image

Thomas Aiginger

AUS
NAHME
ZUSTAND

Roman

image

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

1. Auflage 2018

Covergrafik: © Shutterstock, Robert Adrian Hillman

Inhalt

Prolog

Kapitel I

Kapitel II

Kapitel III

Kapitel IV

Kapitel V

Kapitel VI

Kapitel VII

Kapitel VIII

Kapitel IX

Kapitel X

Kapitel XI

Kapitel XII

Kapitel XIII

Kapitel XIV

Kapitel XV

Kapitel XVI

Kapitel XVII

Kapitel XVIII

Kapitel XIX

Kapitel XX

Kapitel XXI

Kapitel XXII

Kapitel XXIII

Kapitel XXIV

Kapitel XXV

Kapitel XXVI

Kapitel XXVII

Kapitel XXVIII

Kapitel XXIX

Kapitel XXX

Epilog

Prolog

Seit zwei Tagen warteten sie. Sie schliefen auf dem marokkanischen Teppich vor dem Fernseher, legten ihre Handys nicht mal beim Essen aus der Hand, aktualisierten alle zwei Sekunden ihre Twitter-Timeline. Es konnte jeden Moment geschehen. Oder nie. Nachts, wenn Daniel vor Anspannung nicht schlafen konnte, massierte Vera seinen nackten Oberkörper. Seine Schultern fühlten sich an wie das Stahlgehäuse eines Roboters.

Um ihn abzulenken, hatte sie ihn auf den Yppenplatz geschleppt, zu dem Flohmarkt für die Hochwasseropfer. Der wohltätige Zweck war Vera egal. So tragisch die Zehntausenden obdachlosen Mitteleuropäer sein mochten, andere Menschen auf diesem Planeten brauchten weit dringender Hilfe.

„Daniel“, flüsterte Vera, „schau.“

Auf dem ganzen Platz griffen die Menschen in ihre Taschen, bildeten Grüppchen, starrten ungläubig auf ihre Smartphones.

Daniels Nervosität schien auf einen Schlag verflogen. Breitbeinig überblickte er den Platz, mit braunem Vollbart, in einem verschlissenen Greenpeace T-Shirt.

„Und?“, fragte Daniel. „Besser als Fallschirmspringen?“

„Nein“, antwortete Vera. „So fühlt es sich an, ohne Schirm aus einem Flugzeug zu springen.“

Sie tastete nach dem Handy, doch Daniel schüttelte den Kopf und verschränkte seine Finger in ihre. Sie folgten der Menge, die zur hinteren Ecke des Marktes strömte, wo ein türkischer Händler versuchte, einen gebrauchten Fernseher in Gang zu setzen.

Vera zitterte. Keine Sekunde länger hielt sie das aus. Sie riss ihr Handy aus der Tasche. Ein einziger Blick auf cnn.com genügte: Der Moment war gekommen, an dem Science-Fiction-Fantasien wahr zu werden schienen. Der Moment, der sich in das kollektive Gedächtnis brennen würde wie 9/11, der Fall der Mauer, die Landung auf dem Mond. Nie würden sie vergessen, was sie gerade taten, als die hysterische Nachrichtenflut des 13. Juni über sie hereinbrach.

I

Vergeblich tasteten Pierres Finger nach dem weichen Satin ihres Pyjamas. Ausnahmsweise hatte er nichts Unanständiges im Sinn. Er wollte sich bloß wieder in den Schlaf wiegen lassen, von dem sanften Rhythmus, in dem Kerstins Bauch sich hob und senkte.

Pierre öffnete die Augen. Zum ersten Mal seit Jahren lag er allein im Bett. Die Sonne brannte ihm ins Gesicht, als wolle sie beweisen, dass auch mit ihr nicht zu spaßen sei, dass sie genauso unbarmherzig sein konnte wie die stahlblauen Wolken, die in den letzten Wochen das halbe Land unter Wasser gesetzt hatten. Ihm in seinem Dachgeschoß war das Hochwasser egal. Und auch die Sonne konnte ihm nichts anhaben. Mit einem Tastendruck ließ er die Jalousien herunter. Pierre streckte jede Faser seines Körpers, bevor er sich in der Mitte seiner Ultra-King-Size-Matratze zusammenrollte. Das war Freiheit! Sein Vergnügungspark gehörte ihm wieder alleine.

Nach einer halben Stunde blinzelte er auf die Laserprojektion an der Wand: 13. Juni - 05:42. Wieso konnte er nicht mehr schlafen? Irgendetwas beunruhigte ihn.

Auf dem Weg in die Küche ließ Pierre den Fernseher aus der Holzverkleidung gleiten. Mit einem duftenden Espresso in der einen und seinem iPad in der anderen Hand setzte er sich auf die Couch, die nackten Fersen auf dem kühlen Edelstahltisch, und zappte durch die Kanäle. Niemand nörgelte, weil er alle zwei Sekunden weiterschaltete und gleichzeitig mit dem iPad spielte.

Natürlich hätte er schon jetzt in die Arbeit fahren können, doch sein Meeting begann erst um zehn. Nichts reizte ihn, früher an seinem Laptop zu sitzen, um vorgeblich Datenmodelle zu entwickeln, deren Ergebnisse seit drei Monaten feststanden.

Gegen neun Uhr wälzte Pierre sich von der Couch und ließ den Fernseher zu der offenen Waschinsel in der Mitte seines Lofts schwenken. Er rasierte sich, verteilte ein wenig Gel in seinen sonnenblonden Haaren und zerzauste sie mit den Fingern.

