Zu diesem Buch

Eine grausige Entdeckung im Karlsruher Vierordtbad versetzt die Badegäste in Schrecken und die Polizei in höchste Alarmbereitschaft: Im Warmluftraum wurde eine Frau erwürgt.

Die Ahnenforscherin und Hobby-Detektivin Maren Mainhardt staunt nicht schlecht, als ihre überkorrekte Freundin, Kriminalhauptkommissarin Elfie Kohlschröter, sie erstmals um Ermittlungshilfe bittet. Maren lässt sich dies nicht zweimal sagen. Mit ihren bewährten Methoden  gesunder Menschenverstand, Menschenkenntnis und Intuition  begibt sie sich auf Spuren-suche in der Vergangenheit des Opfers.

Eine Spur führt auf den Jakobsweg nach Speyer, wo die Ermordete, eine ehemalige Nonne, zwei Jahre zuvor der Pilgerroute folgte. Dort erfährt Maren, dass zur selben Zeit schon einmal eine Frau erwürgt aufgefunden wurde  in der Krypta einer Germersheimer Wallfahrtskirche. Maren wittert eine Verbindung zwischen den beiden Morden. Stehen sie etwa in Zusammenhang mit der kulturbeflissenen Single-Reisegruppe um den dubiosen Paul Prater?

Oder hatte die im Vierordtbad ermordete Karlsruherin einen Kunstraub entdeckt? Bei Ihren Recherchen stößt Maren auf Bilder einer verschwundenen mittelalterlichen Pilgerfigur, die darauf hindeuten, dass sich die Wege der Mordopfer tatsächlich in Speyer kreuzten. In der Krypta des Speyrer Doms laufen schließlich alle Fäden zusammen ...

Die Autorin

Eva Klingler, geboren 1955, ist Journalistin und Autorin. Sie arbeitete als Redakteurin beim SWR und für verschiedene Tageszeitungen und veröffentlichte bisher zahlreiche Romane und Krimis.

2005 erschien ihr erster badischer Krimi „Erbsünde“; seither hat sie in dieser Reihe fünf weitere Fälle der Ahnenforscherin Maren Mainhardt veröffentlicht: „Blutrache“, „Kreuzwege“, „Blaublut“, „Weißgold“ und „Hassliebe“. 

6. Kapitel

Am anderen Morgen schien die Sonne. Die Strahlen fielen so günstig in die Südstadt ein, dass sogar Theos stets finsterer Laden davon erhellt wurde. Zu meiner grenzenlosen Überraschungsaß er vor seinem Antiquariat auf den Treppenstufen. Wie im Süden.

Theo und ich gehen manchmal abends was trinken, aber meistens besuche ich ihn in seinem Geschäft, so dass ich ihn überwiegend im Dunkeln oder Halbdunkeln sehe. Dies wirkt sich günstig auf meinen Eindruck von seinem Alterungsprozess aus. Theo scheint ewiges Leben verhießen.

Jetzt bei grellem Tageslicht bemerkte ich, dass er − wie wir alle − älter geworden war. Vielleicht war es aber auch nur die Sorge um sein kleines Geschäft, das ihn altern ließ.

»Kaffee?«, fragte er.

»Nein, danke, Ich frühstücke heute mit Matthias. Im Karstadt, oben.«

Theo verzog das Gesicht.

Auf der anderen Straßenseite lief Raika Nitescu vorbei, neben ihr Tochter Ana, die wie üblich mit selbstgerecht strenger Miene eher schritt als kindlich hopste. Raika winkte uns zu, Ana streckte lediglich die Hand aus, imitierte einen Revolver und machte: »Paff, paff.«

Der orientalisch gekleidete Mann, der vor einem Trödelladen stand, warf mir scharfe Blicke zu. Nessie bellte Ana an. Es war unglaublich, welche Laute aus diesem winzigen Hund hervordrangen. Ein geschrumpfter Wolf.

»Südstadt pur«, stellte ich fest.

»Ja. Hast du neuerdings was dagegen?«

»Nein. Theo, hast du schon mal von einer Single-Kulturreise-Organisation gehört, die Kul2r heißt? Mit einer 2 in der Mitte?«

»Klar«, sagte Theo. »Die Herrschaften, die da mitfahren, haben schon ab und zu bei mir was gekauft. Sind meistens Frauen, Typ Lehrerin oder gehobene Verwaltungsangestellte. Oder auch Juristinnen mit Prädikatsexamen. Nicht mehr taufrisch und mitunter sehr gesprächig. Kaum aus dem Laden zu kriegen.« Theo grinste. »Irgendwie haben sie vergessen zu heiraten, und jetzt fällt es ihnen kurz vor Schluss wieder ein. Was hältst du davon, wenn ich ein paar alte Bibeln ins Schaufenster stelle? So mit Kerzen drum herum? Diese Bibelsachen gehen im Moment total gut.«

»Und du sagst: nur Frauen?«

»Woher soll ich das wissen?«, entgegnete Theo lakonisch. »Ich vermute, die Männer, die sich auf so was einlassen, sind dabei weniger beständig. Entweder finden sie gleich jemanden, mit dem sie preiswerter alleine verreisen, oder sie sind abgeschreckt von dem kulturellen Bienenfleiß der Damen.«

»Aber die Leute, die hinter dieser Organisation stehen, die kennst du nicht?«

»Doch, da war auch mal einer da und hat mir Werbezettelchen gebracht. Nicht mehr jung, bestimmt auch schon um die 60, sah aber irgendwie aus wie ein ewiger Student, der die Weisheit der Welt mit sich herumträgt. Ein kleiner, verlebt aussehender Typ mit sanfter Stimme. Und seine Mitarbeiterin, glaube ich. Praktikantin. Jung, blond und planlos. Warum interessiert dich das? Du hast schon wieder diesen investigativen Blick drauf. Mit ein paar Leuten für Geld Kulturreisen zu machen, ist kein Verbrechen, oder?«

»Vielleicht doch«, sagte ich.

»Wie meinst du das? Du bist doch nicht etwa wieder hinter einem Mörder her? Maren, sag bloß … die Sache im Schwimmbad? Sieh dich vor! Irgendwann geht das mal schief, und dann ist deine saubere Freundin von der Polizei vielleicht nicht rechtzeitig zur Stelle. Du solltest als Ahnenforscherin zu Fuß auf den Friedhof gehen und nicht selbst im Sarg dorthin getragen werden.«

»Sehr einfühlsam, Theo. Aber diesmal liegt der Fall anders: Elfie wünscht meine Mitarbeit. Sie hat nämlich endlich eingesehen, dass es Dinge gibt, die sich nicht allein mit dem Fahndungscomputer und mit neuesten DNA-Techniken lösen lassen.«

Theo sah mich skeptisch an. Noch skeptischer wurde er, als ich mir einen Führer von Speyer kaufen wollte.

»Speyer hab ich nicht mehr viel. Das wird stark nachgefragt in letzter Zeit. Eben vor allem wegen der Jakobswege. Es muss nicht jeder nach Santiago de Compostela laufen, ein Stückchen durch die Pfalz tut es auch fürs kleine Seelenheil. So etwas nannte man früher übrigens den billigen Jakob. Möchtest du etwa auch auf den Spuren des Apostels Jakobus des Älteren auf der kulturellen Rennstrecke Europas wandeln?«

»Nein, nein. Als die Fee neben meiner Wiege die Gaben ausgeschüttet hat, hat sie bei W wie Wandern aufgehört.«

»Aber bis zum Wein hat sie es dann noch geschafft?«, warf Theo spitzfindig ein.

