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Christian Geissler

WIRD ZEIT,
DASS WIR LEBEN


Geschichte einer exemplarischen Aktion

Mit einem Nachwort von Detlef Grumbach




Glossar

für Arbeit und Brot Agitatorisches Leitmotiv »in den Elendsjahren nach dem Oktober 1929«. Geissler bezieht sich hier auf die Weltwirtschaftskrise nach dem Börsencrash am 24. Oktober 1929.

Weihnachtsgeschichte Am 25. Dezember 1918 kämpften in Berlin Arbeiter und Soldaten gegen die von der SPD gerufenen Truppen im Gebäudekomplex der SPD-Zeitung Vorwärts. Am 25. Dezember 1918 besetzten rund 500 organisierte Arbeiter das Gebäude der 1876 gegründeten Zeitung der SPD und übernahmen kurzzeitig den Druckbetrieb.

Bullenförster aus Daressalam Am 1. Juli 1919 schickte die SPD die Truppen des Bahrenfelder Freikorps unter der Leitung des Kolonialoffiziers Generalmajor Paul von Lettow-Vorbeck (1870–1964) gegen Hamburger Betriebsräte und Sicherheitswehren. Lettow-Vorbeck trug noch aus seiner Zeit in Deutsch-Ostafrika (heute: Tansania) einen breitkrempigen Uniformhut mit einseitig aufgekipptem Rand, ähnlich den Hüten, die damals hierzulande die Förster trugen.

Hungerdachluken Beim Hamburger Aufstand im Oktober 1923, als die arbeitenden Massen hungerten, kämpften die Revolutionäre zum Schrecken der Weißen klug aus dem Hinterhalt, z.B. aus Barmbeker Dachluken. Der Hamburger Aufstand war eine von der militanten Sektion der KPD in Hamburg am 23. Oktober 1923 begonnene Revolte. Ziel war der bewaffnete Umsturz in Deutschland nach dem Vorbild der russischen Oktoberrevolution 1917. Im Laufe des Aufstands wurden in Hamburg und Schleswig-Holstein insgesamt 24 Polizeireviere besetzt.

Danner Lothar Danner (1891–1960), SPD-Politiker. Er war kommandierender Offizier der SPD-Polizeitruppen gegen Hamburger Arbeiter im Oktober 1923.

Holstenglacis Straße in Hamburg, an der das Untersuchungsgefängnis steht.

Billstedter Jute ›Die Jute‹ im Stadtrandbezirk Billstedt war ­damals in Hamburg eine der größten Manufakturen. In ihr arbeiteten vorwiegend schlecht bezahlte Frauen, die kaum organisiert waren.

rede, Genosse Mauser. Zitat aus dem Gedicht »Linker Marsch« (1918) von Wladimir Majakowski, später vertont von Hanns Eisler: »Entrollt euren Marsch / Burschen von Bord / Schluss mit dem Zank und Gezauder / still da, ihr Redner / du hast das Wort / rede, Genosse Mauser ⁠…« Die Rede ist hier von der Mauser C 96, einer der ersten Selbstladepistolen.

Schupo Schutzpolizei.

Zachun Pseudonym für ein Gutshofgebiet in der holsteinischen Schaalseegegend, wo zur Zeit der Abfassung des Romans noch Eigentümer ihr Zeug gegen wanderndes und badendes Städtervolk absichern mithilfe von Schlagbäumen und Warntafeln: VORSICHT! KEIN BETRETEN OHNE AUFFORDERUNG! STIERE UND WACHHUNDE LAUFEN FREI!

Wandseböschung Im Hamburger Stadtteil Eilbek Parkufer des Flüsschens Wandse, Nebenfluss der Alster.

Dass die Erschießung von Polizisten ⁠… unwürdig Aus Arbeitspapieren der KPD vom Anfang der Dreißigerjahre.

Pöseldorf Quartier im Stadtteil Hamburg-Rotherbaum; Wohngegend der Hamburger Reichen: »Kneipenterrain für die Hamburger Schwätzer aus Presse, Rundfunk und Fernsehen, Spielwiese für den Auftritt von Strafvollzugsführern und dasda-Komplizen.« dasda – Monatsmagazin für Kultur und Politik war eine von 1973 bis 1979 in Hamburg erscheinende Zeitschrift, zu deren Autoren u.a. Rolf Hochhut, Karlheinz Deschner, Rudi Dutschke, Sebastian Haffner, Günter Wallraff, Hubert Fichte und Robert Neumann gehörten.

Mangas, Eskiminzin, Captain Jack Nordamerikanische Prärieindianer. Geissler verweist hier auf das Sachbuch »Begrabt mein Herz an der Biegung des Flusses« (»Bury My Heart at Wounded Knee«) des Schriftstellers und Historikers Dee Brown aus dem Jahr 1970, in dem dieser das Leiden und den Untergang der Indianer Nordamerikas unter der amerikanischen Expansion beschreibt.

Orpo Ordnungspolizei; kaserniert.

Knick Niederdeutsches Wort für Feldhecken.

hauptvollblut und wasistdas Geissler schreibt dazu: »Kurzfassung der Schwerpunkte lutherischer Glaubenslehre.« »O Haupt voll Blut und Wunden« ist ein Kirchenlied, das in seiner heutigen Form von Paul Gerhardt (1607–1676) und Johann Crüger (1598–1662) stammt. »Was ist das?« ist eine zentrale, sich häufig wiederholende Frage im »Kleinen Katechismus« (1529) von Martin Luther, in dem dieser als Einführung in den christlichen Glauben die 10 Gebote, das Vaterunser, das Glaubensbekenntnis und die Sakramente erläuterte.

Kolonialjugend In den Zwanzigerjahren eine Jugendorganisation »zur Pflege kolonialen Gedankengutes«.

im Krieg in Kiel Der Kieler Matrosenaufstand fand Anfang November 1918 – gegen Ende des Ersten Weltkrieges – statt. Auslösendes Moment waren Befehlsverweigerungen auf einzelnen Schiffen der vor Wilhelmshaven ankernden Flotte, zu einer Entscheidungsschlacht gegen die britische Marine auszulaufen. Dies mündete in einer Meuterei mehrerer Schlachtschiff-Besatzungen. Von Kiel aus wurde der Impuls zur Ausbreitung der Unruhen gegeben, die dann zur reichsweiten Novemberrevolution, zum Sturz der Monarchie in Deutschland und zur Errichtung der Weimarer Republik führten.

Sperberclubleute Angehörige des SCS (Sportclub Sperber von 1898 e.V.) in den Hamburger Stadtteilen Winterhude und Alsterdorf.

nach Ostland geht unser Ritt  Anfangszeile eines damals verbreiteten Liedes, vermutlich aus dem Erfahrungsschatz bzw. den Kampfzielen der konterrevolutionären Freikorps.

wir reiten ⁠… zusammengeschart Aus der letzten Strophe des obigen Liedes.