Als Pierre hinter die schwarz-glänzende Kunststofffront trat, die den Schrankraum vom restlichen Loft abtrennte, spürte er einen Stich in der Magengrube. Die leere Hälfte des Kastens sah nach Scheitern aus, nach Konkurs und Räumungsverkauf. Pierre bemerkte, dass mit Kerstins Kleidern auch ihr Duft aus seiner Wohnung verschwunden war. Er schnupperte an den nackten Regalbrettern. Sie rochen bloß nach geleimtem Holz. Pierre entschied sich für ein frisches Paar Jeans von Hugo Boss. Seinen Oberkörper zwängte er in ein schwarzes, kurzärmliges Slim-Fit-Hemd und ein hellbraunes Sakko, was ihm einen kompetenten Look verlieh. Schließlich hatte er eine Rolle zu spielen.

In der Arbeit besserte sich seine Laune kaum. Mittlerweile hasste er seinen Job. Nicht, dass ihm die Lügen Skrupel bereitet hätten. Dafür wurde er fürstlich entlohnt. Es war die Langeweile, die ihn zermürbte. Wenn das noch länger so weiterging, hatte er bald das Internet ausgelesen. Als er am Nachmittag das Büro verließ, hatte er trotzdem noch keinen Plan für den Abend.

Daheim schob er den Wohnungsschlüssel in die kleine Buchse neben seinem privaten Aufzug, der ihn nonstop in sein Wohnzimmer beförderte. Rund um die holzgetäfelte Kabine zog sich ein Panoramabild von Pierres Loft während der unterschiedlichen Bauphasen. Am rechten Ende standen Pierre und Kerstin nackt in der fertigen Wohnung. Pierre betrachtete Kerstins blonde Haare, die sich über ihren geschwungenen Rücken ergossen, die perfekte Bucht ihrer Taille, den Ansatz ihres Pos. Ihr Körper war eine Zehn, daran bestand kein Zweifel.

Pierre ließ sich auf die Couch fallen und schaltete den Fernseher ein. Unten zog irgendein Text durch das Bild. Pierre ignorierte ihn und griff nach seinem iPad.

Plötzlich explodierte seine Twitter-Timeline. Hunderte Tweets in einer Minute. Pierre hob den Blick und las zum ersten Mal die Worte:

„Sie sind da! Außerirdische nehmen Kontakt mit der Erde auf. NASA bestätigt Empfang eines Faxes (!) aus dem Weltall.“

Pierre gluckste verblüfft. Auf n-tv waren die Moderatoren vor „Breaking-News“-Bannern kaum noch zu sehen. Als versuchte man, ihre fassungslosen Mienen zu verbergen.

„Die NASA Pressemeldung war noch etwas vorsichtig“, sagte die blonde Nachrichtensprecherin. Sie las von einem Blatt ab: „Es ist keine irdische Quelle bekannt, die eine direkte Einspeisung eines Faxes in einen Satelliten, wie sie vor zwei Tagen vorgefallen ist, erlauben würde, oder die die vorliegenden Messwerte des Satelliten erklären könnte.“

Die Blondine blickte Pierre direkt in die Augen: „Sollte sich das bewahrheiten, werden wir soeben Zeugen eines historischen Moments. Außerirdische haben uns Menschen kontaktiert. Science-Fiction-Filme, die Träume von Generationen gehen in Erfüllung: Wir sind nicht mehr alleine.“

„Hoffentlich nicht die Albträume“, warf ihr Kollege ein. „In ihrem Fax betonen sie ausdrücklich ihre friedvollen Absichten, aber inwiefern man diesen Worten Glauben schenken darf, ist zurzeit noch nicht absehbar.“

Pierre saß wie versteinert vor dem Fernseher. Sein Blick schweifte durch die Wohnung. Träumte er? Langsam griff er nach dem iPad. Auf Facebook, Twitter, orf.at: überall Fassungslosigkeit. Er musste etwas posten. Er wollte unbedingt etwas sagen, mit jemandem sprechen, seine Stimme sich überschlagen lassen in aufgeregten Purzelbäumen. Sie hatten ein Fax geschickt, ausgerechnet ein Fax. Was konnte man dazu schon posten? Er gluckste wieder.

Die blonde Sprecherin sagte: „Wir werden laufend auf neue Sender durchgeschaltet. Wir begrüßen nun die Zuseher von VOX, RTL und RTL II.“

„Fassen wir die Ereignisse der letzten Tage noch einmal zusammen“, fuhr ihr Kollege fort. „Am 11. Juni, um sechs Uhr dreißig mitteleuropäischer Sommerzeit, erreichte ein Fax zweiundzwanzig Medienstationen und einunddreißig Staatsoberhäupter. Zunächst schenkte man der Nachricht wenig Beachtung. Auch in unserer Redaktion wurde sie für eine Scherzmeldung gehalten. Am 12. Juni kontaktierte das Unternehmen WorldSat Inc. die NASA wegen auffälliger Sensorikdaten des Satelliten WorldSat 707. Die NASA stellte fest, dass das unerklärliche Verhalten des Satelliten zeitlich genau mit den mysteriösen Faxnachrichten übereinstimmte. Die Faxnachrichten wurden zurückverfolgt. Für keine der dreiundfünfzig Nachrichten konnte ein Absender auf der Erde ermittelt werden. Die Spur endete bei dem Satelliten WorldSat 707.“

Seine Kollegin hielt einen Ausdruck in die Kamera: „Und hier noch einmal jenes Stück Papier, das unsere Welt für immer verändern wird.“ Die englischen Sätze waren in schnörkelloser Courier-Schrift getippt. Das Fax enthielt keine Bilder oder Grafiken. Die deutsche Übersetzung wurde eingeblendet, und die Moderatoren lasen vor:

„Von

Lalaaren

Planetengruppe Lalaaris

An

Menschen

Planet Erde

Sehr geehrte Menschen,

Wir sind eine etwa achtzig Millionen Jahre alte Population aus einem Planetensystem, das in eurer Sprache Lalaaris ausgesprochen wird.