»Nein, das ist A wie Alkohol. Ernsthaft, Theo, auf diesen Weg bringt mich keiner. Ich wandere höchstens mit Nessie durchs Beiertheimer Wäldchen vom Minigolfplatz bis zum Bahnhof, und wenn wir gut drauf sind auch zurück.«

Theo lachte. Dabei legte sich sein Gesicht in tausend Falten. »Du bist fast noch schlimmer als ich. Consuela will mich zwingen, am Wochenende mit ihr nach Worms zu fahren. Auch über den Rhein. Aus irgendeinem Grund interessiert sie sich für das Nibelungenlied. Will Kriemhilds Gefühlen nachspüren. Dabei ist das alles unbewiesen. Ein Ort macht Geschichte mit einer Sage.« Theo schüttelte den Kopf. »Mir sind historische Orte lieber, wo man auch etwas Echtes betrachten kann. Ein Ort, an dem was Echtes ausgebuddelt wird, ist mehr wert in den Reiseführern, zwei Sterne, drei … Aber Worms − oder meinst du, den Streit vor der Kirche gab es wirklich?«

Ich dachte an den Neid unter Frauen, den ich seit meiner Kindheit kannte. Dann dachte ich an die Gattin meines Cousins und erwiderte mit tiefster Inbrunst: »Damals war es vielleicht vor der Kirche. Heute könnte es eine Disco sein. Oder etwas anderes. Eine Beförderung. Ein bestimmter Mann. Niemand kann so hassen wie eine Frau, die neidisch ist. Aber du kannst Worms auch ohne Überprüfung des Wahrheitsgehaltes des Nibelungenliedes genießen.«

Theo seufzte. Seinen Laden verlassen und über den Rhein fahren − das war fast Unmenschliches von ihm verlangt.

»Darf ich Nessie kurz bei dir lassen? Ich bin wie gesagt mit Matthias im Karstadt verabredet, und da kann ich sie nicht gut mitnehmen.« Theo und Nessie musterten einander aus kleinen Äuglein hinter struppigen Bärten. Noch etwas Übermenschliches wurde von Theo verlangt: Einen richtigen lebendigen Hund hüten. Einen, der haarte, bellte und pinkeln musste und nicht nur als Bild in einem seiner Bücher das Köpfchen schief legte.

Theo seufzte. Was tat man nicht alles für eine Frau, von der man sich viele bittersüße Jahre lang eingebildet hatte, man sei in sie verliebt?

»Also gut, aber nur kurz.«

* * * * * * * * * *

Übermenschliche Rechenkunststücke verlangte auch das Selbstbedienungsrestaurant von Matthias. Der Frühstücksteller sollte 3,25 Euro kosten und beinhaltete sechs Teile. Jede weitere Zutat machte 60 Cent extra. Mit seinen langen dünnen Beinen strich Matthias an der Theke entlang. Intensive Berechnungen wurden angestellt, ob es sich lohnte, dass wir uns einen Teller teilten und die interessanten Teile zukauften oder ob jeder … »Es kann nicht sein, dass ein kleines Stück Butter genauso viel zukostet wie eine Scheibe Räucherlachs. Da muss man mitdenken.«

»Matthias«, unterbrach ich ihn genervt und versuchte, seine spinnenbeinigen Umrundungen des Frühstücksangebotes zu unterbrechen, »sonst bist du auch nicht so sportlich. Bleib einfach stehen und lass uns frühstücken. Ich denke, du hast Karstadtaktien? Also, schädige den Konzern nicht durch allzu kleinliches Nachrechnen.«

»Da hast du Recht.« Matthias entschied sich, zwei Lachsscheiben so aufeinander zu legen, dass man annehmen konnte, es handele sich um eine einzige Scheibe.

Um den Argwohn der Dame an der zentralen Kasse zu lähmen, wies Matthias großzügig auf seinen Kaffee hin. »Ich habe eine Extraportion Milch genommen. Ist das in Ordnung?«

»Das schon«, meinte die Kassiererin ungerührt, »aber die Scheibe Lachs da, die muss ich Ihnen zusätzlich berechnen.«

Muffig saß er mir kurz darauf gegenüber. »Denk an deinen Aktienkurs, Matthias. Wie geht es übrigens deiner Freundin?«

»Gut!«, sagte er herausfordernd. »Sehr gut. Sie ist eine Woche unterwegs. In Kassel.«

Matthias tat so, als verberge sich eine geheimnisumwitterte Metropole hinter dem Wort Kassel. Ich ließ den Ort zunächst unkommentiert.

»Melchior ist auch unterwegs. In Berlin.«

»Warum bist du denn nicht mitgefahren?«, fragte er lauernd. Matthias wartete nur auf ein Krisenzeichen in unserer Beziehung. Wäre ich wieder alleine, was würde er dann mit der Unbekannten in Kassel machen?

»Keine Zeit. Ich warte auf einen Auftrag aus dem Offenburger Raum.«

»Okay«, nickte er, als benötige ich dafür sein Einverständnis.

»Matthias, ich hätte eine Bitte. Du hast doch ab und zu ein paar freie Stunden?«

So etwas durfte man einem Mann in der Versicherungsbranche nicht sagen.

»Nein, keine Zeit. Mein Laden brummt im Moment. Du glaubst nicht, wie viel Kontakte ich zu aktivieren habe!« Da war es wieder. Matthias' erklärtes Lieblingswort. Sein Leben bestand aus immerwährenden Gelegenheiten und Kontakten.

»Doch, doch − das glaube ich gerne. Ich hatte dich nur fragen wollen … Weißt du, es gibt da eine Freizeitorganisation namens Kul2r. Könntest du dich vielleicht dort als Interessenten ausgeben?«

»Wieso sollte ich das tun?« Sein Erstaunen war echt. »Du weißt, ich bin nicht besonders an Kultur interessiert. Ich habe meine Wohnung in der Gartenstadt, meinen Kater Herbert, meine Freundin und mein Auto. Und wie du weißt, sammele ich alte Aufnahmen der Fischer-Chöre, so wie ich mich auch gelegentlich dem Modelleisenbahnbau und meinem Aquarium widme. Daneben bleibt mir wenig Zeit. Und die werde ich gewiss nicht mit Kultur verbringen.«

Entsetzt wich ich zurück. Seine kurze Zusammenfassung hatte mir noch einmal vor Augen geführt, wie spießig Matthias wirklich war.

»Ja, ich weiß, aber … ich müsste da einiges herausfinden. Die Frau, die im Vierordtbad umgebracht wurde, war Mitglied bei Kul2r. Vielleicht weiß man dort etwas über sie, das man der Polizei nicht auf die Nase bindet. Oder möglicherweise gibt es unter den anderen Leuten bei Kul2r einen, der Dreck am Stecken hat. Weißt du, Matthias, es herrscht ein ziemlicher Frauenüberschuss in dieser Gruppe. Und da dachte ich, dass du als attraktiver junger Mann …«

Matthias schälte sein Ei mit seinen dünnen Fingern. Tadelnd betrachtete er mich. »Maren, du hast bei mir eine Lebensversicherung abgeschlossen − wenn auch leider zu einem sehr niedrigen Betrag − die bei deinem 60. fällig wird. Als dein Versicherungsagent muss ich dich dringend bitten, mit diesen Mörderspielen aufzuhören. Sonst lohnen sich die Beiträge nicht für dich, die du bereits eingezahlt hast.«