Wehrwolf Der Wehrwolf. Bund deutscher Männer und Frontkrieger war ein nationalistischer und republikfeindlicher, paramilitärischer Wehrverband in der Weimarer Republik. Seine Mitglieder bestanden vorwiegend aus Freikorps-Mitgliedern und Offizieren niedrigerer Dienstgrade. Im Sommer 1933 erfolgte auf eigenen Wunsch die Eingliederung in die SA.

es zittern die morschen Knochen Lied von Hans Baumann (1914–1988). Große Karriere machte der Text ab 1934 in den Organisationen der NSDAP. Er gehörte zu den Standardtexten der Hitler-Jugend und der SA und wurde zum Pflichtlied des Reichsarbeitsdienstes. Ursprünglich wurde in dem Lied »vor dem roten Krieg« gezittert, was dann später aber ins Wehrhaft-Wertfreie umgefälscht wurde auf »vor dem großen Krieg«. Eine Zeile des Liedes, die zuerst »heute, da hört …« lautete, wurde im Nationalsozialismus häufig als »heute gehört uns Deutschland, und morgen die ganze Welt« gesungen.

sechs Jahre Krieg gegen seinesgleichen Der Anglo-Irische Krieg; auch als Irischer Unabhängigkeitskrieg bekannt, dauerte von Januar 1919 bis Juli 1921. Er wurde von der Irischen Republikanischen Armee (IRA) in einer Art Guerilla-Kampf gegen die britische Regierung in Irland geführt. Die IRA, die in diesem Konflikt gekämpft hat, wird oft als »Alte IRA« (Old IRA) bezeichnet, um sie von den späteren Gruppen (mit anderen Gesinnungen) abzuheben, die den gleichen Namen verwendeten. Geissler bezeichnete ihn als »Nationalen Befreiungskampf« und setzte seine Dauer von 1916 bis 1922/23 an.

unstete Fahrt, voller Morden Textstück aus dem Marschlied »Wildgänse rauschen durch die Nacht« nach einem Gedicht von Walter Flex. Die Passage heißt vollständig: »Unstete Fahrt! Habt acht, habt acht! Die Welt ist voller Morden.« Das Lied verbreitete sich zunächst in der Wandervogelbewegung und der Bündischen Jugend, bald wurde es auch von der Katholischen Jugend gesungen, später auch in anderen Vereinigungen sowie der Hitlerjugend, Wehrmacht und Waffen-SS. Nach dem Zweiten Weltkrieg war das Lied bis in die 1970er-Jahre im Schulunterricht weit verbreitet. Das Lied gehört auch u.a. zum Repertoire von Studentenverbindungen und der SJD – Die Falken (Sozialistische Jugend Deutschlands – Die Falken). In der deutschen Bundeswehr und im österreichischen Bundesheer ist es ein beliebtes Marschlied.

Heia Safari ⁠… Askari Anspielung auf das Marschlied der deutschen Kolonialtruppen, dessen Refrain lautete: »… wie lauschten wir dem Klange, dem altvertrauten Sange, der Träger und Askari, heia, heia safari!« Askari ist ein arab.-türk. Wort für Soldat, hier für die schwarzen Mannschaften der weißen Kolonialherren.

Brigadechef Ehrhardt Hermann Ehrhardt (1881–1971) war ein deutscher Marineoffizier sowie antisemitischer, deutschnationaler, republikfeindlicher Freikorpsführer und Putschist während der Weimarer Republik. Anfang 1919 gründete er die sog. Brigade Ehrhardt zur Bekämpfung der revolutionären Bewegung im Nachkriegsdeutschland. Die Brigade nahm am Kampf gegen die Novemberrevolutionäre teil und gehörte später zu den Hauptakteuren des Kapp-Putsches vom März 1920.

und schreiben das einfach so hin Zeitungsdeutsch der SPD um 1929 zur Diffamierung von Klassenkämpfen.

Marliring Straße in Lübeck, an der das dortige Gefängnis steht.

Bluthundregierung Als Anfang 1919 der SPD-Reichswehrminister Gustav Noske (1868–1946) den Oberbefehl über die konterrevolutionären Truppen übernahm, tat er das mit der Bemerkung: »Meinetwegen, einer muss der Bluthund werden, ich scheue die Verantwortung nicht.«

Aby Warburg Eigentlich Abraham Moritz Warburg (1866–1929), dt. Kunsthistoriker und Kulturwissenschaftler. Der Sohn eines Bankiers gilt als einer der bedeutenden Anreger der Geistesgeschichte im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert.

Schönfelderstrahlen So genannt nach Adolph Schönfelder (1875–1966). Der SPD-Politiker war von 1926 bis 1933 Polizeisenator in Hamburg. Geissler vermerkt dazu: »vgl. die Bezeichnung Genscher-Block in Sachen Isolationsfolter; volkstümliche Klarstellung von Zusammenhängen.« Er setzt damit den von 1969 bis 1974 amtierenden Bundesinnenminister Hans-Dietrich Genscher in Zusammenhang mit dem Begriff der »Isolationshaft«, der auf die Haftbedingungen von Mitgliedern der Rote-Armee-Fraktion in den 1970er-Jahren u. a. in der Justizvollzugsanstalt Stuttgart angewandt wurde.

Ohlsdorf Hauptfriedhof der Stadt Hamburg, ein paar Kilometer lang und breit.

Düsseldorfer Geheimgespräche Am 27. Januar 1932 überzeugte Hitler, auf Initiative von Fritz Thyssen, in einer Geheimveranstaltung des Düsseldorfer Industrieclubs die herrschenden Konzernvertreter von seiner kapitalverbundenen ›Revolution‹. In einer Rede am Vortag hatte Hitler wichtige Elemente seines Geschichts- und Menschenbilds und seine Gedanken zum »Wiederaufstieg« Deutschlands vorgestellt. Die Veranstaltung galt lange als ein politischer Durchbruch für Hitler. Sie wird oft als ein Beleg dafür angeführt, die Großindustrie habe massiv zum Aufstieg der NSDAP beigetragen. So schrieb Fritz Thyssen in seinen Memoiren, dass in ihrer Folge zahlreiche Zuwendungen aus der Schwerindustrie in die Kassen der NSDAP geflossen seien.

Ruhrclubverrat Vgl. vorhergehende Anmerkung. In den faschistischen Massenorganisationen, vor allem in der SA, erwarteten vor 1933 viele von Hitler die sogenannte nationale Revolution als eindeutig antikapitalistischen Umsturz. Aus dieser Perspektive war Hitlers Bündnis mit der Schwerindustrie Verrat.

Reichsbananen Spottname von rechts und links für die Angehörigen der Organisation Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold, Bund deutscher Kriegsteilnehmer und Republikaner. Eigentlich eine überparteiliche Organisation, de facto aber SPD dominiert, die in der Weimarer Zeit zum Schutz der Republik gegen »Feinde« von den politischen Rändern agierte.

Abruzzenviertel Volkstümliche Bezeichnung für den Altonaer Arbeiterwohnbezirk Mottenburg. Wohl mit Respekt so genannt nach dem unwegsamen Brigantengebiet in Mittelitalien. Noch in den Siebzigerjahren, so schreibt Geissler, habe man alte Hamburger Arbeiter mit Freude erzählen hören: »Da ging nicht mal mehr die Polizei rein. Da war alles klar.«

Industriekriminelle Hier sind nicht irgendwelche einzelnen Wirtschaftsverbrecher gemeint, sondern ganz prinzipiell und zeitlos die leitenden Masken im kapitalistischen Wirtschaftsprozess, der als ein krimineller verstanden werden muss, insofern er auf Diebstahl und auf der Zerstörung von Menschen beruht.

Testpilot Bertram Hans Bertram (1906–1993), dt. Pilot und Schriftsteller. Von Februar 1932 bis Ostern 1933 unternahm er einen halsbrecherischen Werbeflug mit einer Junkersmaschine für Industriekontakte bis nach Australien. Sein Reisebericht erschien 1933 unter dem Titel »Flug in die Hölle. Mein australisches Abenteuer« im Ullstein-Verlag.

