Illustration

Hellmut Butterweck

Nationalsozialisten vor dem Volksgericht Wien

Hellmut Butterweck

Nationalsozialisten vor dem Volksgericht Wien

Österreichs Ringen um Gerechtigkeit 1945–1955 in der zeitgenössischen öffentlichen Wahrnehmung

StudienVerlag

Innsbruck
Wien
Bozen

 

 

 

 

Internet: www.studienverlag.at

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ISBN 978-3-7065-5833-4

Rückseite: siehe Fall 49W9, Anm. 186.

 

 

 

 

Die berühmte historische Distanz besteht darin, dass von hundert Tatsachen fünfundneunzig verlorengegangen sind, weshalb sich die verbliebenen ordnen lassen, wie man will. … Man erschrickt über die Groteskheit menschlicher Handlungen, sobald sie nur ein wenig ausgetrocknet sind, und sucht sie aus allen Umständen zu erklären, die man nicht selbst ist, das ist aus den historischen. Historisch ist das, was man selbst nicht tun würde …

Robert Musil, 1922

Inhalt

 

Vorwort

Einleitung

Die gesetzlichen Grundlagen

Die Systematik der Dokumentation

Die Fälle des Jahres 1945

Die Fälle des Jahres 1946

Die Fälle des Jahres 1947

Die Fälle des Jahres 1948

Die Fälle des Jahres 1949

Die Fälle des Jahres 1950

Die Fälle des Jahres 1951

Die Fälle des Jahres 1952

Die Fälle des Jahres 1953

Die Fälle des Jahres 1954

Die Fälle des Jahres 1955

Anmerkungen

Die Vorsitzenden und ihre Fälle

Die Staatsanwälte und ihre Fälle

Die Verteidiger und ihre Fälle

Kürzel der zitierten Zeitungen, sonstige Abkürzungen

Weiterführende Literatur

Vorwort

Von Oliver Rathkolb

Univ.-Prof. am Institut für Zeitgeschichte, Universität Wien

Jene ZeithistorikerInnen, die über die unmittelbare Zeit nach 1945 in Österreich arbeiten, werden immer wieder mit den Volksgerichten konfrontiert, die als Sondergerichte zwischen 14. August 1945 und Ende 1955 über 23.000 Prozesse gegen NS-StraftäterInnen durchgeführt haben. Insgesamt wurden 13.607 StraftäterInnen verurteilt. Bis heute gibt es zwar eine Reihe von ausgezeichneten Einzelstudien – zum Beispiel zu dem Massaker in Engerau von Claudia Kuretsidis-Haider1 oder grundlegende Arbeiten der Forschungsstelle NS-Justiz von Winfried Garscha2 und andere Einzelstudien3. Was bisher gefehlt hat, war ein Gesamtüberblick über möglichst viele Verfahren bei einem Volksgericht, denn auch die Studie des Generalanwalts Karl Marschall aus 1977 enthält primär statistisches Material und anonymisierte Einzelfälle, die mit Höchststrafen, Todesstrafe oder lebenslanger Haft, endeten.

Hellmut Butterweck hat in einem umfassenden Forschungsprojekt bereits Mitte der 1980er Jahre die Pressedarstellungen gesammelt und auch teilweise analytisch ausgewertet.4 Jetzt legt er das Ergebnis seiner wirklich bewundernswerten, akribischen Studie vor, sodass erstmals insgesamt 840 Prozesse des Volksgerichtes Wien mit insgesamt 1.137 verurteilten oder freigesprochenen Angeklagten anhand der Presseberichterstattung rekonstruiert werden können. Es wird nach dem ersten Überblick in weiterer Folge auch möglich sein, vertiefende Studien in den Originalquellen im Wiener Stadt- und Landesarchiv durchzuführen.

Verglichen mit der Bundesrepublik Deutschland und auch der DDR war die Bereitschaft der österreichischen Justiz, sich mit von Österreichern außerhalb Österreichs, vor allem im Osten, begangenen Verbrechen zu befassen, sehr gering. Aufgrund der strengen ersten Phase der Volksgerichtsverfahren liegt die österreichische Justiz beim Verhältnis zwischen Schuld- und Freisprüchen dennoch über jenem der Bundesrepublik: In Österreich wurden von 134.567 Verdächtigten 13.852 oder 10,3 Prozent verurteilt, in der Bundesrepublik wurden von 89.789 Verdächtigten 7,2 Prozent oder 6.469 bestraft. Eine genauere Analyse von Einzelfällen zeigt aber, dass in Österreich häufig die „Illegalität“, das heißt die politische Betätigung für die NSDAP während des Parteiverbots vor 1938, im Zentrum der Urteile stand.

Bereits 1946 zeigte sich, dass die staatlichen Behörden einerseits die strafrechtliche Verfolgung einer relativ kleinen Gruppe von ehemaligen Nationalsozialisten anstrebten, eine ideologische Auseinandersetzung mit dem Phänomen Nationalsozialismus aber zugunsten eines kontrollierten ökonomischen und sozialen Wiederaufbaus zurückgestellt hatten. Gleichzeitig fühlten sich viele jener Personen, die zeitweiliges Berufsverbot erhielten oder andere Sühnefolgen zu spüren bekamen, immer mehr als die eigentlichen „Opfer“, da ihnen die prinzipielle Schuldhaftigkeit des NS-Regimes nicht umfassend, also auch in seinen vielschichtigen Auswirkungen im Alltag, vermittelt wurde. Vielleicht war auch die individuelle Verantwortung nicht vermittelbar, da dies einen gesellschaftlichen Diskussions- und Aufklärungsprozess erfordert hätte, der wiederum mit der Stabilität des Systems nicht vereinbar gewesen wäre. Eine derartige Diskussion hätte Nicht-NSDAP-Mitglieder, etwa Antisemiten und Rassisten, mit einschließen müssen, um zu einer Gesamtbeurteilung zu kommen.