»Ach, Matthias. Du willst mir also nicht helfen.«

»Nein. Es würde mir sowieso nicht gelingen, ein glaubhaftes Interesse für Reisen an Orte zu heucheln, die mehr oder weniger aussehen wie Karlsruhe, nur dass sie irgendwo eine schlecht begehbare Stadtmauer aus dem 12. Jahrhundert haben. Weißt du wie viel mehr eine Kugel Eis kostet, nur weil sie im Schatten dieser Stadtmauer auf das Tütchen geklebt wird? Eine historische Sehenswürdigkeit am Ort, und die Preise steigen. Ich war einmal in Rothenburg ob der Tauber. Weißt du, was da ein Bier gekostet hat? Und das ist sogar in Franken.«

»Ja und?«

»Na, wo man extra hinfährt, weil das Bier so billig ist. Nein, tut mir Leid. Und außerdem bin ich jetzt liiert. Meine Partnerin würde es merkwürdig finden, wenn ich mich in die Hände einer Organisation begebe, die Paare zusammenbringt. Und bei solchen Gruppen gibt es auch immer schwarze Schafe: Witwentröster, Singlejäger, die nur aufs Geld aus sind und ihre Opfer betrügen. Und die haben meistens schon eine Rechtsschutzversicherung, die sie also leider nicht mehr bei mir abschließen können. A propos … Ich habe da zufällig ein Angebot dabei … Moment mal, gilt aber nur noch kurze Zeit …«

»Ach Matthias«, sagte ich nur noch einmal.

* * * * * * * * * *

Unterwegs zu Theo bekam ich eine SMS von Melchior. »Berlin würde dir gefallen. Trotzdem freue ich mich auf ein paar Tage Stille nächste Woche. Dein Melchior«

Vielen Dank, Melchior, dachte ich. Aber das Wort: vermisse dich vermisse ich.

Nessie hingegen begrüßte mich wieder einmal, als sei ich jahrelang fort gewesen. Gemeinsam gingen wir nach Hause, Nessie zu ihrem Wassernapf und ich zu meinem Anrufbeantworter. Der verkündete nur Gutes. In drei Wochen sollte ich mit dem Offenburger Auftrag beginnen. Ein zweiter Anruf bezog sich auf eine Ahnenchronik, die ich vor vier Jahren für eine gut situierte Familie aus Baden-Baden erstellt hatte, die mich nun baten, sie zu aktualisieren, da sie inzwischen drei Enkelkinder und eine neue Schwiegertochter hinzugewonnen hätten. »Selbstverständlich werden wir Ihre Mühe wie üblich entlohnen, liebe Frau Mainhardt. Die Daten schicken wir Ihnen wie immer als pdf-Datei zu.«

»Gerne doch«, antwortete ich dem Gerät. Und zu Nessie: »Dein Futter ist gesichert. Die haben damals gut und pünktlich bezahlt!«

Es piepste noch mal. Und eine angenehme, gelassene Stimme sprach ohne Stocken.

»Hallo, Frau Mainhardt, hier spricht Marion Strauß. Erinnern Sie sich? Wir haben uns in Speyer kennen gelernt. Am Samstag bin ich zufällig in Karlsruhe. Hätten Sie wohl Zeit für eine Tasse Kaffee?«

Mein Privatleben entwickelte sich ja richtig rasant! Und zwar in alle möglichen Richtungen. Ich freute mich, dass Marion sich tatsächlich gemeldet hatte. Man gibt andauernd irgendwelchen Leuten seine Telefonnummer, aber letztlich melden sich nicht viele. Ich rief zurück und sagte ihrem Anrufbeantworter zu. Den positiven Schwung ausnützend, wählte ich gleich danach die Mannheimer Telefonnummer von Kul2r. Besetzt. Beim zweiten Versuch lief ein mit einer freundlichen Männerstimme besprochener Anrufbeantworter. Erst beim dritten Mal, eine Kaffeelänge später, meldete sich eine seriöse Männerstimme: »Prater. Kul2r. Schön, dass Sie anrufen!«

Ob er jeden so begrüßte? Auch Leute von der Telekom oder von den Zeugen Jehovas?

»Hallo, mein Name ist …« Verdammt. Nicht rechtzeitig genug einen Tarnnamen ausgedacht. »Franziska«, stieß ich schließlich hervor. »Ja?«, ermahnte mich die Stimme freundlich.

Ich zögerte. Heute Morgen hatte ich mich mit der jungen Frau, die unter mir wohnte, wegen der BNN gestritten. Ich holte sie morgens als erstes, da sie immer bis mittags schlief. Seit neuestem aber nahm sie irgendwelche positiv stimmenden Medikamente ein und war schon um sieben Uhr wach. Man musste vielleicht erwähnen, dass die Zeitung uns beiden nicht gehörte, sondern abonniert wurde von Herrn und Frau Schlinks, die berufstätig waren und sie erst abends scheinbar ungelesen aus ihrem Briefschlitz zogen. Franziska behauptete nun, ein Vorrecht auf die Schlinks-BNN zu haben, weil sie mir früher, als sie sich selbst noch ein Abo leisten konnte, gnädig ihre Zeitung zur Verfügung gestellt hatte.

Jetzt konnte sie mir wenigstens ihren Namen leihen. »Franziska Schönegg«, murmelte ich ins Telefon, »und ich bin Single.« Er musste mich für eine komplette Idiotin halten.

»Das ist doch gar kein Problem«, meinte die sanfte Stimme. »Und Sie möchten gerne kleine Kurzreisen machen? Und dabei in nette Gesellschaft geraten?«

»Ja, sehr gerne.« Und möglichst auch überleben, setzte ich in Gedanken hinzu. Das war eigentlich ungerecht, denn noch gab es keinerlei Hinweise, dass Kul2r etwas mit Hiltruds Tod zu tun hatte. Ebenso gut hätte ich Hirsch-Reisen verdächtigen können. Dennoch … Ich hatte da so ein Gefühl. Und diesem Gefühl wollte ich nachgehen.

»Wo wohnen Sie denn, verehrte Franziska?« Ich gab keine Antwort − weil ich normalerweise auf den Namen Maren reagiere und nicht auf Franziska.

»Wir sprechen uns alle nur mit Vornamen an«, ermahnte er mich sanft. »Es erleichtert so manches.«

Was erleichterte es denn, dachte ich. Das Ins-Bett-Hüpfen?

»Aber ja. Das macht nichts. Du kannst mich ruhig duzen.«

»Gut. Ich bin der Peter. Also, Franziska, wo wohnst du?«

»In Karlsruhe! …Peter«, fügte ich hastig an. »In Karlsruhe, Franziska«, wiederholte er zufrieden, »da haben wir ein Büro. Es befindet sich am Gutenbergplatz. Kennst du denn den Gutenbergplatz?«

»Natürlich. Ein schöner Platz.«

»Gerne«, sagte er so, als hätte ich bereits mit diesen Worten einen Vertrag mit ihm abgeschlossen. Und dann, als sei ich therapiebedürftig − wahrscheinlich waren das auch einige seiner Klienten − »Du magst also schöne Plätze. Wir haben eine Fahrt nach Nancy anzubieten. Place Stanislas. Das sagt dir sicher etwas. Hotel, Reiseleitung, Essen alles inklusive.« Letzteres kam mit einem deutlich sachlicheren Unterton.

