen und die ganze Geschichte der Rezeption von vorne beginnen lassen. Aber damit wären die Texte selbst andere, das Spiel der durchkreuzten Erwartungen, des langsamen Entdeckens, das Hineingezogenwerden in die Zwiespältigkeiten von Stifters Leben und Werken könnte so nicht stattfinden. Vielleicht brauchen die Erzählungen Stifters die verharmlosenden Titel wie einen Schild, der unruhigen Lesern den Zugang erschwert? Etwa so wie die phantastischen Tiere und schrecklichen Krieger vor Shinto-Schreinen, die die bösen Geister vom heiligen Bezirk fernhalten sollen…

Mit Grillparzer war es einfacher. Grillparzers Geschichtsdramen lasen wir in der Schule mit verteilten Rollen aus den gelben Reclamheftchen, und uns war klar: Das hatte mit unserem eigenen Leben nichts zu tun. König Ottokar, Libussa, Medea… Figuren aus einer fernen Vergangenheit, die wir nicht einmal als Vergangenheit, als etwas vor unserer Gegenwart Geschehenes, identifizierten. Könige, Imperien… Österreich war ein kleines, ruhiges Land. Grillparzer ein Nationaldichter. Das Nationale, das Klassische, die hohe Sprache, das war bereits eine Zuordnung, eine Verbannung in den Schulstoff, dort sollten die Texte bleiben. Aber bei Stifter schwankt die Zuordnung immer noch, seine Abkanzelung als Blumen- und Käferpoet ist so grotesk, daß sie nur Leute aufnehmen und wiederkäuen, die nicht lesen, worüber sie schreiben, zum Beispiel Kulturjournalisten. Und für die ernsthafteren Forscher ist er der Romantiker, der sich zum Klassiker wandelte, aber andererseits drängt sich der Begriff „Biedermeier“ dazwischen, der dem Autor nicht nur einen Platz in der Geschichte zuweist, sondern auch im alltagssprachlichen Gebrauch deutliche Vorstellungsbilder wachruft (was ein Vorteil ist), und außerdem ist da die Figur Stifters als Erzieher, als Aufklärer, als einer, dessen Wurzeln tief ins 18. Jahrhundert reichen – so tief vielleicht, daß er schon wieder ins zwanzigste vorausweist, ein Vorläufer der Moderne, ja, ein Verkünder des nouveau roman, denkt man an sein nüchternes Spätwerk, an den Versuch einer Bestandsaufnahme des Seienden. Also machen wir es uns einfach und stellen ihn in die Reihe der Unzeitgemäßen, so daß wir mit einem Schlag auch eine Nähe zu Friedrich Nietzsche behauptet haben, dessen Sympathie für Stifter immer wieder mit Staunen zur Kenntnis genommen wird. Oder sollen wir doch anders, gerechter, strenger akzentuieren und ihn als schon seinerzeit veralteten, immer nur konservative Bedürfnisse befriedigenden Autor porträtieren? Als einen von Anfang an zu spät gekommenen, trödelnden Geist, der seine Behäbigkeit zur schönen Allmählichkeit idealisierte? Und vielleicht ist diese Mischung der Einflüsse selbst wiederum typisch für eine historistische Zeit, die sich, wie später die Postmoderne, an den voraufgegangenen Epochen zu ihren eigenen Zwecken bedient.

Dieser tastende Klassifizierungsversuch, der die in Frage kommenden Kategorien keineswegs erschöpft, soll zeigen, daß Stifter an einer Vielzahl von geistesgeschichtlichen Strömungen mehr oder minder intensiv Anteil hatte. Die Zuordnungen selbst mögen interessant sein, sie verlieren aber an Aussagekraft, wenn es darum geht, die Eigentümlichkeit des Autors zu bestimmen. Das gilt freilich nicht nur für Stifter, sondern für viele Autoren seiner Zeit, und es gilt für unsere Gegenwart mehr denn je. Am ehesten scheinen diese Kategorien zum Verständnis Stifters beizutragen, wenn man zwei von ihnen gegeneinander führt und die daraus entstehende – womöglich den „historischen“ Gegebenheiten entsprechende – Spannung betrachtet. So läßt sich zum Beispiel kaum bestreiten, daß seine Erzählungen immer wieder zur Idylle tendieren und damit zur Erstarrung. Gleichzeitig aber weisen viele dieser Idyllen Risse auf, durch die „etwas anderes“ scheint, und oft macht sich die Möglichkeit des Zerreißens oder Platzens umso kräftiger bemerkbar, je eindringlicher der Autor bei seiner Erzählkonstruktion auf das harmonische Ideal zusteuert. Brauchbar ist trotz aller Bedenken das Wort „Biedermeier“; vor allem deshalb, weil sich der Wille des Autors, die „Sittlichkeit“ zu befördern, auf verschiedenste Weise in seinem Werk geltend macht. Vielleicht sollte man aber ein spezifizierendes Epitheton hinzufügen: Stifters Biedermeier erscheint ähnlich „abgründig“ wie dasjenige Grillparzers. Denn es gibt Momente, da schiebt er plötzlich das Sittengesetz beiseite oder verwirft es, weil er es als schmerzhaften Zwang empfindet. Stifter hat Texte geschrieben, die von der besten Welt nur einen Trümmerhaufen übriglassen, als wäre der Autor persönlich ein verzweifelnder Hiob, der, vom Glauben abgeirrt, nicht mehr zu ihm zurückfindet.

