Wie man die Frauen verführt
Aus dem Italienischen übertragen
und mit einem Nachwort
von Stefanie Golisch
Der österreichischen Granate
der es nicht gelang,
meine vulkanisch berstenden Bombardierungen
von Zagora zu löschen und die mir deshalb,
verwirrter als hunderte vor ihr,
Gesicht Schenkel Beine
mit den einzigen Tätowierungen schmückte,
die uns Futuristen, uns hochzivilisierten Barbaren,
würdig sind, uns, die wir für
die Verjüngung und Vergrößerung
des italienischen Genies kämpfen.
F. T. Marinetti
Dieses vom Leben beglaubigte Buch wurde von Marinetti im September 1916, bevor er als freiwilliger Artillerist an die Front zog, diktiert und von dem verwundeten Marinetti während eines Genesungsaufenthalts im Militärlazarett von Udine korrigiert.
Die Frau und die Vielfalt
Die Frau und die Strategie
Die Frau und der Krieg
Handbuch des perfekten Verführers
Die Frau und die gefährliche Geschwindigkeit
Die Frau und der Mut
Die Frau und die Eifersucht
Die Frau und die Komplikation
Die Frau und der Futurist
Frauen, gebt den glorreich Verstümmelten den Vorzug!
Gruß eines bombardierenden Futuristen an die italienische Frau
Novellen mit geschminkten Lippen: Simultane Novellen. 11 Küsse für Rosa di Belgado
Der Wettstreit der Lippen
Der Turm-Kuss
Der gymnastische Kuss
Der unterirdische Kuss
Der sardische Kuss
Der rudernde Kuss
Der schwimmende Kuss
Der tropische Kuss
Der abstrakte Kuss
Der Regenkuss
Der automobilistische Kuss
Der aeronautische Kuss
Brief von Rosa di Belgrado
Tod dem Mondschein. Nachwort von Stefanie Golisch
Ein Buch über die Kunst, die Frauen zu verführen, in diesem Moment? … Ja, eben jetzt, im futuristischen Brand der Nationen, inmitten dieses hygienischen befreienden erneuernden verhundertfachenden Krieges, verspüre ich das Bedürfnis, Euch zu sagen, wie man die Frauen verführt.
Der Krieg verleiht der Frau ihren wahren Geschmack und ihren echten Wert. Dieses Buch wäre ein Anachronismus, wenn es vor oder nach dem Krieg erschienen wäre.
Dies werde ich Euch sogleich frohgemut beweisen.
Die Frauen werden unverzüglich in die Schützengräben flüchten, um sich vor meinen unvermeidlichen Angriffen in Sicherheit zu bringen. Für sie kann dieses Buch nichts als Anklagen, Verurteilungen und harsche Kritik an ihrem entzückenden Geschlecht bereithalten. Ich weiß dies aus anhaltender und eindringlicher Erfahrung, und indem ich den Stift in den Händen halte, der dieses Geschlecht glorifizieren wird, verspüre ich sogar eine Art erotischen Spasmus. Dabei halte ich jedoch keineswegs einen Stift in den Händen, vielmehr beginne ich dieses Buch meinem Busenfreund Bruno Corra zu diktieren, der, trotz seiner Jugend ein ausgewiesener Kenner der gefährlichen Materie, schmunzelt. Ich diktiere im Zimmer auf und ab schreitend, hart und abgehackt die Stimme, schneidend der Schritt, meine zahlreichen Zigaretten verrauchen spiralförmig Erinnerungen im Rhythmus meiner bombardierenden Sporen. In diesem Hotel, in dem ich auf den Marschbefehl zur Front warte, auf der Eisenbahn, im beißenden Geruch graugrüner Schützengräben, zwischen den Stößen und Puffen der Soldaten, werde ich fortfahren, dieses Buch in aller Schnelle zu diktieren, während ich dabei mit meiner ganzen Brutalität den wunderbar biegsamen Körper jener Frau bearbeite, die sich aus den hundert Frauen zusammensetzt, die jeder Mann mit sich in den Krieg nimmt. Jeder … ein Italiener selbstredend, vollkommen männlich, frei von jedem nordischen Vorurteil, Feind der Bibliotheken und innerlich tief in jenem großen Brunnen der Sinnlichkeit wurzelnd, den wir das Mittelmeer nennen. Ein unlogisches Buch also, das sich glücklich preisen darf, den undefinierbaren Händen hässlicher Frauen entrissen zu werden, während es den präzisen und zarten Fingern schöner Frauen indes zweifellos gefallen wird.
Schön, mehr oder weniger. Ich beziehe mich auf den geheimnisvoll-tierischen Magnetismus, nicht die vollkommene Schönheit, die der Frau jede Anziehungskraft raubt.
