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Thema des Buchs sind Erfahrungen beim Bedenken der großen Sinnfrage, der Frage nach dem Sinn des Seins und des Lebens. Millionenfach hat man sie ausdrücklich oder unausdrücklich gestellt, aber auch zurückgewiesen, weil sie ein metaphysisches Bedürfnis artikuliere, das sich nicht einlösen lasse. Immanuel Kant hat die menschliche Vernunft als Urheberin dieser Frage ausgemacht. Und im Anschluss an ihn geht es in einigen Kapiteln des Buchs um die Verstörung, die beim Absturz aus einem metaphysischen Höhenflug eintritt. Ist dann kritische Selbstbeschränkung auf rational angehbare Probleme der Weisheit letzter Schluss? Die große Sinnfrage bleibt als Frage weiter virulent: Sie kommt angesichts von Leiden und Tod oder der Einbrüche des Bösen immer wieder neu auf. Wenn es nicht gelingt, sie in dogmatischer Entschlossenheit zu beantworten oder in gewiefter Skepsis aufzulösen, könnten doch Glaube oder Hoffnung oder gar Liebe an die Stelle von rationalen Argumenten treten. Im Anschluss an Theodor W. Adorno wird gezeigt, wie bei allen kritischen Vorbehalten die Hoffnung eine unscheinbare metaphysische Erfahrung in sich bergen kann. Derlei Erfahrung vermittelt kein Trugbild, aber – mit Paulus zu sprechen – ein rätselhaftes Spiegelbild des Wahren (1. Kor 13,12). Der fragile Befund nötigt zu einer generellen Analyse von Denkerfahrungen, die bei der philosophischen Arbeit an metaphysischen Problemen zu machen sind. Unser Denken leidet daran, dass es dem metaphysischen Bedürfnis nicht Genüge zu tun vermag. Das Problem, ob es für dieses Leiden eine Therapie gibt, spitzt sich im letzten Kapitel auf die Frage zu, ob und wie sich Philosophie die biblische Deklaration, Gott habe «die Weisheit der Welt zur Torheit gemacht» (1. Kor 1, 20), selbst zu eigen machen könnte.

Helmut Holzhey, geb. 1937, Studium der ev. Theologie (1956-1962) und der Philosophie (1962-1968), emer. Professor für Philosophie an der Universität Zürich (1978-2004). Veröffentlichungen zur Philosophie des 18. Jahrhunderts, insbesondere über Kant, zum Neukantianismus und zu verschiedenen Sachproblemen in der Philosophie der Gegenwart. Begründer der neueren Hermann Cohen-Forschung. Herausgeber des Grundriss der Geschichte der Philosophie, begründet von Friedrich Ueberweg.

Helmut Holzhey

«Wir sehen jetzt durch einen Spiegel»

Erfahrungen an den Grenzen philosophischen Denkens

Schwabe Verlag Basel

Schwabe Reflexe 50

Copyright © 2017 Schwabe AG Verlag, Basel, Schweiz

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Lektorat: Barbara Handwerker Küchenhoff, Schwabe Verlag

Umschlaggestaltung: Heike Ossenkopp, h.o.pinxi // editorial design, Basel

Gesamtherstellung: Schwabe AG, Muttenz/Basel, Schweiz

ISBN Printausgabe 978-3-7965-3650-2

ISBN E-Book (ePUB) 978-3-7965-3651-9

 

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Inhalt

Einleitung

I Transzendenz – wohin des Wegs?

II Kritische Vernunft angesichts der Macht des Schicksals

III Das metaphysische Bedürfnis

IV Kritik der Vernunft und Selbstzerstörung

V Das Ende bedenken

VI Die Unerklärlichkeit des Bösen

VII Hoffnung und Wahrheit

VIII Erfahrungen

IX Denken im Modus des Leidens

Textnachweise

Einleitung

In diesem kleinen Buch ist von Fragen die Rede, die sich jedem Menschen irgendwann einmal stellen. Die Geläufigkeit der Fragen konstrastiert mit der Schwierigkeit ihrer Beantwortung. Ich spreche von Sinnfragen – eine vertraute Redeweise. Es gibt die kleinen Sinnfragen, wie sie sich bei den verschiedensten Geschehnissen und Vorhaben aufdrängen; es gibt auch die große Frage nach dem Sinn des Lebens überhaupt. «Hat es überhaupt noch einen Sinn, in Buchform zu publizieren?» – so könnte eine ‘kleine’ Sinnfrage lauten. Ein bestimmtes Vorhaben wird unter dem Gesichtspunkt geprüft, ob es in einen individuellen Zeit- und Lebensplan passt, ob es allgemeine Unterstützung finden dürfte, ob es verantwortbar ist usw.

