Roman
Aus dem Rumänischen von Georg Aescht
Halt im Sinn, was ich dir sage, Milton, die schönste Gabe des Menschen ist das Gedächtnis. Verstehst du?
Bohumil Hrabal, Die Kirschen von Prag
Zunächst fiel, nach Neujahr, das Glück vom Himmel. Wahrhaftig. Drei Tage lang schneite es dermaßen verrückt, dass die Straße und die Zäune verschwanden, die Autos aussahen wie schlafende weiße Wale und die Häuser zur Hälfte eingeschneit waren. Niemals habe ich einen längeren Tunnel gegraben als damals, als dieser Schneesturm tobte. Ich begann um die Mittagszeit, etwa zwanzig Minuten nachdem Mutter, vermummt wie am Pol, auf die Schippe hinter der Tür gezeigt und mich beauftragt hatte, den Weg zum Schuppen freizuschaufeln. Ob sie nun zum Schloss ging oder zu einer von diesen Etepetete-Damen mit Kopfschmerzen, jedenfalls entfernte sie sich langsam, ihr Mantel war weiß verschneit, sie spähte dauernd zurück, ob ich auch arbeitete, klein war sie, arg klein, watschelte wie ein Pinguin auf einer langgestreckten Landzunge, dann war sie nicht mehr zu sehen. Immerhin ließ ich die Schaufel nicht sofort fallen, sobald Mutter in den Schneewehen verschwand, sondern erst, nachdem ich die Dinge mit dem Mädchen im Nachbarhaus geregelt hatte. Die trug eine rote Daunenjacke, lehnte mit dem Gesicht in den Händen am Balkongeländer, rief mich nicht beim Namen, sondern nur mit »He Junge!« an und fragte, wieso ich Blödmann mich denn nicht an den Tunnel machte. Ich gestehe, ich schwieg und löste nur den Knoten des Schals, ich ging nicht mit Schneebällen zum Angriff über, weil ich fürchtete, wieder eine Fensterscheibe zu zerschmeißen, ich war drauf und dran, irgendeine Eselei loszulassen, da kam ich, bevor ich den Mund auftat, aber wirklich kurz davor, plötzlich drauf, dass die Locken, die unter ihrer Mütze hervorlugten, den gewellten Strähnen im Pelz von Zuri glichen. Ich hatte sie ziemlich oft gesehen in der letzten Ferienwoche, seit sie bei Bugiulescu zur Miete wohnte, allerdings war sie noch nie allein gewesen, und ich hatte sie mir auch noch nie richtig angeschaut. Hochgewachsen war sie, hatte eine Stupsnase und redete von oben herab mit mir, wohnte sie doch im Dachstübchen, wo der Wind den Schnee auf dem Dach verwirbelte. Sie schlug vor, wir sollten den Tunnel gemeinsam bauen, die eine vom einen, der andere vom anderen Ende, je ein Stück, ohne Ratschläge, ohne Hilfe, ohne Pause, ich gab zurück, ich sei kein Maulwurf und kein Regenwurm, auch keine Eidechse, sie lachte und sagte, es sei ganz und gar verboten, auch nur ein Wörtchen zu sagen, ehe wir uns in der Mitte treffen würden, wir sollten stumm sein, ich stützte mich auf den Schaufelstiel, versuchte grimmig dreinzuschauen, um sie zu erschrecken, sie lachte nicht mehr, erschrak aber auch nicht, wandte sich ab, dem Zimmer zu und sagte: »Dabei wollte ich dir was Wunderbares schenken …« Mir traten, erhitzt wie ich war, kalte Schweißperlen auf die Stirn, ich bat sie herunterzukommen, hörte meine Stimme und konnte nicht glauben, was ich da hörte, ich bat sie sogar, sie solle nicht böse sein und selbst entscheiden, wo wir anfangen sollten, und als sie mit einer blechernen Kehrichtschaufel auf der Treppe erschien, ließen die Kälte und die Hitze nach. Sie wählte eine geschützte Stelle, dirigierte mich fünf, sechs Meter nach unten zu einem Pflaumenbaum, und obwohl weder ihre rote Daunenjacke noch mein grauer Trainingsanzug an Tarnanzüge gemahnten, fiel mir eine Szene in einem Film mit zwei Soldaten im norwegischen Winter ein, die sich mit Zeichensprache darauf verständigten, eine Brücke zu sprengen. Ich rannte in die Küche, holte die verrostete Maurerkelle hervor, mit der wir die Asche aus den Öfen kratzen, hielt sie bei meiner Rückkehr hoch über dem Kopf wie eine Waffe, ging in die Hocke, zog einen weiten Halbkreis, stach einige Male in die vereiste Schneekruste, schnitt große, möglichst große Stücke heraus und warf sie wild in die Gegend. Als der Einstieg sich deutlich abzeichnete, stach ich weiter zu, drang vor zu weiteren Schichten, der Schnee war weder pulvrig noch