Thüringen ⁠… Sachsen Als 1923 in Thüringen und Sachsen jeweils Koalitionsregierungen aus SPD und KPD gegründet wurden, dachten viele revolutionäre Arbeiter, die KPD mache diesen Schwindel nur mit aus Taktik, um die Arbeiterklasse zu bewaffnen. Aber das war eine Täuschung.

Mansfelderfahrung Trotz der eben erst (Jan. 1921) von der Zentrale der VKPD in einem offenen Brief ausgearbeiteten neuen Linie, nach der Kommunisten mit den Leitungen der Gewerkschaften, der SPD, der USPD und der KAPD (Kommunistische Arbeiterpartei Deutschlands) gemeinsam agieren sollten, und zwar ausdrücklich unter Beschränkung auf den Bewusstseinsstand der Arbeitermehrheit, erhoben sich am 21. März 1921 im Mansfelder Kupferschieferbergbau die revolutionären Arbeiter bewaffnet und in aktiv-erfinderischer Selbstorganisation gegen einmarschierende Polizeieinheiten unter SPD-Kommando. Geissler verweist hier auf: Walter Ulbricht, Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Band 3 (1966) und Karl Heinz Roth, Die ›andere‹ Arbeiterbewegung und die Entwicklung der kapitalistischen Repression von 1880 bis zur Gegenwart. Ein Beitrag zum Neuverständnis der Klassengeschichte in Deutschland, 1974.

K.z.b.V. Kommando zur besonderen Verwendung, Terrorgruppe mit gesetzlichem Auftrag ab März 1933 in Hamburg, mobiles Einsatzkommando im Zuständigkeitsbereich des Gestapodezernats IV 1a unter der Leitung des Polizeioberleutnants Franz Kosa. »Arbeitsziel: Terrorisierung der organisierten Arbeiterschaft, Vernichtung der Kader.«

Leunaschreck In Verbindung mit den Mansfelder Kämpfen (siehe Anmerkung zu Mansfelderfahrung) besetzten Tausende Arbeiter der chemischen Wer­ke in Leuna mit Waffengewalt ihr Werk und verwandelten es in eine Festung gegen die anrückende SPD-Polizei. Der Schreck für diese lag in der Kraft und dem technischen und organisatorischen Erfindungsreichtum der kämpfenden Arbeiter.

Trommler Zigarettenmarke, die damals demonstrativ von der SA und Nazi-Sympathisanten geraucht wurde.

Janhagel Aus dem Niederländischen: Der Pöbel; Ende der Zwanzigerjahre gebräuchliches Schimpfwort in Hamburgs Bürgerpresse für die kämpfende Arbeiter.

Fackeln gabs ja nun reichlich Zeitbestimmte Anspielung auf die Fackelmärsche der Nationalsozialisten in den Wochen nach dem 30. Januar 1933.

Heimannsberg Magnus Heimannsberg (1822–1962) war Polizeikommandeur und wichtiger Vertreter innerhalb der damaligen Polizeigewerkschaftsarbeit. Von 1927 bis zu seiner Amtsenthebung im Jahr 1932 war er Kommandeur der Berliner Schutzpolizei.

vom Noskestamm eine Regierungspflaume Anspielung auf den SPD-Politiker Gustav Noske, vgl. Anmerkung zu  Bluthundregierung.

Lapo Landespolizei; überregionale Polizeitruppe mit Spezialausbildung gegen sich entfaltende Klassenkämpfe. Geissler vergleicht sie mit dem Bundesgrenzschutz.

EK-Offiziere Offiziere, die mit dem Eisernen Kreuz ausgezeichnet waren, also im Ersten Weltkrieg gedient hatten. Geissler vergleicht sie mit Offizieren des Bundesgrenzschutz »mit Nazikriegspraxis«.

Harvestehude Vgl. auch Anmerkung zu  Pöseldorf. Das Reichenviertel an der Alster hatte schon vor 1933 besonders viele Naziwähler. Am Harvestehuder Weg war auch ein Befehlssitz der SA (= Standarte).

ZKH Zentralkrankenhaus, Gefängniskrankenhaus im Gebäudekomplex des Hamburger Untersuchungsgefängnisses.

Wahlanalysen Am 5. März 1933 fanden die letzten Reichs­tags­wahlen statt. Die NSDAP erhielt 17,3 Millionen Stimmen (43,9 Prozent), die SPD und die KPD zusammen knapp 12 Millionen (KPD 4,85). Um die für seine »konterrevolutionären Sonder­gesetze« (Geissler) (Ermächtigungsgesetz) notwendige 2/3-Mehrheit zu erlangen, ließ Hitler die meisten der gewählten KPD-Abgeordneten, trotz allen friedlichen Verhaltens, gleich nach der Wahl verhaften.

wie sie sich selber verraten Originalzitate. Die »stärkste Fraktion« war damals die SPD.

Testpilot  Vgl. Anmerkung zu Testpilot Bertram.

Choral von Leuthen Titel eines im März 1933 uraufgeführten Spielfilms aus der sogenannten Fridericus-Rex-Serie. Es geht in diesem Film um die Verherrlichung einer Führergestalt (hier um Friedrich II. von Preußen), die aus höherer Eingebung gegen alle Vernunft erfolgreich zu handeln versteht.

Obersalzbergwald Berghangterrain oberhalb von Berchtesgaden, die sogenannte Wahlheimat des Führers, in der Hitler seinen »Berghof« erbauen ließ.

Zehn Monate später Die Rede ist von den Tagen nach dem 30. Juni 1934, von der sogenannten Niederschlagung des Röhm-Putsches, einer Säuberungsaktion innerhalb der nationalsozialistischen Bewegung, mit der es Hitler darauf ankam, durch die Vernichtung letzter antikapitalistischer Kräfte in der SA zuverlässige Unterstützung bei der Reichswehr und in den Konzernen zu erlangen.

Hilfspolizisten Angeblich, um die Polizei »bei ihrer schweren Arbeit gegen das marxistische Verbrechertum« zu unterstützen, tatsächlich, um die demokratischen Reste in der Polizei einzuschüchtern und gleichzuschalten, wurde von Hermann Göring die Hilfspolizei gegründet, deren Personal aus den schlimmsten Schlägertrupps von SA und SS »an die vorderste Front« gerufen wurde (vgl. auch Anmerkung zu K.z.b.V.).

nicht der schafft dem Volk Gemeinschaft ⁠… Zitate aus amtlichen Verlautbarungen anlässlich der sogenannten Weihnachtsamnestie 1933, als Tausende der im Frühjahr verhafteten Arbeiter, zerschlagen und verstummt, überraschend aus den Gefängnissen entlassen wurden.

Editorische Notiz

Der Roman »Wird Zeit, dass wir leben« wurde 1976 erstmals veröffentlicht. Die vorliegende Textfassung folgt der Erstausgabe, wurde jedoch sorgfältig durchgesehen und an die neue Rechtschreibung angepasst. Eigentümlichkeiten in Geisslers Schreibweisen wurden erhalten. Im Personenverzeichnis zu Beginn des Buches wurden von Geissler dort nicht erwähnte Figuren in eckigen Klammern ergänzt. Das Glossar war bereits Bestandteil der Erstausgabe, geprägt von einer pointierten Mischung aus Fakten und Standpunkten. Für heutige Leser wurden hier und da die Fakten behutsam ergänzt, die typische Diktion Geisslers wurde aber so weit wie möglich beibehalten.

Einer auf 20 nummerierte Exemplare limitierten Vorzugsausgabe des Buches liegt jeweils ein eigens für diese Publikation angefertigter Originaldruck von Jean-Jacques Volz bei.

Anmerkungen

(1) Alle nicht besonders gekennzeichneten Zitate von Christian Geissler aus: Interview von Detlef Grumbach, 28. Juni 1997.

