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Inhalt

[Cover]

Titel

Widmung

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Dank

Autorenporträt

Übersetzerporträt

Über das Buch

Impressum

[Leseprobe – STERN GEHT]

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Für Verena und Clarita, die Töchter von
Adam und Clarita von Trott

1

Welcher Tag ist heute, Schwester?«

»Sonntag, Frau Verweij.«

»Er kommt am Dienstag.«

Die Pflegerin nickte, sie hatte es schon gehört, er wollte vormittags aus Deutschland kommen. Und am Nachmittag dann die Ärztin, danach das Team.

»Wie spät ist es, Schwester?«

»Neun Uhr.«

»Morgens oder abends?«

»Abends, sehen Sie, es ist fast schon dunkel.«

Emma wusste genau, welcher Tag es war und wie viel Uhr, und was kommen würde. Ihre Fragen waren ein künstlicher Nebel, die Schwester sollte glauben, dass sie schon weit weg war.

»Damals, Mutter, weißt du noch, wie wir jede Nacht am Fenster eine Weile mit Singen zugebracht?« Leise sprach Emma die Zeilen vor sich hin. Die Fenster standen offen, es war noch warm. Ein riesiger Mond hing über der Häuserreihe in der Ferne. Vom Oudedijk her war das Klingeln und Rauschen von Straßenbahnen und Autos zu hören und das hohe, klagende Summen von Mopeds.

»Klein, vom Spielen müde, saß ich auf deinem Schoß, die Geheimnisse der Nacht erschienen mir so groß.« Emma schaute zur Seite, die junge Frau, die ihr gleich beim Zubettgehen helfen würde, hörte verwundert zu.

»Ich glaube, die Verse sind älter als ich, dieser Dichter begleitet mich schon sehr lange. Vieles, was er geschrieben hat, habe ich nie mehr vergessen.«

Die Pflegerin zog die heruntergerutschte Decke wieder auf Emmas Schoß. »Ist Ihnen nicht kalt?«

Dass sie dieses Gedicht noch auswendig konnte, das war doch beachtlich.

»Denn wenn wir dann sangen das altbekannte Lied, von Gott, der alle, alle unsere Wege sieht …« Sie zögerte. »Bei diesen Versen hört ich deine Stimme leise beben …«

Sie musste ein paar Zeilen übersprungen haben, hier fehlte etwas, das sich auf »beben« reimte. Sie dachte nach, kam nicht darauf. Aber das machte eigentlich nichts, denn das Wichtigste und Traurigste war gesagt: dass Gott alle unsere Wege sieht.

Tat Er das? Den Eindruck hatte sie nicht. Ihr Gott, an den sie so fest und entschlossen geglaubt hatte, den sie wider besseres Wissen verteidigt, den sie gesucht und besungen hatte, sie konnte ihn jetzt nirgends entdecken. Dennoch gaben ihr die Verse das Gefühl, in etwas Allumfassendem aufgehoben zu sein. Unbegreiflich, dass ein paar gereimte Zeilen sie so gefangen nehmen und eine uralte Sehnsucht wecken konnten. Das altbekannte Lied. Sie hatte es gesungen, hatte die Melodie gekannt. Die hatte sich inzwischen verflüchtigt, es gab kein Lied mehr, nur noch die Stimmen des Abends am Oudedijk. Das Lied. Welches eigentlich? Ihr Leben war in Fragmente zerfallen, kristallklare, helle und dunkle, eine endlose Folge. Die Zeit umgedreht und umgestülpt.

»O nein, mir ist nicht kalt, noch nicht.«

Emma lächelte in sich hinein. Bevor sie noch etwas sagen konnte, meldete sich das Handy der Pflegerin mit seinem unmöglichen Gedudel.

2

Anders als die meisten haben sie noch einen Telefonanschluss, und der Apparat klingelt unaufhörlich. Ein aggressiver Anrufer. Oder ein verängstigter?