Schön, mehr oder weniger. Ich beziehe mich auf den geheimnisvoll-tierischen Magnetismus, nicht die vollkommene Schönheit, die der Frau jede Anziehungskraft raubt.
Schön sein zu wollen ist viel mehr als jeder körperliche Glanz. Auf meinen ausgedehnten erotisch-sentimentalen Entdeckungsreisen habe ich stets die intelligenten Körper gesucht, die wachsamen, die ihre Begierde je nach Art des angestrebten Genusses zu verkleiden verstehen. Frauen, die eine sogenannte natürliche Schönheit zur Schau stellen, sind zutiefst lächerlich, langweilig und in ihrem Genuss durchaus gehemmt. Körperliche Intelligenz kann man weder lernen noch sich eigentlich aneignen. Sie ist eine Art willentlicher Instinkt, der allen Raubtieren zu eigen ist. Präzise schmachtender Blick, Orchestrierung der Stimme, samtene Kraft des Schrittes, Anschmiegsamkeit, mit der man sich auf einem Diwan oder den Kissen eines Bettes niederlässt, das kontinuierliche Korrigieren des hervorstechendsten und gefährlichsten körperlichen Defektes. Jede Frau besitzt einen solchen. Ich höre eine lockenprächtige Zwanzigjährige mit kleinen runden Brüsten mir protestierend zurufen: »Ich habe keine Mängel.« Doch, gebe ich ihr zur Antwort, denjenigen nämlich, vollkommen sein zu wollen. Ihr müsst, um einen Mann nicht sofort zu langweilen, die absolute antisexuelle und antierotische Bewunderung, die das Gleichmaß Eurer Formen hervorruft, irgendwie vergessen machen. Ein zwanzig-, dreißig-, vierzigjähriger Mann wird angesichts der vollkommenen Schönheit einer Frau stets jene Langeweile verspüren, die einen unwillkürlich in einem Museum erfasst. Dies ist eine persönliche Feststellung: Es gibt hier keine allgemeinen Gesetze. Jede Frau ist ein Fall für sich oder besser, Tausende von besonderen und unterschiedlichsten Fällen, die den Tausenden unterschiedlichen Liebesverwicklungen entsprechen, wie sie das Leben für sie bereithält. Jede Frau hängt von dem Manne ab, den sie liebt, und von der Umgebung, in der sie ihn liebt. Nichts ist weniger veränderbar und weniger vorhersehbar. Eine Frau gibt sich in Mailand zurückhaltend und halbherzig hin, in Klammern gewissermaßen und unter vorübergehendem Entzug; träfe sie denselben Mann in Rom, so öffnete sie ihm, brutal und großzügig, Nerven, Geist, Körper. Ich will hiermit keineswegs die erotischen Qualitäten Roms anpreisen, sondern ich spreche von Städten im Allgemeinen. Dieses höchst überzeugende Prinzip wird jedoch von hundert gegensätzlichen Erfahrungen zugleich widerlegt. Eine Pariserin aus dem Foubourg Saint Honoré, die, wenngleich keineswegs manisch veranlagt, sich lieber umgebracht hätte, anstatt sich auf einem uneleganten Bette niederzulassen, wurde von mir auf das Natürlichste in mehr als fünfzig stinkenden Betten in mehr als fünfzig ultrastinkenden Hotels im Quartier Latin flachgelegt. Ich betone dies nicht, um mich meines verführerischen Charmes zu rühmen, sondern stelle in dieser Dame lediglich zwei radikal voneinander geschiedene Lebensweisen fest sowie die spezifische Fähigkeit, sich in der jeweiligen Umgebung der Liebe vollkommen zu zerstreuen. Nicht alle Männer sind fähig, sich diese Disposition zur Zerstreuung zunutze zu machen. In der Tat kann man zwei Kategorien von Männern unterscheiden: jene, die eine Frau instinktiv wahrnehmen, sie magnetisch beeinflussen, sie mit Leichtigkeit nehmen und verstehen, und diejenigen, die sie nur wenig erfühlen, die sie mittelmäßig beeinflussen und fast niemals begreifen. Mehr als die Hälfte der italienischen Männer verfügt über die Kraft, das schöne Geschlecht zu verführen und zu verstehen. In Spanien und in Frankreich ist diese Fähigkeit weit weniger entwickelt als bei uns. In Russland und England ist sie quasi inexistent. Diese Kraft wird direkt von der Sonne gesteigert, und ihre größten Feinde sind der Nebel und der Alkohol. Ein Mann, der durch den Alkohol eine künstliche Sonne an