Wir leben außerhalb des Sonnensystems auf siebzehn verschiedenen Planeten.

Wir begrüßen euch in Frieden.

Wir haben die technologischen Möglichkeiten entwickelt, um nun über die weite Entfernung eine bidirektionale Kommunikation zu eurem Planeten aufzubauen.

Wir senden unsere Nachrichten an einen eurer Kommunikationssatelliten im Format eines Faksimiles.

Wir empfangen eure Nachrichten über eure Kommunikationssatelliten auf den Frequenzen von CNN, Al Jazeera, Russia Today, CCTV, teleSUR.

Wir können Informationen in Überlichtgeschwindigkeit senden und abrufen, Entfernung spielt in unserer Kommunikation keine Rolle.

Wir haben gelernt, eure englische Sprache zu verstehen.

Wir lieben euch.

Hochachtungsvoll,

die Lalaaren“

Pierre zappte weiter. Der Informationsstand war auf allen Sendern ähnlich. Auf der Grundlage des Faxes und der NASA-Pressemeldung errichteten Journalisten, Wissenschaftler und Hobbyastronomen Türme von Spekulationen. Bis auf einige schnelle Tweets lagen noch keine Stellungnahmen von Politikern vor. Pierre malte sich aus, wie auf der ganzen Welt die Stäbe der Staatsoberhäupter in Meetingräumen zusammenliefen. Flüchtlingsströme, Atomwaffen, Wahlkämpfe rückten in den Hintergrund. Brainstormend standen sie vor Flipcharts, bewerteten Risiken und Chancen. Und was fiel ihnen ein zu den Außerirdischen? Bestimmt Fragmente aus Hollywood-Blockbustern. Vor ihrem geistigen Auge sahen die mächtigsten Frauen und Männer der Welt das gleiche wie Pierre: E.T. und Yoda, Klingonen und Vulkanier, die auf einem staubigen Planeten vor einem Faxgerät saßen.

Pierres Gedanken drehten sich zurück zu Kerstin. Vielleicht änderte das für ihn am Ende mehr als alle Außerirdischen des Weltalls. Dass er sie gestern rausgeworfen hatte. Oder geküsst, damals, vor drei Jahren in einer sternenklaren Nacht an der Nordsee. Drei Jahre, in denen er seine Freunde vernachlässigt hatte. Die Disconächte mit seinen Freundinnen hatte Kerstin ihm in der ersten Woche ausgetrieben, das Ibiza-Gelage mit den Jungs im Sommer darauf. Irgendwann hatte sie dann alleine entschieden, wen sie am Samstagabend trafen.

Er scrollte durch die Kontakte seines iPhones. Beim Eintrag „Mutti Hotel“ blieb er hängen. War das nicht Anlass genug, mit ihr zu sprechen? Wahrscheinlich würde sie beim ersten Satz riechen, was los war. Kerstin stammte aus Bremen wie sie. Sie würde ihn so lange bearbeiten, bis er ihr versprach, sich mit Kerstin zu versöhnen.

So sehr sich seine Mutter in früheren Jahren über sein unstetes Liebesleben beschwert hatte war Pierre überzeugt, dass er mehr von ihr geerbt hatte als die blitzblauen verschmitzten Augen. Schließlich war er auch selbst das Produkt einer Nacht in Jesolo, auf einem Campingplatz mit einem italienischen Kellner.

Pierre stellte sich vor, wie sich die Nachricht von den Außerirdischen gerade durch das Gebäude seiner Kindheit fortpflanzte, wie die Gäste im Restaurant vor dem Fernseher zusammenliefen, genau wie 1989 beim Fall der Mauer. Die Szenen, die sich jetzt in dem Hotel abspielen mussten, fühlten sich realer an als hier alleine in einem hundertsiebzig Quadratmeter Penthouse zu sitzen. Das Hotel war ihm vertrauter als diese Halle, doch Pierre wollte nirgends lieber sein als hier. Nichts erfüllte ihn mit solcher Genugtuung wie seine liebevoll abgestimmte Einrichtung und die kleinen Gadgets, die er eigenhändig geplant und eingebaut hatte. Sein Loft und Kerstin waren die einzigen Projekte in seinem Leben, denen er länger als ein paar Monate treu geblieben war.

Auf ZDF spekulierte ein eilig zusammengestellter Runder Tisch über die Ziele der Lalaaren. Ein Historiker zog Parallelen zur Geschichte der Kolonialisierung. Der Risikoforscher las eine Liste von Motiven ab, die er sich scheinbar auf der Rückseite eines Kassenbons notiert hatte: Technologietransfer, Neugier und Wissenstrieb, Kolonialisierung, Ausbeutung von Naturschätzen, Fortpflanzung, Tourismus. Der Generalsekretär einer Regierungspartei fasste zusammen, was hinter den politischen Kulissen in den letzten Stunden passiert war. Im Wesentlichen bedeutete das Chaos auf allen Ebenen.