Emma starrt das Telefon an, sie kann das Schrillen kaum noch ertragen. Ist es Carl, das Ministerium, die Gestapo? Nein, die ruft nicht an, die überfällt einen ohne Ankündigung zu Hause. Sie wagt nicht abzunehmen, hält sich zurück, obwohl sie allmählich davon überzeugt ist, dass es doch Carl sein muss.

»Geh nie ans Telefon, Emma«, hat er ihr eingeschärft, »wir sind nicht da. Nur wenn ich mit unserem Code anrufe.«

Es ist der 25. Juli 1944, als sie das Telefon zu ignorieren versucht. Alles ignorieren, dann kommt man vielleicht doch noch davon, redet sie sich ein.

Seit dem 20. Juli sind die Tage kurz und die Nächte lang, Emma und Carl leben eingeschlossen in Angst und Anspannung. Jeder Schritt auf der Straße, jedes knarrende Dielenbrett, jede unbekannte Gestalt, jedes näher kommende Auto, jede Tür, die aufgeht. Man sagt, dass Angst lähmt, und so ist es. Das Gehirn arbeitet nicht mehr normal, als würde irgendein Stoff freigesetzt, der die gewöhnlichen Reaktionen unterdrückt. Nichts hält sich mehr an die Gesetze der Normalität.

Die Bombe unter dem Kartentisch in Hitlers Hauptquartier hatte zwar ein paar der Anwesenden getötet, aber die falschen, der gottgleiche Führer selbst hatte überlebt und noch am selben Tag, kaum hatte sich der Rauch verzogen und er selbst die zerrissenen Sachen gewechselt, seinen Freund Mussolini empfangen – die Fotografen hatten all das festgehalten. Seitdem lag auch eine Bombe in Carls und Emmas Leben, Hunderte von Kilometern entfernt, an der falschen Stelle des Tischs.

Trotzdem ist Carl ins Ministerium gefahren, wie er es schon seit vier Jahren tut. Die Nachbarn in Dahlem hätten ihn wie immer zur U-Bahn-Haltestelle gehen sehen können, wenn sie aufgepasst hätten.

Carls Chef Adam von Trott hat eine Sitzung anberaumt, Routinesachen. Tage- und nächtelang haben sie darüber gesprochen, ob er der Aufforderung Folge leisten soll. Tonlos hat Carl wiederholt und wiederholt, dass er nicht Nein sagen kann, und Emma hat gewusst, dass sie ihn nicht zurückhalten wird. Carl, ihren Mann, den sie über alles liebt und doch gehen lassen muss, weil er Trott nicht im Stich lassen darf. Nicht jetzt, nicht an diesem entscheidenden Punkt. Solidarität gegen Liebe. Verrat oder Zukunft, Freundestreue oder Flucht. Sein Leben, seine Frau? In Streit und Schweigen sind die Nächte vorbeigezogen.

Dann schleicht sich der Morgen mit dem Gesang der Vögel in ihren Garten, es ist Hochsommer, ein Tag, der aus dem Dunkel gebrochen wird. Ob sie sich diesen Abend wiederfinden werden, ist ungewiss. Carl versucht ein paar Worte, Emma schaut ihn nur an. Eine fast flüchtige Umarmung, drei-, viermal spürt sie seinen Arm in ihrem Rücken, seine Hand auf ihrer Wange. Sie weint nicht.

Wie versprochen hat sie einen Koffer gepackt, damit sie jederzeit das Haus verlassen kann. Im Notfall will sie nach Grunewald zu Wapenaar, dem Freund ihres Vaters, eine Viertelstunde mit dem Rad. Im Notfall: Ihre ganze Existenz ist ein Notfall geworden. Carl und sie haben sich an die Erwartung des baldigen Kriegsendes geklammert. Eines Endes, das Jahr um Jahr verschoben wurde. Jeder spekuliert darauf, jeder ist sich sicher, dass es nicht mehr lange dauern kann. Irgendwann glaubt keiner mehr daran, sogar Trott hat gesagt, dass er nicht weiß, wie es weitergehen soll. Trott! Der Freund, dem sie blindlings folgen und vertrauen, wohin er auch geht.