nordischen Himmeln zu entzünden trachtet, läuft Gefahr, sich eine in ihrer Sensibilität künstliche Frau zu erschaffen. Das Vertrauen in die Treue der Frau ist das Produkt einer Atmosphäre ohne Wärme und Farbe. Dieses Vertrauen verflüssigt sich automatisch unter der Sonne Siziliens. Im Orient, wo die Untreue der Frau eine unbestreitbare Fatalität darstellt, hat der überhebliche Mann als Korrektiv den Eunuchen erfunden. Die nordische Frau ist frei und dies zuvörderst, weil der Mann an ihre geistige Beständigkeit und Festigkeit glaubt, und im Übrigen, weil er sie körperlich wenig schätzt und sie als typisch instinktives, elementares, atmosphärisches, barometrisches Wesen vollkommen verkennt. In einem ultraintellektuellen Moskauer Salon sah ich plötzlich zwei wunderbare Frauen auftauchen, gefolgt von ihren unbedeutenden Ehemännern, blass, zierlich, zitternde Augen hinter dem Lorgnon, lascher Händedruck, säuerliche Stimmen verschreckter Ziegen unter einem Bombardement: zwei dekadente Poeten. Sogleich wurde ich der schöneren der beiden halbnackten Ehefrauen vorgestellt, die beide kein Wort Französisch noch Italienisch verstanden. Während der Hausherr mir das zerstreute Geplauder der schönen Frau über den literarischen Wert eines russischen Dichters und über die Schönheiten Italiens übersetzte, unterhielt sich ihr intelligenter Körper angeregt mit dem meinen. Ein ausdrucksstarker und ehrlicher Dialog. Der rötliche Bart, das Lorgnon und das hinkende Stimmchen des Ehemannes zerbröckelten in einer Litanei enervierendster Geräusche, die dem Geheul eines Bettlers glichen oder dem eines alten Päderasten, der von seinem Freunde am Tor eines Freudenhauses stehen gelassen wurde. Dieses Insektengenage schwieg also. Feuchtheiße Atmosphäre, Elektrizität tropischer Wälder. Süßes Gewicht der beiden Frauenkörper inmitten der Stoffe, im Laubwerk der langsamen Fächer und gefälligen Federn. Parfums und Schmuck aus der Rue de la Paix akzentuierten die runden Düfte und die spiralförmigen Fluchten der weiblichen Stimmen. Mit meiner eigenen Stimme ließ ich das Bombardamento di Adrianopoli erschallen, die Gesten und den Schritt eines geborenen Kolonisators. Riesiger körperlicher Erfolg, komplette Verschmelzung mit der Haut der beiden Damen. Ich wurde aufgefordert, mich zwischen die beiden Dichterfrauen zu setzen. Diese, begeistert wie zwei Blätter im Wind. Aufgrund meines sprachlichen Unvermögens verwandelten sich Sessel, Bilder, Frauen, Männer, Samt, Schmuck und Seiden in Minerale, Pflanzen, Tiere. Im angrenzenden Salon wurde auf Teufel komm raus gezecht. Polyphonie der Kristalle, Stöpsel, Stimmen, Schäume, blonden Lachens. Orkangebrumm von einem entfernten Klavier. Die beiden Poeten, verzückt mir gegenübersitzend, begannen einen Wettstreit der Madrigale zu meinen Ehren, die sie kritzelnd in den Notizbüchern ihrer jeweiligen Damen festhielten. Meine Ellenbogen suchen derweil den Kontakt mit der Schönen zu meiner Rechten und zu meiner Linken. Mechanische Präzision, die unmittelbar verstanden und beantwortet wird. Bemüht, sein ultraafrikanisches Ambiente zu vervollkommnen, vergnügt sich der Hausherr derweil damit, das elektrische Licht in monotonen Intervallen ein- und auszuschalten, um ein Gewitter zu simulieren. Immer dann, wenn es wieder dunkel wurde, drückte ich meinen Mund abwechselnd auf den der einen oder den der anderen Frau, während diese sich in wachsendem Eifer wanden. Vor mir suchte einer der beiden Ehemänner, peinlicherweise mit dem Bleistift, einen billigen Reim am Bodensatz seines üblichen Alkoholpegels. Der andere hatte das Madrigal bereits beendet. Besorgt ob der sensiblen Harmonie seiner Verse las er es mir vor, schwer atmend und dabei ein Lorgnon auf der Nase balancierend. Eine oberflächliche Leserin wird mir nun, einigermaßen irritiert, zu verstehen geben, dass es sich bei den beiden Damen um zwei Prostituierte gehandelt