Ab 1947/48 verstärkte sich der Trend, einen Schlussstrich unter die Vergangenheit zu ziehen, merklich. Im Bereich der Strafgerichtsbarkeit bei den Volksgerichten stieg 1948 die Zahl der Freisprüche auf 52 Prozent, verglichen mit 26 Prozent für den Zeitraum 1945–1947. Gleichzeitig diskutierten die beiden großen politischen Parteien ÖVP und SPÖ offen ein wahlstrategisches Problem, da spätestens bei den Nationalratswahlen 1949 nicht mehr alle ehemaligen NSDAP-Mitglieder von der Wahl ausgeschlossen bleiben sollten. Das bedeutete, dass nach der Amnestie für Minderbelastete 1948 fast 500.000 neue Wähler die politische Landschaft doch sehr deutlich verändern konnten (allein in Niederösterreich waren es über 74.000 Stimmen).

Hellmut Butterweck hat in diesem Band erstmals ein großes, repräsentatives Sample von Fällen zusammengestellt. Dadurch werden die öffentliche Darstellung und damit auch die mögliche Rezeption im öffentlichen Raum in der Nachkriegszeit grundsätzlich fassbar und nachvollziehbar gemacht. Da die zahlreichen Einzelfälle viele Lebensbereiche umfassen – von Kultur, Wissenschaft und Bildung, Sozialsystem, über Wirtschaft bis hin zur Politik im engeren Sinn –, ist auch erstmals eine Gesamtanalyse der Nazifizierung der Gesellschaft in der „Ostmark“ vor und nach 1938 möglich. Auch werden künftige Studien über die geschichtspolitische Auseinandersetzung mit den NS-Verbrechen und der vielschichtigen Kollaborationsbereitschaft wesentlich präziser argumentieren können.

Ohne Übertreibung kann jetzt schon festgehalten werden, dass keine zeitgeschichtliche Arbeit zum Thema Nachkriegszeit über dieses monumentale Quellenwerk von Hellmut Butterweck hinweggehen kann, das auch durch ein Personenregister für weiterführende Studien perfekt erschlossen wurde.

Wien, November 2015

 

 

Anmerkungen

1      Das Volk sitzt zu Gericht. Österreichische Justiz und NS-Verbrechen am Beispiel der Engerau-Prozesse 1945–1954 (Österreichische Justizgeschichte, Band 2), Innsbruck–Wien–Bozen 2006.

2      http://www.nachkriegsjustiz.at

3      Jean-Philippe Thoussaint: Nichts gesehen – nichts gewusst. Die juristische Verfolgung ehemaliger SS-Aufseherinnen durch die Volksgerichte Wien und Linz, in: Johanna Gehmacher/Gabriella Hauch (Hg.): Frauen- und Geschlechtergeschichte des Nationalsozialismus. Fragestellungen, Perspektiven, neue Forschungen, Innsbruck–Wien 2007, S.222–239; Thomas Albrich (Hg.): Holocaust und Kriegsverbrechen vor Gericht. Der Fall Österreich, Innsbruck–Wien 2006; Elisabeth Rieger: Ahndung nationalsozialistischer Tötungsverbrechen in der Nachkriegszeit am Beispiel des Volksgerichtes Linz 1946–1955, unveröffentlichte Dissertation, Universität Salzburg 2006; Eva Holpfer: Was ist Jingl, bist a no am Lebn, hams dich nicht erschlagen? Nationalsozialistische Verbrechen an Juden und Jüdinnen im Burgenland und ihre Ahndung durch die Volksgerichte (1945–1955), in: Felix Tobler (Red.): Befreien – besetzen – bestehen. Das Burgenland von 1945–1955 (Tagungsband des Symposions des Burgenländischen Landesarchivs vom 7.–8. April 2005), Eisenstadt 2005, S.241–264; Martin F. Polaschek: Im Namen der Republik Österreich! Die Volksgerichte in der Steiermark 1945 bis 1955 (Veröffentlichungen des Steiermärkischen Landesarchives 23), Graz 2002.

4      Hellmut Butterweck: Verurteilt und begnadigt. Österreich und seine NS-Straftäter, Wien 2003.

Einleitung

Unangenehmes wird verdrängt, der Rest zum Großteil vergessen. Österreich hat es fertiggebracht, einen wichtigen Teil seiner Vergangenheit, der das Land einst emotional spaltete, sowohl zu verdrängen als auch zu vergessen. Zuerst das eine, dann das andere. Es hat nach dem Staatsvertragsjahr 1955 die 13.607 Schuldsprüche österreichischer Gerichte gegen NS-Straftäter der Zeit seit 1945 so schnell und gründlich aus seinem Gedächtnis gestrichen, dass sie sanft ins Reich des Vergessens eingingen, als sich die Verdrängung erübrigte.

Sehr zum Nachteil des Landes, denn es kam eine Zeit, in der es, am Pranger stehend, auf die 30 vollstreckten Todesurteile (von 43 verhängten; elf Verurteilte wurden begnadigt, zwei begingen vor der Vollstreckung Selbstmord), die 30 Verurteilungen zu Lebenslang und 650 Kerkerstrafen von fünf bis 20 Jahren hätte verweisen können. Es hätte auf eine Abrechnung mit dem Nationalsozialismus verweisen können, die, wenigstens zum Teil, härter und konsequenter als in Deutschland war, wenn auch binnen weniger Jahre stark nachlassend und mit einem signifikanten Ost-West-Gefälle. Österreich hätte an die vollstreckten Todesurteile gegen zwei Euthanasieärzte erinnern können – etwas, das es meines Wissens weder in West- noch in Ostdeutschland gegeben hatte.1 Die Aufarbeitung der NS-Untaten durch österreichische Gerichte in zehn Nachkriegsjahren war nicht völlig, aber doch weitgehend frei von Einmischungen der Besatzungsmächte. Man hätte in Lateinamerika, aber auch in einigen südosteuropäischen Staaten auf dieses Modell zurückgreifen können – selbstverständlich ohne die Todesurteile. Die 23.477 Prozesse österreichischer Gerichte in NS-Strafsachen von 1945 bis 1955 hätten, allen Einschränkungen zum Trotz, dem durch die Waldheim-Affäre lädierten Ruf des Landes gut getan – wären sie nicht so ganz und gar den Fluss Lethe hinuntergegangen, hätte nicht Österreich selbst sie so gründlich aus seiner Erinnerung gestrichen gehabt.