Mitten im Krieg waren Carl und Adam nach Schweden gereist, in die Schweiz und nach Portugal, neutrale Länder, in denen man sie gleichgültig oder argwöhnisch empfing. Während sie offiziell wichtige diplomatische Kontakte pflegten, hatten sie vorsichtig Verbindung mit den Westalliierten aufgenommen, von wachsendem Widerstand gegen Hitler auch unter den Generälen berichtet und um Unterstützung für den Fall gebeten, dass der Führer endlich beseitigt sein würde. Aber alles war vergebens, man traute ihnen nicht. Widerstand gegen Hitler, wer soll das glauben. Man hielt sie für Fahnenflüchtige, Opportunisten, die rechtzeitig vorsorgen wollten, Feiglinge mit adligen Allüren. Es waren trostlose Reisen durch einen Kontinent in Auflösung.

Mit den Jahren sind Carl und Emma noch mehr zu Außenseitern geworden. Hier in Dahlem, wo man vom Krieg nur sporadisch etwas merkt, könnte man manchmal noch glauben, dass all das Grauen da draußen nicht wirklich ist, dass noch Friede herrscht. In der Hitze des Juli zum Beispiel, wenn in den Gärten die Zeit stillzustehen scheint, keine Soldaten zu sehen sind, keine Bomben fallen. Doch jetzt, in den Tagen nach dem Attentat, bricht der Schrecken noch einmal mit aller Gewalt über sie herein.

Das verfluchte Telefon, das schon den ganzen Vormittag klingelt, das sie durchs ganze Haus und bis in den Garten verfolgt, sie kann ihm nicht entkommen, starrt es an. Es ist nicht der verabredete Code, ich gehe nicht dran, wir sind nicht zu Hause, du kannst anrufen, bis du schwarz wirst.

Um sieben Uhr ist Carl weggegangen, wie üblich. An der Hecke entlang zur Straße, zehn Minuten bis zur U-Bahn, genau um acht war er im Büro, um neun sollte die Sitzung anfangen. Seit zehn Uhr klingelt das Telefon, zehn-, zwanzig-, dreißigmal hintereinander. Warum? Sie irrt sich, es muss Carl sein.

Sie nimmt den Hörer ab, sagt aber nichts, wartet auf die schreckliche oder beruhigende Nachricht, den Hörer in der Hand, das Beil kann jetzt fallen.

»Frau Bielenberg, ich bin’s, Ulla, Gott sei Dank, dass ich Sie erreiche! Man hat Ihren Mann verhaftet, wie alle anderen, Herr von Trott und Ihr Mann sind in die Prinz-Albrecht-Straße gebracht worden. Sie müssen sofort verschwinden, ihr Mann hat gesagt, auch die Angehörigen werden abgeholt.«

Das Beil ist gefallen, der Scharfrichter hat sich in Gestalt einer treuen Sekretärin ins Haus geschlichen.

Emma stammelt irgendetwas, legt auf, will dann zurückrufen, um Ulla zu danken, aber die Leitung ist besetzt. Der Koffer steht bereit, Kleider und Wäsche, ein paar Fotos, Papiere, ein Leben, von dem nicht mehr bleibt als der Inhalt eines Kastens mit einem Griff daran, tragbar und untragbar zugleich. Sie blickt sich um. Das Zimmer mit Aussicht auf den Garten liegt stumm und still vor ihr. Esstisch, Bücherschränke, das Haus ist voll und reglos und unbeschreiblich leer.