haben müsse. Darauf kann ich nur antworten, dass es zwischen einer Straßenprostituierten und der anständigsten Frau, also derjenigen, die einem Manne in aufrichtigster Liebe zugetan ist, unzählige Nuancen großzügiger Aufrichtigkeit im Geschäftlichen und mehr oder weniger geschäftlichen Betrug leidenschaftlichen Desinteresses gibt. Diese beiden Frauen waren keine Prostituierten. Mit einer von beiden wurde ich intim bekannt und entdeckte in ihr ein aufregendes Doppelleben: eine frenetisch-bizarre Sinnlichkeit, unstillbare Gier nach Neuem, Leidenschaft für den berühmten Mann, die Bereitschaft, sich an einem Regentage auf einem Diwan dem begehrenden Manne hinzugeben, und zugleich die Fähigkeit, ihr Familienleben zu organisieren und sich mit disziplinierter Regelmäßigkeit um die Erziehung der Kinder zu kümmern. Tatsächlich veränderte sich ihr Wesen vollkommen, sobald sie das Haus verließ. Vor vielen Jahren mochte der Ehemann ihr sogar gefallen haben. Wahrscheinlich hatte er ihr jene Art geistiger Aufmerksamkeit entgegengebracht, die ihre Eigenliebe aufs Schönste befriedigte, indem er ihr im Bett Verse vorgelesen hatte, ungefähr so, wie man einem Panther einen marron glacé darreicht. Dabei mag er mit ihr wohl auch über die Unsterblichkeit der Seele diskutiert haben. Auch ein Luxusweib braucht es, von Zeit zu Zeit für einen deutschen Philosophen gehalten zu werden. Meine Freundin hatte sich darauf versteift, eine große, unverstandene und rebellische Seele zu besitzen. An welchen Zuwachs an Freiheit sie dabei dachte, vermag ich allerdings nicht zu sagen. Sie konnte, wann immer sie wollte, den Zug nehmen, um mit mir einen Nachmittag in Paris zu verbringen. Einen ganzen Abend lang weinte sie bei dem Gedanken an eine Freundin aus Kindertagen, die in San Remo an Typhus gestorben war. Auf eine Reise nach Ägypten nahm sie meinen Mafarka der Futurist mit, allerdings warf sie ihn, nachdem sie sich die afrikanischen Brutalitäten des ersten Kapitels auf Russisch hatte übersetzen lassen, feierlich angewidert ins Mittelmeer. Sie schrieb mir einen Brief voller Beleidigungen und Verächtlichkeiten, auf dem mein Übersetzer in einer Ecke, fast unsichtbar, diese Worte geschrieben fand: Ja ljublju vas – ich liebe dich.
Wohlgemerkt: Ich leite aus alledem keine Gesetzmäßigkeiten ab. Es ist jedoch unbestritten, dass die Essenz der Frau nicht nur durch ihre kindliche Neugierde, die Unfähigkeit zur Aufmerksamkeit, das Grauen vor der Monotonie, die beständige Eitelkeit und die ängstliche Feigheit der Schüchternen geprägt wird, sondern vor allen Dingen von einem unausrottbaren Bedürfnis nach Betrug. Ihre muskuläre Unterlegenheit hat sie in ein halbzahmes Raubtier verwandelt, das zärtlich davon träumt, den geliebten, aber auch gehassten Mann – schließlich ist er der Erbauer des Käfigs Gesellschaft – immerfort zu betrügen. Deshalb die Notwendigkeit des männlichen Verführers, in sich die Kräfte und den Tonfall eines Tierbändigers zu entwickeln. Um Missverständnissen vorzubeugen: Ich erkläre mich einverstanden mit alledem, keine Kritik. Die Frauen sind, was sie nun einmal sind. Das heißt: der bessere Teil der Menschheit, biegsamer, geschmeidiger, geistreicher, empfindsamer, weniger programmatisch, ein Wunder an Improvisation, kurz, der am wenigsten deutsche Teil. Ein verführerischer, kraftvoller, freier, schöner und genialer Mann hat im Vergleich zu einer schönen, Gefühle und Sinnlichkeit improvisierenden Frau stets etwas Berufsmäßiges, Teutonisches. Ich erkenne die moralischen Qualitäten der Frau vollkommen an. Es gibt Frauen, die durch ihren Einfallsreichtum, ihre Aufrichtigkeit, Großzügigkeit, Opferbereitschaft, ihr erlesenes Gefühl und ihren erotischen Schwung nachgerade verblüffen, doch sind alle diese Tugenden zutiefst sexuell geprägt, sprich an das innere Feuer geknüpft, dessen einzige Aufgabe darin besteht, die eigene Art zu erhalten.