Stifter war kein großer Theoretiker; seine essayistische Begabung hält sich in Grenzen. Hin und wieder hat er jedoch seine ästhetischen Intentionen dargelegt, und es empfiehlt sich, diese Erläuterungen ernst zu nehmen, gerade weil sie bieder und schematisch wirken. Wie zu fast allem, was ihm nicht nur im Reich der Ideen, sondern leibhaftig unterkam, hatte Stifter auch zu den Aufständen im Frühjahr 1848 eine ambivalente, zögernde Haltung. An dem im März jenes Jahres verfaßten Aufsatz Über Stand und Würde des Schriftstellers läßt sich dieses Einerseits/ Andererseits sehr gut ablesen. An oberster Stelle des Anforderungsprofils steht nach Stifter die sittliche Aufgabe des Schriftstellers, und für deren Verwirklichung sieht er in den politischen Ereignissen sowohl Chancen als auch Gefahren. Die Zensur in der Metternichzeit hatte Stifter zufolge auf die Entfaltung der schöpferischen Kräfte hemmend gewirkt, doch der neu gewonnenen Freiheit habe man sich „durch Männlichkeit und Maßhalten“ erst würdig zu erweisen. Da der Schriftsteller die Menschheit „in ihrer sittlichen und menschlichen Blüte“ darzustellen habe (der pleonastische Stil gehört zum Original), müsse er selbst „alle Kräfte der Menschheit in Blüte besitzen“, was durch eine umfassende, gleichsam polyhistorische Ausbildung, vor allem aber durch eine den Vernunftprinzipien untergeordnete Charakterbildung zu erreichen sei. Der „würdige“ Schriftsteller muß seine Leidenschaften beherrschen, und zwar bis zu einem Punkt, „daß er gar keine mehr hat“; er muß also jenem klassisch-humanistischen Persönlichkeitsideal, das im Nachsommer so ausführlich gestaltet wird, entsprechen. Dazu gehört nicht zuletzt die Tugend der Geduld, die gewährleistet, daß die humanistische Persönlichkeit dem Mitmenschen – und erst recht, wenn sie ein Vater oder Lehrer ist, ihrem erziehungsbefohlenen Schützling – zu seiner Entwicklung genügend Raum gibt. Ob Stifter selbst diesem Ideal entsprach, also nach seinen eigenen Kriterien ein „würdiger“ Schriftsteller war, kann man sich fragen. Wie auch immer die Antwort ausfällt, die Widersprüche sind nicht von der Hand zu weisen. Das Ideal übt auf den, der sich an ihm abarbeitet (oder abquält), einen stetigen Druck aus. Dieser Druck scheint im Fall Stifters nach 1848 immer mehr angewachsen zu sein. Er hat zum Entstehen großer Werke wie dem Nachsommer beigetragen, aber auch zu Zusammenbrüchen des Autors und manchmal zu Infragestellungen des Ideals.

Das Begriffspaar „klassisch/romantisch“ läßt sich im literaturgeschichtlichen wie auch im typologischen Zusammenhang verwenden; die darunter subsumierten Merkmale tauchen im Verlauf der Geistesgeschichte in immer neuen Varianten auf. Was Stifter betrifft, so steht außer Zweifel, daß seine literarischen Anfänge von Autoren beeinflußt sind, die der deutschen Hochromantik ihren persönlichen Stempel aufdrückten: Jean Paul und Ludwig Tieck. Ohne die intensive Jean-Paul-Lektüre während seiner Zeit als Student und Hauslehrer wäre er wahrscheinlich gar kein Schriftsteller geworden, sicher aber nicht der Adalbert Stifter, den wir kennen. In den frühen Erzählungen Stifters ist der Wille zur Gefühlsaufwallung, zur prosodischen Abbildung heftiger, oft sentimentaler Gemütsregungen, „des inneren Wogens und Waltens“, wie es in der vor 1840 entstandenen Geschichte der zween Bettler heißt, unüberhörbar. Die vielen Gedankenstriche der frühen Prosa bezeichnen die Höhepunkte und Abbrüche des Fühlens, aber wesentlich für die stilistische Umsetzung ist der Aufbau der Sätze, die sich wie Wellen heben und senken und den Leser zu überschwemmen und mitzureißen bestrebt sind. Einerseits dürfte diese Schreibweise Stifters Charakter entsprochen haben, oder genauer: seiner Empfindungsweise zur Zeit seines Wiener Junggesellendaseins, als er noch nicht genau wußte, welches seine schöpferischen Möglichkeiten waren und worauf er die Kräfte konzentrieren sollte: Kunst oder Amt, Malerei oder Dichtung. Andererseits sind diese Sätze aber nach einem bestimmten Muster gemacht, das er bei Jean Paul oder auch in Goethes Werther fand und auf zunehmend eigenständige Weise in seinen Erzählungen weiterentwickelte. Der Erfolg, den er mit seinen frühen Erzählungen errang, erklärt sich aus der Empfänglichkeit des Lesepublikums für ein längst vorgeprägtes Genre sowie aus der Mode der Almanache, jener jährlich erscheinenden Verlagspublikationen mit Belletristik verschiedener Autoren und vermischten, oft melodramatischen oder humoristischen Inhalts, in denen Stifter zu Beginn seiner Karriere veröffentlichte und deren Popularität nach 1848 rasch sank.

Stifter als Versager darzustellen, wie es in letzter Zeit manchmal geschieht, ist nicht ganz richtig. In den vierziger Jahren wußte er die Konjunktur der Almanache geschickt zu nutzen, und es ist fraglich, ob er jemals einen Verleger gefunden hätte, wenn er mit einem klassizistischen Werk wie dem Nachsommer angetreten wäre. Andererseits: Wäre seine Entwicklung in der Etappe der spätromantischen Novellen stehengeblieben, würden wir ihn heute bestenfalls als epigonalen Trivialschriftsteller verbuchen… Derlei Überlegungen sind natürlich reine Spekulation. Der Nachsommer und selbst der Witiko sind ohne die vorhergehende Entwicklung, ohne die romantische Ausgangslage gar nicht denkbar. Daß Stifter die Bindung an die Romantik bewußt zu überwinden trachtete, zeigt allein schon die Tatsache, daß er die Erzählungen aus dem Zusammenhang ihres konjunkturellen Erscheinens löste, um sie neuerlich zu bearbeiten, aufeinander abzustimmen und in einem „bleibenden“ Gesamtwerk aufgehen zu lassen, über dem am Ende nur ein Autorname und ein äußerst schlichter Titel stehen sollte: „Studien“. In dieser planerischen, Zusammenhänge stabilierenden Sorgfalt erweist sich der Übergang von spontanem Ausdruck hin zu bewußter Konstruktion, und auch die Gefahr monolithischer Erstarrung zeichnet sich hier bereits ab.