Die Rede ist von der Tätigkeit österreichischer Strafgerichte in öffentlicher Verhandlung. Nicht von der Justiz schlechthin. Denn auch die für Begnadigungen zuständigen Instanzen und die Senate, die öffentlich verkündete Urteile in nichtöffentlichen Verhandlungen sang- und klanglos wieder aufhoben, waren Teil der Justiz. Bezieht man diesen Aspekt in die Betrachtung ein, entsteht ein völlig anderes, sehr viel unrühmlicheres Bild. Doch zu solchen Differenzierungen gelangte der Diskurs schon deshalb nicht, weil er bisher nicht stattfand.

Der Grund für das tiefe Schweigen über ein an dramatischen Höhepunkten ebenso wie an beschämenden Fehlleistungen reiches Kapitel der österreichischen Nachkriegsgeschichte ist das weit verbreitete Nichtwissen, auch in den an Zeitgeschichte interessierten und sonst gut informierten Schichten, selbst unter Historikern. Lang genug war das Thema ein politisches Minenfeld, um das man gerne einen Bogen schlug. Das Minenfeld hat seine Gefährlichkeit weitgehend verloren, doch Österreichs Nachkriegsjustiz liegt nach wie vor nicht gerade im Fokus der zeitgeschichtlichen Forschung. Mit der vorliegenden Arbeit wird ihr erstmals eine breit gefächerte Stichprobe von Verfahren des Volksgerichtes Wien angeboten, welche in streng chronologischer Ordnung die gesamte Bandbreite seiner Tätigkeit von 1945 bis 1955 umfasst: Verfahren nach Verbots- ebenso wie nach Kriegsverbrechergesetz, wegen sämtlicher einschlägigen Straftaten, vom sogenannten Formaldelikt über Denunziation und Arisierung bis zum Massenmord. Prozesse, die in Erinnerung blieben, wie den Massenmord in der Strafanstalt Stein (46W166) ebenso wie Dutzendfälle, die auch damals von der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen wurden. Dokumentiert werden sämtliche Fälle, über die sich in einer zeitgenössischen Wiener Tageszeitung ein Bericht nachweisen lässt, aus dem zumindest der Name eines oder einer Angeklagten und der Spruch des Gerichts (Strafe oder Freispruch) hervorgeht. Dieses Material umfasst mit 1137 Angeklagten (eingeschlossen 19 sogenannte objektive Vermögensfallverfahren gegen Abwesende bzw. Tote) in 838 Prozessen rund zehn Prozent aller abgeschlossenen Prozesse des Volksgerichts Wien und bietet einen jedem späteren Auswahlverfahren entzogenen Querschnitt durch den Alltag des Wiener Volksgerichtes sowie ein Sample, anhand dessen sich auch die zum Teil frappierende Ungleichgewichtigkeit der Urteile, die unterschiedliche Behandlung verschiedener Kategorien von Tätern und die Entwicklung zu immer milderen Strafen in ihren verschiedenen Phasen untersuchen lässt.

Als ich dieses vom Österreichischen Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung ermöglichte Projekt im Jahre 1986 in Angriff nahm, verhüllte tiefes Dunkel den gesamten Komplex der österreichischen Justiz gegen NS-Straftäter von 1945 bis 1955. 1986 und auch noch Jahre später schätzte der Großteil der von mir informell befragten Personen, österreichische Gerichte hätten allenfalls eine Handvoll von NS-Straftätern zu lächerlichen Strafen verurteilt. Behauptungen in Literatur und Medien, wie etwa, wegen eines der immer wieder erwähnten Massenmorde, der „Mühlviertler Hasenjagd“ (48W89, 130), sei niemand bestraft worden (obwohl in Linz und Wien mehrere langjährige Kerkerstrafen verhängt worden waren) oder ein Prozess der sechziger Jahre sei überhaupt das erste Verfahren gegen einen NS-Gewaltverbrecher in Österreich gewesen, waren keine Seltenheit.

Was damals an Information über ein so gut wie unbekanntes Kapitel der österreichischen Zeitgeschichte vorlag, war in der von Generalanwalt Karl Marschall erarbeiteten offiziellen Dokumentation des Justizministeriums Volks-Gerichtsbarkeit und Verfolgung von nationalsozialistischen Gewaltverbrechen in Österreich (1945 bis 1972) aus dem Jahre 1977 zu finden. Sie enthält ausführliches statistisches Material und eine Zusammenfassung des Akteninhalts jener Verfahren der Zeit von 1945 bis 1955, die mit Höchststrafen (Todesurteil oder Lebenslang) geendet hatten, sowie der Verfahren der regulären Justiz nach 1955. An späteren Publikationen ist vor allem das Werk Holocaust und Kriegsverbrechen vor Gericht – Der Fall Österreich von Albrich/Garscha/Polaschek (Forschungsstelle Nachkriegsjustiz im Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes, Wien 2006) zu nennen. Die Autoren untersuchten anhand von 526 Akten österreichischer Volksgerichte mit 796 Angeklagten und 30 Verfahren der regulären Justiz der Zeit von 1956 bis 1975 die Rechtsprechung bei Delikten, die den Tod mindestens eines Menschen verursacht oder bezweckt hatten. Sie arbeiteten mit statistischen Methoden, auf konkrete Fälle wurde von ihnen fallweise Bezug genommen.