(2) Zitiert nach Fiete Schulze oder Das dritte Urteil. VAN-Dokumentation 3, bearbeitet von Ursel Hochmuth, Hamburg 1971, S.52.

(3) Ebd., S.18.

(4) Ebd., S.48.

(5) Brief an Christa Rom vom 5. Januar 1975, Nachlass Christian Geissler, Fritz-Hüser-Institut Dortmund.

(6) Schutzhaftbefehl, in Wiedergutmachungsakte Bruno Meyer, Staatsarchiv Hamburg 351-11/37130, pag. 4.

(7) Personalkarteikarte der Hamburger Polizei, Staatsarchiv Hamburg 331-1 II Polizeibehörde II, Signatur 628.

(8) Urteil des Volksgerichtshofs, BArch R 3017/ 8 J 440/35.

(9) Traueransprache von Otto Schönfeldt, Archiv/Sammlung Gedenkstätte Ernst Thälmann, Hamburg.

(10) Alle folgenden Zitate Bruno Meyers sind dieser Aufnahme entnommen.

(11) Deutsche Volkszeitung Nr. 5, 29. Januar 1981.

(12) Protokoll der Vernehmung Meyers durch die Staatspolizei Hamburg vom 16. Januar 1935 (unmittelbar nach der Verhaftung), BArch R 3017/8 J 440/35.

(13) Urteil des Volksgerichtshofs, BArch R 3017/8 J 440/35. 

(14) Protokoll der Vernehmung Meyers durch die Staatspolizei Hamburg vom 16. Januar 1935, BArch R 3017/8 J 440/35; siehe auch die Kurzbiografie Meyers in: Astrid Ley / Günter Morsch (Hg.): Medizin und Verbrechen. Das Krankenrevier des KZ Sachsenhausen 1936–1945, Berlin 2007, S.201.

(15) Urteil des Volksgerichtshofs, BArch R 3017/8 J 440/35. 

(16) Vgl. Herbert Diercks: Dokumentation Stadthaus. Die Hamburger Polizei im Nationalsozialismus, Hamburg 2012, S.19.

(17) Alle Zitate aus der Anklageschrift des Oberreichsanwalts vom 19. Dezember 1935, BArch R 3017/8 J 440/35. 

(18) Die biografischen Informationen folgen den Angaben der Wiedergutmachungsakte Hermann Ernst Hinderks, Staatsarchiv Hamburg 351-11/​32795. Da die Gestapo ihn nicht mehr zur Rechenschaft ziehen konnte, verhaftete sie seinen Bruder Walter Hinderks. Er wurde zu einer Gefängnisstrafe von einem Jahr und drei Monaten verurteilt und folgte seinem Bruder nach der Verbüßung im März 1937 nach Kapstadt (Wiedergutmachungsakte Walter Emil Hinderks, Staatsarchiv Hamburg 351-11/35331).

(19) Die biografischen Informationen folgen den Angaben der Wiedergutmachungsakte Herman Amandus Sanne im Staatsarchiv Hamburg 351-11/​35173.

(20) Helmut Ebeling: Schwarze Chronik einer Weltstadt. Hamburger Kriminalgeschichte 1919 bis 1945, Hamburg 1980.

(21) Ebd., S.264–274.

(22) Johannes Fülberth: »… wird mit Brachialgewalt durchgefochten«. Bewaffnete Konflikte mit Todesfolge vor Gericht. Berlin 1929 bis 1932/1933, Köln 2011, S.42.

(23) Vgl. Sven Kramer: Die Subversion der Literatur. Christian Geisslers »kamalatta«, sein Gesamtwerk und ein Vergleich mit Peter Weiss, Stuttgart 1996, S.30.

(24) Vgl. ebd., S.388.

(25) Christian Geissler: kamalatta, Berlin 1987, S.220.

(26) Friedrich Lux war bis 1933 Mitglied der Hamburgischen Bürgerschaft und Mitglied der Bezirksleitung Wasserkante der KPD. Er wurde am 25. Juli 1933 verhaftet und erlag am 6. November 1933 den Folgen der Verhöre und Folterungen. Siehe Ursel Hochmuth/Gertrud Meyer: Streiflichter aus dem Hamburger Widerstand 1933–1945, Frankfurt am Main 1980, S.252.

(27) Protokoll der Vernehmung des Polizeiwachtmeisters Bruno Meyer am 16. Januar 1935, BArch R 3017/8 J 440/35. 

(28) Verfahrensregister des Oberlandesgerichts Hamburg, Staatsarchiv Hamburg: 213-9, Verfahrensregister 1934.

(29) Anklageschrift des Oberreichsanwalts vom 19. Dezember 1935, BArch R 3017/8 J 440/35.

(30) Protokoll der Vernehmung Sannes durch die Staatspolizei Hamburg am 16. Januar 1935, BArch R 3017/8 J 440/35.

(31) Protokoll der richterlichen Vernehmung Sannes in Hamburg am 23. April 1935, BArch R 3017/8 J 440/35.

(32) Im Namen des Deutschen Volkes. Urteil des 1. Senats des Volksgerichtshofs gegen den bisherigen Polizeiwachtmeister Johann Franz Bruno Meyer vom 26. März 1936, BArch R 3017/8 J 440/35.

(33) Siehe Astrid Ley / Günter Morsch (Hg.): Medizin und Verbrechen. Das Krankenrevier des KZ Sachsenhausen 1936–1945, Berlin 2007, S.338 f.

(34) Protokoll der Landesvorstandssitzung am 13. Mai 1950, SAPMO BArch BY 1 808, pag. 204 f.

(35) Die Darstellung folgt im Wesentlichen Jörg Berlin: Willi Prinz (1909–1973). Ein Vorsitzender der Hamburger KPD als Opfer des Stalinismus, in: Zeitschrift des Vereins für Hamburgische Geschichte Band 96/2010, S.101–139 sowie Uwe Klußmann / Michael Wildt: »Schließt fester die Reihen!«. Zur Politik der KPD in Hamburg zwischen 1948 und 1953, in: Beate Meyer / Joachim Szodrzynski (Hg): Vom Zweifeln und Weitermachen. Fragmente der Hamburger KPD-Geschichte. Für Helmuth Warnke zum 80. Geburtstag, Hamburg 1988, S.111—125.

(36) Protokoll von der Landesvorstandssitzung am 13. Mai 1950, SAPMO BArch BY 1 808, pag. 245.

(37) Protokoll von der Sekretariatssitzung am 22. Januar 1951, SAPMO BArch BY 1 814, pag. 33.

(38) Protokoll von der Sekretariatssitzung am 27. März 1951, SAPMO BArch BY 1 814, pag. 120.

(39) Protokoll von der Sekretariatssitzung am 8. September 1951, SAPMO BArch BY 1 814, pag. 294 sowie 306 f.

(40) Persönliche Notizen von der Sekretariatssitzung am 20. April 1952, SAPMO BArch BY 1 815, pag. 286–291.

(41) Protokoll von der Sekretariatssitzung vom 8. Mai 1952, SAPMO BArch BY 1 815, pag. 324.

(42) Protokoll von der Sitzung der Landesleitung vom 17. Mai 1952, SAPMO BArch BY 1 810 pag. 284, Beschluss: pag. 298.

(43) Vgl. Traueransprache von Otto Schönfeldt, Archiv/Sammlung Gedenkstätte Ernst Thälmann, Hamburg.

(44) Heinrich Böll: Blank wie ein Stachel, Die Weltwoche, Zürich, 16.3.1977.