»Das hört sich gut an.«

»Ja. Am besten suchst du gleich morgen unser Büro auf. Es wird von meinem älteren Bruder Paul geleitet, du bist also in besten Händen. Er ist sehr kunstbewandert und betreut meistens unsere Ausflüge in die Pfalz und ins Elsass. Warte, ich gebe dir die genaue Adresse. Bist du eigentlich noch berufstätig?«

Noch berufstätig. Ich schluckte. Das hatte mich noch keiner gefragt. Meine Nachbarin Franziska war meines Wissens noch nie wirklich berufstätig gewesen, aber jetzt musste sie eben daran glauben

»Ja, doch.«

»Franziska Schönegg. Ein interessanter Name. Ich kannte mal einen von Schönegg. Verwandt?«

Ich mag ja nach allem möglichen aussehen, aber ganz bestimmt nicht wie eine »von«, und Peter Praters Bruder würde mich bald persönlich kennen lernen. Also stritt ich adelige Querverbindungen sicherheitshalber ab.

»Nein, der Name stammt von … ganz entfernten Vorfahren. Ich, ich bin durch und durch − bürgerlich.«

»Na siehst du«, tröstete mich Peter über meine niederen Wurzeln hinweg.

Als ich den Hörer schließlich auflegte, starrte mich Nessie unverwandt von unten herauf an. Ich tippte mir an die Stirn.

»So sehr Single kann man gar nicht sein, dass man sich ernsthaft in die Hände von Peter dem Sanften begibt. Aber: Wat mut, dat mut.«

* * * * * * * * * *

Der Gutenbergplatz ist tatsächlich einer der schönsten Plätze von Karlsruhe, und besonders schön ist er, wenn Markt ist. Schließt man die Augen, atmet tief ein und lauscht, so könnte man annehmen, man sei in Südfrankreich. Aroma pur. Ziegenkäse, Kräuter, Oliven. Ich hatte noch ein wenig Zeit, schlenderte müßig an den Ständen vorbei. Junge Mütter, die aussahen wie Werbefiguren der Initiative »Akademikerinnen, kriegt nette Kinder!« schoben flott gekleidet ihre Fahrräder, bestückt mit süßen Kleinen in farbenfrohen Kindersitzen, und kauften biologisch aufgezogenes Gemüse ein, das sie gutgelaunt in rustikale Körbe verstauten. Plastik war hier mega-out. Hinterher ging es noch ins Gutenberg, einen Kaffee trinken mit einer ebenso flott aussehenden anderen jungen Mutter. In zwei Jahren, wenn die Kleinen größer waren, würde man wieder stundenweise als Anwältin oder Architektin, als Kunsthistorikerin oder vielleicht als Ärztin arbeiten. So zum Spaß, denn nötig hatte man es nicht.

Das Viertel war deutlich edler als meine heimische Südstadt − schöne alte Wohnungen mit großen Schiebetüren, echten Holzdielen und Stuckdecken. Durch die schmalen, hohen Fenster sah man gut bestückte deckenhohe Bücherregale. Hier war das Bildungsniveau sicher höher als in anderen Stadtteilen Karlsruhes, und neben den jungen Familien wohnten hier gewiss auch ein paar gut verdienende Singles. Deshalb war die Lage für ein gehobenes Single-Freizeitunternehmen auch nicht schlecht gewählt.

Erster Stock. Ein buntes fröhliches Schild mit zwei klug aussehenden Fröschen mit Lesebrillen, die einen Sonnenschirm über sich hielten: »Kul2r. Reisen-lieben-lernen« Sehr gut, der Slogan. Alles geschickt gemacht. Eine junge Frau, Typ dürre Praktikantin, machte mir auf. Ich stellte mich mit meinem selbstgewählten Vor-und Nachnamen vor. »Frau Schönegg!«, wiederholte sie. Ich nickte.

»Franziska«, ermahnte ein Mann sie mit warmer, weicher Stimme aus dem Hintergrund und zu mir gewandt: »Die Lise ist neu hier. Hallo, ich bin der Paul«, setzte er hinzu.

Lise, die wahrscheinlich irgendwann gelernt hatte, dass es eigentlich höflich war, Leute, die man nicht kannte, mit Nachnamen und »Sie« anzureden, zog sich verwirrt an ihren Praktikantenplatz zurück, während ich mit Paul, Peters Bruder, dessen Familienname mir zunächst ein Geheimnis blieb − ich konnte nur vermuten, dass er auch Prater hieß − in ein fröhliches Büro trat. An den Wänden verhießen bunte Poster Reisefreuden in die nähere Umgebung. Vor blauem Himmel grüßten mich der Mannheimer Wasserturm, das Straßburger Münster, die Porta Nigra in Trier sowie eine Straßenszene aus Colmar, hinterlegt mit einem Riemenschneideraltar. Daneben hing eine Landkarte, gespickt mit Fähnchen. Ein Fähnchen steckte mitten in der Stadt Speyer. Ich mochte nicht gar zu auffällig hinschauen, doch Germersheim sah ich nicht.

Schreibtische gab es zwar, aber nicht für mich. Paul und »Franziska« nahmen ganz locker in einer Sitzecke Platz.

»Franziska, möchtest du etwas trinken? Wasser, Kaffee oder ein Gläschen Prosecco?« Paul zwinkerte mir so verräterisch zu, als habe er mir gerade Heroin angeboten.

»Danke.« Ich musterte ihn. Kein Mann, der meine Gefühle zum Leben erweckte.

Er war etwa sechzig. Höchstens mittelgroß. Schmal, fast schmächtig, der Hals schon faltig, aber von einem seidenen Tuch bedeckt. Er hatte einen ziemlich großen Kopf, der aussah, als ob darin angestrengt nachgedacht würde. Dunkle Augen, die unstet und suchend hin- und herflackerten. Ein angestrengt freundlicher Mund. Angestrengt? Ja: dies hier war ein Mann, der sich zu sehr bemühte, freundlich, höflich und kundenorientiert zu sein. Was Matthias tatsächlich zur zweiten Natur geworden war, schien bei ihm nur aufgesetzt sein. Nicht jeder verkauft gerne. Und schon gar nicht sich selbst.

»Danke schön, aber ich habe schon …«

»Ja, du hast schon gefrühstückt, nicht wahr? Ohne dir zu nahe zu treten, vielleicht alleine?« Paul trug Jeans und ein schwarzes Hemd.

»Nein, nicht alleine. Mit …«

Die mephistophelisch gezeichneten Augenbrauen von Paul wanderten ein wenig nach oben. Sein lauernder Blick wurde ernster.

»Franziska, du weißt schon, dass wir eine Freizeiteinrichtung für allein lebende und alleinstehende Menschen sind. Wir vermeiden den modernen Ausdruck Singles, denn was soll an dem Wort alleinstehend falsch sein?«

»Da habe ich mir noch keine Gedanken gemacht«, musste ich zugeben.

»Siehst du? Noch ein Schluck Biosaft? Von der Reichenau. Klosteräpfel.«

»Ach?« Für mich sah das Zeug aus wie ganz normaler Apfelsaft.

Ich bin da misstrauisch: Kürzlich hatte ich auf dem Markt beobachtet, wie ein Biohändler, dem die Zucchini ausgegangen waren, im benachbarten Supermarkt einen Beutel ökologisch unkorrektes Gemüse gekauft, hinter seiner Bude mit Erde bekleckert und dann in seine Auslagen drapiert hatte. Ich fand das schade. Wir alle wollen gerne an etwas glauben. Etwa, dass beim Biobauern auch Bio drin ist. Man konnte irgendwie verstehen, was die Menschen auf den Jakobsweg trieb. Zumindest existierte der nachweisbar seit tausend Jahren.

Zwar nicht unbedingt in Speyer … meine Gedanken, die genau so wenig konsequent an der Leine gehen wie Nessie, verirrten sich. Ich folgte ihnen nicht. Ein Fehler.