mehlig, sondern gut verdichtet, eine Weile konnte ich meine gebückte Haltung und die Schaufelschwünge beibehalten, musste jedoch bald in die Knie gehen, weil die Grabungsstelle sich immer mehr zu einem Eingang in einen Bau verengte und eine andere Stellung nicht mehr möglich war. Während ich darauf achtete, dass die gewölbte Decke, höchstens einen Meter hoch, nicht einbrach, schluckte mich das Loch alsbald ganz, das Licht wurde fahl, eine merkwürdige Stille gellte in meinen Ohren, als wäre es gar keine, ich dachte an das Geschenk des Mädchens, es mochte ein Plüschbärchen sein, ein Schlüsselanhänger, eine Waffel, ein Bumerang, eine Zeitschrift, was auch immer. Ich dachte auch an Mutter, an ihre Sorge, dass der Weg zum Holzschuppen geräumt würde, und daran, wie sie mich durch das Schneegestöber beobachtet hatte, mir war egal, was sein würde, wenn sie nach Hause kam, ich schnitt Stück um Stück aus dem Schnee, führte die Batzen seitlich am Körper vorbei, schob sie mit den Füßen nach hinten, und wenn sich hinter meinem Rücken ein richtiges Häuflein angesammelt hatte, schaffte ich es nach draußen, damit ich mich nicht selbst einmauerte. Irgendwann stieß ich auf etwas Hartes, ich vermutete einen Stein, konnte ihn nicht herausbrechen, versuchte ihn freizulegen und gelangte an das eine Ende, rundlich wie ein Bachkiesel, das Ding ließ sich kaum bewegen, schließlich kriegte ich es mit Ach und Krach frei. Es war ein Knochen, ein Prachtstück von einem Knochen, ein Eisbein, das durch die Hölle der Küche gegangen war. Wie ich da auf dem Bauch lag, die Handschuhe völlig durchnässt, ging mir auf, dass Zuri ihn an Weihnachten versteckt haben mochte, als er satt war und keine Lust mehr hatte, an irgendwas herumzunagen. Jetzt aber, als ich still dalag, merkte ich, dass nicht nur die Handschuhe vor Nässe trieften, sondern alles an mir, als hätte ich im Regen oder im Dampfbad gestanden, Stunden um Stunden. Ich hatte geschwitzt wie ein Ackergaul, die Kleider hingen kiloschwer an mir herab, in den Stiefeln suppte es lauwarm, überdies hatte ich keine Ahnung, ob eine Viertelstunde oder das Zehnfache vergangen war. Ich kostete die Müdigkeit, die Erschlaffung der Arme und der Schenkel voll aus, sie schmeckte nicht bitter, also fuhr ich fort mit den mechanischen Bewegungen wie ein Getriebe, das nicht rundläuft, hin und wieder stottert, aber nie stehenbleibt. Der Schacht ging bereits über die vier Meter hinaus, ich fragte mich, wie viel er auf der Seite des Mädchens messen mochte und wie viel uns noch trennte, ich spitzte die Ohren in Erwartung eines Geräuschs, ständig tauchte ihr Gesicht vor mir auf, das allererste Bild, die schwarzen Augen im Flockenwirbel, die leicht geschwungenen Brauen, das Kinn in die Handflächen gebettet wie ein verfrorenes Kätzchen. Ich stellte mir vor, dass ihre dunklen Locken, wäre da nicht die wollene Strickmütze, ihr bis auf die Schultern fallen und alsbald weiß sein würden. Plötzlich hoffte ich mit einer Art Furcht, dass meine Gedanken in die Irre gelaufen waren, dass das Geschenk eigentlich keinerlei Abzeichen oder Äffchen, keine Musikkassette oder Mütze und auch kein Kreisel sein würde. Ich träumte von etwas Süßerem, einer sanften Berührung oder einem Küsschen, und da meinte ich in der Nähe, in nächster Nähe undeutliche Geräusche zu vernehmen. Ich ließ die Kelle liegen und begann ungeduldig mit den Fingern zu kratzen, manchmal hielt ich inne und spannte alle Sinne an, als hätte ich ein Trommelfell an den Lidern, in den Nüstern, an den Wangen. In dem Augenblick, als auch das letzte Stück Schnee fiel, der Tunnel durchstoßen war und die Finsternis schwand, hätte ich schreien mögen, da ja nun Schluss war mit Schweigen, aber der Schrei blieb mir im Hals stecken. Auf mich zu schoss Zuri, der Hund, schleckte mich ab wie verrückt und jaulte vor Glück. Ich jagte ihn weg und schätzte, weiterrobbend, dass ich etwa sieben Achtel gegraben hatte. Das Mädchen stand oben auf dem Balkon und warf mir eine Kusshand zu. Dabei legte sie noch nicht mal die Finger an die Lippen. Sie tat nur so.