Die ‘große’ Sinnfrage hat, wie es zunächst scheint, eine andere Signatur. Sie stellt sich unter den Bedingungen eines gewöhnlichen Lebens nicht alle Tage; sie gehört auch nicht zu den Fragen, die sich bei den üblichen Aktivitäten wie von selbst einfinden. Sehen wir von Menschen ab, die von Natur aus zu Grübelei und Tiefsinnigkeit neigen oder unter einer permanenten Lebensangst leiden, so hat sie ihre Auslöser meist in besonderen Ereignissen: einer schweren Erkrankung, einem Unfall, dem Tod eines nahestehenden Menschen, aber auch im plötzlichen Verlust einer sicheren Weltorientierung. Es sind das Geschehnisse, die ein Gefühl der Sinnlosigkeit provozieren, weil sie nicht mehr in gewohnter Weise verarbeitet werden können. Sich dann auf die Sinnfrage einzulassen, beinhaltet den Versuch, mit dem Widerfahrnis und seinen Folgen irgendwie zu Rande zu kommen. Offensichtlich ist dabei nicht mit einer schnellen und einfachen Antwort zu rechnen. Worin könnte aber überhaupt die Antwort bestehen? Was ist gesucht, wenn wir Sinn und gar den Sinn des (eigenen) Lebens suchen?

Für gewöhnlich leben wir in einer Welt, in der wir uns auskennen. Das Vertrautsein mit Dingen und Vorgängen, das die Normalität kennzeichnet, wird zwar immer wieder durch kleinere oder größere Fraglichkeiten durchbrochen. Weit entfernt davon, uns den Boden unter den Füßen wegzuziehen, sind diese Brüche und ihre Kittung vielmehr Elemente gelingenden Lebens. Wo Unvertrautes und Problematisches auftaucht, lässt sich mehr oder minder leicht bzw. schwer die um neue Erfahrungen bereicherte Vertrautheit wiederherstellen und eine Problemlösung finden. Dazu helfen Sachkenntnisse, das soziale Netz, die institutionell geregelten Verfahren der Problemlösung.

Für die Beantwortung der großen Sinnfrage fallen diese Hilfsmittel dahin. Denn stellt sie sich jemandem ernsthaft, und das heißt: drängt sie sich zwingend auf, dann kennt sich der oder die Betroffene gerade nicht mehr aus, er oder sie versteht «die Welt» nicht mehr, er oder sie ermangelt der üblichen Problemlösungsmöglichkeiten. Die normalen Sinngebungs- und Sinnstiftungsprozesse verfangen nicht mehr. Das erschütternde Ereignis oder das seit langem nagende Übel sprengen die Zusammenhänge, statt sich in sie einzufügen und so verstehbar zu werden. Sinnbestimmung ist ja, formal betrachtet, Herstellung eines Zusammenhangs. Das gilt schon für das elementare Verstehen des Sinns von Worten und Sätzen. Ebenso gilt für die Interpretation von objektiv feststellbaren Geschehnissen wie von subjektiven Erfahrungen, dass Zusammenhangloses schlicht unverständlich und damit sinnlos ist. Nun gibt es wohl nichts schlechthin Zusammenhangloses, aber doch ein solches Aufbrechen von Zusammenhängen, ein solches Einbrechen des Bodens, dass das Gefühl eines gänzlichen Weltverlustes und Verlorenseins entstehen kann. Dagegen hilft es nicht, dass irgendein Zusammenhang und damit ‘Sinn’ hergestellt wird. Das gelingt übrigens immer. Die Statistik etwa sagt, dass ein bestimmter Prozentsatz der Bevölkerung mit Erbkrankheiten geschlagen ist, dass der Straßenverkehr in einem Land jährlich so und so viele Opfer fordert usw. – die Betroffenen können demgemäß in der statistischen Ordnung geortet, ihr Schicksal kann an einem Punkt der Kurve, welche die Häufigkeitsverteilung von Krankheiten, Unfällen usw. veranschaulicht, abgelesen werden. Aber damit ist die Frage nach dem Sinn ihres Leidens und Betroffenseins nicht schon beantwortet. Denn die Sinnsuche erfüllt sich nicht im Wissen um eine unpersönliche Gesetzmäßigkeit, der ein Mensch wie alles natürliche Seiende unterworfen ist. Ich will und kann mein Leben nicht mit dem Weg des Kiesels im Gebirgsbach vergleichen.

