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Vollständige eBook-Ausgabe der im ars vivendi verlag erschienenen Originalausgabe (2. Auflage 2008)

© 2007 by ars vivendi verlag GmbH & Co. KG, Bauhof 1, 90556 Cadolzburg

Alle Rechte vorbehalten

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Umschlaggestaltung: ars vivendi verlag

Datenkonvertierung eBook: ars vivendi verlag

 

eISBN 978-3-86913-600-4

 

 

Michael Zeller

Die Sonne!

Früchte.

Ein Tod

 

 

 

 

 

Roman · ars vivendi

 

 

Inhalt

 

Die Sonne! Früchte. Ein Tod

Im Dienst.

Spiel der Namen.

Der Bart.

Das Gastmahl.

Nachlese.

Augen.

Über das Gute.

Im Paradies.

Lektüre.

Die Prophezeiung.

Ein Begegnen.

Marats Rache.

Wie durch Nebel.

Blaue Stunde.

Erwachen.

Das Wort.

Ein Wunder.

Entlarvt.

Nackt.

Aus einem Brief an Pater Odo.

In Sorge.

Blumen.

Spielende.

Der Auszug.

Nachwort des Herausgebers

Der Autor

 

Die Sonne! Früchte. Ein Tod

... doch, das könnte sie sein ... sie muß es sein, die neue Nachbarin ... Ja, das ist sie.

Zwei Stiegen lang hatte ich das Knarzen der Bohlen näherkommen hören, Stufe für Stufe, unter dem schwe­ren Tritt von Madame Vavin. So vertraut er mir schon geworden war, dieser Schritt – immer noch nahm meine Konzentration den größten Schaden, wenn die Concierge das Treppenhaus unter sich erbeben ließ. Ich schaute auf von meinen Schriften, betrachtete die Wand vor mir mit einem Gefühl, über das ich mir lieber keine Rechenschaft geben wollte, und wartete, bis wieder Ruhe war. Dieses Mal aber, gleichsam als feines Echo in dem Stampfen von Madame Vavin, nahm ich einen leichten, fremden Fuß auf der Treppe wahr. Madame Vavin schnaufte tief und drehte jetzt den Schlüssel in der Türe meiner Nachbarswohnung, so nah, als öffnete sie mein Schloß damit. Trotz des Asthmas schonte sie ihre verrauchte Altstimme nicht, gab sie Anweisungen, ohne abzusetzen. Ritsch! Der Vorhang wurde vom Fenster geschleudert. Ein helles »Ah!« hörte ich, »c’est beau, ça!« Schon sangen im Stimmbruch die Scharniere des Fensters. Und auf deutsch: »... kann ich wieder brauchen jetzt!«

Das war sie also, ihre Stimme, die Stimme einer jungen Frau: meine neue Nachbarin.