Im Nachsommer „biologisiert“ Risach, Stifters Alter ego, den hier beschriebenen Vorgang, indem er ihn als gleichsam naturwüchsigen darstellt, als autonomes Schema von Entwicklung und Verfall, das jedes Individuum, exemplarisch aber den Künstler, erfasse: „Die Jugend sieht in der Dichtung die eigene Unbegrenztheit und Unendlichkeit der Zukunft, diese verhüllt die Mängel und ersetzt das Abgängige.“ Demgegenüber sieht der alte Mensch alles im „sanften Spiegel der Erinnerung“, auch die „Sehnsucht der ersten Liebe mit ihrer Dunkelheit und Grenzenlosigkeit“ oder die „Träume künftiger Taten und künftiger Größe“. Unbegrenztheit, Unendlichkeit, Dunkelheit: Schlüsselwörter der deutschen Romantik. Daß seine eigenen Träume von künftiger Größe in seine frühen Erzählungen einflossen, scheint Stifter bewußt gewesen oder im Lauf der Zeit bewußt geworden zu sein. Das von den Wörtern „sanft“, „mild“, „ruhig“, „lieblich“ aufgespannte semantische Feld kennzeichnet den klassischen Stifter, der den Subjektivismus seiner jugendlich beschwingten, überschwenglichen Werke hinter sich gelassen hat. Der Nachsommer ist nicht zuletzt deshalb als Stifters Schlüsselwerk zu lesen, weil er eine Ebene poetologischer Selbstreflexion enthält, auf welcher der Autor sein Bewußtsein von der klassischromantischen Spannung mitteilt, die ihn auszeichnet und die einzelnen Werke, unabhängig von der jeweils vorherrschenden Machart, erst ermöglicht. Dieser Befund mag wenig spektakulär sein und in seiner „biologisierten“, als Lebenslehre vermittelten Fassung altvaterisch wirken. Er hat aber den Vorteil, daß er sich an den Texten belegen läßt, und eröffnet die Möglichkeit, die Gespaltenheit der Stifterschen Existenz samt ihren Gefährdungen und Bigotterien in ästhetische Begrifflichkeit zu übersetzen. Gegen Ende seines Lebens, erschöpft von der Arbeit am Witiko und mitunter daran zweifelnd, wenn nicht gar an seiner raison d’être verzweifelnd, hat Stifter in Texten wie Nachkommenschaften oder Der Kuß von Sentze versucht, ästhetische Dynamiken der Ironie und der antimoralischen Lockerung von neuem in sein Erzählen einfließen zu lassen. Vielleicht entspricht auch dies einer menschlich-lebensgeschichtlichen Tendenz, nämlich jener, die alte Leute am Ende, wenn sie nichts mehr zu verlieren oder zu gewinnen haben, die nie ganz zerstörte Frische ihrer Anfangsjahre wiederfinden läßt.

Jahrelang trug ich die Bilder eines Romans oder einer Erzählung mit mir herum, zu dem mir Text und Autor entschwunden waren. Ich wollte glauben, es handele sich um den Nachsommer, aber die Wiederlektüre hat mich eines anderen belehrt. In jenem verlorenen Roman steigt der Erzähler am Ende einer Wanderung eine grasbewachsene Böschung hinauf, ehe er ein Hochplateau und das dort gelegene Landhaus erreicht. Der Hausherr empfängt den Wanderer, zeigt ihm das Anwesen, führt ihn nach und nach in die Geheimnisse seines Wirtschaftens ein. Unter anderem erklärt er ihm die Notwendigkeit, die Bäume zu stutzen: Dies sei im Interesse des Kreislaufs der Lebensströme und damit letztlich der Bäume selbst. Was zunächst begrenzt und beschnitten wird, kann später um so kräftiger wachsen. Hemmungsloses Wuchern schwächt die Kräfte des gesamten Organismus, es gilt daher, die jeweils geeignete Form, das entsprechende Maß zu finden. Derlei Belehrungen sind im Geiste des Nachsommers, aber die Buchstaben selbst findet man nicht in dem Buch. Die liebliche Atmosphäre rings um das Landhaus läßt mich weiters an Hugo von Hofmannsthal denken – warum, weiß ich nicht. Im Romanfragment Andreas oder die Vereinigten habe ich die beschriebene Szene nicht wiedergefunden, und der Chandos-Brief atmet einen ganz anderen Geist. Trotzdem glaube ich eine Verwandtschaft zwischen diesem Werk des Sprachzweifels und dem sprachseligen Nachsommer zu spüren; sie scheint mir geknüpft durch die Art, wie die Dinge beschworen werden. Nicht die grausigen Ratten und ihren angeblich schönen Todeskampf meine ich; dergleichen kommt im Nachsommer nicht vor. Sondern die „nichtigen Kreaturen“, den Hund, den verkrümmten Apfelbaum, den sich über den Hügel schlängelnden Karrenweg. Vielleicht bin ich vor vielen Jahren diesen Weg gegangen und habe gesehen, was nicht im Brief stand. Habe mir, angeregt durch den Hofmannsthalschen Morbus, eine klassisch-ausgewogene Natur-und-Menschenwelt erfunden. Habe das Werk unbewußt gegen den Strich gelesen. Lord Chandos, der Schreiber des Briefs, ist nämlich bei aller Verzweiflung ein glücklicher Mann. Wenn auch nur augenblicksweise. Aber was will er mehr? Etwa das Ganze, diese Schimäre? Und wozu, frage ich mich jetzt, so viele Jahre später, das ganze Gerede um das Nicht-reden-Können, wo sich des Briefschreibers Sätze doch so wunderbar zusammenfügen, daß sie die schönsten Phantasien zu erzeugen vermögen? Widerlegt der Brief nicht den Zweifel, indem er ihn niederschreibt? Wozu Chandos’ Frage nach dem Wozu?