Damit ist die menschliche Grundsituation angesprochen. Wir stehen schon immer in ihr, werden aber, wie vielfach bezeugt, durch die angeführten Geschehnisse, durch schlimme Widerwärtigkeiten, aber vor allem in der Erfahrung von Leid und in der Konfrontation mit dem Tod, ganz ausdrücklich mit ihr konfrontiert und damit vor die Sinnfrage gestellt. Letzteres scheint allerdings heute manchem Beobachter in unseren Breiten bestreitbar: Es gibt neben den Theorien über die Sinnlosigkeit der Frage nach dem Sinn und jedweder Antwort auf sie auch zahlreiche Hinweise darauf, dass praktische Lebens- und Todestechniken vermehrten Zuspruch finden, dank denen man sich um Grund- oder Wesensfragen des Menschseins nicht mehr kümmern zu müssen glaubt. Überdies geht das diskursive Interesse an diesen Fragen, die als «uncool» disqualifiziert werden, leicht im globalen Gemurmel auf Facebook oder Twitter unter, und «selbst die Sehnsucht nach Transzendenz kann zu einem Teil der Unterhaltungsindustrie werden» (Lászlo F. Földényi).

Vergegenwärtigen wir uns gegenüber solchen zeitgenössischen Tendenzen, was in der philosophischen Anthropologie des 20. Jahrhunderts an Einsichten erarbeitet worden ist. Der Mensch ist, so deren Ausgangspunkt, dasjenige Lebewesen, das um sich weiß. In diesem elementaren Wissen wurzeln sowohl die Möglichkeiten zu einer aktiven Lebensgestaltung als auch die Erfahrung, sich nicht selbst hervorgebracht zu haben, mit dem Mangel konfrontiert zu sein und immer wieder gegen den eigenen Willen auf sich zurückgeworfen zu werden. Beides macht den Überschuss über das pure Leben aus. Dieser Überschuss bildet die Basis sowohl für Offenheit und Fülle des Menschseins als auch für die von ihm unabtrennbaren Ängste, unerfüllten Wünsche und anderen Erleidnisse seiner Endlichkeit. Die große Sinnfrage führt mitten in diese Wahrheit des Menschseins. Wem sie sich stellt, der hat bereits, zumeist leidvoll, im drohenden Sinnverlust die eigene Endlichkeit erfahren.

Wie lässt sich der Bedrohung durch Sinnverlust begegnen? Wo schweres Leiden die Sinnfrage auslöst, ist der betroffene Mensch wohl vieler, aber in den meisten Fällen doch nicht aller Möglichkeiten normaler Lebensgestaltung und damit der Sinngewinnung beraubt. So ist ihm durchaus die Beantwortung von Sinnfragen möglich. Da er dabei nicht aus dem Schatten der ‘großen’ Frage nach einer Sinnbestimmung seines Leidens heraustreten kann, erlebt der leidende Mensch in besonderer Weise das Band, das zwischen dem fundamentalen und dem gewohnten Sinngebungs- und Sinnfindungsprozess besteht: Der Schatten eines letzten Sinnmangels, repräsentiert im unerklärlichen Leiden, liegt unvermeidlich auf den gelingenden Sinnstiftungen des beschädigten Alltags. Umgekehrt machen die positiven Erfahrungen das Leben im Schatten wärmer. Lässt sich aber dem Leiden überhaupt ein anderer Sinn einlegen, als der, den man ihm – und sei es durch eine neue Auslegeordnung der verbliebenen Gestaltungsmöglichkeiten eigenen Lebens – abringt? Der christliche Glaube, religiös motivierte Praktiken und weltanschauliche Überzeugungen kennen Alternativen. Sie bringen die Idee eines umfassenden Zusammenhangs bei, in dem das individuelle Leben und Leiden aufgehoben sind. Für den religiösen Menschen hat dieser Zusammenhang, gedacht etwa im Begriff der Vorsehung, seinen Garanten in Gott. Und der einzelne Mensch findet in ihm seinen Platz, ohne auf einen namenlosen Fall reduziert zu werden.