Sodann, vor dem Heiligdreikönigstag, kam das Glück aus der Erde. Das geschah abends im Wald über dem Sammelbecken, wo eine Riesentanne entwurzelt wurde. Das Ächzen des Baumes und die Wucht des Aufpralls ließen mich hochfahren, den Vorhang aufreißen und in die Dunkelheit hinausspähen, allerdings sah ich nichts, obwohl es längst aufgehört hatte zu schneien und der Himmel sternenübersät war. Weder am Fenster, wo ich die Augen verengte und weitete in dem Versuch, wie eine Eule zu sehen, noch vor dem Ofentürchen, wo ich im Türkensitz Kartoffeln in der Glut briet, noch später im Bett, als ich versuchte einzuschlafen, um Vaters Schnarchen nicht mehr hören zu müssen, vermochte ich mir vorzustellen, dass das Glück aus der Erde sprießen könnte, ganz plötzlich, um mir gut zu sein. Vor dem Einschlafen waren mir nur ein paar Dinge klar: der grimmige Frost draußen, das Fauchen des Windes, der Rauch, der durch den Schornstein zurückgedrückt wurde und sich im Zimmer breitmachte, die unausstehliche Kälte unter der Bettdecke und die Tatsache, dass Vater tüchtig getrunken und sich in der Küche schlafen gelegt hatte, hinter der Wand zu meiner Linken. Morgens begriff ich auch alles Übrige, Schritt für Schritt, nachdem ich mir einen Kanten Brot gebrochen und zwei Scheiben Käse abgeschnitten hatte. Ich war allein zu Hause wie fast immer, seit mein Bruder zum Militär eingezogen worden war, ich biss lustlos vom Brot, noch gar nicht richtig wach, goss mir auch ein Glas Milch ein, betrachtete die Wolken, die übers Tal zogen, erspähte einen Tannenhäher mit gesträubtem Gefieder unter der Dachrinne der Nachbarn, dann entdeckte ich Bugiulescu an der Straßenlaterne, wie er, barhäuptig, den Schnee zu einem großen Haufen zusammenschippte. Die Familie aus dem Dachstübchen war abgereist, also hätte es, wenn ich schon dem dunkelhaarigen Mädchen keinen Denkzettel hatte verpassen können, nahegelegen, den da unten aufs Korn zu nehmen und genau auf den roten Fleck auf seiner Glatze zu zielen. Aber ich schmiss weder mit Schneebällen noch mit den gekochten Eiern, die Mutter in einem Töpfchen hinterlassen hatte. Aus Dutzenden von Gründen. Ich schürte das Feuer, schaltete das Radio ein und landete bei den Nachrichten, schaltete es schnell wieder aus, begann nach dem Pulli mit Edelweißmuster zu wühlen, und noch bevor ich ihn fand, klopfte es an der Tür. Das war Sandu, den gestreiften Fes über die Ohren gezogen, einen Lutscher an weißem Stiel im Mund, damit es aussah, als hätte er eine Zigarette im Mundwinkel. Er wollte nicht reinkommen, und während ich mich anzog und die Stiefel schnürte, alberte er mit Zuri und seiner Hündin Lola herum, die sich in der Wolle hatten. Der Frost hatte kein bisschen nachgelassen, es war schließlich Heiligdreikönigstag, und deshalb, schätze ich, kam ihm auch, nachdem er den Lutscher durchhatte, die Schnapsidee, einen auf Raucher zu machen. Er hielt den Stiel zwischen den Fingern, führte ihn dann und wann an die Lippen, tat, als rauche er auf Lunge, klopfte hin und wieder drauf, als aschte er, und stieß häufig Rauch aus, dampfende Atemluft. Was anderes fiel ihm nicht ein. Mir leider auch nicht. Schlittenfahren ging nicht, weil es nirgendwo getretene Bahnen gab, fürs Bockspringen oder Abschlagen hätten wir zu mehreren sein müssen, Höhlenbauen und Tunnelgraben hatte ich satt, also kam die Geschichte mit dem Baum gerade recht, sie fiel mir ein, während wir die Hunde mit einem Besen zum Balgen anstachelten. Es dauerte Minuten, bis wir das obere Tor zum Wald freibekamen, dann hielten wir uns rechts, bis zum Bauch im Schnee watend. Ich ging voran, ich hatte ja den Donner gehört, der die Finsternis zum Beben gebracht hatte, allerdings wusste ich, um ehrlich zu sein, nicht recht wohin. Da ich das aber nicht ums Verrecken zugegeben hätte, arbeitete ich mich zögerlich vor und ließ mir allerhand Gründe einfallen, stehenzubleiben, mal um den Schnee von der Mütze zu schütteln, mal um die Schnürsenkel straffzuziehen, mal um Zuri bei Fuß zu kommandieren und mit ihm zu schimpfen. Um uns war Winter, das war’s, er erdrückte Sträucher, bog Zweige und zarte Stämme herab, bedeckte Baumstümpfe, Höhlen, Felsen, Pfade und Moospolster, ein stummer, überwältigender Winter, in dem allerdings keinerlei Zeichen von Zerstörung zu bemerken waren. Ich kannte jedes Fleckchen, jeden Erdhügel, ich war in meinen Jagdgründen, ein König der geheimen Insel, wo ich meinen Schatz und mein Piratenschiff versteckt hielt, in dem Dschungel, in dem mir alle wilden Tiere untertan waren, von Giraffen und Hyänen bis zu Löwen, Tigern und Elefanten, oder in den Geschützstellungen, von