Paul beobachtete mich inzwischen milde. »Ja, wir versuchen, konsequent zu sein. Heimische Kultur verstehen und fördern. Nicht in Länder reisen, in denen wir nur eine polierte Oberfläche sehen, sondern den Dingen auf den Grund gehen. Ich möchte auch erwähnen, dass wir christliche Werte nicht ablehnen. Ich denke, auch du stehst den Errungenschaften unserer abendländisch-christlich geprägten Kultur positiv gegenüber?«

Hoffentlich ist das Ganze kein deutschnationaler Verein, dachte ich, wenngleich Paul eher gespenstisch als rasserein aussah. Eilig gab ich vor, sehr abendländisch und sehr christlich zu sein. In Wirklichkeit wäre ich allerdings ganz gerne im Orient geboren. Ich stelle mir gerne vor in einem Harem zu leben, wo man zwar einen Liebhaber hat, ihn aber nicht jeden Tag um sich haben muss, und wo man sich ständig mit Oliven und Datteln voll stopfen kann und mit Rosenöl einreiben lässt. Wo man bei Hitze schön brav hinter den Mauern des Serails bleiben kann, anstatt wie die moderne, alleinlebende abendländische Frau abends noch in der Schlange bei Aldi zu schwitzen.

Paul betrachtete mein sehnsüchtiges Mienenspiel mit sanfter Vorfreude. »Wir sind kein Heiratsinstitut und betreiben auch keine offizielle Partnervermittlung, aber wir möchten, dass die Menschen, die zu uns kommen, mit uns reisen und bei uns jemanden kennen lernen, auch damit rechnen können, dass der andere Mensch ebenfalls alleinstehend ist. Sonst würde das ja alles keinen Sinn machen, nicht wahr?«

»Nein«, sagte ich, »nein. Ich habe mit meinem Hund gefrühstückt. Ist ein Hund okay?«

Pauls Augenbrauen begaben sich wieder in ihre Ausgangsposition.

»Hund ist ganz wunderbar«, sagte er.

10. Kapitel

Nessie freute sich, als ich zurück war. Aufgeregt tanzte sie um mich herum und holte einen großen Knochen unter einem Sofakissen hervor, um ihn mir zu zeigen.

»Danke, Consuela«, sagte ich. »Du willst mir immer noch nicht die Karten legen, nicht wahr?« 

Consuela schüttelte den Kopf. Sie erwartete heute keine Kunden mehr und trug deshalb Jeans und ein T-Shirt. Die Haare hatte sie zu einem dicken schwarzroten Knoten zusammengebunden.

»Neue Frisur?«

»Ich werde jetzt immer einen Knoten tragen. Eine Klientin hat gesagt, ein Knoten wirkt so geheimnisvoll und traditionell. Man hat nicht mehr viele Zopfe oder Knöten heute, oder? Ich lasse ihn − es ist wie eine Verkleidung, und mein Auftritt ist dann wirkungsvoller.«

Abwesend hörte ich ihr zu, korrigierte »Knöten« nur mechanisch zu »Knoten«.

»Nein«, sagte sie schließlich und schüttelte noch einmal den Kopf.

»Nein. Ich kann dir nur immer wieder das Gleiche sagen. Gott lässt sich nicht ins Handwerk pfuschen.«

»Aber wieso Gott? Zwei Frauen sind umgebracht worden. Und bestimmt nicht von Gott. Höchstens von einem, der sich dafür hält. Vielleicht war es einer der kulturbeflissenen Singles von Kul2r. Damit hat Gott nichts zu tun.«

»Mehr kann ich dir nicht sagen. Suche auf Gottes Spuren − und sei vorsichtig!«

* * * * * * * * * *

Es war mir bis jetzt gelungen, Melchiors und Elfies gemeinsam verübten Verrat möglichst zu verdrängen. Stolz hatte ich mir vorgenommen, mir nichts anmerken zu lassen, weder ihr noch ihm gegenüber. Ich würde sie mit meinem Wissen über ihr Verhältnis zu gegebener Zeit überraschen. Es ihnen irgendwie heimzahlen und dann meinen Triumph kalt genießen.

Doch so etwas mögen andere zustande bringen − ich kann es nicht. Kaum war ich mit Nessie ein paar Minuten alleine in meiner Wohnung, da überfiel mich schon die Einsamkeit. Schmerzende Kälte. Und so würde es bleiben.

Nicht dass Elfie eine sehr nahe Freundin war, aber sie war doch eine Gefährtin gewesen. Und mit meinem Liebhaber hatte ich auch noch diese Gefährtin verloren. Alles schien mir ins Wanken geraten.

Ich dachte an Christian und Doris in Speyer, an ihre wohlgeordnete Welt, die mir manchmal langweilig erschien, die ihnen aber so viel Sicherheit gab. Doris wusste zumindest, mit wem sie am nächsten Sonntag frühstücken würde und am übernächsten …

Hilde war wahrscheinlich auch einsam gewesen, seit sie das Kloster verlassen hatte. Irgendwie musste sie damit zurechtgekommen sein, all die Jahre, ohne neidisch zu werden so wie Alin. Oder hatte sie ein Ventil in ihrer Boshaftigkeit gesucht, sie, die − wie hatte Theo gesagt? − »Soldatin Christi«? Hatte sie sich vielleicht zur Tugendwächterin entwickelt, die anderen allzu lästig geworden war?

In diesem Augenblick klingelte das Telefon. Es war Theo.

»Maren?«, fragte er wie jedes Mal, so als sei er überrascht, wer sich unter meiner Nummer meldete. Wahrscheinlich misstraute er dem Telefon.

»Ja, Theo. So spät noch? Ich bin gerade erst nach Hause gekommen. Ich war in Speyer und bin ziemlich kaputt. Entschuldige, aber ich bin nicht im Sprechmodus.«

»Sprechmodus? Komm zu mir in den Laden, und du wirst gleich wieder munter. Ich muss dir etwas zeigen.«

»Keine Neuerwerbungen heute mehr, bitte. Hast du nicht schon geschlossen?«

»Es ist keine Neuerwerbung«, kam es durch die Leitung, und Theos Stimme zitterte vor innerer Aufregung − etwas, das bei ihm selten vorkam. »Im Gegenteil sozusagen. Ich bin sicher, dass es dich interessieren wird. Du musst natürlich sofort damit zu deiner Freundin Kohlschröter gehen. Soviel musst du mir versprechen.«

Nessie war hoch erfreut, noch einen weiteren Spaziergang geboten zu bekommen. Und das, obwohl Frauchen bereits die Schuhe von sich geschleudert hatte. Für den klugen Hund das sicherste Zeichen, dass erst einmal Ruhe einkehren würde.

Theo erwartete mich an der Ladentür. Sein Bart war gesträubt. Er blinzelte in den Rest Abendsonne, der noch über die Südstadtdächer lugte. Die Sonne sah er nur höchst selten, obwohl er angeblich unter Consuelas Einfluss ein- oder zweimal an der Alb spazieren gegangen war.

»Hallo, Maren. Wie war es in Speyer, einem der bevorzugten Wohnorte Gottes?«

»Ein netter Platz. Was hast du herausgefunden?«

Er bat mich und, mit weniger begeisterter Miene, auch meinen Hund hinein ins Dunkel seines Ladens. Ein junges Mädchen in Schläppchen hielt ein reichlich zerfleddertes Buch in der Hand. »Is' das gut?«

Theo warf einen Blick darauf. Elizabeth von Arnim, Die preußische Ehe. Er schüttelte den Kopf. »Kenn ich nicht.« Theo hasste es, so etwas zugeben zu müssen, aber seit auch Frauen Bücher schrieben, hatte er den Überblick verloren.