(45) Martin W. Lüdke: Von der Kraft des Widerstands, Die Zeit, Hamburg, 12.11.1976.

(46) Heinrich Vormweg: Eine Jeanne d’Arc der Roten, Süddeutsche Zeitung, München, 9.12.1976.

(47) Ebd.

(48) Brief an Ruth und Bruno Meyer vom 8. November 1975, Nachlass Christian Geissler, Fritz-Hüser-Institut Dortmund.

(49) Brief an Christa Rom vom 25. Februar 1975, Nachlass Christian Geissler, Fritz-Hüser-Institut Dortmund.

(50) Peter Schütt: Literarische Verzweiflungstat, Die Tat, Frankfurt, 12.11.1976.

Impressum und Copyright

Erste Auflage

Verbrecher Verlag Berlin 2013

www.verbrecherverlag.de

© Verbrecher Verlag 2013
Einbandentwurf: Sarah Lamparter
Lektorat: Kristina Wengorz
Satz und Ebook-Umsetzung: Christian Walter

ISBN Print: 978-3-943167-19-1
eISBN EPUB:  9783943167580
eISBN Mobipocket: 9783943167597


Der Verlag dankt Doris Mall, Gloria Reinhardt und Philipp Schäfer.

INHALT

IDie nicht überraschende Gefangensetzung eines leitenden Genossen zum Zwecke seiner Vernichtung. Der Gefangene hat Durst. Sein Durst wird gestillt.

– Vorläufige Erinnerung

II  Von verschiedenen Seiten her, aus elenden Jahren zurück, die allmähliche Anreise dreier Genossen an den Ausgangspunkt ihrer gemeinsamen Vorbereitungen zur Befreiung eines Gefangenen. Widerstände und Umwege. Es wird gelitten. Könner setzen auf Rot. Das führt zu Vernunft, Zärtlichkeiten und Faustfeuerwaffen. Viele bezahlen mit ihrem Leben. Deckadresse Speckstößergruben.

– Pferdehaarschlingen und Stadtparkmond

– Blinzeln

– Banditenleben

– Mündungsfeuer

– Aufschlag

– Hunger und Kränkung

– Ganterschatten

– Ruhe stiften

– Wachsam bleiben

– Atem an Atem

– Kampftänze

– Alles Verwandte

– Feuer frei

– Fäuste auf den Ohren

– Krieg

– Nicht hinlegen

– Friedensordnung

– Fallen stellen

III  Ein Junker von Junkers landet für Junkers auf der Wiese im Grunde des Strudels. Wer das Gras zwar grün, die Wurzeln aber blutrot sieht, steht vorläufig noch allein. Das darf nicht lange so bleiben. Keiner von uns hat viel Zeit. Die Befreiung von Gefangenen wird vorbereitet. Wer Befreiung verhindern will, lebt gefährlich. Gelaber in Sachen Gewalt findet nicht statt. Die Zustände selbst sind Gewalt. Auch die Frage nach den Massen erweist sich als Müll. Sie verschüttet nur die Frage nach dir selbst. Manche möchten auf diese Frage lieber nicht antworten. Manche möchten lieber tot sein als leben. Manche freuen sich auf Weihnachten.

– Mörderwochen

– Trau schlau wem

IV Weihnachtslandschaft mit Menschen und Mördern. Kein Heiland reißt den Himmel auf. Nur Genossen befreien Genossen. Arbeitstakt der Befreiung. Schwarzer König ballt Thron aus Stühlen. Wo was los ist, da sind auch Matrosen im Bild. Kerzenflimmer und fliegende Messer. Die Orgelratte beißt gelb. Federchentod und ein Berg aus Licht. Genossen brechen zur Arbeit auf. Jetzt, sofort.

– Weihnachtslandschaft

– Frohes Fest

Zeit: zum Beispiel 1923–1933

Plätze: Hamburg, Holstein, Berlin

Leute, wie sie im Verlauf der Geschichte nach und nach auftreten:

Schlosser, geb. 1894, Parteiarbeiter

Leo Kantfisch, geb. 1911, Schüler, Polizist

Pudel, geb. 1912, Straßenmädchen

Herr Alex, geb. 1893, Gutsherr

Karo, geb. 1912, Knechtetochter, Büchsenmacherlehrling, Zeichenbürohilfskraft

Jonny (Großvater von Karo), geb. 1850, Fischerknecht

Baronin (Mutter von Herrn Alex), geb. 1870, Gutsherrin

Wächter, geb. 1880, Pastor

Rigo, geb. 1907, Bäckerlehrling, Hilfsarbeiter

Hanneken (Mutter von Karo), geb. 1896, Küchenhilfe im Schloss von Herrn A.

Krischan Pietsch, geb. 1900, Lehrer

Theophil Schmüser, geb. 1890, Büchsenschmied, später Kirchen­diener

Leutnant Ratjen, geb. 1895, Bandenchef

Opa Friedrich (Vater von Leo), geb. 1870, Arbeiter in einer Buchbinderei

Willi Kantfisch ­(»Meuterwilli«), geb. 1890, toter Bruder von Leo

Ella Kantfisch (Witwe von Willi), geb. 1893, Hausmeisterin in Weiden­allee, ­später Jutearbeiterin

Ilona Witt, geb. 1920, Nachbarskind von Leo K.

[Markward Benthin , geb. ?, Buchhändler]

Schwarzen Hamburger (Roten Hamburger, Jesus), geb. 1907, arbeits­loser See­mann

Kuddel Mäuser, geb. 1897, Krankenpfleger

Jimmy, geb. 1904, Ire, Bankassistent

Krosanke (Vater von Schwarzen Hamburger), geb. 1870, Kleinbauer

Fiete Krohn, geb. 1902, Dreher

Adelheit Witt (Mutter von Ilona), geb. 1902, Plättmädchen

Emmi, geb. 1904, Arbeiterin

Ole Olsen, geb. 1901, Polizeikollege von Leo K.

Balthasar, geb. 1910, Polizeikollege von Leo K.

Meier, geb. 1890, Polizeiausbilder

Schwalm-Böhnisch, geb. 1890, Lehrer auf der Polizeischule

Atsche, geb. 1910, Polizeikollege von Leo K.

Klinsch, geb. 1900, Zuhälter

Sophie Kasten (Mutter von Rigo), geb. 1877, Hilfsarbeiterin und Bedienung

Alma, geb. 1900, Wirtin in Altona

Alfons, geb. 1910, Arbeitsloser

Jupp, geb. 1910, Arbeitsloser

Evchen Rühmel (Frau von Krischan Pietsch), geb. 1910, Sekretärin im Unter­suchungs­gefängnis

Max, geb. 1900, Taxifahrer

Inge, geb. 1915, Buchladenangestellte

[Herr Moritz, geb. 1874?, Polizist]

[Frau Moritz, geb. 1878?, Frau von Herrn Moritz]

Maja, geb. 1913, Straßenmädchen

Pia Maria, geb. 1900, Straßenmädchen

Gerd, geb. 1900, Journalist

Richter, geb. 1900, Bandenchef

Gustav, geb. 1870, Arzt

Liesbeth (Frau von Schlosser), geb. 1897, Arbeiterin

Lottchen (Mutter von Schlosser), geb. 1868, Grünhökerfrau

Wachtel, geb. 1910, Schließerin im Untersuchungs­gefängnis

Blondi, geb. 1900, Psychiater in den Altersdorfer ­Anstalten

Emo Krüger, geb. 1913, Koch

Ausgangspunkt:

In einer Veröffentlichung der VAN (Vereinigung der Antifaschisten und Verfolgten des Naziregimes) aus dem Jahr 1971 gibt es den Hinweis auf einen Hamburger Polizisten, der, 1933/34 eingesetzt als Wachmann für das Untersuchungsgefängnis, versucht hat, politische Gefangene zu befreien. Ich fand diesen Hinweis so wichtig, die Vorstellung von einem Schließer, der es lernt aufzuschließen, so beispielhaft, dass ich hier weiterarbeiten wollte.