Mit zitternden Fingern tippte sich Pierre auf Facebook zu Kerstins Profil. Ungläubig starrte er auf sein Tablet. Wischte mit den Fingern hinauf und hinunter. Pierre sehnte sich nach Kerstins Stimme, nach ihrer Meinung, nach einer zynischen Bemerkung über das Fax. Und was hatte Kerstin getan in ihrer rachsüchtigen Wut? Sie hatte ihn auf Facebook gelöscht. Und damit sein letztes Guckloch zu ihren Gedanken verschlossen.

II

Am nächsten Morgen bebte die Welt vor Aufregung. Der Weg zur U-Bahn führte Pierre durch die hippen Gassen des siebten Wiener Gemeindebezirks. Als hätten die Lalaaren jedem von ihnen persönlich ein Fax gesendet, schwebten die Menschen bedeutungsvoll durch die Straßen. Ihre Augen schienen müde von der schlaflosen Nacht vor dem Fernseher. Heute würde sie das Adrenalin der Breaking-News-Orgien wachhalten statt der Fairtrade-Cappuccinos in ihren Pappbechern.

Die U-Bahn, in der sich die Wiener sonst grantig hinter ihren Gratiszeitungen verkrochen, fühlte sich an wie ein Bus voller Erstklässler auf dem Weg zum Schulausflug. Die Fahrgäste unterhielten sich quer über die Reihen, als ob sie sich seit Jahren kannten.

Gegenüber von Pierre saßen zwei Studenten, die ihren Nerd-Status kultivierten wie ein Statussymbol. Der eine trug ein graues Shirt mit der roten Zahl zweiundvierzig, der andere ein Flanellhemd. Beide hatten große schwarze Brillen.

Flanellhemd sagte: „Ich bin neugierig, was das für die Relativitätstheorie bedeutet.“

„Vielleicht gar nichts“, antwortete Nummer zweiundvierzig. „Ich habe gelesen, dass die Lalaaren eine Raumzeit-Falte genutzt haben könnten.“

„Der WARP-Antrieb aus Star Trek?“

„Exakt! Rein mathematisch möglich und verträgt sich mit der Relativitätstheorie. Angeblich weisen die Sensorikdaten der Satelliten darauf hin.“

„Wenn die Lalaaren überhaupt Informationen mit Überlichtgeschwindigkeit übertragen können. Bis jetzt haben sie es nur behauptet.“

„Das nächste theoretisch bewohnbare Planetensystem ist vier Lichtjahre entfernt. Wie sollten sie sonst das Fax versenden?“

„Sie könnten es vor Jahren abgeschickt haben.“

„Das ist ein Faxsignal und kein Morse-Code. Empfänger und Sender müssen mehrere Nachrichten austauschen, bevor ein Dokument übertragen wird. Das würde nicht funktionieren, wenn jedes Signal hin und retour acht Jahre benötigt.“

„Vielleicht sitzen sie längst auf der Erde und schicken das Fax von hier?“

Die rote zweiundvierzig schüttelte den Kopf. „Laut NASA wurde das Faxsignal nicht innerhalb der Erdatmosphäre generiert. Der Absender hat den Satelliten direkt aus dem All angesprochen.“

„Wie funktioniert das mit diesem Raum-Zeit-Kontinuum in Wirklichkeit?“, mischte Pierre sich ein. Die Frage beschäftigte ihn seit dem Abend. „Ihr wisst schon, der Grund warum Zeitreisefilme nicht richtig funktionieren. Wenn ich in die Vergangenheit reise und verhindere, dass mein Vater und meine Mutter mich zeugen, komme ich gar nicht auf die Welt, könnte also auch nicht durch die Zeit reisen, um es zu verhindern.“

„Das ist ein ungelöstes Paradoxon“, antwortete Flanellhemd. „Wahrscheinlich werden wir das nie erfahren, selbst wenn deine sogenannte Zeitreise funktioniert. Die Außerirdischen sind gewissermaßen außerhalb unseres Systems. Wenn sie uns nicht Informationen aus unserer eigenen Zukunft übermitteln, brauchen wir uns über das Großvater-Paradoxon keine Sorgen zu machen.“

Eine aufgeregte Stimme hinter seinem Rücken lenkte Pierre ab. Ein Menschenrudel scharte sich um eine überschminkte Frau mit blondierter Dauerwelle in einem schwarzen Nadelstreifkostüm. Sie schwärmte von einem Luftschutzbunker. „Atombombensicher, modernste Filteranlagen, Lebensmittelgarantie für ein Jahr, genaues Screening aller Bewohner, keine Ausländer.“

Stolz ließ sie ihren Blick über die Menge schweifen. „Das absolute Highlight ist eine mit sieben Außenkameras verbundene Dreißig-Quadratmeter-Videowall. So verlieren Sie auch bei längeren Aufenthalten im Bunker nie den Kontakt zum Rest der Welt. Im Moment wirkt es ungemütlich. Aber wenn die Lalaaren hier auftauchen, wird Ihnen das wie das Paradies erscheinen. Ich habe gerade zugeschlagen. Es sind nur noch neunzehn Plätze frei.“

„Was, wenn die Lalaaren uns in der Vergangenheit überfallen?“, fragte Pierre.

„Ich habe den Platz rückwirkend seit meiner Geburt gekauft“, antwortete die Dame schlagfertig und zog einen Stapel Folder aus ihrer Handtasche, bevor jemand diese Logik in Frage stellen konnte.