»Ich kenne es aber«, sagte ich zu dem jungen Mädchen nicht ganz wahrheitsgemäß − schließlich hatte ich bisher bloß von Marion davon gehört. »Es ist toll.«

»Echt?«

»Ganz echt. Und sehr geistreich. Es geht um Ehefrauen und deren Männer, ums Kinderkriegen und vor allem ums Keine-Kinder-Kriegen.«

»Dann nehme ich es«, entschied sie spontan, »Sie müssen es wissen. In Ihrem Alter.«

»Ja«, seufzte ich, »ich muss es ja wissen.«

Ganze 50 Cent wechselten den Besitzer. Und wir blieben alleine zurück.

»Also, was ist los, Theo? Worum geht es?«

»Um deine Leiche.«

»Um welche?«

»Na um Frau Binder. Die aus dem Schwimmbad − meine ehemalige Kundin.«

»Und? Was ist passiert?«

»Ein Kunde, ganz alter Mann, hat eine seltsame Eigenschaft: Er kauft bei mir Secondhandbücher und bringt sie dann, wenn er sie gelesen hat, wieder zurück. Er will kein Geld dafür. Ich fürchte, er betrachtet mich als seinen Sozialfall und die Rückgabe als Spende. Gestern hat er verschiedene Bücher über Speyer, den Jakobsweg und das Mittelalter zurückgebracht. Stell dir vor: Einige davon stammten ursprünglich zufällig von Hiltrud Binder. Ihr Name stand vorne drin. Und in einem hat er etwas entdeckt, auf das er meinte, mich aufmerksam machen zu müssen.«

»Auf was?«

»Hier. Aber du musst mir versprechen, dass du es der Polizei weitergibst! Ich würde es ja selbst tun, aber da ich deinen Drang kenne, Herrn Oberst zu imponieren, überlasse ich diese Heldentat dir.«

Wenn er wüsste, dachte ich.

Theo reichte mir zwei Papiere. »Es scheinen Farbausdrucke von digital aufgenommenen Fotos zu sein.«

Ich starrte die beiden Bilder an. Das Motiv war ähnlich. Leicht von oben fotografiert, zeigten die Fotos nichts anderes als eine Baustelle. Schotter. Steine, eine Mauer, ein Gang im Hintergrund. Ein altes Gemäuer. Auf dem einen Bild war ein Handwerker zu sehen, in einem Blaumann, mit der Zigarette in der Hand. Neben ihm stand eine Stufenleiter mit einer staubigen Flasche Bier.

»Das sind Fotos von einer Baustelle, nichts anderes«, meinte ich verblüfft. »Vielleicht ein Umbau?« 

»Ja, das habe ich zuerst auch gedacht, aber schau mal genau hin. Hier ist etwas im Hintergrund.«

Auf dem von Spinnweben überzogenen Mauerwerk, halb verdeckt von Steinen, die nur noch von alten, morsch aussehenden Brettern gehalten wurden, stand in einer Art Nische eine kleine, ebenfalls von Spinnweben bedeckte Figur. Nein, es waren eigentlich zwei Figuren. Neben der ersten kniete oder saß noch eine zweite Gestalt. Man konnte sie beide nur undeutlich erkennen. Mir schien, als schimmere etwas wie Gold.

»Hast du eine Lupe?«

»Wenn ich die nicht besäße, hätte ich den falschen Beruf«, lächelte Theo. »Hier. Marke extrastark.«

Die große Figur war ein typischer Heiliger. Wallendes Gewand. In den Händen hielt er etwas Längliches. Es sah fast aus wie ein Baguette. Ja, es konnte ein Brot sein. Ich untersuchte die kleinere Figur mit der Lupe. Ein gedrungenes, bärtiges Männlein mit einem Wanderstab in der Hand, ein Kreuz auf dem Gewand. Neben ihm schien etwas zu baumeln. Vielleicht eine Flasche.

»Ein Pilger?«

»Sieh dieses Zeichen hier«, meinte Theo und ließ den Strahl seiner kleinen Taschenlampe über die Gestalt gleiten. »Die obligatorische Muschel! Das ist nicht irgendein Pilger. Das ist ein Jakobspilger. Und er erhält Essen aus der Hand des Mannes mit dem Gewand.«

»Wahrscheinlich. Theo, was soll das alles? Glaubst du, das sind Hiltruds Bilder? Und wenn schon − sie hat halt irgendeine Pilgerfigur fotografiert. Vielleicht in einem Museum, das gerade renoviert wurde.«

Theo sah mich vielsagend an. Wenn er noch länger mit Consuela zusammenkam, würde er noch zum Wahrsager mutieren. »Sieht das für dich nach einem Museum aus?«

»Nein, die Szene wirkt wie in einem Gewölbe. Einer Gruft.«

Ich ging näher an das Bild heran.

»Da, im Hintergrund ist eine Tür. Und das dort könnte ein Schrank sein. Also, mit anderen Worten: Dies ist das Bild eines Zimmers. Oder einer Kirche. Es könnte ein Nebenraum sein, hinter dem Altar. Es fällt Licht von außen herein. Man hat vielleicht einen Durchbruch nach draußen unternommen … Oder es wurde durch die offene Tür fotografiert. Aber … die Figur sieht wertvoll aus. Es ist nicht gerade angemessen, sie in dem Baudreck stehen zu lassen. Man würde sie vorher wegstellen, in Sicherheit bringen.«

Theo wiegte den Kopf. »Das kann man nicht sagen. Die Figur kann auch ganz wertlos sein. Kitsch vom Flohmarkt.«

»Dafür stand sie aber schon eine ganze Weile in dem Keller dort. Sie ist, schau mal hier, regelrecht verwachsen mit der Wand durch die Spinnweben und die Staubmatten. Nein, die stand da lange. Sehr lange.«

Theo legte die Fotos zur Seite.

»Was bedeutet das? Eigentlich nichts«, stellte ich fest und fasste zusammen: »Gut, Elfie hat mir erzählt, dass Hiltrud Binder eine Digitalkamera besaß. Nehmen wir also an, Hiltrud hat Fotos gemacht. Von einer Baustelle, einer Kirchenrenovierung oder einer Ausgrabung. Wir wissen, dass sie viel gereist ist und sich sehr für Kirchen und Kulturgut interessierte. Diese Figur kann sie überall und nirgends aufgenommen haben.«

»Diese Fotos sind nur Papierabzüge. Ob man die digitalen Originaldateien gefunden hat?«

»Sie hatte viele Urlaubsfotos. Das hat mir Elfie erzählt. Was sollte an diesen Ausdrucken Besonderes sein?«

»Du hast das noch nicht gesehen!« Theo warf mir einen bedeutungsschweren Blick zu, als er eines der Papiere umdrehte. Sichtlich genoss er die Situation. Mit einer schwungvoll-energischen Handschrift waren auf der Rückseite des Fotos ein paar Worte notiert: »Speyer, 2004. Unbedingt nachhaken!«

»Unglaublich!«, sagte ich. »Unglaublich. Und rätselhaft.«

An der Vordertür erschien noch ein später Kunde. Theo wedelte ihn mit einer ungehaltenen Geste nach draußen. Nessie bellte, als hätte sie das Hausrecht.