Stifter kannte die Frage nicht, er schrieb im Vertrauen auf die alten Mechanismen, die zwischen Zeichen und Bezeichnetem vermittelten: von seinem Baum aus schrieb er sich in die umgebende Welt hinein. Ausgreifend, ausschreitend, heimkehrend. Bis ihn Zweifel ankamen, die er verschwieg. Redselig wie Hofmannsthal, und dennoch verschwiegen.

2. Rettende oder vernichtende Kritik?

„Rettende Kritik“ ist eine griffige Formel, die Autoren gern anwenden, wenn sie einem fragwürdigen Gegenstand Gutes tun wollen. Der Name Walter Benjamins verleiht der Formel eine gewisse kulturgeschichtliche Weihe, auch wenn Benjamin selbst dieser Formel keinen großen Theorie-Gehalt aufladen wollte. Das Epitheton läßt als solches, noch vor seinem Gebrauch, einen messianischen Kontext erwarten. Retten, gut… Aber wovor? Und wozu? Die Formel impliziert, daß das zu Rettende bedroht sei. Bedroht von Verdammnis, Verstoßung, Verbot oder Vergessen. Geht es um Kunst oder Literatur, liegt die Idee des Kanons nahe, auch wenn jene Autoren, die die messianische Formel gebrauchen, solche Nachbarschaft nicht gern erwähnen. Sie „arbeiten“ an einem neuen Kanon oder sind von einem überlieferten Kanon abhängig oder wollen in seinen Räumen, seinen Abteilungen gewisse Umschichtungen vornehmen, damit sie im Machtkampf der gerade laufenden Kanondiskussion ihre Favoriten und damit sich selbst plazieren können.

Auf der anderen Seite gibt es zum Rettenden einen Komplementärbegriff, nämlich das Vernichtende (oder Verdammende, will man den heilsgeschichtlichen Duktus bewahren). Tatsächlich wird immer wieder versucht, Autoren aus dem Kanon hinauszukomplimentieren, meist in der Absicht, anderen dadurch Platz zu schaffen. Arno Schmidt hat auf solche Unternehmungen einige Energie verschwendet, mit alles in allem geringem Erfolg: Stifter zum Beispiel ist immer noch „drinnen“, und der Platz eines Motte-Fouqué ist immer noch am unteren Ende der Tafel der Literaturgeschichte. Schmidt wollte Stifter vernichten, wie Friedrich Hebbel ihn seinerzeit aus dem Literaturbetrieb draußen haben wollte: die Geschichte samt ihrer zeitresistenten Moräne, dem Kanon, ist letztlich nur der Langzeitaspekt des Betriebs. Bei seinen kritischen Bemühungen ist Schmidt auf etwas gestoßen, das ich nach längerem Sträuben als wahren Kern akzeptiert habe: In dem sanften Freund des Menschen, der Natur und der Schöpfung, als der sich der Rosenherr im utopischen Roman Der Nachsommer um jeden Preis präsentieren will, steckt ein potentieller Gewalttäter. Gustav von Risach, der rosenzüchtende Gutsbesitzer, weist verschiedene, zwar idealisierte, aber erkennbare Züge des Autors auf. Was für Risach gilt, gilt mutatis mutandis auch für Stifter, und Stifter selbst war sich der Ambivalenz seines Charakters durchaus bewußt. In seinen Schriften hat er diese Ambivalenz nur in wenigen Momenten offen darzulegen versucht. Zumeist verschweigt oder transformiert er sie, wie auch im Nachsommer die Problematik viel komplexer ist, als Arno Schmidt, der sich bei seiner vernichtenden Kritik nur auf die eine Romanfigur bezieht, wahrhaben will. Der Lebenslauf Risachs wird den Erfahrungen und Absichten seines jungen Schützlings Heinrich Drendorf gegenübergestellt, und zwischen beiden gibt es sowohl Gegensätze als auch Übereinstimmungen. Die Frage nach der Gewalt hinter dem schönen Schein rumort im Gefüge von Stifters utopischem Roman. In anderen Werken des Autors läßt sie sich laut vernehmen. Manchmal mit einer Stärke, daß der schöne Schein zerreißt.

Nolens volens ist mit diesen Überlegungen bereits ein Stück rettender Kritik geleistet. Wobei es nicht darum geht, Stifter oder seine Figuren von einer Schuld reinzuwaschen, von einem ästhetischen oder ethischen Vergehen, sondern darum, einem Werk gerecht zu werden, das sich nicht so einfach auf der Soll- oder Habenseite verbuchen läßt. Vielleicht gibt es trotz aller Skepsis einen dritten Weg: den der Gerechtigkeit. Auf diesem Weg kann man die Augen vor den Beschränktheiten eines Menschen und seiner Zeit nicht verschließen; man wird sein Werk aber auch nicht an einem Ideal – etwa dem der „wahren“ Sanftheit – messen, sondern sich fragen, an welchen Stellen jene Schwächen in Stärken umschlagen. Eine vernichtende Kritik, wie sie Thomas Bernhard in seinem Roman Alte Meister betrieb, neben vielen anderen Aspekten auch auf den „Umstandsmeier“ Stifter zielend, hat in erster Linie ästhetischen Wert und kann in zweiter Linie daran erinnern, daß vor dem Tod alles lächerlich ist – oder eben daran, daß auch die größten Meister nur mit Wasser kochen. Der oberste Richter ist bei Bernhard der allmächtige Tod; bei Georg Lukács ist es „die Geschichte“, zu deren unerbittlichem Verlauf alle Werke in Beziehung gesetzt werden. Stifter erfüllt nicht die Kriterien des bürgerlichen Realismus, der Mitte des 19. Jahrhunderts die „fortgeschrittenste“ literarische Ausdrucksform darstellte. Unter diesem Blick verliert sich Stifter in Einzelheiten, weil er keine Weltanschauung, keinen Sinn für das Ganze hat. Solche Urteile setzten voraus, daß sich der Mann, der sie formuliert, im Besitz des Schlüssels zur Geschichte wähnt. Die Hegelianer Hebbel und Lukács waren davon überzeugt, und auf andere Weise auch Stifter selbst. Die Auseinandersetzung zwischen Hebbel und Stifter ist letztlich ein Streit zwischen zwei verwandten Geschichtsauffassungen. Stifter besaß durchaus eine Weltanschauung, sogar eine recht fest gefügte, ordnungsverliebte und zur Erstarrung neigende Ideologie, die sein Schaffen konditionierte, ohne es ersticken zu können, weil sich in seiner Mitte eine Dynamik entzündete, die das vom Autor selbst errichtete System der Gewißheiten unterwanderte. Dieser Gegenbewegung soll, mehr noch als dem Stifterschen System, dessen Kenntnis zum Verständnis allerdings notwendig bleibt, unser Augenmerk gelten.