Pierres Büro lag in der obersten Etage der siebzehnstöckigen AMOCC-Zentrale. Die Austrian Mining, Oil and Chemicals Cooperation war in den letzten fünfundzwanzig Jahren von einem mittelständischen Eisen- und Stahlproduzenten durch geschickte Expansionspolitik zu einem internationalen Player aufgestiegen. Das Headquarter, von dem weltweit rund fünfzigtausend Mitarbeiter gesteuert wurden, streckte sich stolz auf der Donauplatte gen Himmel. Als Symbol für die Nachhaltigkeit des Konzerns hatte man die gesamte Fassade mit kleinen Sträuchern bepflanzt und das Gebäude „grüne Fackel“ getauft. Mithilfe der modernsten Dünger, der stärksten Insektizide und Hektolitern von Wasser wurde versucht, die Pflanzen unter den extremen Witterungsbedingungen an der Wand des Hochhauses am Leben zu erhalten. Vergeblich. Alle paar Monate verwandelte sich die grüne Fackel in eine struppig-braune Leiche. „Toter Dackel“nannten die Mitarbeiter das Gebäude.

In der Vorstandsetage herrschte ungewohnte Stille. Die gläsernen Meetingräume standen leer. Pierre fand seine Kollegen in der Cafeteria. Wie eine Herde Schafe im Angesicht des Wolfes, hatte sich der halbe Konzern in der Kantine versammelt, um die Ereignisse der Nacht zu besprechen. Auf den Monitoren, die normalerweise den Speiseplan zeigten, lief CNN.

Ein großer Glatzkopf mit Stiernacken winkte Pierre zu sich. „Pierre, hast du schon gehört? Die Lalaaren schicken nicht nur die Faxnachrichten. Sie lieben auch ALF, Modern Talking und Achselhaare. Vor denen brauchen wir uns nicht fürchten. Die sind voll in den Achtzigern hängen geblieben.“

Dr. Mayer, ein verschrumpeltes altes Männchen in Anzug und Krawatte, musterte ihn streng: „Die Lalaaren sind mehrere Lichtjahre von uns entfernt und haben eine Nachricht in einem für uns verständlichen Protokoll übermittelt. Aber nein, das ist überhaupt nicht beeindruckend.“

„Was meinen Sie, Dr. Mayer: Was wollen die Lalaaren von uns?“, fragte Pierre.

„Sie haben definitiv ein großes Ziel. Diesen Aufwand betreiben sie nicht für einen harmlosen Kaffeeplausch. Kommunikationstaktisch finde ich es äußerst interessant, dass sie angeben, unsere Fernsehsender empfangen zu können. Keiner weiß, was sie noch alles sehen und hören. Diese Unsicherheit unterbindet jegliche offene Kommunikation auf der Erde. Sie zwingt die Politik zu einem diplomatischen Eiertanz. Niemand kann über Aufrüstung oder Verteidigung sprechen, ohne den Lalaaren damit Misstrauen zu signalisieren.“

„Ich glaube nicht, dass die Politiker so ahnungslos sind, wie sie tun“, sagte der Glatzkopf. „Was ist mit Area 51, Roswell und so weiter? Ich habe das nie geglaubt, aber jetzt … Ich wette mit Ihnen, wir hatten schon mal Kontakt mit den Lalaaren. Die Geheimdienste wissen genau, was da läuft.“

„Sieht nicht so aus“, entgegnete Mayer und nickte in Richtung der Monitore, auf denen die deutsche Bundeskanzlerin stotternd den Fragen der Journalisten auswich.

Pierre wechselte zu sechs Kolleginnen aus der Corporate Marketing Division, die er mit zwölf Küsschen auf die Wangen begrüßte. Pierre glänzte mit seinem neuen Wissen über Zeitreisen und spielte ihnen die Bunker-Verkaufsshow vor. Die Mädels bogen sich vor Lachen und obwohl die Luft in der Cafeteria stickig war und nach dem Fett der ersten Käsekrainer roch, obwohl die Schatten der verwelkten Pflanzen die warme Sommersonne in fahles Licht verwandelten, hatte Pierre zum ersten Mal, seit Kerstin vorgestern in den Lift gestiegen war, das Gefühl frei atmen zu können. Er fühlte sich wie ein Fisch im Wasser.

Als Pierre am Nachmittag an die Tür seines Bosses Mark van Storen klopfte, verfolgte der gerade die Rede des amerikanischen Präsidenten auf seinem Beamer. Pierre nahm ein Red Bull aus dem kleinen Kühlschrank und ließ sich in den Lederfauteuil unter der Plastikpalme fallen. Die eiskalte Dose zischte verheißungsvoll. Pierre mochte Marks Büro. Das war der einzige Raum, in dem er keine Rolle spielen musste. Der einzige, wo er ein wenig Wertschätzung für die Millionen erhielt, die er AMOCC jedes Jahr sparte.

„Und? Machen sich unsere Gottobersten Sorgen wegen der Lalaaren?“, fragte Pierre.

Mark lockerte seine Krawatte. „Nicht wirklich. Ich glaube, unsere Vorstände sind die einzigen, die heute an etwas anderes denken. Wenn sich die Außerirdischen nicht an unseren Bodenschätzen vergreifen, haben wir kein Problem.“

„Gar nicht so unwahrscheinlich, dass sie das interessiert“, sagte Pierre.

„Wenn sie schon durch die Zeit reisen können, wären sie wohl hundert Jahre früher aufgetaucht. Bevor wir alles geplündert haben.“

Mark berichtete direkt an den CEO des Konzerns. Seine Abteilung erfüllte strategische Aufgaben, in denen politisches Geschick und der uneingeschränkte Wille, das EBITDA zu maximieren, wichtiger waren als fachliche Qualifikationen. „Experten hat AMOCC Tausende“, lautete Marks Leitspruch, „aber SWAT-Team nur eines.“

Pierre verdankte Mark die Fertigstellung seines Lofts. Vier Jahre nach Baubeginn hätte ein Wasserfleck an der Decke Pierres Vorhaben beinahe scheitern lassen. Das Budget war weit überschritten, das letzte Darlehen ausgeschöpft und Pierre fehlte das Geld, um die Dachisolierung reparieren zu lassen.