C. G.

hohenholz dez 1974

I

Vorläufige Erinnerung

Als sie an jenem Ostermontag aus dem Schatten der Höfe, aus der Deckung all dieser Gesichter bewaffnet über ihn herfielen, war er nicht überrascht, hatte gegen sie aber nichts in der Hand. Er war ein Mann aus der Leitung, fast vierzig Jahre alt, zwanzig Arbeitsjahre als Schlosser im Dock, Arbeiterkampfjahre bis jetzt hierher, leere Hände, nach hinten gedreht, ins Eisen, für Arbeit und Brot*.

Er war nicht überrascht. Er kannte die Straßen. Sie fuhren zum Stadthaus. Er lief ihnen an der Kette die Stadthaustreppe hinauf, an der Kette durch kleine Büros, an der Kette bis an den Stuhl. Dort solle er, sagten sie, nachdenken »bis du tot bist«, und verließen die Zelle, in Eile, polternd.

Er horchte ihnen nach. Er war überrascht von ihrer Angst. Er hatte jetzt plötzlich Durst.

*

Schlosser war der aus der Weihnachtsgeschichte* am wassergekühlten Maschinengewehr, hinter Zeitungsballen und Pissbudeneck, mit pflaumigem Homburger auf, nur dass Berlin seine Stadt nicht war, sondern Hamburg, Türme und Masten, Arbeit und Kinder und Stehbier und Kampf: vom Arbeiterrathaus bewaffnet gegen den Bullenförster aus Daressalam*, paar Jahre später aus Hungerdachluken* gegen die Ordnungspanzer von Obertier Danner*, nicht unser Ober, nicht unser Panzer, nicht unsere Ordnung, bloß unser Hunger, und klar auch erst mal den Knast aufreißen, los komm, ja, du auch, aller Anfang ist Knast, also weg damit, lachen, endlich mal rot und nicht tot, in all diesem Krieg von Holstenglacis* bis Billstedter Jute*, rede, Genosse Mauser*.

Er richtete sich streng auf. Er wusste aus seiner Kindheit, dass er nicht hatte einschlafen können, solange das Trinkgefäß im Kanarienbauer nicht regelrecht eingehängt saß, sondern achtlos, in Eile, verklemmt. Achtung, Richtung, Ordnung. Regel und Recht. Auch hatte er nur mit Widerwillen an seiner Schulaufgabe weitergearbeitet, sobald ein Fehler, auch nur ein Verschreiber passiert war. Auf einer neuen Seite sofort, am liebsten kariertes Papier, aber woher für Arbeiterschulkinder all das Geld, pass besser auf, »pass bloß auf!«: Ordnung als Drohung und als Beschämung noch überall hinter der Ordnung. Und irgendwann willst du das selbst. Wasser verschluckt dich, treibt weg, lockt dich runter in offene Arme, in alles verhextes Glück, fließt also nützlich nur zwischen Mauern nach Maß, aber nach wessen Maß.

Er war bemüht, für dieses letzte Stück Weg alles Fragliche abschließend klarzustellen, richtigzustellen, sicherzustellen, möglichst kühl festzustellen. Aber der brennende Durst, die leeren Hände im Rücken, die Beine im Gittermuster all dieser Fenster. Draußen waren Sonne, die Stadt, das Wasser. Die Stadt aber glatt und matt.

In der Hitze unter der Zellendecke glitten unhörbar Fliegen im Schwarm, wehten zart zueinander hin, stießen weg voneinander in rasendem Zickzack, wozu, und wie viele sind das, er suchte die richtige Zahl, er würde dann sicherer schweigen, nachdenken, bis du tot bist.

Wann fängt dein Sterben denn an?

*

»Unsern Tod bestimmen wir selbst.«

Das hatte ihm Schupofips* Leo gesagt. Der hatte die letzten Jahre, auf Zeit, mal Wachdienst im Stadtteil St. Georg gehabt, den mochten sie gern, trotz Schlagstock und Blaurock, den fanden sie alle so lieb und fein, und auch fuchsig gelernter Mann, der Rekrut, mit beinah schon mal Abitur gemacht, und selbergebauten Negertrommeln, »und kannst dich trotzdem auf ihn verlassen«, »mach klar, Leo, dass sie den Schlosser nicht fangen!«, und war ihm auch meistens geglückt.

Und Pudel lacht ihn sich an und legt ihn sich griffig zurecht, kostenlos, sonst steht sie Hansaplatz, für meistens nur Bessergestellte. Und kommt bei ihm zärtlich ins Hemd. Und stolziert danach wippend um Schlosser. Aber Schlosser fasst Nutten nicht an.

Vielleicht auch nur wegen Bürobeschluss. Denn das Lachen von Pudel, der Schönsten vom Kiez, war der Leitung verdächtig gewesen, »unser Kampf ist kein Witz und bestimmt keine Zote«. Aber doch auch kein Schulstundentag mit Gradesitzen und Eckestehen, wenn du am liebsten mal lachst. Sie hatten sie in die Ecke gestellt. Und Pudel hatte zu ihnen gesagt, dass Genossen was mit Genießen zu tun hat, »sonst alles bald bloß nur noch Krampf. Klar kann man dem Kantfisch trauen«. Sie trauten ihr nun erst recht nicht mehr. Leo Kantfisch war Polizist. Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser – als gar nichts. Also fast nur noch Kontrolle. Wo sind wir selbst? Da fängt dein Sterben schon an.

Schlosser hatte mit Leo unlängst noch nachts über Frauen gesprochen, im Hausflur Danziger Straße. Geruch aus den Abfalleimern, das Abstellen und das Spielen von Kindern der Eigentümer, die schwache Bewegung der Tabakglut. Draußen die Razzia nach Maß, nach wessen Maß, Waffenträger schlägt Zettelkleber, schlägt diesmal haarscharf daneben. Pudel hat lachend aufgepasst, trotz Verbot noch lange nicht tot, hat den Schlägertrupp rechtzeitig durchgepfiffen an alle, »sowas macht die aus Spielerei«, »lach du doch auch«, »das ist keine Frau«, »und wir hier bei Nagel und Blohm und Danner, ihr verkauft euch doch jeden Tag auch«, »aber nicht so«, »nur jeden Tag euer Leben«, »unser Leben ist die Partei«.

Schlosser hatte sich paar Stufen höher gesetzt als der Schupo, besseren Überblick durch die Flurfensterklappe, »bei der Frau muss man Angst haben, dass du dich ansteckst«, Leo drehte sich nach ihm um, »mitten im Dreck dein Stück saubere Ordnung. Hast Angst vor den Menschen, Schlosser«.

Da fängt dein Sterben dann an.

Er saß nun leer für sich selbst, aber wer, aber ich, aber was, aber nichts in der Hand, aber wir, aber wann, aber jetzt, aber alles entrissen, trocken und taub. Nicht mal mehr endlich noch Blut in deinen hängenden Fäusten. Was haben wir falsch gemacht?

*

»Mitten im Krieg dein Kampf ohne Waffen. Das darfst du nie machen.«

Das war vor sechs Jahren das Knechtemädchen im Gutswald derer von Zachun*, der Herr Alexander nannte sie Karo, zärtlich mit seiner Peitsche gegen den Hass dieses Kindes.