Eine Richtung der Stifter-Rettungsbemühungen der letzten Jahrzehnte verfolgt die Absicht, den Autor von der Vereinnahmung durch affirmative, unkritische, zumeist christlich motivierte Kritiker, die den Typus des „bigotten Lesers“ repräsentieren, zu befreien. Diese wohlmeinenden Versuche machen überall in dem weitläufigen Erzählwerk dunkle Kräfte, bedeutungsschwangere Gewitter, diverse Krisenerscheinungen und sich abzeichnende Katastrophen dingfest. Um zu diesem Befund zu gelangen, wird der Mechanismus des Symbolischen in Anspruch genommen: ein Unwetter, ein Eisregen, eine Feuersbrunst ist nicht einfach ein Unwetter, ein Eisregen, eine Feuersbrunst, sondern steht als Zeichen für soziale oder politische Konflikte, denen der Autor auf indirekte Weise Ausdruck verleihen wollte. Dies mag in manchen Fällen zutreffen. Dennoch halte ich dafür, daß Stifters Werk von Symbolen nicht gerade gesättigt ist, sondern zunächst einer realistischen Haltung zur Welt entspringt, einem Darstellungsvertrauen, in dessen Rahmen von Fall zu Fall Symbole Verwendung finden. Besonders aber halte ich dafür (oder dagegen), daß das Katastrophische nur ein Aspekt ist, dem man nicht gerecht werden kann, ohne ihn in jedem Augenblick – das meine ich wörtlich – mit der Harmoniesehnsucht des Autors in Beziehung zu setzen. Diese Harmoniesehnsucht wirkt an manchen Stellen von Stifters Lebenslauf übertrieben und sogar krankhaft. Im Grunde aber ist sie „normal“ im Sinn einer damals wie heute das gesellschaftliche Leben beherrschenden Bigotterie, und oft trägt sie dazu bei, Werkstücke einer affirmativen Ästhetik zu liefern, die vor dem Hintergrund der Krisen, die auch geschildert werden, dem Leser einen weltfreudigen, weichen, Lebensverhärtungen mildernden ästhetischen Genuß ermöglichen. Das beste Beispiel für diese Wirkungsstrategie ist die mittlere Fassung der Mappe meines Urgroßvaters, die mit einer Schockbeschreibung einsetzt, um nach und nach jenes friedvolle Wirken und Streben zurückzugewinnen, welches das menschliche Zusammensein idealiter und „ursprünglich“ auszeichnet.

Auch wenn sich die Stifter-Hagiographie heute erschöpft hat, gibt es immer noch Vorbehalte gegen eine illusionslose Auseinandersetzung mit dem Leben und Werk des Autors. Diesen Stimmen zufolge ist es nicht opportun, den Leser „vor allem mit den dunklen und negativen Seiten Stifters zu konfrontieren“. Warum sollte man das nicht tun? Wohl deshalb, weil nicht sein kann, was nicht sein darf: daß ein durchschnittlicher, wankelmütiger, unentschlossener, vor den Anforderungen des Lebens oft versagender Mann zu einem der bedeutendsten Künstler Österreichs wurde. Demgegenüber halte ich es für möglich, daß kleine Geister Großes schaffen – die Frage ist nur, wie ihnen das gelingt. Damit aber stellt sich die noch grundsätzlichere Frage, wie man „das Bedeutende“ bestimmt. Darin nämlich besteht unsere Sisyphosarbeit, die es immer wieder von neuem zu beginnen gilt. Für die Wertung des Bedeutenden gibt es keine ein für alle Mal gültigen Regeln; auch keinen Kanon, in dem alle Zimmer vergeben und fein säuberlich geordnet wären. Wolfgang Matz, der bisher letzte Biograph Stifters, hat bereits versucht, einen Weg zwischen blinder Verehrung und rettender Eschatologie zu finden, indem er die Spannungen herausarbeitete, die dieses Leben charakterisieren und oft schwierig machen oder sogar blockieren, gleichzeitig aber schöpferische Impulse freisetzen.