Die Vorstellung, dass er vier Jahre seines Lebens in eine Baustelle investiert hatte, um sie kurz vor dem Ziel an die Bank zu verlieren, ließ seinen berühmten Humor versiegen, mit dem er sonst jede Niederlage überwand. Pierres Traum stand vor dem Ende und niemand konnte übersehen, dass Pierre das nicht gerade locker wegsteckte. Beim Mittagessen erzählte er keine Witze mehr. Er hing lethargisch in seinem Bürostuhl, bis Mark ihm die Leitung eines sehr speziellen Vorstandsprojekts anbot. Hinter der Fassade des Projektes LOWCARB versteckte sich eine Agenda, in die nur der Vorstand, Pierre und Mark eingeweiht waren. Pierre war der perfekte Kandidat für den Job. Erstens benötigte er dringend Geld. Zweitens hatte er sich mit dem bisherigen Projektleiter nächtelang durch die Wiener Gin-Bars getrunken. Pierre wusste bereits mehr über die geheime Agenda, als Mark recht war. Vermutlich war die mangelnde Diskretion seines Vorgängers der Grund gewesen, wieso der Sicherheitsdienst ihn wenige Tage zuvor aus dem Gebäude begleitet hatte. Für eine großzügige Abfindung hatte es dennoch gereicht. Und auch Pierres Stillschweigen würde mit einer Projektprämie entlohnt werden, die sein Gehalt mehr als verdoppelte.

Plötzlich konnte Pierre den Wasserschaden beheben und neben der Tilgung der Kredite noch ein komfortables Leben führen. Zumindest so lange, bis er seine Innenausstattung bestellte.

Der amerikanische Präsident kam zum Ende seiner Ansprache: „Ich empfinde eine tiefe Ehrfurcht und Dankbarkeit, diesen Moment erleben zu dürfen.

Zum Abschluss möchte ich nun all jenen antworten, die versuchen uns klein zu machen. All jenen, die versuchen Angst vor unseren neuen Nachbarn zu schüren.

Ich bin felsenfest davon überzeugt, dass wir als Amerikaner und als Erdbewohner unseren neuen Nachbarn stolz und mit breiter Brust gegenübertreten können. Stolz nicht nur auf den wunderschönen, vielfältigen, ressourcenreichen Planeten, auf dem wir leben dürfen, sondern auch auf unsere Leistung als Menschen: unsere Technologie, unsere Kultur, unsere Werte und unseren Glauben. Ich möchte unsere neuen Nachbarn willkommen heißen, ohne Furcht, ohne Neid, sondern mit genau jener Offenheit und Gastfreundschaft, für die unsere großartige Nation bereits heute auf der ganzen Erde bekannt ist.“

Mark schaltete den Beamer aus: „Intergalaktischer Patriotismus. Das hat uns noch gefehlt.“

Pierre blickte aus dem Fenster über das unendliche Meer aus Häusern unter ihm. Ganz Wien hing an den Lippen des Präsidenten. So sehr die Europäer ihn auch verachteten, glaubten sie doch, dass er der Mensch war, der am meisten über die Lalaaren wusste. Wie selbstverständlich war ihm die Rolle des Anführers der Menschheit zuteil geworden.

„Hast du gehört, dass das Weiße Haus alle Filme, in denen Aliens vorkommen, verboten hat?“, fragte Pierre. „Aus Respekt gegenüber den Lalaaren.“

Mark schnaubte: „Glaubst du, werden sie uns die Hirne wegpusten?“

„Irgendwie kann ich mich nicht vor ihnen fürchten. Sie haben uns ein verdammtes Fax geschickt!“

„Vielleicht rücken wir zumindest auf der Erde ein wenig zusammen“, sagte Mark. „Wozu sich wegen der falschen Religion Kugeln in den Kopf jagen, wenn da oben eine eigene Spezies auf uns wartet?“

„Du glaubst doch nicht wirklich, dass irgendwas diese Fanatiker stoppen kann?“

Mark zuckte die Schultern. „Jedenfalls finde ich es cool, dass endlich mal wieder etwas anderes passiert.“

„Bier heute Abend?“, fragte Pierre.

Mark verzog das Gesicht: „Normal gerne, aber ich muss mich um dieses Mäuschen von letzter Woche kümmern. Ich glaube, sie hat Angst vor den Aliens und braucht ein wenig Ablenkung.“ Er grinste. „Ende nächster Woche? Donnerstag?“

Pierre tat so, als müsse er nachsehen. „Wenn es vorher nicht geht“, sagte er, den Blick auf sein Smartphone gerichtet. „Perfekt!“

III

Vera fröstelte in ihrem ärmellosen Leinenkleid, dreiundzwanzig Meter unter dem kühlen Wasser des Donaukanals. Jede U-Bahn presste einen neuen Schwall eisiger Luft in die Station. Kälte, gewonnen aus elektrischem Strom, für den irgendwo Auen zubetoniert, Plutonium gespalten oder CO2 in die Atmosphäre gejagt wurde. Nur damit sie hier bei einer Außentemperatur von zweiunddreißig Grad frieren musste.