Ihr Fahrrad ist glücklicherweise noch in Ordnung. Sie legt den Koffer auf den Gepäckträger, hält ihn mit einer Hand im Gleichgewicht, während sie fährt. Sie fährt genau eine Viertelstunde, mechanisch, durch die idyllischen Alleen von Grunewald, wo der Reichtum wohnt und das Mitläufertum und die Schuld. Wapenaar ist eine Ausnahme, er ist weder reich noch Mitläufer. Verheiratet mit einer Deutschen, Niederländer mit schwedischem Pass, letzte Hoffnung für Tausende Niederländer, die in Berlin nicht mehr wissen wohin, die hier gestrandet sind, unterwegs nach nirgendwo, geflohen vor der Zwangsarbeit in den Fabriken am Stadtrand.

Sie muss ungesehen ins Haus kommen, es ist möglich, dass man Wapenaar inzwischen überwacht. Hinter jeder Kurve erwartet sie einen Kontrollposten, hinter jedem Baum einen Uniformierten. Aber es ist kein Mensch zu sehen, die Alleen sind still und verlassen.

Das Tor steht weit offen, sie fährt das kurze Stück bis zur Haustür, links und rechts Rosensträucher, sie erkennt alles noch vom letzten Mal, vor drei Jahren.

»Emma!«

Adriaan Wapenaar ruft sie vom Garten her, er kommt schnell auf sie zu. »Emma, Vorsicht, geben Sie mir den Koffer, ich helfe Ihnen.«

Seine Frau Elka folgt ihm, die beiden nehmen Emma mit zur Seite des Hauses, wo man sie von der Straße her nicht sehen kann, schließen die Türen des Wintergartens, führen sie zu einem Stuhl.

Wapenaar stellt keine Fragen, er weiß auch so Bescheid, weiß, dass die Jagd auf Verschwörer gegen den »Gottgleichen« eröffnet ist, und ebenso auf ihre Angehörigen und Bekannten. Schon Freunde von Freunden von Freunden sind verdächtig, ein Name in einem Taschenkalender, eine Jahre zurückliegende Verabredung, ein Telefongespräch sind Spuren, denen nachgegangen wird. Der Nachbar, das Dienstmädchen, der Hauslehrer der Kinder, alle stehen unter Verdacht, alle können auf einer Verhörliste landen, alle können irgendwann an der Reihe sein und müssen dann sagen, was die Herren hören wollen. Wapenaar kennt die Methoden des Packs und setzt seine Angst in effektive Sabotage um.

Es sind entscheidende Momente am Tisch der Wapenaars, ein langsames Herantasten an das, was zu tun ist. Wo soll sie hin, wie entkommt sie den Jägern. Es wird beschlossen, dass Emma in einem Zimmer im Obergeschoss bleibt, bis man weiß, wo Carl ist und was mit ihm passiert. Wapenaar sagt, dass sie jederzeit noch bei Verwandten von Elka im Schwarzwald unterkommen kann, in einem Dorf ohne Nazis. Die gibt es noch, Dörfer, in denen man sich hauptsächlich um seine Felder und sein Vieh kümmert und sich aus allem heraushält, so weit das möglich ist.

3

Soll ich Sie ins Bett zurückbringen?«

Emma blickte auf. Wie fremd ihr die dunklen Räume ringsum schon waren. Glanzlos und scheinbar zufällig verteilt standen die geduldig zusammengetragenen oder geerbten Gegenstände im Zimmer, sie hatte sie seit langem nicht mehr berührt, schaute sie nicht mehr an; all diese Dinge, die doch einmal eine Bedeutung gehabt hatten, kamen ihr starr und seelenlos vor. Dinge sind im Grunde wie Menschen, hatte sie früher gedacht, nur dass sie sich einem nicht so leicht entziehen.