»Wir könnten ihn fangen. Die sagen, ich bin seine Tochter. Er soll uns alles bezahlen. Und dann paar Steine am Hals. Das Wasser dort draußen ist tief.«

»Wir sind keine Mörder.«

»Jonny sagt, ich bin ein Indianer. Wir sagen, im Schloss sind die Weißen.«

»Wer ist Jonny?«

»Der Vater von meiner Mutter. Die hilft in der Küche. Die könnte auch Feuer legen, wenn wir das wollen.«

»Wir dürfen nichts provozieren.«

»Rede nicht wie die Weißen. Dann versteh ich dich nicht.«

Das Mädchen hielt gegen ihn starr seinen Kopf gesenkt, aber die Hände als Fäuste.

Auf so einfachen Hass, auf die Schönheit einer so selbstständigen Gewalt war er nicht mehr gefasst, erst recht nicht hier oben in Herrschaftswäldern über all diesen Seen. Er war mit dem Fahrrad im Auftrag der Leitung für Tage und Nächte dort draußen in Scheunen und Hütten, trotz Regen im Hemd und Dreck an den Beinen und Hunger, die Augen scharf auf, den Kopf klipp und klar gegen Waffen gerichtet, die hier im Gelände der Eigentümer als Übungswaffen im Einsatz waren für deren Innere Sicherheit, für heimliche Truppen gegen die Stadt, Häuserkampf um Schafstallmauern, Vorhaltegrad zwischen Raps und Lupinen, die Ziegelei als rote Fabrik, die Baronin als Krankenschwester.

Er hatte alles notiert.

In der letzten Nacht saß er heimlich im Häuslerwinkel bei Karos Mutter und Jonny, »die drüben damals, die Roten gegen die States, die konnten nicht schreiben, die hatten nichts für Notizen und Zeitung, die haben niedergestochen und ausgebrannt und vernichtet«.

»Warst du selber dabei?«

»Nicht bei den Weißen. Und auch schon bald sechzig Jahre vorbei, inzwischen.«

»Und die Roten drüben sind jetzt an der Macht?«

»Alles vernichtet. Alles nie einig gewesen. Alles dann doch noch geglaubt, und Briefe geschrieben von weißen Agenten, und Verträge gemacht mit dem weißen Vater. So dumm bist du auch schon bald, sieht man.«

Der Alte stieß seine Tochter an, die junge krumme Mutter des Mädchens, »sag ihm mal, was er hier aufschreiben soll«.

»Dass wir sie in die Scheune treiben, und Steine vors Tor bis an den Hals, und dann lebendig verbrennen.« Sie kam um den Tisch an Schlosser ran, packte ihn mit ihren grauen Fäusten an beiden Ohren wie einen Sohn, sie war im Stehen vor ihm noch kleiner als er im Sitzen, »komm, Karo, bring ihm mal Schnaps, dann schreibt er nichts mehr und bleibt er bei uns, und morgen machen wir Feuerchen an, morgen ist Sonntag, den Wächter gleich mit, den Pastor, den kleinen, geputzten!«

Er fuhr noch nachts, mitten im Regen, dort weg. Das Mädchen, das besser die Wege kannte als er, kam am Dorfausgang stumm auf ihn zu. Es war so dunkel, dass man glauben konnte, er hätte sie nicht gesehen, so laut der Sturmregen in den Buchen gegen die elende Wut ihrer noch kindlichen Stimme.

*

Schlosser ließ den Kopf weit nach hinten sinken über die niedrige Lehne, über die leeren Hände, hing da mit offenem Mund, als könne er jetzt noch von irgendwoher Regenwasser auffangen. Aber saß schon viel früher gefangen. Neulich zuletzt doch schon auch, noch mitten unter Genossen.

Die andern hockten am Boden, den Rücken zur Wand, er selbst, als Leitungsmann, mittendrin auf dem einzigen Stuhl, den es gab, erst ein halbes Jahr war das her, in der Nacht nach dem zwölften Oktober, im Versteck am Kanal, Wasser fließt nützlich nur zwischen Mauern, wer hat was von Waffen gesagt, wir, wer seid ihr, so einer wie du, dann gelten für euch die Beschlüsse doch auch, wo macht ihr Beschlüsse, wer ihr, wer wir, wer wen, diese Frage als Riss durch all unsern Kampf, pass bloß auf.

Nämlich gleichzeitig in der Billstedter Jute Streik: gegen Spitzel und Waffen der Eigentümer im Firmengelände, gegen den Rausschmiss von Arbeiterposten, die diesen Dreck aufgedeckt hatten. Und die Posten, die sollen bleiben. Und sollen nicht wehrlos bleiben.

Die Leitung, vom Stadtkern her, hatte zur Unterstützung der streikenden Stadträndler aufgerufen. Ein Treffpunkt, halb nachts, war die Eilbektalhütte gewesen, drei Jungarbeiter im schwarzen Frühdunst der Wandseböschung*. Das Gebimmel von drüben Versöhnungskirche nützt aber niemandem mehr. Ein Polizist, der uns angreift, bleibt tot in der Nässe der Hecken. Die drei flüchten weg vor dem eigenen Schreck in den Schutz von Genossen. Aber »wo habt ihr das her, das ist Provokation, das stützt die Interessen des Gegners«.

Am schlimmsten für ihn, nach Schreck und Hecken und Dreck, war die Freude in ihren Gesichtern, dieser Schatten von Glück, »ihr seid doch nicht, was die oben gegen uns sagen und schreiben«.

»Doch, noch besser vielleicht, noch viel schlimmer am besten, sonst kommt unser Kampf ja nie durch!« Rigo hatte das langsam und finster runter zwischen die Knie gebrummt. Vom Stuhl her sah man nicht sein Gesicht.

»Rück die Walther raus, die muss weg aus der Stadt, mit Kurier, noch heute Nacht.«

»Die bleibt hier. Die ist gut. Die brauchen wir noch. Halt die Pfoten weg, Stuhlmann!«

Karl Ludwig Kasten nannten sie Rigo, zwei Zentner knochig groß, schon fünfundzwanzig in diesem Herbst, schon über drei Jahre arbeitslos, wer arbeiten will, der findet auch was, »ich hab was gefunden, das geb ich nicht her«, seine Boxcalfjacke hatte Gewicht, nicht nur vom Regen, mattschwarz innen links runter, die Waffe nah an der Haut. Sonst redete er nicht viel. Nur das Lachen vom Bullenbeißer, endgültig herrenlos.

Schlosser richtete sich streng auf, sagte, er sei jetzt bemüht, alles Fragliche möglichst klar richtigzustellen, sicherzustellen, kühl festzustellen. Die Jungen lachten ihn aus, »hier wird jetzt was locker gemacht, und fest steht bald nicht mal dein Küchensofa, lauf mal schnell hin, Mutti will ficken«, sie hörten ihm gar nicht mehr zu.