Seit mehreren Tagen schon hatte Madame Vavin sie mir avisiert, jedes Mal, wenn sie mich im Hausflur beim Ausgehen stellte. »Sie ist verheiratet, die kleine Malerin, non?« sagte sie und drohte mir mit ihrem dicken Zeigefinger. »Sie ist die Frau eines sehr berühmten Malers ... in Deutschland jedenfalls.« Die Concierge steckte ihre Hände in die Kittelschürze und stand mit durchgedrückten Knien auf schweren Füßen da. War sie nun schwanger oder nicht? Madame ging zwar gut und gerne auf die Vierzig zu, aber dergleichen war bei ihrem Menschenschlag für mich nicht leicht zu schätzen. Dieser Maler schicke seine Frau jedes Jahr nach Frankreich, nach Paris, natürlich, wohin sonst, nicht wahr, mitten ins Herz der Malerei und der höheren Kultur überhaupt, damit auch sie ein wenig malen lerne. Madame Vavins Redestrom berücksichtigte nicht im geringsten, daß ich des Französischen durchaus nicht so mächtig war, wie ich es mir gern gewünscht hätte. Und jedes Jahr komme sie wieder, die Frau dieses sehr, sehr berühmten deutschen Malers. Daraus sei ja doch wohl zu schließen, unter uns, nicht wahr, daß sie das Malen immer noch nicht so ganz beherrsche. Aber ihr sei das egal, vollkommen egal. Die Concierge zog wieder ihre Stimme hoch. Die junge Frau sei eine pünktliche Mieterin, tadellos, und jedenfalls müsse sie einen großzügigen Gatten haben, obwohl ... vielleicht schicke er sie auch ganz gern auf Reisen, um ihr Gepinsel nicht tagtäglich vor Augen zu haben. Aber, wie gesagt, sie gehe das ja überhaupt nichts an. Sie könne schweigen ... schweigen ... »oh!« Kurz kollerte ihr Raucherhusten. Ob sie mir vielleicht seinen Namen verraten könne, versuchte ich Madame Vavins Atempause zu nutzen. Ich halte mich bei der zeitgenössischen Malerei leidlich auf dem laufenden, habe in meiner Jugend auch selbst in Öl und mit dem Stichel dilettiert. Ich will meine Neugier nicht verhehlen, die Frau welchen berühmten Malers ich zu erwarten hatte als Zimmernachbarin.

Non, non, non, non, non, non: das sei etwas schrecklich Rauhes, vollkommen unaussprechbar. Kaum zu glauben, mit welchen Namen diese Deutschen sich verunzierten. Empört schüttelte Madame Vavin den Kopf. Die geplatzten Äderchen unter den Augen glühten auf in – ja, beinahe schien es Abscheu zu sein. Die Concierge drehte sich abrupt weg und ließ mich einfach ­stehen. »Und sie ist verheiratet, Monsieur, non?« rief sie mir über die Schulter nach. Immerhin durfte ich jetzt meines Weges gehen.

Die Stimme der Hausbesorgerin nebenan war leise geworden. Sie flüsterte jetzt. Ich konnte fast nur noch ihre scharfen s-Laute hören. Dann lachten die beiden Frauen gleichzeitig auf: Madame Vavin mit ihrem Raucherrasseln, die jungen Deutsche hell und ein wenig spitz. Nun ging die Tür, und Madame Vavin ließ das Treppenhaus erdröhnen. Hinter der Tapetentür zwischen unseren Zimmern nahm ich deutlich die Stille wahr. Aber es war eine andere Stille als in den Tagen davor. Ich konnte nicht weiter lesen. An Arbeit war nicht mehr zu denken. Vor mir lagen aufgeschlagen Quellen zur Französischen Revolution, der Großen Revolution. Genauer gesagt, ich studierte in diesen Wochen, die ich mich in Paris niedergelassen hatte, mehrere Biographien über Jean Paul Marat. Ich hatte mir vorgenommen, das Leben dieses epochalen Mannes und seinen Tod an Ort und Stelle zu durchleuchten und ihn zum Helden eines tragischen Schauspiels zu machen, wobei ich mich entschlossen zeigte, zuallererst der historischen Gerechtigkeit das Wort zu geben. Marat sollte meine erste Arbeit für das Theater sein. Sie zu vollenden, war ich eigens nach Paris geeilt. Allerdings: die äußerste Beschränktheit meiner Mittel erlaubte es mir kaum, an dem geistigen Leben dieser überwältigenden, aber auch aufwendigen Stadt teilzunehmen. Ich hatte mir ein geradezu mönchisches Leben in der schmalen Kammer bei Madame Vavin in der Rue Cassette abzuverlangen.