»Wie seine ewigen Wunder schützend uns umgeben …«

»Was haben Sie gesagt?«

»Umgeben, beben, dieser Satz reimt sich auf beben, ich dachte, ich hätte ihn vergessen, aber jetzt ist er mir wieder eingefallen.«

Emma sah die Ratlosigkeit im Blick der Pflegerin: Was sollte sie von dieser alten Frau denken, die in Rätseln sprach und doch so klar war? Die weit weg und gleichzeitig ganz nah zu sein schien.

Sie machte keine Anstalten, ins Bett zu gehen. Lauwarme Abendluft wehte herein, oberflächlich betrachtet war sie in Sicherheit, hier gab es nichts Bedrohliches, das sie nicht selbst heraufbeschwor. Sie merkte kaum, dass die Pflegerin in die Küche ging. Sie hörte nur das Echo eines vergangenen Lebens, der Jahre in Leeuwarden, in Berlin, im Schwarzwald, in der Straße, in der sie nun schon seit mehr als sechs Jahrzehnten wohnte. Diese Straße war wie ein Basaltblock in einem Fluss, abgeschliffen, verwittert. Und hier im dritten Stock lebte Emma mit ihren alles überdauernden Erinnerungen.

Ihre Straße. Wann genau hatte sie zum ersten Mal die Wohnung betreten, aus der sie nie mehr ausziehen sollte? Der Krieg war in die Katakomben des Gedächtnisses verbannt, es war das Jahr 1946, überall sah man plötzlich Babys, in der Stadt stand alle hundert Meter ein Baukran. Heiraten, Aufbauen, lautete die Parole. Befreit und gefreit worden waren die Frauen. An Händen und Füßen gebunden, bedeutete das eigentlich. Wie viele Kinder hatte Emma in ihrer Straße aufwachsen sehen. Die Spiele: Murmeln, Fußball mit den Vätern, Seilspringen, Verstecken, stundenlang. Im Sommer kam gegen Abend ein Eiswagen, im Winter schleppte der Kohlenfahrer schwere Jutesäcke in die Keller, und jeden Tag stieg der Bäcker mit einem Korb die Treppen hinauf. In Schlafanzügen liefen die Kinder zu einem Nachbarn, der mit ihnen Gymnastikübungen machte, oder zu einem anderen, der ihnen aus Nils Holgersson vorlas. Die Fünfzigerjahre, eine längst in Stücke gegangene Welt.

Wie ein Gespenst war Emma aus dem Schwarzwald zurückgekehrt, ohne Carl, ausgedörrt von Schmerz.

Die Reise in die Niederlande war schlimmer gewesen als die Bombenangriffe, die sie in Berlin erlebt hatte. Es herrschte Chaos, Banden zogen plündernd durchs Land, sie musste damit rechnen, vergewaltigt oder ermordet zu werden. Mittelalter, der Frieden des Jahres 1945.

Eine allein reisende Frau war eine Provokation. Emma hatte sich die Haare kurz geschnitten, mit Mütze sah sie von Weitem wie ein Mann aus. Ein schöner Mann allerdings, und schöne Männer waren ebenfalls in Gefahr.

Zuerst reiste sie in Richtung Schweiz, weil sie ihren Vater suchen wollte, wurde aber an der Grenze abgewiesen, denn er hatte das Land schon vor Wochen verlassen. Außerdem war sie deutsche Staatsbürgerin, und für Deutsche hatten die Schweizer plötzlich nicht mehr viel übrig.

Die Reise zurück, durch ein Land, unwirtlich wie die Arktis, dauerte drei Wochen, von Basel über Freiburg, Karlsruhe, Trier, erst in einem Bus, dann eingeklemmt zwischen Dutzenden anderer Menschen auf einem überfüllten Lastwagen, mit einem Militärjeep, ein kurzes Stück auf einem Güterzug, vor allem aber zu Fuß, endlose Strecken zu Fuß durch eine verbrannte Landschaft. Emma kämpfte sich weiter, sie musste weg aus Deutschland. Endlich erreichte sie Aachen, ein Meer aus sinnlosen Ruinen.