Die vorliegende Arbeit stellt konsequent auf das einzelne Verfahren und auf das Geschehen im Gerichtssaal als Ausgangspunkt einer wissenschaftlichen Durchdringung der österreichischen Nachkriegsjustiz gegen NS-Straftäter ab. Das in der Dokumentation gesammelte Material liefert, wenn man so sagen darf, das Fleisch aufs statistische Skelett. Da die Berichte den Rang eines in der Zeit entstandenen, jeden späteren Auswahlverfahrens enthobenen historischen Dokumentes beanspruchen können, wurde bei der vollständigen Durcharbeitung sämtlicher von 1945 bis 1955 in Wien erschienenen Tageszeitungen kein Fall übergangen, jedenfalls nicht mit Absicht, auch wenn sich der „Bericht“ auf zwei Zeilen in winzigster Schrift beschränkte. Die Auswahl wurde von den damaligen Wiener Tageszeitungen ihren journalistischen Gesichtspunkten entsprechend getroffen. Sie umfasst alle herausragenden Prozesse, über die jede Zeitung laufend berichtete, sowie Verfahren, die von einer oder mehreren Zeitungen aus welchen Gründen immer für signifikant gehalten wurden, wobei häufig nur eine Erwähnung vorliegt.

Etwa die Hälfte der mit Schuld- oder Freispruch abgeschlossenen Anklagen (11.230 von insgesamt 23.477) wurde vom Volksgericht Wien2 behandelt. Da das Sample von 1.137 Angeklagten alle politisch bedeutenden Hochverratsverfahren3 ebenso wie die in Wien verhandelten hervorstechenden Fälle von Massenmord umfasst, ist die Zusammensetzung statistisch nicht für das Gesamtgeschehen repräsentativ. Der Alltag der Volksgerichte wurde nicht vom großen Ereignis bestimmt, von der cause célèbre, sondern vom schier endlosen Vorbeimarsch der wegen ihrer hellbraunen Parteiuniformen „Goldfasane“ genannten illegalen Block-, Ortsgruppen- und sonstigen Politischen Leiter, der Blutordenträger und „Alten Kämpfer“, der kleinen und kleinsten Funktionäre, die aber oft Macht über Leben oder Tod besessen, einen unmenschlichen Druck ausgeübt und in ihrem kleineren oder größeren Wirkungskreis Angst und Schrecken verbreitet hatten. Im Material findet sich eine große Zahl von Prozessen, die Licht in den Nazi-Alltag mit seinen allgegenwärtigen Repressionen, seinen Denunziationen und Übergriffen aller Art werfen. Sie werfen aber auch Licht in die Antipathie, mit der ein offenbar alles andere als kleiner Teil der Bevölkerung dem NS-Regime begegnete, denn wo ein Denunziant gewesen war, musste auch zumindest ein Denunzierter gewesen sein. Damit fällt auch Licht in den unorganisierten, „kleinen“ Widerstand, über den die Österreicher oft erst durch die Berichte über die Volksgerichtsprozesse erfuhren (z. B. 46W144, 47W14, 109, 193, 48W27), Licht in die andere Seite des Nazi-Alltags, nämlich einen Alltag der negativen Bemerkungen, des unterlassenen Hitlergrußes, des respektlosen Verhaltens, wenn das Deutschland- und das Horst-Wessel-Lied aus dem Radio erklang (z. B. 46W13, 46W256), der Witze, die man besser nicht in Hörweite eines möglichen Anzeigers erzählte (z. B. 46W155), eines Alltags, in dem eine menschliche Handlung wie ein Schluck Wasser für einen Juden tödliche Folgen nach sich ziehen konnte (z. B. 50W2) und Zivilcourage notwendig war, um einem amerikanischen Flieger ebenfalls einen Schluck Wasser zu reichen (z. B. 47W210). Es fällt Licht in einen Alltag, der von der Allgegenwart menschlicher Niedertracht gekennzeichnet war, in dem sich aber auch Anständigkeit, Hilfsbereitschaft, Menschlichkeit bei vielen Gelegenheiten und in mancherlei Formen bewährten.

Der Veröffentlichung der Ergebnisse stellten sich unter veränderten personellen Konstellationen nicht völlig durchschaubare Widerstände in den Weg. Offenbar war damals die Zeit dafür noch nicht reif. Als die finanzielle Förderung der Drucklegung abgelehnt wurde, stand ich mit dem Thema Nachkriegsjustiz gegen NS-Straftäter noch so gut wie allein auf weiter Flur – nun, da sie ein Vierteljahrhundert später4 doch noch zustande kommt, ist die Situation anders. In der Zwischenzeit entstand eine ansehnliche Reihe wissenschaftlicher Arbeiten, die meisten allerdings zu den regionalen Aspekten der Volksgerichtsbarkeit. Protokolle können keineswegs immer jenes objektive Bild einer öffentlichen Hauptverhandlung vermitteln, das allzu vertrauensvoll von ihnen erwartet wird. Die Voreingenommenheit eines Vorsitzenden, die einseitige Führung der Verhandlung, das Übergehen oder Einschüchtern von Zeugen (z. B. 49W23) ist aus dem Akt selten zu erkennen, wurde aber in der zeitgenössischen Berichterstattung über die NS-Prozesse immer wieder moniert. Eine Äußerung wie die des Vorsitzenden im Fall 47W149, der Belastungszeuge benehme sich unsolidarisch, weil er als Arbeiter gegen einen anderen Arbeiter aussage, wird wohl selten den Weg ins Protokoll finden. Dass im Fall 49W1 die Ohnmacht des Richters angesichts der Disziplinlosigkeiten der Anwälte und die Hinweise auf politische Interventionen auch nur einigermaßen adäquat protokolliert wurden, ja dass dies unter den obwaltenden Umständen überhaupt möglich war, darf man in Kenntnis der Presseberichte wahrscheinlich ausschließen. Der Gerichtssaalbericht vermittelt eine komplementäre Sicht des Verfahrens und gerade in der Nachkriegszeit, in der Mangel an qualifiziertem Personal, Überarbeitung und andere Faktoren in vielen Fällen zu lückenhaften Protokollen führten (manche bestehen nur aus Lücken), finden sich in den Berichten häufig im Protokoll nicht aufscheinende Details. Presseberichte können daher die Einsicht in den Akt nicht ersetzen, aber sehr wohl auf Fälle aufmerksam machen, die sich für eine nähere Untersuchung empfehlen. Vor allem aber sind sie eine historische Primärquelle, was die Rezeption der Verfahren im Einzelnen wie als Ganzes betrifft, und nicht nur Primär-, sondern fast immer die einzige Quelle, die noch über die zeitgenössische Kritik an Urteilen, an der Verhandlungsführung und so weiter Auskunft gibt. Aus diesem Grund dürfte das Sample der Prozesse, über die Gerichtssaalberichte vorliegen, den bestmöglichen Ausgangspunkt für Forschungen über die Objektivität der Volksgerichte, über die Voreingenommenheit einzelner Vorsitzender, über in den Verhandlungen erkennbar werdende politische Einflüsse und so weiter darstellen. Die Zeitungsberichte als Quelle für die zeitgenössische Rezeption der Prozesse müssten daher auch dann erfasst werden, wenn die flächendeckende Erschließung der Aktenbestände erfolgt wäre – eine solche ist aber nicht in Sicht.