Ich sagte langsam, jedes Wort einzeln abwägend: »Hiltruds Wohnung ist durchwühlt worden. Der Mörder hat die Festplatte ihres Computers geklaut, das wissen wir − und auch die Speicherkarte ihrer Digitalkamera. Nehmen wir also an, jemand hat diese Fotos bei ihr gesucht und auch gefunden − und wusste nicht, dass sie Ausdrucke davon hatte. Die sie irgendwo in ein Buch legte, das sie dir später brachte. In welchem Buch lagen sie? Pfälzer Jakobswege. Also, dieses Foto ist auf einer Station des Pfälzer Jakobswegs aufgenommen worden. Da gehe ich jede Wette ein. Hilde war eine gründliche Frau. Sie hat gewiss gewusst, was sie wohin steckte. Vermutlich hat sie die Kopien deshalb aufbewahrt.«

Ich wies auf die Notiz auf der Rückseite des Bildes und fuhr fort:

»Die Frage ist nur: Warum wollte sie unbedingt ›nachhaken‹? Hat sie es getan? Und was wollte sie wissen? Vielleicht weiß ihre Freundin Linde etwas darüber. Sie hat mir erzählt, Hilde hatte wieder eine Pilgerreise geplant.«

»Kurz vor ihrem Tod also?«

»Genau. Und wann sind diese Fotos aufgenommen worden?«

»2004. Das steht ja hier!«

»Im Jahr von Alins Tod!«

Wir sahen uns an.

»Maren, du musst diese Fotos deiner Freundin Elfie zeigen und sie informieren. So unwahrscheinlich es sein mag: Vielleicht haben sie tatsächliche eine Bedeutung für den Mordfall.«

»Natürlich«, erwiderte ich. Dann traten Tränen in meine Augen, von denen ich nicht wollte, dass Nessie sie sah. Sie mochte nicht, dass ich traurig war. Ich war ihr Alphatier, und das hatte nicht traurig, sondern stark zu sein.

Theo gab mir die Fotos in gutem Glauben, doch ich hatte ihn belogen. Ich fürchtete, er war lange genug mit Consuela befreundet, um es zu ahnen.

* * * * * * * * * *

Elfie, die Schlange, sollte natürlich nichts erfahren. Ich würde alleine versuchen, den Sinn der Notiz auf dem Foto herauszufinden, und mein Wissen dann Frau Ix zuspielen.

Als ob Elfie es geahnt hätte, war eine Bitte um Rückruf auf meinem Anrufbeantworter.

»Falls du es heute Abend nicht mehr schaffst, ich bin dann drei, vier Tage unterwegs. Ein bisschen ausspannen. Sollte es was Neues geben, Handys sind ja − fast − immer verfügbar.«

Und passenderweise kam die zweite Nachricht gleich hinterher: »Habe beschlossen, mir noch ein paar Tage die Gegend anzuschauen. Kleine Auszeit. Ich hoffe, Du verstehst das. Ich melde mich … Liebe Grüße Melchior.«

Wenigstens hatte der Feigling darauf verzichtet, »dein Melchior« zu heucheln, während er mit Elfie auf dem Pfälzer Jakobsweg unterwegs war. Sie hatten mich beide angelogen − wie lange betrogen sie mich schon? Tränen rollten dick und warm meine Wangen herunter und rannen salzig in meinen Mund. Ich fühlte mich wie ein verlassenes Kind. Einfach nur traurig.

Als Strohwitwer Matthias später anrief, hörte er sofort, dass etwas nicht stimmte, und saß bereits Minuten später in seinem Auto, um herbeizueilen und mich zu trösten. Nicht zum ersten Mal dachte ich, dass Freunde die besseren Männer sind als Liebhaber.

»Du weißt, ich war von Anfang an skeptisch«, teilte er mir mit und brachte mir einen Tee aus der Küche. »Ich hab den Mann doch tatsächlich mal auf eine Hausratsversicherung angesprochen. Für seine Klitsche da in Freiburg. Schließlich hat er diese zwei Burgunderuhren da, noch aus der Zeit seiner Ehe mit der Französin, und eine Wohnung, in der solche Objekte hängen, ist nun mal automatisch mehr wert. Ist die Wohnung leer, braucht man auch keine Hausratversicherung. So einfach ist das. Aber er wollte nicht. Zu kniepig. Seine Töchter leben in Frankreich, also war da nicht mal eine Ausbildungsversicherung drin. Lebensversicherung haben die sowieso bei der Polizei, glaube ich, also blieb nur der Hausrat. Tiere lebten ja keine im Haushalt.«

Bevor sich Matthias vollkommen im Gestrüpp seiner Versicherungspolicen verlor, nippte ich an meinem Tee und schluchzte probeweise auf, um mich wieder in Erinnerung zu bringen.

»Jetzt auf zu neuen Ufern!« Er klopfte mir aufs Knie. »Ich bin ja derzeit vergeben − also so gut wie jedenfalls. Aber − ich hätte da einen Freund, der eine Generalagentur in Offenburg hat. Der wäre noch zu haben. Läuft gut.«

»Wer? Der Mann?«

»Nein, die Agentur. Spitzenabschlüsse!«

»Lass gut sein, Matthias. Man kann auch ein Leben ohne Männer führen. Ich habe ja Nessie. Und meine Arbeit.«

Nessie hörte ihren Namen, hob das Köpfchen, klopfte bestätigend mit dem Schwanz auf den Boden und ließ ihn dann wieder auf ihre dekorativ ausgestreckten Hinterpfoten fallen.

»Schön, dass du dich noch daran erinnerst. Dein Geld verdienst du mit Stammbäumen und nicht mit Mörderjagden. Die Polizei wird für diese Arbeit bezahlt, und der Steuerzahler stattet sie, weiß Gott, mit teurer Technik aus. Du kannst sowieso nichts tun außer Nachdenken.«

»Stimmt!«, antwortete ich, »stimmt haargenau!«

* * * * * * * * * *

Ich hatte Tristan gebeten, mich am Europaplatz zu treffen. Da ich wusste, dass er ohnehin einmal in der Woche in Karlsruhe war, schien es mir kein zu großes Opfer. Er begrüßte mich mit einem Kuss, der wieder eine Sekunde zu lang dauerte.

»Du bist hübsch wie immer, Maren!«, sagte er. »Aber du siehst nicht gerade glücklich aus. Wer oder was ist dafür verantwortlich?«

Als ich nur das Gesicht verzog, fuhr er ein wenig ernster fort: »Warum werde ich den Verdacht nicht los, es hängt mit deinen zwei Polizisten zusammen? Also, verrate mir, soll ich sie auf dem Weg morgen in einen Bach werfen? Oder eine Schlucht hinabstürzen lassen?«

Obwohl er dabei lachte, lief mir doch plötzlich ein Schauer über den Rücken. Ich hatte in der Vergangenheit nur zu deutlich erleben müssen, dass es ganz normale Menschen sein konnten, die zu Mördern wurden, ohne dass ihre Umwelt es bemerkt hatte.

»Komm, wir trinken eine Tasse Kaffee. Ich werde versuchen, dich aufzuheitern. Und ich kann dir versprechen: Deine beiden Nicht-mehr-Freunde werden am Ende ganz schöne Blasen an den Füßen haben. Allein am ersten Tag stehen ihnen 25 Kilometer von Speyer nach Neustadt ins Haus.«

»Es sind Bullen«, sagte ich finster, »die sind das Marschieren gewohnt.«

»Am zweiten Tag gehen wir vom Naturfreundehaus Heidenbrunnental nach Elmstein, und am dritten Tag von Elmstein zum Naturfreundehaus Finsterbrunnertal. Da wird es dann etwas schluchtiger. Fast dreißig Kilometer. Da bleibt nicht viel Luft zum Flirten übrig.«

»Lassen wir das«, meinte ich, plötzlich der Gedanken an Melchior überdrüssig. Er zuckte mit den Achseln.