... Patriotismus des sanfteren Geschlechts. Patriotinnen gibt es, von den Girondisten Megären genannt und von ihnen auf achttausend angegeben, mit fliegenden Schlangenhaaren, die ihre Nadel mit dem Dolch vertauscht haben ... Welche Nadel denn nun wieder ...? Nein, es hatte keinen Sinn. Das Gelesene formte sich zu keinem Gedanken in mir, zu schweigen ganz von einem poetischen Gefühl. Ich stand auf, bürstete mir kurz den Bart im Spiegel, maß dreimal mit diesen sieben Schritten mein Zimmer aus, trat an die Tür – und setzte mich wieder an den Schreibtisch. Ich versuchte es mit einer Pfeife; nach zwei Zügen legte ich sie aus der Hand. Fuhr hoch, riß heftig die Türe auf zum dunklen Flur und klopfte bei der neuen Mieterin. Sie stand am offenen Fenster und lächelte mich an, gar nicht überrascht, stand da, blaß, im grauen Reisekostüm, und schaute. Der Spitzenkragen fiel mir auf, denn seine Farbe paßte gut zu ihren Haaren, diesem wundervollen braunen Haar, das, glaube ich, zu einem Knoten zusammengefaßt war. Ich nannte meinen Namen und stellte mich als einen Landsmann und Kollegen vor. »Ich bin Schriftsteller«, sagte ich und spürte, wie immer bei dieser Gelegenheit, daß es mir heiß in die Schläfen stieg. Ihre großen braunen Augen ruhten offen und so wach dabei auf meinem Gesicht, daß ich mir über den Bart fahren mußte.

»Paula Becker«, sagte sie mit einem kleinen Zögern, »Paula Becker ... aus Bremen.« So angenehm berührt ich war von ihrer Erscheinung und dieser umstandslosen Offenheit, so enttäuscht war ich von ihrem Namen. Den Namen eines Malers Becker hatte ich noch nie gehört oder gelesen in Deutschland, obgleich ich mich, wie gesagt, in der bildenden Kunst nicht ganz für unkundig halten darf. Madame Vavin hatte also falsche Erwartungen in mir geweckt.

»Sie schreiben Gedichte?« Immer noch stand die ju­nge Frau, die sich so ohne jede Künstler-Attitüde gab, mit dem Rücken zum Fenster über der Rue Cassette.

»Ja. Nein, ich bin ..., das heißt, ich versuche ein Drama hier zu schreiben, ein Stück geschichtlichen Inhalts gewissermaßen. Zur Zeit ..., zur Zeit bin ich noch mit der Stoffsammlung befaßt.« Ich habe immer Hemmungen, wenn ich über meinen hohen Beruf reden soll. Ihr Lächeln aber machte mir Mut. Es war eine Bescheidenheit in ihr, eine Weichheit, die ich sofort als wohltuend für mich empfand, ja wenn ich so sagen darf, ich spürte eine Art von kollegialem Respekt vor der geistigen Arbeit, der nicht zuerst nach Namen, Titeln und Auszeichnungen fragt, um sich ein schnelles, meist abschätziges Urteil zu bilden. Es war etwas ­Gewährendes in diesem Blick der braunen Augen, ein gesammelter Ernst auch, etwas, das mir Ruhe gab und Vertrauen, und das will bei mir nicht wenig heißen. Fast hätte ich mich gar erdreistet, nach ihrem Mann zu fragen, dem berühmten deutschen Maler, aber das hätte doch auch einen Akzent setzen können, den ich unter allen Umständen vermieden sehen wollte. »Und ich male, wie Sie sehen.« Mitten in dem hellen Raum, der dreimal so groß sein mochte wie meine Kammer, er kam mir vor wie ein Saal, mitten auf einem schmutzig roten Teppich stand leer die Staffelei.

»Ich bin noch auf dem Weg. Die Bilder, die ich malen will, malen muß ..., sie liegen noch vor mir. Vielleicht berühren wir uns da in diesem Punkt. Aber«, sagte sie, und ich sah zum ersten Mal ihr Lachen, »aber einer, der einen weiten Weg vor sich hat, läuft nicht.«

»Die Langsamkeit eines Weges«, entgegnete ich, »könnte niemanden weniger beirren als mich.« Ich hatte gute eigene Gründe zu dieser Aussage, aber es wurde mir doch auch klar, daß in ihr ein kleiner tak­ti­scher Widerhaken steckte, der mich hinterher recht ­ord­entlich bestürzte.