Nicht zuletzt in den Gerichtssaalberichten der Wiener Zeitungen wird auch erkennbar, wie tief der Konflikt zwischen den Protagonisten des Vergessens und einer falschen Versöhnung auf der einen Seite und den NS-Gegnern auf der anderen die österreichische Gesellschaft in der Nachkriegszeit spaltete. In einigen Zeitungen blieben die Berichte über die NS-Prozesse noch längere Zeit Rückzugsbastion jener, die sich der völlig offen deklarierten Politik des Vergessens widersetzten. Damit sind sie auch eine aussagekräftige Quelle zum längst nicht hinreichend erhellten Urkonflikt der österreichischen Nachkriegszeit zwischen den NS-Gegnern und einer Politik, die im Interesse tages- und parteipolitischer Prioritäten ihren Frieden mit den „Ehemaligen“, sprich: den ehemaligen ebenso wie mit den bloß angeblich ehemaligen Nationalsozialisten, machte.

Ein interessantes Thema für weitere Untersuchungen wäre, auf der Grundlage dieser Stichprobe, ein Vergleich der ausgesprochenen und der tatsächlich verbüßten Haftstrafen. Für die Vorbereitung der ersten 600 Prozesse standen zunächst fünf Untersuchungsrichter zur Verfügung. Der in der ersten Phase der Volksgerichtsbarkeit herrschende Personalmangel, vor allem an politisch unbelasteten Untersuchungsrichtern, führte dazu, dass eine Anzahl „kleiner Fische“, deren Fälle schnell verhandlungsreif gemacht werden konnten, vorgezogen und in den Monaten der größten Härte, in denen bei Strafen nach dem Verbotsgesetz auch das außerordentliche Milderungsrecht noch nicht angewendet werden konnte, zum Teil mit einer weit überproportionalen Strenge verurteilt wurden.

So wurde ein 74-jähriger ehemaliger illegaler Ortsgruppenleiter, der die NSDAP verlassen hatte, nachdem er entdeckt hatte, dass sein Großvater Jude gewesen war, der niemandem ein Leid zugefügt hatte und sich uneingeschränkt schuldig bekannte, am 24. August 1945 zur damaligen Mindeststrafe von zehn Jahren verurteilt (45W5). Fälle von Angeklagten, die offensichtlich Protektion genossen, wurden oft auch dann zurückgestellt, wenn sie bereits verhandlungsreif waren. Der Hinweis darauf findet sich beispielsweise in den Berichten über einen der herausragenden Skandalprozesse des Jahres 1948 (48W58). Einer der Angeklagten hatte die Vollstreckung von Todesurteilen veranlasst, die zum Teil noch nicht rechtskräftig waren, und als Ankläger des sogenannten Sankt Pöltener Standgerichts den Wunsch eines Angeklagten, sich zusammenhängend verantworten zu können, als „jüdischen Dreh“ abgelehnt. Er kam am 18. Juni 1948 mit acht Jahren davon.

Die Prozesse stellten die Wiener Zeitungen vor erhebliche organisatorische Probleme. Während im Allgemeinen ein Redakteur das gesamte Ressort Gericht bewältigen musste, behandelten in Wien noch im Frühjahr 1948 sieben Senate ausschließlich Anklagen nach Verbots- und Kriegsverbrechergesetz. Die Zeitungen behalfen sich mit einem Poolsystem, in dem trotz des Kalten Krieges Redakteure aller politischen Richtungen reibungslos zusammenarbeiteten.5 Vor allem in der frühen Nachkriegszeit führten der Personalmangel und Arbeitsdruck der Justiz und der Personal- und Platzmangel der Zeitungen sowohl zu Lücken bei der Protokollierung wie auch zu mancher Seltsamkeit bei der Berichterstattung. Einige Berichte lassen den Verdacht entstehen, dass der Autor lediglich die Anklageschrift hörte oder las und der Urteilsverkündung, aber nicht der ganzen Verhandlung folgte. Diese Praxis begünstigte ein Verwirrspiel besonderer Art. In Fällen wie 46W169 führte die Anklageschrift Einzelheiten über die Rolle des Angeklagten in der NS-Justiz auf, die nicht Gegenstand der Anklage waren. Die Vermischung von Fakten zweierlei Art, nämlich solchen, die Teil der eigentlichen Anklage waren und anderen, die lediglich der Charakterisierung des Angeklagten dienten, war geeignet, die Leser der Berichte, aber auch deren Autoren in die Irre zu führen. Im erwähnten Fall bezeichnete die Anklage den Angeklagten als „den bösen Geist der Generalstaatsanwaltschaft, der ohne menschliche Regung an der starren Durchführung des Buchstabens festhielt.“ Ein Satz, der den Eindruck entstehen ließ, der ehemalige Oberstaatsanwalt sei wegen seiner Tätigkeit in der nationalsozialistischen Blutjustiz zu vier Jahren verurteilt worden, er war aber nur wegen Illegalität in Verbindung mit einem weniger gravierenden Endphasendelikt angeklagt.