Unversehrt schaffte sie es bis zur niederländischen Grenze, die der Name ihres Vaters schließlich für sie öffnete: Verschuur, Außenministerium, Widerstand – nach langem Palaver ließ man sie durch. Aber wohin sollte sie? Ihre Mutter wohnte in London, kurz vor dem deutschen Überfall auf die Niederlande war sie nach England gegangen. Nach London zu kommen war unmöglich, außerdem wollte Emma eigentlich nicht zu ihrer Mutter, sie hatte sie schon vor dem Krieg nicht oft besucht. Wo ihr Vater war, wusste sie nicht.

Sie empfand nichts, als sie in Limburg angekommen war, einem Teil der Niederlande, der ihr noch weniger heimatlich erschien als das Land, in dem sie mit Carl gelebt hatte. Carl. Nicht einmal der Gedanke an ihn konnte sie wärmen, sie war innerlich vollkommen erstarrt. Aber der Wille, nicht unterzugehen, war stärker als das Verlangen, sich vor den nächsten Zug zu werfen. So starr und kalt sich ihr Herz auch anfühlte, sie würde leben, überleben, allem zum Trotz.

Nach einem Tag unter Fremden, die einen unverständlichen Dialekt sprachen, beschloss sie, in Richtung Rotterdam zu gehen, nach Gouda, wo die Dudoks, Verwandte ihrer Mutter, eine Fabrik besaßen. Vor dem Krieg hatte diese Fabrik Maschinen in alle Welt geliefert, aber es war nicht unwahrscheinlich, dass sie jetzt in Trümmern lag. Sie erinnerte sich an einen netten Cousin, vielleicht wohnte er ja noch dort. Sie hatte ihre holländischen Verwandten kaum gekannt. Die Eltern ihres Vaters waren früh gestorben, und ihre Großmutter mütterlicherseits, die ihr mehr bedeutet hatte als ihre eigene Mutter, hatte den Krieg nicht überlebt.

Wen oder was würde sie noch vorfinden?

4

Bruno Verweij.«

Einen Moment klingt der Name nach. Sie lauscht dem Klang, sie hört, wie bescheiden der Mann seinen Namen ausspricht, nein, eher wie nebenbei, als wäre er nicht wichtig, als wäre nur ihr eigener Name interessant. Emma steht in einem kleinen Kreis von Leuten, die sich angeregt unterhalten. Der Mann, der Bruno Verweij heißt, ist nicht der Mittelpunkt, trotzdem hat Emma von Anfang an das Gefühl, dass die Gruppe ohne ihn ihren Zusammenhalt verlieren würde. Auf den ersten Blick ist er ganz anders als Carl, und doch ist da eine vage Ähnlichkeit.

»Emma Bielenberg«, sagt sie, wobei sie das g wie im Deutschen ausspricht. Er schaut sie aufmerksam an.

Das Frühjahr 1946 ist kalt. Noch Mitte März liegen an manchen Stellen Schneereste, die Sonne hat keine Kraft, wärmen muss man sich an anderem.

Ihr Cousin Chris Dudok und seine Frau Imke, bei denen sie wohnt, bis sie selbst eine Wohnung und Arbeit gefunden hat, haben sie in ihren Klub mitgenommen.

Ein halbes Jahr ist es jetzt her, dass sie vor ihrer Tür gestanden hatte, einen Koffer in der Hand und die Mütze auf dem Kopf. Ein Standbild und eine Karikatur.

Chris hatte aufgemacht. Seine Reaktion war eigenartig, verwirrend. Er wurde kreidebleich und machte eine Bewegung, als hätte er auf sie gewartet und würde sie in die Arme schließen wollen.

»Erkennst du mich noch, Chris? Ich bin’s, Emma, Emma Verschuur.«

»Mein Gott, Emma! Einen Augenblick dachte ich …« Er machte einen Schritt rückwärts, als wollte er sein Verhalten korrigieren, ungeschehen machen.