 

Im Dienst.

Das Herzklopfen meiner Verwirrung ist mir geblieben von der ersten Begegnung mit der Malerin, und auch das große Schauen ihrer braunen Augen. Und ich entsinne mich noch gut, wie ich, angeregt von dem kurzen Besuch in ihrem hellen Atelier, sofort daranging, meine Kammer umzuräumen. Bisher hatte ich bei der Arbeit das Licht im Rücken gehabt. Das mag zwar für die Erhaltung der Sehkraft bekömmlich sein, wie es jedenfalls heißt, aber der Blick auf das schimmelige Tapetenmuster, er lähmt doch auch den freien Flug der Phantasie. War es nicht regelrecht, ja war es nicht – »Frühlingsvergeudung»? (Beglückt trug ich diese spon­tane Wortschöpfung, die mir zuteil geworden war, alsbald in mein Blaues Notizbuch ein.)

Nun war meine Aussicht auf die Rue Cassette beileibe keine Augenweide: ein paar Bäume sah ich, kahl noch vom Winter, ein Stück Mauer, von billigen Plakaten verschandelt, und darüber, weiter, höher, das Dächergeschiebe dieser Stadt Paris. Immerhin, in einem der Häuser, ganz nah bei mir, war mein Marat den Helden­tod gestorben. Vielleicht konnte diese Erinnerung, wenn sie mir immer vor Augen stand, sogar meine Produktivität beflügeln? Denn ich will nicht verhehlen, daß mich hin und wieder doch eine gewisse Beklemmnis überfiel, wenn ich an die dramatische Umsetzung meines erhabenen Stoffes dachte. Jedenfalls: ich freute mich einige Tage an diesem neuen Blick, der mich bei meinem Dienst erfrischte.

Nach der gelungenen Operation in der Kammer, neugierig geworden durch die ungewohnte Weite, die sich mir erschließen würde, verließ ich die Wohnung und lief in den vorfrühlingsgrauen Luxemburg-Garten hinein. »Diese neue Nachbarschaft hat mich sofort produktiv gemacht«, dachte ich beim Gehen auf den leeren Parkwegen. Und sie machte mir keine Angst, diese Malerin. Ich traute mir zu, ihren Bildern, wenn ich sie erst einmal sähe, durchaus standhalten zu können mit meinem eigenen Werk, so unzulänglich ich es auch empfand bisher. Ich hatte es bei dieser Frau Becker aus Bremen nicht mit einer arrivierten Künstlerin zu tun, gottlob, sondern mit einer Elevin eher, die noch auf dem Wege war, wenn es überhaupt einen Weg für sie gab.

Obwohl mein strenger Arbeitsrhythmus durch die Ereignisse dieses Tages arg durcheinander geraten war, überraschte es mich, daß ich nach meinem Spaziergang von einer regelrechten Arbeitswut überfallen wurde. Ganz gegen meine Gewohnheit las und exzerpierte ich bis tief in die Nacht hinein und schaffte damit einen guten Teil des Lesepensums, das ich mir erst für den nächsten Tag gesetzt hatte. Dennoch nahm ich meinen Dienst, wie ich meine Arbeitsstunden für mich nenne, pünktlich am frühen nächsten Morgen wieder auf. Nach den zehn Kniebeugen am offenen Fenster beginnt mein Tagwerk mit einem frugalen Frühstück, das mir Madame Vavin vor die Türe stellt. Es besteht aus einer großen Schale Milchkaffee und einer halben Baguette, die ich ungebrochen in die heiße Flüssigkeit stippe, um mit meinen geringen Mitteln doch in etwa den Lebensgewohnheiten dieses Landes Genüge zu tun. Umgehend vertiefe ich mich dann in das Studium der Quellen. Es ging mir wieder vorzüglich von der Hand, auch wenn ich an diesem Morgen ein wenig abgelenkt war von dem Lauschen auf Bewegungen im Nebenraum. Aber ich hörte den ganzen Tag über nichts, keinen einzigen Laut. Ob Frau Becker malte? Stand sie die ganze Zeit vor ihrer Staffelei? Machte Malen denn eigentlich keinerlei Geräusche? Sollte ich einmal klopfen drüben vielleicht, ganz leise? Diese kleinen Abirrungen von meinem Marat störten mich aber nicht wirklich. Erst am Abend waren dann Lebensspuren nebenan zu hören.