Sie war für einen warmen Sommerabend gekleidet, nicht für diese zugigen Katakomben. Das Kleid trug sie für Daniel. Er mochte es, weil es ihr eigentlich zu kurz war. Eine dänische Freundin aus ihrer Greenpeace-Zeit hatte es ihr vor vielen Jahren zum Geburtstag genäht. Am oberen Ende, wo Veras feuerrote Locken den Stoff berührten, säumte den grauen Leinenstoff ein buntes, handgesticktes Muster.

Insgeheim wusste Vera, dass weder die Klimatisierung noch das kurze Kleid ihre Gänsehaut verursachte. Vera fror nicht so schnell. Eigentlich. Denn seit dem 13. Juni ließen regelmäßig Frostattacken ihren Körper erzittern, bei jeder Temperatur. Sie verursachten physische Schmerzen. Nicht im Bauch oder im Kopf, wie man vermuten mochte, sondern in ihren Knochen. Als drohten sie, spröde vor Kälte, jeden Moment zu brechen.

Zunächst hatte sie die Schmerzen für eine aufkommende Grippe gehalten. Es dauerte drei Tage, bis sie bemerkte, dass sie immer dann fror, wenn sie Daniel anrief. Jedes Mal, wenn sie die Wohnungstür aufsperrte. Jedes Mal, wenn sie irgendwo auf ihn wartete.

Sie konnte sich nicht erinnern, so etwas früher empfunden zu haben. Als Kind lief sie mit Freunden nächtens durch den stockfinsteren Wald, als Teenager knöpften ihr ältere Burschen im Auto die Hose auf. Sie sprang aus Flugzeugen und verbrachte vier Tage in einem norwegischen Gefängnis. Nie hatte sie so gezittert. Das Gefühl, das sie ihr Leben lang für Angst gehalten hatte, war bloß ein wohliger Adrenalin-Schauer. Sie liebte diese euphorische Stimmung, das Gefühl, stärker als alle anderen zu sein. Vera hatte immer geglaubt, sie liebte die Angst. Bis das ohnmächtige Bangen um Daniel begann. Erst da wusste sie, was Angst war. Würde er da sein? Würde er ihren Anruf annehmen? Würde er kommen?

Vera jagte eine Runde über den Bahnsteig, um sich warm zu halten. Immer nur so weit, dass sie die Rolltreppe im Blick behalten konnte. Daniel verspätete sich selten, und es blieben ihm auch jetzt noch zehn Minuten bis zur vereinbarten Zeit. Vera war zu früh gekommen. Sie hatte es dank ihrer Nervosität nicht mehr daheim ausgehalten.

Dann war er da. Vera erkannte die grasgrünen Flohmarkt-Sneakers auf der Rolltreppe. Zentimeter für Zentimeter glitten seine Jeans in ihr Blickfeld, sein langer Oberkörper, aufrecht wie immer, kerzengerade mit selbstbewussten Schultern. Dann sein dunkelbrauner Vollbart, die graugrünen, aufmerksamen Augen und seine verstrubbelten Haare. Daniel Degenhorst hatte die Ausstrahlung eines Rockstars. Er lächelte, als er Vera sah und lehnte lässig an dem schwarzen Handlauf, bis ihn die Rolltreppe vor ihr ausspuckte.

Vera legte die Arme um seinen Nacken und küsste ihn. Wieder stellte sie überrascht fest, dass sie beinahe gleich groß waren. Je kleiner sie sich innerlich fühlte, desto größer erschien ihr Daniel.

„Wo warst du Blümchen?“, fragte Vera.

Daniel grinste geheimnisvoll.

„Verrätst du mir wenigstens, wo wir hingehen?“

Ohne zu antworten, griff Daniel nach ihrer Hand. Sie ließen den Lift fahren und kletterten die Treppen hinauf in die Abenddämmerung. Vera erzählte von ihrem Ärger über die Klimaanlagen.

„Immer noch besser, als wenn sie alle mit dem Auto fahren, bloß, weil ihnen die Menschen in der U-Bahn zu viel transpirieren“, entgegnete er. Ein typisches Daniel-Argument. Und Vera war es mit der lauen Luft auf ihrer sommersprossigen Haut und Daniel an ihrer Hand mittlerweile egal.

Zu Veras Überraschung bogen sie am Donaukanal links ab. Heute feierten sie ihren fünften Jahrestag. Sie hatte vermutet, dass sie stromaufwärts in den Augarten gehen würden. Wo führte Daniel sie hin?

Neben ihnen in der Wiese bereiteten sich die ersten Jugendlichen mit einem Sechserpack Bier auf die Nacht im Club gegenüber vor. Ein Punkmädchen sprayte gerade eine aufreizende außerirdische Dame auf die Kaimauer. In der Sprechblase stand: „Fuck me to survive.“ Dutzende Jogger kamen ihnen entgegen, ein Schnösel auf einem dieser idiotischen Segways und eine Mutter mit Kinderwagen. Das vorbehaltlose Glück in ihren Augen versetzte Vera einen Stich.

An der nächsten Treppe führte Daniel sie hinauf zu einem Wohnhaus in der Unteren Donaustraße. Vera kannte das Haus. Doch wieso sollten sie hier ihren Jahrestag verbringen? Im vierten Stock zog Daniel einen Schlüsselbund aus der Tasche und sperrte die Wohnungstür auf. Über der Glocke stand: „Norbert + Birgit Vreisen.“ Daniel schob Vera in das Vorzimmer. „Norbert und Birgit spielen gerade im Konzerthaus“, sagte er und bedeutete ihr voranzugehen.

Es duftete nach Ingwer, Kreuzkümmel und Kardamom. Mit bloßen Sohlen tappte Vera ins Wohnzimmer.