Emma wurde aufgenommen wie eine verlorene Tochter. Sie könne bleiben, so lange sie wolle, sie hätten Platz genug, sie sei gerade recht gekommen, sagte Chris fröhlich. Sie bekam zwei Zimmer mit Aussicht auf den Ringkanal und direkt gegenüber das große Eingangstor der Fabrik, Dudoks Maschinenfabrik. All das hatte etwas Unwirkliches, wie ein unscharfes Negativ von einem Foto aus der Vorkriegszeit, nichts hatte die geringste Ähnlichkeit mit dem, was sie in den vergangenen Jahren gesehen hatte. Wenn sie am Fenster stand, aufs Wasser schaute, die Menschen sah, manchmal ein Binnenschiff, das vor dem Fabriktor anlegte, wenn sie die Geräusche von Metall auf Metall hörte, die beim Laden oder Löschen herüberwehten, schien nichts sie zu erreichen.

Im Klub geht es angenehm lebhaft zu. Rund um den Billardtisch finden sich kleine Gruppen zusammen, ständig kommen neue Gäste herein, noch einen Hauch Kälte um die Schultern. Man könnte glauben, es gebe viel zu feiern. Wiederaufbau in einer Provinzstadt, so voller Hoffnung, fast naiv. Der kleine Klub hat die schmutzigen Jahre irgendwie überlebt, endlich ist man die Moffen los, Gott sei Dank. Der Wohlstand ist noch nicht zurückgekehrt, aber das kleine Orchester spielt ganz wie früher, die ersten Sehnsuchtslieder füllen den Saal, die Bridgetische werden besetzt, die Karten gemischt. Jeden Samstagabend gibt es Musik, manchmal wird auch getanzt. Ohne besonderen Anlass, harmloser Übermut.

»Wo wohnen Sie, Herr Verweij?«

»Sagen Sie doch einfach Bruno und du, und darf ich Emma sagen?«

Sie nickt. Eine ebenso schlichte wie freundliche Bitte. In Deutschland wäre bis dahin viel mehr Zeit vergangen, sie kennt diese endlosen Umwege zu ein wenig Vertrautheit.

»In Rotterdam, in einer Straße, in der man den Krieg nur vom Hörensagen kannte. Und du?«

»Praktisch gleich um die Ecke, Regentesseplantsoen, am Kattensingel, bei Chris Dudok.«

»Ich kenne Chris gut, wir sind beide hier aufgewachsen, mein Vater war früher Bürgermeister, muss ich leider sagen. Aber ich fühle mich in Rotterdam wohler als irgendwo sonst. Sechs Jahre in dieser Stadt, in einer ganz gewöhnlichen Straße, und man will nie wieder weg. Gut, das gilt für mich, vielleicht würdest du sofort die Flucht ergreifen.«

Es ist nichts Besonderes, was er sagt, aber es klingt merkwürdig vertraut, sie spürt eine Nähe wie seit langer Zeit nicht mehr. Fast zwei Jahre lebt sie nun schon in einem Zustand der Betäubung, ihr Körper ist ein fremdes Ding, das sie kaum interessiert. Aber in diesem Moment fühlt sie, wie Bruno sie ansieht, so wie nur ein Mann es kann. Manchmal. Ohne Absichten, als eine Art Begrüßung, mit einer gewissen Scheu vor etwas Unbegreiflichem.

Wieder Musik. Er verbeugt sich. Will sie tanzen? Das hat sie seit ihrer Geburtstagsfeier im verdunkelten Berlin nicht mehr getan, Juni 1941, sie weiß es noch genau und will es doch vergessen. Sie antwortet, indem sie sich selbst verbeugt, hakt sich bei ihm ein und lässt sich von ihm zu der kleinen Tanzfläche führen, die wie ein Loch im Eis zwischen den dicht beieinanderstehenden Tischen und Stühlen liegt. Ungläubig staunend bewegen sie sich über das Parkett. So nah ist sie seit Jahren keinem Mann gekommen.