Philosophisch betrachtet handelt es sich bei der christlichen Gesamtsicht um eine durch Offenbarung und Vernunft gestiftete und als Glaube praktizierte Weltauslegung, mit der – im Schatten des großen Sinnmangels – ein Leben ins Licht der Sinnfülle gesetzt wird. Akteur eines philosophischen Umgangs mit der großen Sinnfrage ist demgegenüber nach verbreiteter heutiger Auffassung ausschließlich der als autonom verstandene menschliche Geist, der auf den autonomen Gebrauch der Vernunft abstellt. Die geistige Herausforderung durch die große Sinnfrage wird im vernünftigen Nachdenken angenommen. Das heißt nun allerdings nicht, dass sie der Wissenschaft, allgemeiner gesagt: der rationalen Argumentation, überlassen wird. Vernunft – so soll der Terminus hier verstanden werden – hat es mit metaphysischen Fragen und ihrer Beantwortung zu tun, d.h. mit Problemen, die sich wohl aus unserem Erfahrungswissen heraus ergeben, etwa im Blick auf dessen Lücken, aber über es hinausreichen. Sprechende Beispiele metaphysischen Denkens bieten Theorien zur Rechtfertigung Gottes angesichts von Leiden und Tod in der von ihm geschaffenen Welt oder materialistische Konzepte der Weltgeschichte oder Unsterblichkeitsbeweise. Insgesamt dokumentieren sie, dass und wie wir das empirisch Belegbare mit Hilfe unserer Vernunft transzendieren.

Was es mit einem solchen «Überschritt» auf sich hat, soll zunächst hinsichtlich seiner formalen Struktur am Gedanken der Transzendenz erörtert werden (Kap. I). Ursprünglich zur Beschreibung metaphysischen Denkens verwendet, wird er in der Neuzeit auf die Beziehung von Subjekt und Objekt in der Erkenntnis appliziert oder in der Philosophie des 20. Jahrhunderts anthropologisch auf den Welt- und Selbstbezug des Menschen eingeschränkt. Am metaphysischen Begriff der Transzendenz gemessen geht der Gedanke damit ins Leere. Ist die Preisgabe transzendenter Wirklichkeit und der damit verbundene Verlust – die große Sinnfrage bliebe letztlich ohne Antwort – ein geistiges Schicksal, das hinzunehmen ist? Bloße Hinnahme wäre nicht Aneignung. Solche versucht, wer sich auf die Erfahrung des Transzendenzverlustes einlässt. Ich skizziere im Folgenden einige Aspekte dieser unserer Erfahrung. Sich auf sie einzulassen, läuft zunächst einmal auf ein geistiges Ausleben des «Scheiterns» hinaus. Dieses erscheint, geschichtlich betrachtet, als ein Schicksal der menschlichen Vernunft. Aber ist es nicht widersinnig, der Vernunft ein Schicksal zuzusprechen?

Die Frage wird in Kap. II durchdacht. Den Bezugspunkt bildet der erste Satz von Kants Kritik der reinen Vernunft: «Die menschliche Vernunft hat das besondere Schicksal in einer Gattung ihrer Erkenntnisse: dass sie durch Fragen belästigt wird, die sie nicht abweisen kann, denn sie sind ihr durch die Natur der Vernunft selbst aufgegeben, die sie aber auch nicht beantworten kann, denn sie übersteigen alles Vermögen der menschlichen Vernunft.» Ich versuche zu zeigen, dass die Rede vom Schicksal auch und gerade an dieser Stelle keine bloße façon de parler ist, sondern tatsächlich ein der menschlichen Vernunft von der Natur zugeteiltes, unerklärliches Los meint, sich um rational vertretbare Antworten auf die große Sinnfrage, wie sie sich in Gestalt «metaphysischer» Fragen immer und immer wieder stellt, bemühen zu müssen.