Aber eng, denn seine Trauer ließ er nicht zu, entschlossen, denn seine Fragen würden jetzt nur den Verfolgern nützen, und als ein Mann aus der Leitung, denn wer bist du selbst, sagte er ihnen ­dennoch all das, was sie als seine Genossen längst hätten nachlesen können: dass die Erschießung von Polizistennur freches Abenteurertum sei, nichts Verbindendes gäbe es da zur Gesamtpolitik der Partei, die vielmehr, in Einschätzung aller Faktoren, aufrufe zur proletarischen Einheit, Zusammenfassung der Kräfte von unten, im Kampf gegen Bourgeoisie, Agenten und Provokation, letztendlich also zu fordern sei Stärkstinitiative, Millionenfront, vorrangig Abwehrkampf Lohnraub, nach außen sie also zwar unauffällig, tatsächlich aber ganz klar nur Kämpfer zu sein hätten voll Selbstbeherrschung und Mut, eiserner Disziplin und Bescheidenheit, mühevoll in den Betrieben und Straßen die Kleinarbeit klug verrichtend, denn die Lage erfordere, schöpferisch neu, Taktik und Strategie, das Kräfteverhältnis im Auge, und in gleichzeitig unversöhnlicher Abrechnung mit den Sektierern das Bündnis der Fortschrittskräfte gewinnend, das Rundschreiben des Parteivorstandes, die Verhandlungen der Bezirksformation, die angeordneten Maßregeln, die Kongresskonferenzen von Delegierten der Einheitsausschüsse, die aktivsten Komiteemitglieder der antifaschistischen Front, die Delegierten und Delegationen des Reichseinheitsausschusses, deutlich mit Vorrang, den Auftaktakt für die antifaschistische Kampfwoche Rettet die Demokratie über Sichtbereich Arbeiterklasse hinaus, sich einzureihen, unablässig, mit Anträgen und Protesten. »Angesichts solcher Aufgabenfülle, Genossen, ist das Vorhandensein linker Strömungen gegen die Massenarbeit der Partei eine ernste Gefahr, das Entstehen von terroristischen Gruppen, die Praxis von Einzelterror, die Durchführung sinnloser Einzelaktionen unerträglich und falsch und überaus schädlich. Jede Duldung und etwa Verfechtung ist vollkommen unzulässig. Wer sich vom Feind das Verhalten diktieren, von seiner Verzweiflungsstimmung sich mitreißen lässt, ist des Namens eines Genossen unwürdig.« Er konnte die Schrift auf dem Handzettel kaum noch erkennen.

*

Er konnte im Rücken die festgeketteten Hände kaum noch bewegen. Es war dunkel. Er fand sich mit Rigo allein. Die anderen hatten das Zimmer verlassen.

»Komm, Schlosser, trink was, hast Durst.«

Er suchte noch immer die richtige Zahl.

»Das sind mehr, als du denkst.« Rigo bückte sich vorsichtig über den Stuhl, »willst das für alle fertig machen und leiten, aber wer sind die, was wollen wir selbst?«, rieb ihm die Haut an Gesicht und Hals, schlug mit den riesigen Händen den hängenden Kopf sanft hin und her, »was habt ihr vor denen Angst? Vielleicht sogar du vor dir selbst«.

Sie sahen sich an.

»Steh mal auf!«

Der Stuhl hing nun frei. Rigo versuchte, ihn zu zertreten. Aber »das hängt alles an dir dran. Mach das selbst!«. Das Holz brach über die Kanten, brach ihm beinah die Hand. Aber »das muss, weil bloß aus Leitung kriegst du nie richtigen Kampf. Aber aus richtigem Kampf kannst du jedes Mal auch mal die Leitung kriegen«.

Unten lag finster die Stadt, glatt und matt, aber auch Schweigen und Schrei. Er war nicht mehr überrascht von der Angst seiner Mörder, war aufgestanden, den Stuhl im Rücken an leeren Händen, das Gitter noch im Gesicht. Konnte aufstehen und Genossen erwarten, die er nicht kannte.

Krieg

Sophie weiß aber, das weiß man ja längst, viel mehr, als Schlosser so meint, und macht ihn nun munter, bringt weg von Papier, alles Krieg bis Billstedter Jute, und sagt ihm, »da werd ihr gebraucht, da ist sonst bald alles egal und vertrickst, schick mal dein Stamm auf die Straße!«.

Schlosser mag längst seit den Regenhemdnächten im Busch von Zachun von Indianern nichts hören, »wir reißen hier keinem die Haare ab«, »ich weiß wohl, mein Jung, bloß schön Friedenspfeife«, das war mit Hanneken damals im Spaß, aber jetzt hier redete Sophie Kasten, Delegierte vom Jutestreikrat, das hat Schlosser gar nicht gewusst, »und ich denk, du bist mehr so auf freier Wildbahn, und Rot alles nur für Büro und Bekloppte«, »hat alles schon reichlich Kloppe gekriegt, und da stehst du dann besser vielleicht mal als Stamm«. Schlosser fing plötzlich zu lachen an, das tat er fast nie, das war neu, das war gut, das war Krieg, den sie beide verstanden hatten.

Sophie macht Lagebericht: Der freie Streik in der Billstedter Jute gegen Gifte und Lohnabbau hatte nicht nur die Gewerkschaftsbonzen als Zuhälter, Hinhalter, Herrschaftsverwalter klar rausgestellt in den Wind, sondern nun auch den Werkschutz entdeckt als Waffenbüttel und Spitzel, das war nun von allen Kollegen gepackt: Aus Werksicherheitsdiensten, sie kannten die Schnauzen, kamen Schläger und Lügner ins Blauzeug geschleust, aus Freikorpsresten und Stahlhelmcliquen Scheinproleten, nur für Verrat, »und alles mit Püster und auf Befehl, und wir? Wo ist das Depot!«.

»Rede mal erst mal noch fertig.«

»Bin ich schon alles, bloß alles vertüdelt, das hältst ja noch nicht mal mehr mitten im Kopf aus«, nämlich jetzt war zwar der Waffenkampf gegen die Streiker kalt aufgedeckt, und im Streikrat alles am Toben, und keiner verlässt hier die Bude, Kollegen, wo bleibt der Kartoffelsalat, die Bullen lassen uns sonst nicht mehr rein, und die Streikposten nichts in der Hand, paar Eisenteile, paar Knüppel. Und die Streikbrecher werden rangekarrt, Schupoabdeckung, Schläger von Ratjen, Arbeitslose mit Waffen und Hass, »aber musst du mal drüber denken, Schlosser, die kommen da trampelig angeschissen und sollen jetzt mal fix gegen uns und alles, und drehn sich bloß immer im Kreis, die Jungs, und gar kein Verlass für die Herrschaften mehr, bloß alles gegen die Bonzen, schrein sie!«, und meinen Gewerkschaft und Gelddirektor und Streikleitung auch gleich mit weg, »die jagen sich bald mal noch selber mit hoch!«.

»Und stehen die bei euch jetzt, die Arbeitslosen?«

»Die stehn überhaupt nicht, die wirbeln bloß rum, da weiß schon bald keiner mehr richtig, wer wen!«

»Das kann eine Falle sein. Denk mal mit nach. Und wenn dann der erste Schupo tot umfällt, dann waren es nur immer die Roten.«

Aber Sophie lachte ihn zutraulich an, »mach mal Muckefuck lieber, nicht Sorgenpaster, und Falle ist mehr was für Mäuse, und du musst sowieso gleich hier weg mit nach da, da ist Kampf, die warten auf euch«.

*

Im Schloss von Zachun war die Wochen zuvor von Abwarten nicht mehr die Rede gewesen. Ratjen war Gast, mit paar Rotwildjägern, Mansfelderfahrung* ist Trumpf, und im Schatten von Ratjen, adrett in Zivil, der Atschemäzen, Leutnant Kosa.

Aber um Atsche gings nun noch nicht, noch nicht mit Stadthausgeld, Ketten und Zangen die Roten ausrotten, K.z.b.V.*, noch nicht, »noch, noch!, Herr Leutnant, wir müssen, so leid es uns allen hier tut«, psstpsst!, »noch mehrgleisig fahren«, haha.