denen aus ich als General die Gebirgspässe überwachte und vernichtendes Feuer eröffnen könnte. Dennoch sah im Innersten meiner Besitztümer nichts aus wie sonst, der Sturm hatte Farben, Klänge, das ganze Gelände verändert, hatte aus dem Land ein anderes Land gemacht. Und während Sandu unbedingt zum Steinbruch wollte, wo es lauter verdorrte, flechtenüberwucherte Kiefern gab, bestand ich darauf, dass wir den Weg zum Wasserbecken einschlugen, weil es geklungen hatte, als käme das Wummern von dort, wir den umgestürzten Baum also dort finden würden. Und in der Tat sahen wir beide vor dem kleinen Backsteinbau eine mächtige Tanne hingestreckt liegen, die im Fallen noch einen mittelgroßen Ahorn und etliche junge Buchen mitgerissen hatte. Betrachtete man die Krone und die Wurzel, hatte man einen verwundeten Dinosaurier vor Augen, mehrfach geflügelt, mit Hunderten von Stacheln auf dem Rücken und einem Gewirr von gewundenen Hörnern, die er von Dutzenden von Hirschen und Böcken eingesammelt haben mochte. Sie war auf ein enges Flachstück gefallen, quer über den Pfad von der Gurguia-Hütte im Strȋmbă-Sattel. Als wir hinkamen, war weit und breit niemand zu sehen, sodass wir sie in aller Ruhe in Augenschein nehmen konnten, Stück für Stück, zumal Sandu noch etwas von einer alten Kiste voller Schmuck und Goldstücke zu sagen wusste, von der ihm Gevatter Rică, der Postbote, sturzbetrunken bei einem Totenmahl erzählt hatte. Da weder Halsketten noch Ringe an den Ästen glitzerten, da weder die Tannenzapfen an Kleinode gemahnten noch statt des Harzes Gold aus der Tannenrinde quoll, wühlten wir in der Grube, die sich an der Wurzel aufgetan hatte, im steinigen, gefrorenen Boden. Die Hunde halfen mit, sie wussten zwar nicht, warum sie scharrten, wollten uns aber zu Gefallen sein. Eine Zeit lang vergaßen wir den Frost und alles andere, denn der Zauber der Diamanten ist so groß, dass er über eine starke alte Tanne hinauswächst. Dabei hätte es vier von uns Jungs gebraucht, den Stamm mit den Armen zu umfangen. Gerade als wir uns bei den Händen fassten und in der Gewissheit, dass der Schatz der Räuber anderswo lag, die Stärke des Stammes zu schätzen versuchten, vernahmen wir Stimmen von weiter oben. Dort tauchte an einer Biegung des Pfades ein Mann in khakifarbenem Parka auf, ihm folgte ein anderer in einer schwarzen Windjacke und zwei vollschlanke Frauen, die mehr rollten als gingen. Wir beobachteten, wie sie auf dem abschüssigen Hang stürzten und sich aufrappelten, versanken, hin und wieder in einer Vertiefung oder hinter Sträuchern verschwanden, wieder auftauchten und mühselig, wenn auch nicht gerade im Schneckentempo, den Abstieg meisterten. Die Hunde schienen ihnen keinerlei Beachtung zu schenken, Lola hatte sich an die Sonne gelegt und atmete flach, Zuri schnupperte an einer Abbruchhalde entlang und verlegte sich immer wieder aufs Graben. Allerdings sah ich an der Art, wie er den Schweif trug, dass er angespannt war und unvermittelt zum Angriff übergehen würde. Plötzlich fuhr er herum, reckte die Brust, legte die Ohren an und schoss pfeilschnell los, zauberte in vollem Lauf auch Lola aus ihrem Dämmer, zu zweit flogen sie bergan auf die Männer und Frauen zu, die sich etwas abseits zusammengefunden hatten, mit trocken hallendem Gebell, zwei Spukgestalten auf weißem Grund, zwei Farbstreifen, der eine braun mit gelben Tönen, der andere aschgrau wie falbe Stuten. Und der Pfeil, der Flug, das Gebell, der Spuk und die Streifen kamen erst zur Ruhe, als ich und Sandu kurze Pfiffe ausstießen, wie man sie in der Pfeifschule lernt, mit einem Mal wurden sie zu einfachen Farbflecken, sanft und still. Nachdem wir die Hunde zurückgerufen und angeleint hatten, wurden auch die Leute ihrer Angst Herr, wiederkäuten sie langsam und würgten sie hinunter, schließlich kamen sie näher und merkten, dass der Pfad von einem Baumriesen versperrt war. Die eine Frau ging ausgelaugt in die Knie und sagte, sie werde eher sterben, als noch einen Schritt zu tun, die andere, bleich und die Nerven ebenso ins Taschentuch geknüllt, starrte entgeistert die Äste der Tanne an. Der Mann in der schwarzen Windjacke bemerkte als Erster unsere Spuren im Schnee und fragte, ob man in dieser Richtung schräg hinunter in die Stadt käme. Ich sagte ja und ging voran wie ein Führer, denn auch wir hatten nicht vor, länger da herumzuhängen. Als wir ihnen auf der Straße den Weg zur Stadtmitte zeigten, klopfte der Typ sich ab, zückte das Portemonnaie aus der Hüfttasche und gab mir zwei Fünftausender, einen für jeden von uns. Ich schrie nicht auf, lachte nicht, sagte nichts, auch