Für Kant wurzelt dieser Zwang in einem metaphysischen Bedürfnis des Menschen, das ihm schicksalhaft eingeschrieben ist. Lässt sich dieses Bedürfnis einlösen? Für Kant ist das nur im Glauben möglich. Ein Glaube, mit dem das metaphysische Bedürfnis seine Erfüllung findet, ist allerdings kein bloß subjektives theoretisches Für-wahr-Halten, sondern ein «praktischer Vernunftglaube». Darunter versteht Kant die auf moralischer Gesinnung beruhende «moralische Gewissheit», dass es einen Gott und ein künftiges Leben nach dem Tod gibt (Kap. III).

Was heißt es nun aber für die menschliche Vernunft, dass sie mit Fragen zu tun hat, die sie nicht beantworten kann? Es heißt für sie, dass es Grenzen der Einsicht gibt, zu deren Bestimmung sie herausgefordert ist. Das ins Metaphysische ausgreifende Denken wird angesichts der Zweifelhaftigkeit seines Erfolgs zur eigenständigen Prüfung seiner Reichweite veranlasst. Als Resultat dieser Selbstkritik könnte die Meinung aufkommen, dass jene Fragen – weil unbeantwortbar und deshalb sinnlos – zu verabschieden seien, statt sich weiterhin mit fragwürdigen Antwortversuchen abzuquälen. Da das Überschreiten der Empirie auf ein Absolutes hin aber das Kerngeschäft der Vernunft (im Unterschied zum Verstand) bildet, liefe ein derartiger Verzicht auf den Suizid der Vernunft hinaus. Um ihn zu vermeiden, muss der Arbeit an den metaphysischen Fragen ein Ort zwischen ihrer dogmatischen Beantwortung und ihrer skeptischen Destruktion gesichert werden. Für Kant leistet das «Kritik», verstanden als Prüfung metaphysischer Erkenntnisansprüche, wie sie im Umgang mit der menschlichen Grundsituation immer wieder erhoben werden. Solche Kritik ist deshalb eine Daueraufgabe. Dieses erste, für Kant nur «propädeutische» Resultat der Auseinandersetzung mit der ins Metaphysische transzendierenden Vernunft wird in Kap. IV in der Anmutung des physischen Suizids und ihrer Bewältigung gespiegelt.

Das sich der großen Sinnfrage stellende philosophische Denken siedelt sich am Ort der «Kritik» an. Anders als Kant verstehe ich diesen Ort in Anlehnung an Walter Schulz als einen Ort des Schwebens zwischen der seit jeher ersehnten metaphysischen Gewissheit und deren sie negierender Problematisierung. Vielleicht wird dieser Ausdruck dem Ernst der kritischen Situation nicht gerecht, weil er zu stark eine harmonische seelische Bewegung assoziieren lässt, aus der das Hin-und-her-Gerissen-Werden getilgt ist. Platon bringt das Hin und Her durch den Gegensatz zwischen dem Zug der Seele nach oben und ihrem Fall nach unten zur Sprache. Insbesondere am Bedenken des Endes im Tod wird die Härte spürbar, mit der sich die Frage stellt, ob der Tod als unüberschreitbare Schranke oder als Grenze zu verstehen ist, an der sich eine Sinngebung ansiedeln kann (Kap. V). Ebenso viel Schwanken zeigt der intellektuelle Umgang mit dem Bösen, oszilliert doch die philosophische Tradition zwischen der Bestreitung seiner Existenz und der meist resultatlosen Bemühung um eine Erklärung seines Ursprungs. Hilflosigkeit dringt in den Ort der Kritik ein, wenn sich unsere Begrifflichkeit der Erfahrung des Bösen nicht gewachsen zeigt, von dessen faktischem Auftreten die theoretische Erklärung immer wieder überrannt wird (Kap. VI).