In einem Fall wie 46W232 scheint nur der Vertreter der Arbeiter-Zeitung die ganze Zeit im Saal gewesen zu sein, so dass er als einziger die Fragwürdigkeit des Urteils erkannte. In einem Fall wie 46W271 ist der Prozess, über den die Österreichische Zeitung berichtete, schwer in Einklang mit den Einzelheiten zu bringen, die in der – im Amtsblatt der Wiener Zeitung veröffentlichten – Begründung für die Aufhebung des Urteils aufscheinen. So wichtig Urteilsschelte, öffentliche Kritik am Verhalten voreingenommener Vorsitzender, oft aber auch einfach die komplementäre Sicht eines kritischen Beobachters sind – dass auch der Akteninhalt zum Prüfstein für die Verlässlichkeit der Berichterstattung werden kann, ist ebenso evident.

In meinem Buch Verurteilt und Begnadigt – Österreich und seine NS-Straftäter (Wien 2003) findet sich eine ausführliche Darstellung der Umstände, unter denen die von den Volksgerichten angewendeten Gesetze, das Verbots- und das Kriegsverbrechergesetz, zustande kamen, der Probleme, die dabei bewältigt werden mussten, der politischen „Begleiterscheinungen“ dieser Justiz, des von der Bestechlichkeit des Staatsanwaltes am Volksgericht Paul Pastrovich angerichteten Schadens und nicht zuletzt des negativen Lernprozesses in Sachen politischer Moral, der dem Land von oben verordnet wurde und einer Politik, die alles, was sich dem Zeitgeist der verlogenen Versöhnung widersetzte, zum Schweigen brachte und zum Rückzug in eine Art von Innerer Emigration veranlasste. All dies muss hier nicht wiederholt werden, sehr wohl aber mein Dank an alle, die diese Arbeit unterstützt und mir geholfen haben, allen voran der damalige Generalsekretär des Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung Raoul Kneucker, Ordinarius Karl R. Stadler †, Generalanwalt Karl Marschall † und im Vorfeld dieser Publikation Univ. Prof. Oliver Rathkolb – ohne ihn wäre dieses Buch nicht zustande gekommen – sowie Direktor Dr. Peter Mooslechner von der Österreichischen Nationalbank, die durch einen Forschungsauftrag über die Involvierung österreichischer Bank- und Sparkassenbediensteter in die NS-Straftaten die Drucklegung dieses Werkes ermöglichte.

Unendlich hoch war der moralische Anspruch, den Österreich an sich und seine Gerichte stellte, als am 14. August 1945 die ersten vier Angeklagten in den überfüllten Großen Schwurgerichtssaal des Wiener Landesgerichts geführt wurden. Spätestens ab 1948, zum Teil bereits wenige Monate nach der Befreiung, wurde mit der systematischen Entwertung und Zerstörung all dessen begonnen, was damals, von tausend heiligen Schwüren besiegelt, gegolten hatte.

Die gesetzlichen Grundlagen

Am 8. Mai 1945, wenige Stunden, bevor in Berlin Generalfeldmarschall Keitel die bedingungslose deutsche Kapitulation unterzeichnete, beschloss im befreiten Wien der Kabinettsrat das „Verfassungsgesetz über das Verbot der NSDAP“ (Verbotsgesetz, VG). §1 verfügte deren Auflösung einschließlich aller nationalsozialistischen Organisationen und Einrichtungen und verbot jede Neubildung. §3 bedrohte jede weitere Zugehörigkeit, jede weitere Betätigung für ihre Ziele mit dem Tode und Verfall des gesamten Vermögens, „in besonders berücksichtigungswürdigen Fällen“ konnte auf schweren Kerker in der Dauer von zehn bis zwanzig Jahren erkannt werden. Das Verbotsgesetz 1947 differenzierte die Tatbestände des alten §3 sodann in den §§3a bis 3g (Strafandrohung fünf bis 20 Jahre). Die Todesstrafe war nur noch für bestimmte gravierende Arten der Wiederbetätigung vorgesehen.

Alle Mitglieder der aufgelösten NSDAP und ihrer Wehrverbände sowie die Parteianwärter mussten sich, auch wenn „diese Zugehörigkeit nur eine zeitweise war“, registrieren lassen (§4) – wer dies „unterlässt oder über wesentliche Umstände unvollständige oder unrichtige Angaben macht“, war wegen Verbrechens des Betruges mit Kerker von einem bis zu fünf Jahren zu bestrafen (§8). Die Neufassung von 1947 enthielt eine „Amnestie für Registrierungsunterlassung“. Diese blieb nun straffrei, wenn sie binnen vier Wochen nachgeholt wurde oder unrichtige Angaben richtig gestellt bzw. ergänzt wurden.

§ 10 definierte den Illegalen. In diese Kategorie fiel, wer „in der Zeit zwischen dem 1. Juli 1933 und dem 13. März 1938, wenn er innerhalb dieser Zeit das 18. Lebensjahr erreicht hat, jemals der NSDAP oder einem ihrer Wehrverbände … angehört hat.“ (Das VG 1947 nannte ausdrücklich auch die „Altparteigenossen“ und „Alten Kämpfer“ sowie die Angehörigen des NS-Soldatenringes und des NS-Offiziersbundes.) Alle diese Personen galten ohne weiteres Verfahren als des Hochverrates im Sinne von §58 des österreichischen Strafgesetzes schuldig, doch wurde die Verfolgung wegen dieses Tatbestandes ausgesetzt. Alle Illegalen, deren „Tat vorläufig nicht verfolgt wird“, trugen „für die Dauer von fünf Jahren vom Inkrafttreten dieses Gesetzes an die gesetzlichen Wirkungen einer Verurteilung zu einer Strafe von fünf Jahren schweren Kerkers wegen Verbrechens des Hochverrates“. Öffentlich Bedienstete wurden entlassen, Ruhebezüge (auch für Hinterbliebene) eingestellt. Dazu kam eine Reihe weiterer empfindlicher Belastungen und Auflagen.