»Tristan, ich möchte dir etwas zeigen. Kannst du mit diesem Bild etwas anfangen?«

Ich holte eines der beiden inzwischen ziemlich zerknitterten Papiere heraus. Vorsichtshalber hatte ich sie in eine dieser genialen Plastikhüllen gesteckt, die einem immer vorgaukeln, man hätte überall Ordnung. Das zweite Foto mit dem Handwerker im Hintergrund zeigte ich ihm nicht. Die Figuren waren darauf sowieso nicht zu sehen.

Tristan lächelte sein verschmitztes, jungenhaftes Lachen voller Charme. »Ohne Brille geht fast nichts mehr.« Er hielt das Papier ein Stück weit von sich weg, betrachtete es, schob es dichter vor seine Augen.

»Das ist eine dieser vielen Heiligenfiguren, die überall auf den Jakobswegen zu finden sind, und sie steht vielleicht in einem dieser Schuppen, die die Leute eigens verfallen lassen, damit sie authentisch aussehen.«

»Hast du diese Figur schon einmal gesehen?«

Er atmete tief ein und aus, als seufze er. »Seit ich lebe, sehe ich Jakobsfiguren. Obwohl … in letzter Zeit haben sie wirklich extrem zugenommen, weil ja auch die Pilger zugenommen haben. Der Weg nach Santiago ist bekanntlich weit, und unterwegs werden überall Figuren verkauft.«

»Ist dies eine Figur aus dem deutschen Kulturraum? Kann man das am Stil nicht genauer definieren?« »Doch, doch. Vielleicht«, meinte Tristan und betrachtete die Figur noch einmal genauer. »Es könnte eine deutsche Figur sein, das sieht man an der Kleidung und an dem typischen Gesichtsschnitt des Knienden. Möglicherweise Süddeutschland. Aber ich bin sicher, dass sie nachgemacht ist.«

»Warum?«

»Das Gesicht des Pilgers ist zu grob und schematisiert und das Lächeln eher dümmlich. Früher hat man die Jakobspilger mit mehr Respekt dargestellt. Und diese angedeutete Rebe hier zu seinen Füßen hat man sowieso erst im 20. Jahrhundert auf Bildern über pfälzische Jakobswanderer eingeführt.«

Ich betrachtete den knienden Mann noch einmal genauer, soweit ich ihn überhaupt erkennen konnte. Tristan hatte Recht. Er sah ein wenig töricht aus. Im Mittelalter hätte man vor einem Menschen, der eine solche Fahrt im Namen Gottes auf sich nahm, sicher mehr Respekt gezeigt. Dennoch.

Tristan sah mir in die Augen. »Es ist interessant, mit was du dich so beschäftigst. Hat das Bild mit deiner Arbeit zu tun? Wo hast du es denn her?«

Ich überlegte ganz kurz, ob ich ihm die Wahrheit sagen sollte. Ich mochte ihn. Ich mochte ihn sogar sehr. Aber konnte ich ihm auch vertrauen? Andererseits − wenn ich seine Hilfe nicht wollte, warum war ich dann hier? Also gab ich mir einen Ruck: »Von Hiltrud Binder. Der Ermordeten aus dem Vierordtbad.«

Tristan holte scharf Luft. »Wie kommst du jetzt an diese Bilder? Woher hast du die?«

Sofort dachte ich: Es war ein Fehler, ihn zu fragen. Wahrscheinlich ging ich ihm mit meiner Mörderjagd auf die Nerven − so wie allen anderen auch. Oder sollte er … Schnell verwarf ich meinen zweiten Gedanken wieder. Ein wenig zu schnippisch sagte ich:

»Wenn es nur unbedeutender Pilgertrödel ist, dann spielt es keine Rolle, woher ich diese Bilder habe, oder?«

Tristan lächelte schwach. »Das stimmt. Und da du dieses Bild mir zeigst und nicht der Polizei, nehme ich an, dass du selbst nicht weißt, was es zu bedeuten hat. Leider kann ich dir nicht weiterhelfen. Ehrlich gesagt kann ich mir auch nicht vorstellen, dass deine Freunde bei der Kripo etwas damit anfangen können. Selbst die Polizei kann nicht alles ermitteln, wenn die Tote selbst nichts mehr preisgibt.«

»Richtig. Und die Lebenden scheinen auch nichts preisgeben zu wollen.«

Er ging nicht darauf ein. Frostige Stille breitete sich aus. Fast war ich froh, als Nessie anfing, zu nörgeln und zu maulen. Seit ich wieder in Sachen Mord unterwegs war, kam sie nicht sehr oft zu richtig langen und ruhigen Spaziergängen. Sie musste in Kneipen oder Cafés unter Tischen herumsitzen, Stimmen und Gesprächen lauschen − genau wie ich musste sie den Eindruck gewinnen, dass eigentlich nichts passierte und nichts voranging.

Im Gegenteil − alles ging schief.

* * * * * * * * * *

Vielleicht hatte Hilde nichts mehr preisgeben können oder preisgeben wollen, aber ihre unscheinbare Freundin Linde brannte offenbar darauf, etwas loszuwerden.

Innerhalb von wenigen Stunden hatte sie mir zwei SMS geschrieben und mich jeweils gebeten, sie anzurufen. Den Gefallen tat ich ihr am frühen Abend.

»Können wir uns irgendwo treffen?« Es klang fast flehend. Ich vermutete, dass sie einsam war. Seit es so aussah, als hätte ich in einem Match um die Liebe wieder einmal eins zu null verloren, machten sich philosophische Gedanken in mir breit.

Linde war einsam, weil sie innerlich leer war. Es war zu spüren, dass sie keine echten Interessen hatte, dass sie sich mit der Fernbedienung in der Hand des Abends durch deutsche und amerikanische Liebesfilme hangelte und mehr an den dargestellten Emotionen anderer Leute teilhatte als an ihren eigenen. Linde war eine, die sich anschloss, sie war nicht der Typ, der etwas schuf, an das sich andere anschließen konnten. Sie war blass und farblos, aber nicht nur äußerlich, sondern auch in ihrer Seele.

Ich stellte fest, dass ich einfach keine Lust mehr hatte, auch nur eine einzige Karlsruher Kneipe zu beleben. Zumindest heute nicht mehr. Ich wollte meine Aufträge vorbereiten, meine Unterlagen sortieren, vielleicht nach dem Stand der Karstadtaktien schauen, zu deren Erwerb mich Matthias verführt hatte. An Melchior denken und ein bisschen heulen. An Elfie denken und dabei das Messer wetzen.

»Linde, du kannst kurz zu mir kommen, wenn du magst. Ich möchte heute Abend nirgendwo mehr hin, sorry.« Sie nahm das Angebot an und erschien eine Stunde später bei mir auf der Treppe.

Ich war ihr entgegengegangen und hatte − albern genug − mein Türschild mit einem umgekehrt an die Hauswand gelehnten Besen zugestellt, damit sie den Namensschwindel Mainhardt − Schönegg nicht durchschaute.

Tat sie auch nicht. »Hallo, Franziska!«, keuchte sie mir entgegen. Sie war ordentlich angezogen, trug auf dem Gesicht ein schiefes Lächeln und eine Schwimmkerze in der Hand.

»Als kleines Mitbringsel«, sagte sie, so als hätte ich sie zum Essen gebeten. »Ach, der Hund ist süß! Ich hätte ja auch gerne ein Haustier, aber in meiner Wohnanlage darf man keines halten.«