Halten die christlichen «Tugenden» von Glaube, Hoffnung und Liebe für das im Raum der Metaphysik von logischen Prinzipien gesteuerte Nachdenken eine Antwort auf die große Sinnfrage bereit? Vom Glauben war bereits bei der Thematisierung des metaphysischen Bedürfnisses in Kap. III die Rede gewesen. Der philosophische Glaube, wie ihn Karl Jaspers beschrieben hat, läuft auf eine existenzielle Haltung hinaus, die aus dem «Umgreifenden» lebt, aber nie zu objektiven, Wahrheit beanspruchenden Festlegungen von Glaubensinhalten gelangt. Ist das Verhältnis der Hoffnung zu gesuchten Wahrheiten noch subjektiver? Ich verfolge das mittels der Interpretation eines Aphorismus von Theodor W. Adorno. Wieder ist zunächst zu beobachten, dass in der kulturellen und insbesondere in der philosophischen Überlieferung der Wahrheitszugang durch Hoffnung in der Schwebe gehalten wird. Über die existenzielle Verknüpfung von Hoffnung und Erkenntnis hinaus macht Adorno Hoffnung «am Ende» als «die einzige Gestalt» aus, «in der Wahrheit erscheint». Als legitimierende Basis solcher Hoffnung, die jeder Stütze in der «Wirklichkeit» entbehren muss, führt er Spuren metaphysischer Erfahrungen an (Kap. VII).

Das wirft das Problem auf, ob (metaphysische) Erfahrungen namhaft zu machen sind, aufgrund derer die Sinnfrage, vor allem angesichts des Todes, positiv beantwortet werden könnte. Ohne Zweifel gibt es derartige Erfahrungen, aber ihre Jemeinigkeit lässt es fraglich erscheinen, ob aus ihnen zu «lernen», d.h. eine allgemeinere Einsicht abzuleiten ist. Zeugnisse gewonnener Einsicht kommen zwar anderen Menschen zur Kenntnis, ohne dass die Basiserfahrungen damit jedoch wieder eintreten würden – höchstens wächst die Bereitschaft, sich für sie zu öffnen. Aber ein Rezept für die Beantwortung letzter Fragen lieferte auch das authentischste Zeugnis nicht (Kap. VIII). So bleiben Menschen in «Grenzsituationen» doppelt in Leiden verstrickt: in das Leiden an Angst, Krankheit, Schuld und das Leiden an der Vergeblichkeit von Bemühungen, ihrer Situation einen haltgebenden Sinn zuschreiben zu können. Mit der Erörterung möglicher Therapien des letzteren Leidens schließen Kap. IX und das Buch. Am Ende ist davon die Rede, ob und wie es dem Philosophen möglich sein könnte, sich durch das «Wort vom Kreuz» Jesu Christi (1 Kor 1,18) zu einem schwachen Denken bewegen zu lassen, das eine Antwort auf die Sinnfrage nicht mehr von der «großen» Erfüllung des metaphysischen Bedürfnisses abhängig macht.

«Wir sehen jetzt durch einen Spiegel» (1 Kor 13,12; Paulus fügt hinzu: «in einem Rätsel»). Die Wahl dieses Titels mag verwundern. Auf den Unterschied zwischen «jetzt» und «dann» lege ich in meinem Buch nicht den Ton; «jetzt» – das ist auch die Zeit der Philosophie. Die Metapher des Spiegelbilds selbst macht den Kern des Gedankengangs sichtbar, denn sie stellt ins Licht, wie verständlich-unverständlich es ist, dass menschliche Vernunft in der Erfahrung des Scheiterns bei all ihren Versuchen, die Sinnfrage letztgültig zu beantworten, an dieser Frage festhält. Spiegel reflektieren, d.h. sie lassen etwas erscheinen, und sei es unter Umständen nur verzerrt, und lassen es auch wieder nicht erscheinen. Gerade das gilt für den «großen» Sinn in unserem schwachen Denken.

Ich danke dem Verlag Schwabe für die Aufnahme des Textes in einen Band der Reihe Schwabe reflexe und insbesondere Frau Dr. Barbara Handwerker Küchenhoff für die in formaler und inhaltlicher Hinsicht so sorgfältige wie engagierte Lektorierung.

Zürich, Februar 2017 Helmut Holzhey