nicht danke, aber einen Augenblick lang war ich überzeugt, dass ein Glück zum andern gekommen war, das eine vom Himmel gefallen und das andere aus der Tiefe emporgetaucht war, damit sie sich dort, just auf meinem Hof, vereinen konnten. Hätte es nicht dermaßen geschneit, wäre nicht ein derartiger Frost gekommen und ein solcher Sturm losgebrochen, hätte der Baum immer noch so dagestanden, wie er die Zeiten überdauert hatte, und der Pfad hätte seinen üblichen Verlauf genommen. So aber war leicht zu erraten, wie es weiterging, zumal jetzt, als wir zu sechs Leuten und zwei Hunden im Gänsemarsch regelrecht einen neuen Pfad getreten hatten. Ich holte eine Pappschachtel aus dem Lager, wischte Staub und Sägemehl von ihr ab, schnitt ein großes viereckiges Stück heraus und schrieb mit Kohle darauf: »Durchgang 2000 Lei«. Wir trieben den Preis nicht unanständig in die Höhe, auch waren die Druckbuchstaben etwas krumm geraten. Später fügte ich, damit es kein Palaver gab, hinzu: »pro Person«. Und die Kundschaft strömte unablässig, die Leute schwammen durch die Schneewechten und gingen uns wie Fische ins Netz. Die kamen mit der Seilbahn bis zum Strȋmbă-Sattel, betrachteten die weißen Gebirgskämme und die raubereifte Relaisstation des Militärs, bibberten, solange es eben ging, flüchteten sich in die Berghütte zu Glühwein, Tee mit Rum und Kaffee, und statt dann mit dem Kabinenlift zurückzukehren, machten sie sich, weil die Stadt unter ihnen lag wie auf dem Präsentierteller, einen Steinwurf entfernt, auf den abschüssigen Weg ins Tal, ohne von dem Eis, den Steilhängen, den Schneeverwehungen und der Tanne, riesig wie ein Saurier, auch nur zu ahnen. Ausgelaugt, am Ende ihrer Kräfte, erreichten sie dann unser Hoftor zum Wald, bereit, alle unsere Forderungen zu erfüllen. Ich zweifle nicht, dass wir bei einigen, wären wir unverschämt gewesen, ein Vielfaches hätten herausholen können, es gab allerdings auch andere, die unser Pappschild scheel ansahen. Ein Rindvieh im Skianzug rüttelte am Zaun und drohte uns mit den Fäusten, eine geschminkte Madame schickte uns zum Teufel und wollte durch den Hof stöckeln wie über den Boulevard, und ein Lyzeaner mit gezogenem Scheitel, blaugefroren, reckte uns beide Mittelfinger entgegen. Sie alle aber waren alsbald ganz brav, ja erstarrten buchstäblich, wenn wir pfiffen, wie man das in der Pfeifschule lernt, worauf Zuri und Lola wie die Irren mit gefletschten Zähnen heranschossen. So gab eins das andere, zwar hatten wir die Schatzkiste der Räuber nicht entdeckt, aber bis zum Nachmittag um die zweihundert Tausender beisammen. Um genau zu sein, zweihundertundachttausend Lei. Und eine ganze Menge Scheine waren himmelblau, aus Kunststoff, wie sie im August anlässlich der totalen Sonnenfinsternis ausgegeben worden waren.
In der letzten Stunde, als die Sonne unterging und die Seilbahn ihren Betrieb einstellte, kamen nur noch sieben Leute. Dem Alter und der Sorgfalt nach zu urteilen, mit der sie eine Wodkaflasche behandelten, aber auch danach, wie inbrünstig und falsch sie den Beatles-Song Hey Jude sangen, schätzte ich, es waren Studenten. Sie fanden unser Plakat lustig, zuckten die Schultern, schworen, sie hätten keinen roten Heller, einer von ihnen zerrte sogar, um überzeugend zu wirken, am Reißverschluss seines Herrentäschchens. Die waren ganz nett, also ließen wir das mit den Hunden bleiben. Sie boten uns auch einen Zug aus der Flasche an, Sandu lehnte nicht ab und zog ein Gesicht, als hätte er eine Schluckimpfung genommen, worauf der Kleinste in der Gruppe, ein Rothaariger, sich an einen Rest Schokolade erinnerte und mir einen harten Brocken in Stanniol zuwarf. Als sie in Richtung der Hotels in der Innenstadt weiterzogen und das Singen wiederaufnahmen, waren ihre Stimmen noch eine ganze Weile zu hören, zum Zeichen, dass ihr Schwung ungebrochen war und dass der Wind, ob nun der Crivăţ oder sonst einer, immer noch von den Moränen kam. Im Übrigen nahm der Abendhimmel Farbe an, was Sturmböen auch für den nächsten Tag ankündigte. Die blanken Stellen schimmerten rosa, die Wolken lila, der Dunst am Horizont spielte ins Weichselrot, und die Zinnen der Gebirge röteten sich, als würden sie mit Paprika gewürzt. Schweigen. Zumindest meinerseits, denn Sandu quatschte in einem fort und war ganz heiß drauf, dass wir das Geld teilten. Wir gingen ans Gassentor und kriegten alles so gut hin, dass nicht nur jeder einhundertundviertausend Lei, sondern auch die gleiche Anzahl Scheine von der Sonnenfinsternis bekam, dann aber, als wir in unserer Vorstellung, aus dem Gedächtnis, die Regale der Geschäfte abgingen, strandeten wir