Ein kleines Beispiel mag die Problematik von Interpretationen zeigen, die sich von der fraglosen Voraussetzung eines „bedeutenden“ Werks leiten lassen. In der Fiktion der Mappe meines Urgroßvaters räumt der Autor die gesamte Familie des Helden, die seine Erzählpläne offenbar stört, innerhalb kürzester Zeit beiseite: er läßt sie sterben. Der Held zeigt sich von diesem Schicksalsschlag unbeeindruckt, er geht seinen Weg, der ihn mit anderen Menschen zusammenbringt und schließlich zur Gründung einer neuen Familie führt, ohne Anzeichen besonderer Trauer weiter. Der wohlmeinende Interpret erkennt im knappen Erzählbericht über das einschneidende Ereignis das Stilmittel des „Lakonismus“: je weniger Worte der Autor verwende, desto eindringlicher wirke die Beschreibung des Unglücks. „Stifter ist selbstverständlich nicht gefühllos, sondern er gibt sich nur so.“ Dabei vergißt der Interpret aber, daß Stifter im selben Werk bei Gelegenheit anderer Schicksalsschläge in der Regel sehr ausführlich wird. Die vom „Positiven“, also vom Wahren, Guten und Schönen, auf das sich Stifter ja tatsächlich berief, geleitete Lektüre kann nicht hinnehmen, daß dem Autor eine Nachlässigkeit unterlaufen ist. „Das ist hohe Stilkunst!“ ruft der Kommentator aus, überzeugt, daß es anders nicht sein kann. Demgegenüber scheint mir die Möglichkeit eines Lochs im Erzählgewebe nicht auszuschließen zu sein, und diese Schwäche könnte weiters auf eine Gefühlskälte des Autors verweisen, die vielleicht nicht sein vorherrschender Charakterzug war, sondern eher die Kehrseite einer gesteigerten, manchmal übersteigerten, vom spätromantisch-biedermeierlichen Zeitgeist genährten Empfindsamkeit.

Fern von kunstmetaphysischen Entscheidungszwängen kann man sagen, daß sich Stifter in seiner frühen Schaffensphase mehr oder weniger bewußt den Gegebenheiten des Literaturbetriebs anpaßte, was zur Folge hatte, daß ein träger, ewig unfertiger Künstler plötzlich ins Licht der Öffentlichkeit gestoßen wurde, was wiederum seine Entwicklung beschleunigte. Der Betrieb wirkte durch seine Anforderungen und prägenden Strukturmerkmale auf den Autor zurück. Vieles, was uns heute als originell oder auch befremdlich erscheint, ist diesen Konditionierungen geschuldet. Andererseits kann man beobachten, wie sich Stifter nach der Wende von 1848 auf den errungenen Positionen gleichsam verbarrikadiert und vom eingeschlagenen Weg nicht mehr abzuweichen gewillt ist. Die auf diese Weise entstandenen Befremdlichkeiten verführen manche Kommentatoren, die die Literaturgeschichte vom historischen Standort der Moderne aus durchforsten, dazu, im Spätwerk Stifters ein literarisches Vorläufertum zu erkennen, wo es sich auch um Sackgassen handeln könnte. Sicher scheint mir bei alldem zu sein, daß Stifter kein Wahrheitsfanatiker wie Friedrich Hebbel, Franz Kafka oder auch Grillparzer war, daß er also der Medusa nicht ins Gesicht blicken wollte und eine gute Wegstrecke vor den äußersten Möglichkeiten und Unmöglichkeiten der Erkenntnis und Selbsterkenntnis halt machte. Die Wahrheit Stifters läßt sich nicht ohne seine Schweigestrategien und nicht ohne seine Lügen fassen. Radikale Wahrheitssuche setzt voraus, daß der Suchende sich wenigstens augenblicksweise von allen Ideologien frei macht. Das konnte und wollte Stifter nicht. Was er konnte (und manchmal wollte), war, jene Konstellationen, die eine Gewißheit bildeten, so abzuändern, daß innerhalb des Werks Gegenbewegungen ausgelöst wurden.

In einer seiner Repliken auf die Vorwürfe, die Friedrich Hebbel gegen ihn äußerte, schreibt Stifter, daß das wahrhaft Große nicht groß daherkomme und die „höchsten Künstler die lieblichste, kindlichste Naivität haben und dem Ideale gegenüber, das sie immer leuchten sehen, stets demütig seien“. Jemand, der im Stande der Naivität lebt, sei er Künstler oder nicht, kann von seiner Naivität kein Bewußtsein haben. Naivität muß allerdings nicht eine Persönlichkeit in allen ihren Facetten betreffen. Sollte es bei Stifter eine Stelle oder Quelle der Naivität geben, müßte man sie dort suchen, wo er selbst sie am allerwenigsten vermutete. Diese Stelle wäre das in der Vorrede zu den Bunten Steinen mit allen Insignien der Gewißheit formulierte Sittengesetz, das besagt, daß das Gute über das Böse letzten Endes triumphieren wird, weil es nach göttlichem Ratschluß triumphieren muß. Mit den sich im Lauf seines Lebens häufenden, privaten und öffentlichen Tatsachen, die das Gesetz zu widerlegen schienen, kam Stifter nicht zurande. Das Nichtzurandekommen aber schlug sich in seinem Werk in Form von Bruchlinien nieder, die dessen Spannung und folglich jene Energie erzeugen, die die weltfreudigen Sätze Stifters erst wirken läßt.

3. Was ist Bigotterie?

Die Auskünfte der Etymologen betreffend das Wort „bigott“ sind alles andere als kohärent. Die ehrlichsten unter ihnen geben zu, daß sie nicht wissen, woher das Wort stammt. Im Spanischen bedeutet „bigote“ soviel wie Schnurrbart; das spanische Wort wiederum soll auf untergründige Weise mit dem englischen „by god“ zu tun haben. Den etymologischen Unsicherheiten zum Trotz weiß ein Sprecher im Alltagsleben meist recht genau, was er meint, wenn er eine Person als „bigott“ bezeichnet. Auf eine bestimmte Art von Frömmigkeit spielt das Wort an, auf übertriebene Zurschaustellung und Heuchelei. So wie Goethe es einmal (am 9. April 1787) in der Italienischen Reise gebraucht, bedeutet es nichts anderes als religiösen Wahnsinn. Aus dem religiösen Bereich kann man es ohne metaphorische Bocksprünge in andere Glaubensbereiche wie Moral und Politik übertragen. Montesquieu nennt als einen der Gründe für den Untergang des römischen Reichs die Bigotterie im byzantinischen Raum, und er umschreibt sie mit Schwäche, Weichlichkeit, Feigheit. Der Bigotte stellt strenge Forderungen in Hinblick auf die Treue zu den Gesetzen und Regeln seiner Ideologie; die Forderungen fallen umso strenger aus, je weniger der Bigotte seiner persönlichen Glaubenskraft vertraut. Der fanatische Pornojäger setzt sich dem Verdacht aus, daß er für das von ihm verfolgte Laster anfällig ist. Würde er dies eingestehen, wäre er gegenüber den Sündern nachsichtiger. Die USA mit ihrem offiziellen Moralismus und den Vorkehrungen zur Vermeidung dessen, was als „Sexismus“ stigmatisiert wird, sind bei weitem der größte Produzent von Pornographie. Man kann sich einen Stifter vorstellen, der in seinem gepflegten, altargleichen Schreibtisch einen Bildschirm eingebaut hat, auf dem Pornofilme laufen. Jesus hat sich mit allerlei Gesindel, mit Huren, selbst mit Verbrechern eingelassen. In den Evangelien findet man keine Anzeichen von Bigotterie.