Frau Becker mußte also den ganzen Tag außer Haus verbracht haben.

 

Spiel der Namen.

Ganz zufällig bekam ich am näch­sten Morgen mit, wie Frau Becker in aller Frühe ihre Wohnung verließ. Ich hörte flüchtig ihren Schritt, der vielleicht den Nachbarn schonen wollte, doch ich hörte keinen Schlüssel drehen. Sie schien also nur zu einer kurzen Besorgung auszugehen. Ich schob eigens den mittäglichen Spaziergang ein wenig hinaus, der meinen Dienst in zwei annähernd gleiche Teile trennt, aber es war dann doch wieder Abend geworden, ehe Frau Becker zurückkehrte. Nun ließ mich meine Neugier nicht länger ruhen, und ich klopfte bei ihr an. Sie nahm gerade ihr Abendbrot ein, ein Spiegelei zu einer Tasse Kakao. Das Bild ist mir bis heute gegenwärtig, wie sie da saß in einem erdbraunen Kleid am kleinen, runden Tisch und aß. Noch voller drängte sich heute ihr Haar über den Schläfen. Sie schien nicht gestört zu sein durch meine Aufwartung, doch sobald sie mich auf das Sofa an der Fensterwand gebeten hatte, sprang sie noch einmal auf, nahm ein Bild von der Staffelei und stellte es mit der bemalten Seite gegen den Schrank mir gegenüber. Das Kleid fiel schmucklos glatt über ihren Körper, der, nicht leicht, nicht schwer, so gar nicht ehefraulich auf mich wirkte. Erst jetzt nahm ich die bunten Seidenrüschen wahr, die, wie ich vermutete, nach eigenem Farbplan und von eigener Hand angenäht, durchaus ungleichmäßig sich über das Kleid verteilten: wie Blüten.

Ich fragte Frau Becker geradeheraus, ob sie denn schon im Freien male, bei dieser kühlen Märztem­pe­ratur. Frau Becker lachte auf. Sie wisse die Behaglichkeit eines warmen Raumes durchaus zu schätzen, nicht zuletzt bei der Arbeit, sagte sie und reichte mir eine Tasse Kakao aufs Sofa hinüber. Das Getränk kehrte aufs herbste seinen Schokoladengeschmack hervor. In zwei Wellen tief im Nacken lag ihr das schwere Haar. Dieses Haar – es dominierte die ganze Gestalt mit seinem, ja soll ich sagen: mit seinem ... umbrischen Golde?

Nein, sie besuche tagsüber die Anatomiekurse in der Ecole des Beaux Arts, die dort ganz vorzüglich seien, und habe auch nicht widerstehen können, zusätzlich eine Vorlesung über Kunstgeschichte zu belegen.

»Lernen will ich, soviel nur immer geht. Dafür bin ich ja hergekommen«, sagte sie und fügte, leiser, nach einem Bedenken hinzu, »auch dafür.« Diesen Nachsatz nahm mein auf dramatische Zwischentöne geschultes Ohr hellhörig auf. Meine Nachbarin schob den leeren Teller beiseite. »Und am Nachmittag, das weiß ich noch nicht genau, ob ich da nach Gips zeichnen soll oder wieder zum croquis pilgern wie im letzten oder vorletzten Jahr, gleich hier um die Ecke eigentlich. Ich muß nur quer durch den Luxemburg-Garten gehen.«

Während sie sprach, war mein Blick an einem Blumenstrauß hängen geblieben, der neben der ­Waschschüssel hing, die Blüten nach unten. Er war verblüht, nein, schon ganz und gar vertrocknet. Sie mußte ihn also von Bremen mit hierher gebracht haben im Reisegepäck.