mit unseren Hoffnungen, weil uns der Sinn dauernd nach etwas anderem stand. Nachdem ich auf Klamotten und Süßigkeiten verzichtet hatte, entschloss ich mich, mir einen Roller zu kaufen. Grau metallic, mit schwarzen Griffen, Gummirädern und Handbremse am Lenker, keine Fersenklappe. Ich weiß, was Sandu sich alles wünschte, sollte aber nicht erfahren, was er aus seiner endlosen Liste wählte, denn am Ende des Glücks, als es Abend wurde, stand plötzlich Ene Tirilici neben uns. Das war ein Mechaniker von der Seilbahn, der sich bei der Hütte verspätet hatte, weil er angeblich noch irgendwelche Kugellager mit Vaseline hatte schmieren müssen. Die Hunde kannten ihn und ließen ihn gewähren, sodass wir seine ohnmächtige Beute wurden, zwei verirrte Küken in den Fängen eines Fuchses. Er trug unser Plakat unterm Arm, packte mich am Kragen und ließ mich nicht mehr los, dabei herrschte er uns lauthals an: »Was tut ihr hier, ihr verdammten Bengel? Klauen?« Er riss hart an meinem Ohr, so hart, dass ich fürchtete, er würde es abreißen, verlangte das Geld, wollte sich auch Sandu schnappen, aber ich warf mich herum und hinderte ihn daran, er haute mir auf die Nase, dass das Blut quoll, seine Finger stanken nach Schnaps und nach Kälte, nicht nach Vaseline, ich merkte gar nicht, dass ich allein war, dass mein Freund mit der Hündin abgehauen war, ich kämpfte nach Kräften, Zuri hing an seinem Hosenbein und schlug die Fänge in seinen Schenkel, worauf er umso wütender auf mich eindrosch. Da aber tauchte, dem Herrn sei Dank, ein Herr auf! Er trug den Schal doppelt um den Hals, hatte gewichste Stiefel und eine Stimme, wie ich sie nie wieder gehört habe. Er packte Ene Tirilici am Ellbogen und sagte nur: »Aufhören!« Und der Mechaniker hörte auf. Danach brabbelte Ene unterwürfig allerhand dummes Zeug, zeigte ihm das Pappschild und die mit Kohle geschriebenen Wörter, versuchte sich einzuschleimen, wobei er mich als Nichtsnutz und Räuber bezeichnete, begegnete aber lediglich braunen Augen mit reglosen Pupillen. Dann hinkte er von dannen, gerade als auch der Bugiulescu auf die Schwelle trat, um ihm zur Seite zu springen. Der Herr drehte sich auf dem Absatz seiner gewichsten Stiefel um und sagte guten Abend, worauf mein Nachbar, kaum zu glauben, den Kopf senkte, höflich grüßte und verschwand. Wie ich da stand, Kinn und Kleider blutverschmiert, mit geschwollener Backe, strubbligem Haar und einem krebsroten Ohr, forderte er mich auf, mitzugehen. Seine Stimme klang jetzt so weich, dass man sich jederzeit hätte widersetzen können. Ich widersetzte mich nicht. Und ging mit.
***
Gleich zu Anfang, wir waren unterwegs und ich hoffte immer noch, ich hätte es mit einem Geist zu tun, forderte er mich auf, ihn Emil zu nennen. Was aber noch schöner war, er forderte dasselbe auch von Zuri, der hinter uns hertrottete, müde und durstig. In den Schatten der Abenddämmerung gab es keinerlei Fragen zu dem prügelnden Mechaniker, zur Durchgangsgebühr, zu meinem desertierten Freund, zu Mutter und Vater, und ich dankte insgeheim allen Heiligen, zum einen, weil mein Mund klamm war und ich dermaßen zitterte, dass ich kein Wort mehr herausbringen konnte, zum zweiten, weil ich Menschen nicht ausstehen kann, die in den Seelen anderer herumstochern, und schließlich zum dritten, weil ich eine Weile gefeit war vor der unmöglichen Zumutung, einen Schutzengel zu duzen. Auf der kurzen Strecke Wegs hörte ich etwas über das Flackern von Straßenlaternen, eine einfache Feststellung, und auch mir ging auf, dass etliche Glühbirnen durchgebrannt waren. Zu meinem Erstaunen war mir also auch auf meiner Straße noch einiges unbekannt, Kleinigkeiten, die mir verborgen geblieben waren, umso mehr wunderte ich mich, als wir bei der Nummer 14, dem großen, holzverkleideten Haus der Frau Rugea, stehenblieben. Ich vermutete, es handelte sich um eine kurze Pause, in der ein Herr um die sechzig eine Dame jenseits der siebzig, Deutschlehrerin ihres Zeichens, begrüßen würde, dem war aber nicht so, wir umgingen den Haupteingang im Erdgeschoss und nahmen über den Diensteingang rechter Hand eine enge Treppe, die bei jedem Tritt ächzte. Im Obergeschoss drehte sich der Schlüssel im Schloss, die Tür ächzte ebenfalls, und noch vor dem Klicken des Lichtschalters spürte ich, wie die Wärme von drinnen mein Gesicht umfächelte und mir zeigte, wie sehr ich fror. Als das Licht anging, achtete ich nicht auf die Möbel oder die Decke oder das Fenster, sondern ließ mich auf den erstbesten Stuhl sinken mit dem Gefühl, dass ich ausrann wie Wasser aus einem lecken Gefäß. Ich weiß nicht, wie lange es gedauert hat, bis ich