Einer der Charakterzüge Stifters, die in seinen Werken Niederschlag finden, ist eine gewisse Weichheit. Beharrlich, über die Jahre hinweg, beschwört und gestaltet er das, was er in der Formel vom „sanften Gesetz“ auf den Punkt bringen sollte. Im Gegensatz zu den Sanftheitspostulaten war der Gesamteindruck seiner körperlichen Erscheinung für viele, die ihm begegneten, grobschlächtig, und dies nicht erst, seit er an Körperfülle zunahm. In der besseren Gesellschaft der Großstadt Wien fühlte sich der aus den tiefen böhmischen Wäldern Zugereiste zeitlebens unbehaglich. Einer der Schüler des Hauslehrers Stifter erinnert sich nach dessen Tod, daß sein pockennarbiges Gesicht ein Übermaß an „Gemütstiefe“ ausstrahlte. Gemütstiefe, Empfindsamkeit – solche ungreifbaren Gegebenheiten des Innenlebens versuchte Stifter, in dieser Hinsicht ganz Romantiker, den positiven Helden seiner Studien-Novellen beizulegen. Daß die Gemütsäußerungen verlogen klingen konnten, weil sich hinter den schönen Formeln oft ganz andere Gefühle verbargen als die zur Sprache kommenden, dürfte Stifter zumindest geahnt haben. Als „Leidenschaften“ bezeichnet er diese Affekte, allerdings nicht in der Selbstanalyse, sondern erst, nachdem er sie außerhalb seiner selbst gestellt hat, um sie als abschreckende Beispiele darzustellen. Die Ambivalenz seiner wie aller Bigotterie ist verräterisch, nicht kalkuliert. Am deutlichsten verrät sie sich in Stifters letztem Brief (August 1835) an Fanny Greipl, die Geliebte aus der böhmischen Heimat. Der tatschwache, sich windende Liebhaber hebt das Mädchen in religiöse Höhen: „du warst doch immer die Heilige zu der mein besseres Innere betete…“ – um ihr gleichzeitig einen Handel vorzuschlagen: Wenn sie nur ja sagt, also in die Ehe einwilligt, will er in Zukunft „sanft und stille sein“, und nie soll „ein unsanftes Wort dein Herz betrüben, oder eine Handlung dein Gemüt verletzen…“

Ein mehr als fünf Jahre zuvor geschriebener Brief zeigt, daß Stifter sehr wohl zu unbeherrschten Ausbrüchen, gezielten Verletzungen und versteckten Drohungen fähig war. Und seine Rechtfertigung betreffend die Verlobung mit Amalie Mohaupt, die er später heiraten sollte, klingt durchaus nicht überzeugend. „Ich achte Sie, daß Sie Ihrer ersten Liebe treu blieben etc.“, soll Amalie gesagt haben, als Adalbert ihr von der unauslöschlichen Liebe zu Fanny berichtete. All das ist ungereimt und verlogen, der hohe Ton desto höher gestimmt, je niedriger die realen Absichten waren. Fanny hat auf Stifters letzten Brief, der ihr keine Antwortmöglichkeiten ließ, nicht mehr reagiert. Vielleicht hatte er ihn nur geschrieben, um die Trennung auf eine Weise zu bewirken, die ihn vor sich selbst der Schuld enthob. Jedenfalls trug er seinem Charakter entsprechend zur Verwirklichung seiner Ahnungen bei: Er rechnete damit, daß sich das kleinere Übel anstelle des großen Glücks einstellen würde. Er wolle „nur allein dich zur Braut meiner Ideen machen“, schwor er Fanny, „und dich fort lieben, bis an meinem Tod“. In der Wirklichkeit ehelichte er Amalie, während er in seinen literarischen Werken ein ums andere Mal seiner ewigen Liebe zur idealen Braut Ausdruck verlieh. Dem Schüler und Freund Sigmund von Handel schrieb er 1836 auf humorige Weise im Jean-Paulschen Geist, der in jenem Kreis herrschte: „Meine himmlischen Ideale der Frauenliebe sind elend hin“, das Herz mit seinen „schönen Raketen mußte lächerlich verpuffen…“ Hier kann man, vielleicht nur bedingt durch die stilistische Pose, einen Hauch jener Selbstironie ahnen, der Stifter alles in allem recht selten anwehte. Man kann diese Zeilen aber auch so lesen, daß der im Leben ungeschickte, zögerliche Autor sich mit angemaßter Verschrobenheit einer echten Auseinandersetzung mit den Aporien der Liebe, wie sie der nicht weniger zögerliche, aber radikal wahrheitsliebende Franz Kafka in seinen Briefen an Felice Bauer führte, zu entziehen vorzog.