»Ich bin von Kopf bis Fuß«, spielen sie das wirklich? Wie damals, als sie sich mit Carl im Tanz drehte – die Fenster mit schwarzer Pappe verhängt, das Grammophon mit seinem großen Schalltrichter auf einem Bücherschrank, der Gesang von Marlene Dietrich in einem Zimmer voller Freunde. Gespannte Wachsamkeit, weil man das verbotene Lied der verbotenen Sängerin hörte. Nie hatte irgendein Lied so geklungen im Land des Feindes, im Land ihres Mannes.

Hier, wo es so freundlich und gesittet zugeht, klingt es ganz anders. Nirgendwo Gefahr, jemand hat die Fenster geöffnet, um frische Luft hereinzulassen. Plötzlich tanzen Bruno und sie an einem großen Spiegel vorbei, und Emma sieht sich selbst. Sie bewegt sich, offenbar tanzt sie, sie hält jemanden im Arm, den sie nicht kennt, sie ist selbst jemand, der im Arm gehalten wird. Es ist, als würde sie in diesem Spiegel endlich heimkehren. Bruno scheint ihre Verwirrung zu bemerken, er bleibt stehen.

»Möchtest du zu Chris zurück, oder vielleicht etwas trinken?«

Warum sind diese harmlosen Sätze so bedeutungsvoll, oder eher noch rührend?

»Ja, gern, ich habe so lange nicht getanzt. Dazu gehört ein Glas Wein. Rotwein.«

Bruno legt ihr den Arm um die Taille, um sie durchs Gedränge zu lotsen, aber es ist nicht aufdringlich. Sie schaut ihn von der Seite an und sieht, dass er am Ohr einen dünnen Gazeverband hat. Das war ihr noch gar nicht aufgefallen, aber es ist entwaffnend. Der Schönheitsfehler schreckt sie nicht ab, im Gegenteil.

Sie bleiben lange im Klub. Es ist einer von den Abenden, die unbemerkt in die Nacht übergehen und beinahe noch den Morgen antippen. Emma wird ein paarmal von Freunden ihres Cousins zum Tanz aufgefordert. Chris selbst meidet die Tanzfläche, er beobachtet lieber. Emma versucht sich immer wieder in Brunos Nähe zu manövrieren. Unvernünftig, sie kennen sich doch kaum, und im Grunde will sie sein Interesse auch gar nicht wecken, sie ist zu einer Einzelgängerin geworden.

Noch einmal fordert Bruno sie auf. Als der Orchesterleiter den letzten Tanz ankündigt, sucht sich jeder einen Partner, sogar Chris wagt sich mit Imke zwischen die anderen Paare. Bruno, von der Ankündigung überrascht, kommt gerade noch rechtzeitig, um Emma einem leicht angeheiterten Mann wegzuschnappen. Sie sieht, wie er sich mit auffallender Eile einen Weg zu ihr bahnt, tut aber so, als hätte sie es nicht bemerkt, und sagt, ja, sie würde gern noch einmal tanzen. Daraus wird allerdings nicht viel, überall sind Ellbogen und Schuhe, ständig kleine Kollisionen, fast wird man zum Stillstand gezwungen. Seine Hand auf ihrer Hüfte, ihre Hand auf seiner Schulter, eingefrorene Bewegung. Ringsum Lachen, Reden, Leute stolpern, entschuldigen sich, die Musik ist manchmal kaum zu hören, sie wissen nicht, wie spät es ist. Einen kurzen Moment berühren sich ihre Köpfe, spürt sie seinen Ohrverband an ihrem Ohr, und eine lang vergessene Empfindung erregt sie.

Emma ist zu Hause angekommen.