»Ich sehe, Sie wundern sich, daß ich noch so brav meine Kurse besuche, wie eine kleine Mal-Elevin. Aber das ist bei uns Malern so, oder sollte wenigstens so sein: das Studium des menschlichen Körpers, seiner Maße ..., immer wieder, immer wieder aufs Neue. Und gerade hier in Frankreich, das ist vielleicht der Unterschied zu uns. Aber ich will Sie nicht mit meinem Handwerk ...«

»O nein, erzählen Sie weiter, bitte. Es interessiert mich brennend«, beeilte ich mich und riß mich von den Büchern los, die überaus unordentlich auf der Kommode lagen, eines sogar aufgeschlagen auf dem Gesicht. Obwohl ich nicht gerne vor Uneingeweihten über meine dramatische Arbeit spreche, sah ich ein, daß ich mich jetzt der Kollegin auch ein wenig erklären sollte.

Meine Marat-Tragödie, holte ich aus, habe neben unzählig anderen Absichten auch den Ehrgeiz, in ihrem Helden ein Abbild des französischen Volkscharakters zu geben, und deshalb seien mir alle Hinweise auf kulturelle Eigentümlichkeiten dieser Nation jederzeit willkommen. Ich hatte hastig gesprochen und ohne nachzudenken fast. Jetzt war der Gedankenfluß verebbt, wie nach einer Prüfungsfrage. Mein taumeliger Kopf ... Ich wußte nicht weiter. Die Malerin schaute mir ins Gesicht und auf die Hände, die mit der Uhrkette spielten, einem Erbstück väterlicherseits.

Sie hatte keine Eile, sie drängte nicht. Obwohl ihr Gesicht auch etwas Spitzes hatte – in ihren bernsteinbraunen Augen lag wieder diese gute Ruhe, die sich auf mich zu übertragen schien.

»Und deshalb, wie gesagt, ist es mir durchaus interessant und wichtig, was Sie als deutsche Malerin zu den französischen Akademien hier zu sagen haben.«

Frau Becker hatte das Geschirr abgeräumt inzwischen und einen schönen Kerzenleuchter auf den Tisch gestellt. Die Kerze spiegelte sich in einem entzückenden Rokokospiegel, dessen Oval von milchweißen und roten Rosen aus Glas umrahmt war. Es erstaunte mich, daß die Malerin diese persönlichen und kostbaren Gegenstände für die wenigen Wochen ihres Pariser Studienaufenthaltes den Gefahren einer so weiten Reise ausgesetzt hatte.