zu mir kam, jedenfalls lag ich auf dem Fußboden, einen Umschlag auf der Stirn, Emil beugte sich zu mir herab und hatte Würfelzucker in der Hand. Ich nahm seinen Rat an, stand auf und setzte mich auf einen Schaukelstuhl, lutschte die Zuckerwürfel, wartete ab, bis das Schwindelgefühl nachließ, zog die Schuhe aus und tastete meine nassen Fußsohlen ab, die Zehen taten furchtbar weh, ich konnte sie kaum krümmen, er aber warf mir ein raues Tuch zu und sagte, ich solle meine Füße langsam abreiben, immer von der Ferse zu den Zehenspitzen. Auf ein vor dem Ofen gespanntes Seil hängte er meine Mütze, meine Handschuhe und meine Socken, stellte auch die Stiefel davor, allerdings nicht direkt an die Kacheln, damit sie nicht rissig wurden, dann zog er eine Zigarette aus einem goldfarbenen Etui, nach seiner Rechnung die fünfte an jenem Tag, also die letzte. Merkwürdig, wie er rauchte, irgendwie sog er den Rauch ein und ließ ihn in der Brust umherwallen, der Tabak bedeutete ihm dann alles, nicht eine Viertelsekunde hätte er auf etwas anderes verschwendet, ständig maß er mit den Augen den Stummel zwischen Glut und Filter und ärgerte sich, da bin ich sicher, absolut sicher, dass der allzu rasch verglühte. Ehe er die Kippe im Aschenbecher ausdrückte, solange er entrückt war und schwieg, konnte ich im Zimmer allerhand betrachten. Neben dem weichselroten Kästchen, dem abgedeckten Bett, dem Schaukelstuhl, in dem ich saß, dem Schreibtisch und zwei Lehnstühlen gab es eine Menge Säcke und Kisten aller Größen an der einen Wand. In der Ecke gegenüber dem Ofen standen ein karierter und ein graulederner Koffer. Wahrscheinlich war er meinen Blicken gefolgt, denn unvermittelt erklärte er mir, dass er am ersten Januar mit einem menschenleeren Zug angereist war, der Gepäckwagen sich aber wegen der Schneeverwehungen verspätet hatte und erst am Morgen dieses Tages angekommen war. Da wagte auch ich, das Maul aufzutun oder, na ja, mich nicht länger auf den telegrafisch einsilbigen Stil zu beschränken, und da ich noch nie Touristen mit derartigem Sack und Pack gesehen hatte, wollte ich wissen, wozu all die Kisten und Koffer bei einem Gebirgsurlaub taugen sollten. Er lachte – sein Lachen bewirkte, dass ich wieder meine Stacheln ausfuhr wie ein Igel – und erläuterte, dass es sich nicht um einen Urlaub handelte, dass er keinerlei geregelter Arbeit mehr nachging und lange hier wohnen würde, vielleicht für immer. Es war mir unbegreiflich, wieso an mir vorbeigegangen war, dass jemand bei der Frau Rugea einzog, zumal Mutter alle drei Tage zu ihr kochen ging, ich träumte davon, Bukarest zu sehen, und begriff nicht, wie man jene Stadt verlassen konnte, mir war schleierhaft, wie man leben konnte, ohne irgendwo zu arbeiten, und in dem Maße, in dem das Kribbeln in meinen Füßen nachließ, kam bei mir die kribbelnde Neugier auf, was wohl die Säcke enthalten mochten und was es auf sich hatte mit der Art, wie er sein Kinn fest in die Handfläche stützte und darin kreisen ließ. Ihm aber waren andere Dinge obenauf, er schickte mich, den Anorak vom Kleiderhaken zu holen, und ging mir im Flur voraus. Er trat mit mir ins Bad, zeigte mir die Seife, eine kleine Bürste und ein Handtuch, ließ mich dann vor dem Waschbecken zurück und ging in die Küche. Beim Blick in den Spiegel erstarrte ich. Ich hatte geronnenes Blut an einem Nasenflügel, an der linken Schläfe und am Hals, die Backe war noch dicker geschwollen und blau angelaufen, unter dem Haaransatz zogen sich Striemen über die Stirn, und das Ohr, das Ene Tirilici hatte abreißen wollen, war krebsrot und etwas größer als das andere. Ich temperierte das Wasser so, dass es mich nicht verbrühte, wusch mich gründlich und untersuchte die Wunden zentimeterweise, darum bemüht, die Spuren des Kampfes zu tilgen und mich zu beruhigen. Ich brauchte keinerlei Vorstellungskraft, um zu erraten, was Mutter gesagt haben würde, wenn sie mich so gesehen hätte, sie hätte die Hände vor den Mund geschlagen, ganz bestimmt, sie hätte geseufzt und den Kopf geschüttelt, und dann, während sie mich versorgte, wären ihr die Schulnoten, die eingeschlagene Windschutzscheibe und wer weiß was sonst eingefallen und sie hätte mir die Schuld gegeben an allem, was geschehen und was nicht geschehen war. Schließlich hätte Mutter, nachdem sie Dampf abgelassen hatte, mir einen Kuss auf die Stirn gegeben. Bei Vater hingegen war nichts gewiss. Hätte ich ihn nüchtern angetroffen, dann hätte er, glaube ich, Ene verflucht und wäre losgezogen, mich zu rächen, wäre er aber betrunken gewesen, hätte er etwas gebrummt und noch ein Gläschen gekippt. Nach und nach sah ich