Mit schwerem Kerker von zehn bis zwanzig Jahren und Verfall des gesamten Vermögens zugunsten der Republik wurden alle Illegalen bestraft, die „als politischer Leiter vom Ortsgruppenleiter und Gleichgestellten aufwärts oder in einem der Wehrverbände vom Untersturmführer und Gleichgestellten aufwärts tätig“ gewesen waren, ferner Träger des Blutordens und anderer Parteiauszeichnungen sowie alle Illegalen, die „besonders schimpfliche Handlungen“ oder solche, „die den Gesetzen der Menschlichkeit gröblich widersprechen“, begangen hatten (§11). Dieselbe Strafe traf finanzielle oder sonstige Förderer der illegalen NSDAP (§12). Laut VG 1947 konnte durch Verordnung bestimmt werden, welche Auszeichnungen als Parteiauszeichnungen zu gelten hatten.

Das Verbotsgesetz stellte den Untersturmführer auf eine Stufe mit dem, der „den Gesetzen der Menschlichkeit gröblich widersprechende Handlungen“ begangen hatte. Damit war jener Formalismus geschaffen, der zwar zu haarsträubenden Ungerechtigkeiten führte, später aber die Handhabe bot, die gesamte Gesetzgebung in NS-Sachen zu desavouieren. Das Verbotsgesetz 1945 wurde im Staatsgesetzblatt Nr.13 vom 6. Juni kundgemacht und trat am 7. Juni in Kraft. Es galt zunächst nur im Bereich der sowjetischen Besatzungsmacht. Der Alliierte Rat genehmigte es am 10. Oktober mit einigen Abänderungen für ganz Österreich. Die Neufassung erlangte 1947 erst nach zahlreichen vom Alliierten Rat geforderten Korrekturen Geltung (Nationalsozialistengesetz 1947 bzw. Verbotsgesetz 1947).

Am 26. Juni 1945 beschloss sodann der Kabinettsrat das „Verfassungsgesetz über Kriegsverbrechen und andere nationalsozialistische Untaten“ (Kriegsverbrechergesetz, KVG).6 Es war mit dem Verbotsgesetz verzahnt: Laut §1 qualifizierte allein die Ausübung bestimmter Funktionen im NS-Staat für eine Bestrafung nach KVG. Indem es dafür die Todesstrafe vorsah, trug es der Überlegung Rechnung, dass die Inhaber dieser Ämter auf jeden Fall unmenschliche Handlungen setzen bzw. Entscheidungen treffen mussten, die den Tod von Menschen nach sich zogen. Von §1 betroffen waren alle, die während der NS-Herrschaft in Österreich, „wenn auch nur zeitweise, als Mitglieder der Reichsregierung, Hoheitsträger der NSDAP vom Gauleiter oder Gleichgestellten und vom Reichsleiter oder Gleichgestellten aufwärts, Reichsstatthalter, Reichsverteidigungskommissare oder Führer der SS einschließlich der Waffen-SS vom Standartenführer aufwärts, tätig waren“. Mit dem Nationalsozialistengesetz 1947 wurde auch das KVG novelliert. Die Worte „vom Gauleiter oder Gleichgestellten und vom Reichsleiter oder Gleichgestellten aufwärts“ wurden nun durch „vom Kreisleiter oder Gleichgestellten aufwärts“ ersetzt.7 Die Volksgerichte machten jedoch von der Möglichkeit eines Todesurteils aufgrund einer ausgeübten Funktion ohne Beweis einer weiteren Schuld in keinem Falle Gebrauch. Überschneidungen zwischen VG und KVG ergaben sich ferner durch §11 VG, wonach besonders schimpfliche Handlungen oder solche, die der Menschlichkeit gröblich widersprechen, das Ruhen der Verfolgung wegen Illegalität aufhoben8, sowie durch §8 KVG, wonach Hochverrat am österreichischen Volk mit dem Tode zu bestrafen war.

Das Kriegsverbrechergesetz behandelte folgende Tatbestände:

§1. Kriegsverbrechen, das heißt Taten „gegen Angehörige der Wehrmacht, der Kriegsgegner oder die Zivilbevölkerung eines mit dem Deutschen Reich im Krieg befindlichen oder von deutschen Truppen besetzten Staates oder Landes“, die „den natürlichen Anforderungen der Menschlichkeit und den allgemein anerkannten Grundsätzen des Völkerrechts“ widersprechen sowie „den natürlichen Anforderungen der Menschlichkeit“ widersprechende Taten, die „im wirklichen oder angenommenen Interesse der deutschen Wehrmacht oder der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in diesem Kriege“ begangen worden waren.

§2. Kriegshetzerei. Wegen dieses Delikts war zu bestrafen, „wer durch Mittel der Propaganda, insbesondere in Druckwerken, verbreiteten Schriften, bildlichen Darstellungen oder durch Rundfunk, zum Kriege aufgehetzt, bewusst auf die Verlängerung des Krieges hingearbeitet, den Krieg als dem Staats- oder Volkswohl förderlich dargestellt oder im Volk die Überzeugung hervorzurufen gesucht hat, dass seine Interessen gegenüber anderen Völkern nur durch kriegerische Handlungen gewahrt werden könnten“.

§3. Quälereien und Misshandlungen. Schuldig war, wer „aus politischer Gehässigkeit oder unter Ausnutzung dienstlicher oder sonstiger Gewalt einen Menschen in einen qualvollen Zustand versetzt oder empfindlich misshandelt“ hatte. Nach §3 „insbesondere schuldig und mit dem Tode zu bestrafen“ waren: „Alle Personen, die als Kommandanten, Lagerführer, deren Stellvertreter oder ähnliche leitende Funktionäre von Konzentrationslagern, als nicht ausschließlich mit Verwaltungsaufgaben betraute leitende Beamte der Geheimen Staatspolizei (Gestapo) oder des Sicherheitsdienstes (SD) vom Abteilungsleiter aufwärts, als ernannte oder bestellte Mitglieder des Volksgerichtshofes oder als Oberreichsanwalt beim Volksgerichtshof oder dessen Stellvertreter in der Zeit der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft tätig waren.“9

§4. Verletzungen der Menschlichkeit und der Menschenwürde. Zu bestrafen war, wer unter Voraussetzungen wie in §3 „jemanden in seiner Menschenwürde gekränkt oder beleidigt“ oder „unter Missachtung der Menschenwürde und der Menschlichkeit gewalttätig behandelt“ hatte. Auch für die §§ 3 und 4 wurde bestimmt, dass Befehl nicht entschuldigte, die Befehlenden aber strenger zu bestrafen waren als die Ausführenden und dass die wiederholte Erteilung solcher Befehle die Strafe erhöhte (§5).