»Wenn ich damit Ihre Dichtung bereichern kann«, lächelte sie und hielt ihre Stimme in der Schwebe. »Hier in Frankreich, oder sagen wir lieber: hier in Paris stehen alle Maler und Bildhauer unter der Macht der Tradition und der Schule. Es ist ungefähr eine Art, ja, komisch, aber es ist so, ... von soldatischer Manneszucht. Wir in Deutschland fangen die Geschichte viel zu genialisch an. Da redet jeder immer gleich von Persönlichkeit. Die ältesten Professoren hier sind mir die liebsten, weil sie eben nur das Abc lehren.« Das blasse Gesicht mit den breiten Wangen und der bestimmenden Unterlippe belebte sich beim Reden und gewann dabei außer­ordentlich. Frau Becker entwickelte ein Temperament, das ihren Zügen in Ruhestellung nicht ohne weiteres abzulesen war. Ich hätte sie dann eher für eine Lehrerin gehalten und nicht für eine Künstlerin, denn sie hatte – wären da nicht ihre Augen gewesen – etwas Strenges, ja fast Gouvernantenhaftes an sich, wenn sie schwieg. Keine Spur mehr davon jetzt. »Der Franzose geht regelrecht in die Lehre. Er lernt zeichnen wie ... wie andere Brötchenbacken, und es sind immer alte, biedere Klassizisten hier, die das Lehramt besorgen, keine genialischen Heißsporne, die ..., die ... aber lassen wir das. Nein, die hiesigen Lehrer haben an der Entwicklung der heutigen Malerei keinen Anteil, sie sind überhaupt keine Künstler, auch wenn sie bunte Fliegen tragen, sondern sie sind lediglich Lehrer und als solche in ihrer ledernen Art ganz vorzüglich. Denn das muß man sehen«, und ihre helle Stimme wurde noch eindringlicher dabei, fast missionarisch, »und das unterschätzt man gerade bei uns in Deutschland immer wieder: nur wenn man durch harte Arbeit hindurchgegangen ist, gewinnt man das Leichte. Leichtigkeit ist kein Geschenk vorab, sie kommt zuletzt, zuallerletzt. Das, verzeihen Sie, das Künstlerische in der Kunst, dieses Nichtfertigdrehen, das Leichte, das besitzen die Franzosen in hohem Maße, und nur, weil sie das solide Handwerk im Rücken haben. Wir Deutschen, wir malen immer pflichtgetreu unser Bild herunter und sind zu schwerfällig, aus dem Stegreif eine kleine Farbenskizze zu machen, die ..., die duftet, die oft mehr sagt als das ausgeführte Bild. Da werfen sie hier allerliebste Sachen so hin. Oft im kleinsten Format. Bei uns, da eröffnet jeder Maler mit seinen Bildern eine eigene Kunstgeschichte, auf eigene Faust, nach eigenem Gusto. Daher das Rohe oft, die Unbeholfenheit, die Stümperei geradezu bei den schönsten Anlagen ... Ich weiß nicht, wie Sie das für die Literatur beurteilen, aber es geht so viel Energie fruchtlos ins Leere bei uns in Deutschland, so viel Kraft ... Das ist schade eigentlich ... obwohl ...«

»Es rührt mich an geradezu«, warf ich ein, da Frau Becker offensichtlich nicht weitersprechen wollte. Die leere Staffelei, die über Eck zwischen uns stand, ragte aus der Kerzendunkelheit des Ateliers wie ein galgen­artiges Gestänge auf. »Ihr hohes Lob des Akademischen führt mir die Gestalt meines Zeichenlehrers vors geistige Auge, Pater Martin, in Beuron, auf der Klosterschule. Unter seiner kundigen Hand gelang es mir, Statuen des Phidias oder Praxiteles peinlich genau aus unserem griechischen Compendium herauszukopieren. Den Torso der Villa Farnese konnte ich sogar auswendig. Und wenn mich dann nicht doch zu guter Letzt die Dichtkunst in ihre Pflicht ... Ein kauziger Mann natürlich, mit seinen ewigen Kautabakspuren auf den Kuttenärmeln ..., ja, unser alter Pater Martin, aber hoch verdient um die deutsche Jugend seinerzeit. Wie sagte er zu uns Sekundanern damals? ›Sehen Sie, meine Herren‹, sagte er, ›es gibt zwei Arten von Malerinnen: die einen möchten heiraten, und die anderen haben auch kein Talent‹.«

Schon während der letzten Worte war meine Stimme ins Zittern geraten. Nur um mich nicht vollends zu entblößen, hatte ich diese harmlose, aber auch etwas heikle Anekdote ebenso verzagt wie tapfer zu Ende gebracht. Doch die Malerin lachte spontan heraus und so herzhaft, daß es mir schon wieder unheimlich wurde. Ihr anhaltendes Lachen machte mich jetzt sogar ein wenig stolz, weil es mir gelungen war, meine ernste Nachbarin auf erfrischende Art zu erheitern. Sie wirkte jung, Frau Becker, in diesem Lachen, so mädchenhaft jung.