Auf dem für zwei Personen gedeckten Tisch brannten lange weiße Kerzen. Die Vorhänge waren zugezogen.

„Keine Flecken auf den Teppich machen“, sagte Daniel lächelnd. Sie spürte wieder die warme Aufregung, die sie früher für Angst gehalten hatte. Sie fühlte seinen weichen Bart an ihren Handflächen, als sie seinen Kopf zwischen ihre Hände nahm und küsste. Seine Haut duftete wie feuchter Waldboden. Kein Mann roch wie Daniel.

IV

Fünf Tage nach dem Fax wurde Pierre zum ersten Mal in seinem Leben aus einem Club geworfen.

Schon als er die Stiegen in die „Passage“ hinunterging, fühlte er sich in seinem Lieblingsclub wie ein Fremdkörper. Die vereinzelten Gäste lungerten auf weißen Loungemöbeln und sahen aus, als würden sie noch in die Schule gehen. Nach vier Fernsehabenden auf der Couch spürte Pierre eine physische Abneigung gegen Polstersessel. Er lehnte sich an die indirekt beleuchtete Bar. Ein Blick durch den Club bestätigte seine Befürchtung, dass er als Einziger ohne Begleitung hier war.

Sogar im Tempel der Coolness lief an diesem Abend CNN. Pierre amüsierte die naive Freude, mit der sich seine Generation für die Lalaaren begeisterte. Endlich etwas, das ihnen Bedeutung verlieh: Sie durften miterleben, wie ein außerirdisches Volk die Menschheit kontaktierte. Die Welt ihrer Kinder würde eine andere sein.

Pierre verfolgte auf dem Flatscreen über der Bar zum ersten Mal im Leben eine Tagung des UN-Sicherheitsrats. Im Hauptquartier der Vereinten Nationen in New York würde in wenigen Minuten die offizielle Antwort der Menschheit an die Lalaaren verlesen werden. Fünf Tage lang hatten Heerscharen von Diplomaten an der ersten Nachricht gefeilt.

Mittlerweile verkam die Erklärung zu einem reinen Formalakt. Die Könige, Präsidenten und Premierminister waren längst mit ihren Botschaften vor die Kameras getreten. Pierre fragte sich, was die Lalaaren mit diesem Wirrwarr anfangen würden. Ob dort weitere tausend Diplomaten arbeiteten, die das Durcheinander von der Erde für die Entscheidungsträger ihres Planetensystems aufbereiteten?

Mit den einleitenden Floskeln würden sie sich nicht schwer tun. Alle Politiker glänzten mit höflichen Willkommensgrüßen und Plädoyers für Frieden. Schwieriger wurde es, wenn der russische Präsident die Lalaaren in seiner Rede über die Machtverhältnisse auf der Erde und den zum Scheitern verurteilten amerikanischen Imperialismus aufklärte. Oder wenn Dutzende Staatsoberhäupter ihre Länder als den perfekten Ort für eine Lalaaren-Basis auf der Erde anpriesen. Der iranische Präsident bot ihnen hundert Millionen Barrel Rohöl als Willkommensgeschenk, China wollte ein gigantisches Zentrum für technologischen Austausch errichten und Russland einen Teil Sibiriens als selbstständiges autonomes Gebiet an sie abtreten. Doch der russische Präsident stellte in seiner Rede auch klar, dass Russland keine Aggression dulden würde: „Wir wollen eine friedliche Beziehung zu dem Volk der Lalaaren, betonen aber, dass wir gegebenenfalls in der Lage sind, unseren Planeten zu verteidigen.“

Die von den Lalaaren benannten Kommunikationskanäle CNN, Al Jazeera, Russia Today, CCTV, teleSUR bemühten sich um den Anschein, verantwortungsvoll mit ihrer neuen Macht umzugehen. Die sogenannten Big Five setzten Kommentatoren ein, die den Kontext der Meldungen für die Lalaaren erklärten, um ihnen die Interpretation zu erleichtern und die Rollen unterschiedlicher Politiker und Wissenschaftler zu erklären. Allerdings kommentierte Russia Today die Rede des amerikanischen Präsidenten ein wenig anders als CNN.

Der Generalsekretär der Vereinten Nationen rang eine Woche lang darum, Herr über das Chaos zu werden. Nie zuvor hatte es den Bedarf gegeben, die Erde offiziell mit einer Stimme sprechen zu lassen. Die einzelnen Staaten hatten die Position der Menschen durch ihre voreiligen Versprechungen empfindlich geschwächt. Würden die Lalaaren die individuellen Angebote einlösen, könnten sie sich auf der Erde ohne Gegenleistung nach Lust und Laune bedienen.

Nach Tagen einigte man sich, den UN-Sicherheitsrat mit der Verfassung einer Antwort zu betrauen. Dann stritt man darum, wer sie vortragen durfte. Schließlich trafen die wichtigsten Diplomaten der Welt eine weise Entscheidung: Jedes Mitglied des Sicherheitsrats sollte eine Zeile vorlesen. In letzter Sekunde verzögerte sich der offizielle Akt, weil der französische Präsident verlangte, in französischer Sprache vortragen zu dürfen. Es sei nicht einzusehen, wieso sich die Menschen durch die Lalaaren willkürlich eine bestimmte Sprache zur Kommunikation aufzwingen ließen. Nach zähen Verhandlungen erzielte man den Kompromiss, dass jedes Staatsoberhaupt die Lalaaren in seiner Sprache grüßen, der Text aber auf Englisch verlesen werde. Der Event wurde um eine weitere Stunde verschoben, damit der französische Präsident die korrekte Aussprache seines Satzes einstudieren konnte.