halbwegs manierlich aus, vor allem nachdem ich einen weißen Kamm gefunden, meine Haare gerichtet und die Striemen mit ein paar Strähnen abgedeckt hatte. Zu dem Ei an der Backe könnte ich vorbringen, es käme von einem Sturz mit dem Rodelschlitten. Da auch meine Jacke blutverschmiert war, reinigte ich sie sorgfältig, seifte die Flecken zweimal ein, bürstete sie ab und spülte sie gut durch. Als ich fertig war, setzte Emil gerade einen Henkeltopf aufs Feuer und sagte, ich solle im Wohnzimmer warten. Solange ich dort allein war, entdeckte ich Dinge, die mir bislang entgangen waren: die Pendeluhr hinter dem Lederkoffer, einen Teppich, unter dem Bett verstaut, und einen schwarzen Plattenspieler mit durchsichtigem Deckel, tschechoslowakisches Modell, in Zeitungen eingeschlagen. Ich trat an den Schreibtisch, weil da allerhand Zeug herumlag, an den Umschlag mit Fotos wagte ich mich nicht heran, aber ich gewahrte eine Menge Medikamente, einen alten Bleistiftspitzer in Form eines Bügeleisens, ein Tintenfass und einen bronzenen Füllfederhalter, Bleistifte und Gebirgswanderkarten, einen Kompass, eine Taschenlampe mit Ersatzbatterien, einen Stapel Bücher, das oberste mit einem englischen oder französischen Titel hatte auf dem Umschlag einen böse starrenden Adler mit rotem Brustgefieder, schwarzen Flügeln und so was wie einem Bart unter dem Schnabel. Ich sah mir auch die anderen Bücher an, alle hatten sie, egal in welcher Sprache, nichts als Vögel zum Gegenstand und enthielten unzählige Zeichnungen, Fotografien und Schaubilder zum Wander- und Nistverhalten. Von den insgesamt sieben Büchern handelten vier von Eulen, und das in einer Vielfalt, die ich nicht für möglich gehalten hätte. In mir keimte, während ich darin blätterte, die Hoffnung, der Mann in der Küche sei ein Weiser, der Bescheid wüsste über alle Dinge unterm Sternenzelt und der mich mit seinen braunen Augen und reglosen Pupillen lehren könnte, im Dunkeln zu sehen. Unter dem letzten Buch, zuunterst in dem Stapel, fand ich ein dickes Heft, in gelbes Leinen eingeschlagen. Da ich nun eh schon schmökerte, schlug ich das Heft auf und warf einen Blick hinein. Ich stieß auf eine regelmäßige kleine Schrift mit ganz wenigen Streichungen und war überzeugt, es handele sich um Aufzeichnungen für eine Abhandlung, aber nachdem ich ein paar Zeilen gelesen hatte, so schwer sie auch zu entziffern waren, gefror ich, als wäre ich noch draußen am Waldrand. Ich habe jene Zeilen nicht vergessen und werde sie nie vergessen. Und jetzt, nach so vielen Jahren, bietet sich die Gelegenheit, die ganze Geschichte noch einmal zu erzählen, indem ich sie sorgfältig abschreibe, Wort für Wort, aufs Komma genau. Hier ist sie:
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Mein Gedächtnis rostet langsam, und das ist gut. Noch ist es gut. Die Erinnerungen anderer sind mir egal, ich bin nicht auf sie angewiesen und kann mir, da ich sowieso täglich eine Menge Pillen schlucke, wenigstens das Lezithin sparen. Bei dem kalten Regen, der weder nachlässt noch heftiger wird, tun mir die Knie weh, als wollten sie mir zeigen, wie es ist, wenn etwas ganz verrostet. Und ich schreibe, was kann ich schon tun, ich schreibe, trage keine Salbe mehr auf, schlucke nicht noch die vierte Tablette und bleibe dran an dem amerikanischen Bombenangriff. Ich denke nach über das Unheil, das Bukarest traf, das ist alles, jetzt, da ich Teetasse und Teekanne zur Hand habe. Meinen Lieblingstee. Thymian. Ohne Zucker.
Wie dem auch sei, am deutlichsten erinnere ich mich an das Summen. Ein furchtbares, irrsinniges Summen, als wären Tausende von Bienen in meine Ohren gedrungen. Vor Stichen hatte ich keine Angst, ich hielt meine Handflächen an die Schläfen gepresst, unsinnigerweise, denn die Bienen schwirrten ungehindert in meinem Kopf herum, sie brummten, schwärmten und flogen dauernd gegen mein Trommelfell an. Ich meinte, sie hätten schon begonnen, Waben zu bauen, und da ich glaubte, das ganze Gedröhne müsse auch sein Gutes haben, hoffte ich, mir würden ein paar Tropfen Honig über die Wangen laufen. Nichts lief da herunter. Erst am späten Samstagabend war ich sicher, dass die Schwärme ganze Arbeit geleistet hatten, nachdem Mutter mich über einer Emailleschüssel gewaschen und meine Ohren mit auf Streichhölzer gedrehten kleinen Wattebäuschen gesäubert hatte. Wie nie zuvor sammelte sie die Krümel Ohrenschmalz und legte sie in das runde Metalldöschen, in dem sie früher Pfefferminzbonbons aufbewahrt hatte. Auf dem Deckel des Döschens stand »Daphné«, und Mutter versprach, die Krümel irgendwann einzuschmelzen und Kerzen daraus zu gießen.