Wenn ich heute zurückdenke an meine Kindheit, will mir Österreich, oder genauer: Westösterreich, dieser erzkatholische Raum, in dessen Mitte das von Stifter gepriesene Salzkammergut liegt, als Reich der Bigotterie erscheinen. Die Verhältnisse mögen sich seit damals geändert, die alten Glaubensdogmen an Bedeutung verloren haben – und doch ist es merkwürdig, mit welchem Eifer immer noch die Konflikte in der katholischen Kirche einerseits vertuscht, andererseits von einer nicht nur kirchlichen Öffentlichkeit diskutiert werden. Unlängst die Affäre um den Konsum von Pornographie am Computerbildschirm eines Priesterseminars und die ausgetauschten Küsse von Seminaristen. Entrüstung allenthalben, als gäbe es heute, wo das Internet von pornographischen Bildern überschwemmt ist, tatsächlich Männer, die sich dieser Flut gänzlich entziehen können. Hämische Empörung, Scheinheiligkeit auch bei den Agnostikern – aber ist es denn überhaupt denkbar, daß ein Mensch, sei er auch Priester, seine Sexualität abtötet? Daß er sie restlos in eine religiöse oder soziale Aufgabe hineinsublimiert? Abgesehen von der Frage, ob das wünschenswert ist. Jesus hätte gesagt: „Wer von euch ohne Schuld ist, werfe den ersten Stein.“ Die Steine sind wieder einmal zu Tausenden geflogen. Die Schauplätze und Formen der Heuchelei mögen andere sein, die Sache selbst ist nicht verschwunden.

Stifters Romane und Novellen führen uns nicht an die Wurzel der Bigotterie, sondern zeigen ohne Absicht, wie die Bigotterie als heimischer Humus über Jahrhunderte hinweg die Charaktere geprägt hat. Darin liegt der Nutzen der Lektüre von biedermeierlicher Literatur. Der Nutzen und auch das Spannende, weil in bigotten Charakteren immer eine unaufgelöste Spannung wirkt, so daß sie Gefahr laufen, von der Ebene ihrer hehren Ideale auf den harten Boden der Wirklichkeit herabzustürzen. Damit solches geschieht, muß weder das Dämonische noch eine Naturkatastrophe in die friedliche Welt des Alltags einbrechen. Die Spannung ist als innere, psychische Spannung gegeben, sobald die Erzählung ein Geschehen ins Auge faßt. Sie wird schwächer, wenn Stifter seine Figuren mythisiert, indem er sie als Agenten einer historischen oder religiösen Vorsehung auftreten läßt. Aber nie erlischt sie ganz, nicht einmal im Witiko, wo jegliche individuelle Willkür in einem übergeordneten Volksgeist verschwinden soll. An Stifter selbst wie an vielen seiner Figuren können wir sehen, wie die wesentliche Widersprüchlichkeit des bigotten Charakters zur Selbstaufhebung drängt, aber nur, um am Ende desto härter durchzuschlagen. Daß wir das Schicksal (oder die Vorsehung) geliebt haben, ist am Ende eines unbefriedigenden Lebens ein schwacher Trost.

Meine vier Tanten mütterlicherseits – sie stammen aus einer Gegend, die Stifter kannte und die vermutlich den geographischen Hintergrund seiner Erzählung Die Narrenburg bildet – sind alle unverheiratet geblieben, sie haben ihre Libido dem Herrn Jesus Christus und den Werken der Barmherzigkeit geschenkt. Eine wurde Nonne, sie lebt seit Jahrzehnten in Südafrika, wo sie sich den armen Negerkindern widmet. Eine andere wurde Religionslehrerin. Eine dritte arbeitete fast ohne Entlohnung bei einer reichen Familie als Haushälterin. Eine vierte wurde Krankenschwester und übte diesen Beruf hingebungsvoll aus, bis sie selbst sich eine chronische Allergie, hervorgerufen durch die in Krankenhäusern unvermeidlichen Desinfektionsmittel, zuzog. Diese Tanten führten und führen ihr Leben in bedingungsloser Unterordnung unter die Anforderungen des christlichen Glaubens und der katholischen Kirche; eine Unterordnung, die in früheren Jahrhunderten und noch bis über die Mitte des zwanzigsten hinaus selbstverständlich war. Aus meinem inneren Gehör werden niemals ihre Stimmen verschwinden, die mich zum selbstverständlichen Guten bereden. Bis zu meinem Tod werde ich den weinerlichen Ton vernehmen, der aufkam, wenn etwas Unerklärliches geschehen war, die schneidende Härte gegenüber Meinungen und Tatsachen, die dem Glauben zuwiderliefen, den Singsang der Toleranz (über deren Stränge man nicht schlagen durfte), das Schluchzen, wenn sie, die Tanten, einmal eine leise Ahnung der Vergeblichkeit ihres und allen Tuns zuließen.

Um das Jahr 1970 wählte der neue Abt des Stiftes Kremsmünster als Maxime seines künftigen Tuns: „Hart gegen mich selbst, weich gegen die anderen.“ Diesen Satz kolportierte seinerzeit voll Bewunderung eine der vier alten Jungfern, Tante Fanny (von Franziska, wie bei Fanny Greipel, der Idealgeliebten Stifters). Jener Spruch ist die genaue Umkehrung des bigotten Prinzips, und es mag sein, daß in Kremsmünster noch 1970 etwas vom aufklärerischen Geist lebendig war, der das Stift zu Stifters Zeiten auszeichnete. Allerdings gehört die fallweise Umkehrung der Prinzipien, die durchaus beibehalten werden, mit zu den Methoden der Bigotterie. Der politische Populismus, von einem aus dem Salzkammergut stammenden Politiker gegen Ende des 20. Jahrhunderts zu hoher Blüte getrieben, kann als eine der Varianten der Bigotterie betrachtet werden. Das tatsächliche Verhalten seiner Vertreter ist rücksichtslose Härte gegen die anderen verbunden mit Empfindlichkeit, wenn die eigene Person angegriffen wird. Selbst im Bereich der österreichischen Gegenwartsliteratur gibt es Leute, die diesem Mechanismus folgen, während sie sich mit hübschen Maximen schmücken.