§6. Missbräuchliche Bereicherung. Die Strafe von ein bis fünf, wenn aber der „zugewendete Vorteil ein bedeutender oder der angerichtete Schaden ein empfindlicher war“, von fünf bis zehn Jahren sollte jene treffen, die „in der Absicht, sich oder anderen unverhältnismäßige Vermögensvorteile zuzuwenden … fremde Vermögensbestandteile an sich gebracht oder anderen Personen zugeschoben oder sonst jemandem an seinem Vermögen Schaden zugefügt“ hatte, also in erster Linie die „Arisierer“.

§7. Denunziation. Wer „zur Unterstützung dieser Gewaltherrschaft oder aus sonstigen verwerflichen Beweggründen andere Personen durch Denunziation bewusst geschädigt“ hatte, war mit Kerker von einem bis fünf Jahren zu bestrafen. Die Strafe erhöhte sich auf schweren Kerker von fünf bis zehn Jahren, wenn a) die Angabe wissentlich falsch gewesen, b) die Existenz des Angezeigten gefährdet worden, c) der Denunziant in einem besonderen Verpflichtungsverhältnis zum Denunzierten gestanden war oder d) „die Denunziation offenbar auf eigennützigen Beweggründen beruht“ hatte. Musste der Anzeiger eine Gefahr für das Leben des Denunzierten vorhersehen, war auf zehn bis zwanzig Jahre, und wenn er zum Tod verurteilt worden war, auf lebenslangen schweren Kerker zu erkennen.

§8. Hochverrat nach KVG hatte (anders als nach VG) begangen, „wer für sich allein oder in Verbindung mit anderen in führender oder doch einflussreicher Stellung etwas unternommen hat, das die gewaltsame Änderung der Regierungsform in Österreich zugunsten der NSDAP oder die Machtergreifung durch diese vorbereitete oder förderte“, in welcher Form auch immer; er war „hiefür mit dem Tode zu bestrafen“.

Der Strafrahmen reichte von einem Jahr bei den §§4, 6, 7, fünf Jahren bei §3 und zehn Jahren bei den §§1 und 2 bis zur Todesstrafe bei den §§1 bis 4, zehn Jahren bei §6 und Lebenslang bei §7. Neben der Freiheits- oder Todesstrafe war stets auch der Verfall des gesamten Vermögens zugunsten der Republik auszusprechen, wovon „nur in besonders berücksichtigungswürdigen Fällen … ganz oder teilweise Abstand genommen werden“ konnte. Das Volksgericht hatte ferner die Möglichkeit, „wenn es dies einstimmig beschließt, an Stelle der Todesstrafe eine lebenslange Kerkerstrafe oder schweren Kerker von zehn bis zwanzig Jahren“ zu verhängen. „Bei anderen angedrohten Strafen“ nach KVG konnte es von Anfang an vom außerordentlichen Milderungsrecht oder von §54 StG (Berücksichtigung von Sorgepflichten) Gebrauch machen.

Dass die ordentliche Justiz allzu viele Möglichkeiten bieten würde, die Verfahren zu verschleppen, war absehbar. Man entschied sich daher für Sondergerichte, die sogenannten Volksgerichte. Keine glücklich gewählte Bezeichnung – sie erinnerte fatal an die Volksgerichtshöfe der Nazis.10 Die Senate der Volksgerichte bestanden aus zwei Berufsrichtern, von denen einer den Vorsitz führte, und drei Schöffen unter Beiziehung eines Protokollführers. Sie urteilten in erster und letzter Instanz. Die Schöffen wurden bis Ende 1946 Vorschlagslisten der drei politischen Parteien entnommen, ab Anfang 1947 nach dem in der ordentlichen Justiz angewendeten Verfahren ermittelt. In der ersten Phase der Volksgerichte war die Registrierung der ehemaligen NSDAP-Mitglieder noch im Gange. Die Vorschlagslisten der Parteien sollten verhindern, dass ehemalige NSDAP-Mitglieder zum Schöffenamt am Volksgericht herangezogen wurden. Bei der Abstimmung über Schuld und Strafe hatten stets die Schöffen als Volksrichter ihre Stimme zuerst abzugeben, nach ihnen der Vorsitzende und der zweite Berufsrichter.

Die Rechtsmittel des Einspruches gegen die Anklageschrift, der Berufung und Nichtigkeitsbeschwerde sowie der Beschwerde gegen Beschlüsse des Gerichtes waren im Volksgerichtsverfahren ausgeschlossen, die Freiheitsstrafen ohne Aufschub anzutreten. Die Bestimmungen über die Veränderung der Strafe waren nicht, das außerordentliche Milderungsrecht bei Verurteilungen nach VG vorerst nicht anwendbar. Letztgenannte Einschränkung wurde noch im Herbst 1945 aufgehoben.

Rechtsstaatlichen Grundsätzen diente die dem Verurteilten eingeräumte Möglichkeit, beim Obersten Gerichtshof ein Ansuchen um Überprüfung seines Urteils einzubringen. Die Zahl der vom OGH aufgehobenen Urteile ist derzeit nicht abschätzbar, dürfte aber in der Endphase der Volksgerichte hoch gewesen sein. Den einzigen öffentlich zugänglichen Hinweis auf die Aufhebung von Urteilen bildete jeweils die im Amtsblatt zur Wiener Zeitung kundgemachte Aufhebung des Vermögensverfalles.

Die Systematik der Dokumentation

Um Querverweise und die Zitierung zu erleichtern, wurde jedem Fall eine Signatur zugeordnet, die sich aus dem Jahr, dem Volksgericht und der laufenden Nummer innerhalb dieses Jahres zusammensetzt. Der Prozess, mit dem das Volksgericht Wien als erstes seine Tätigkeit begann, erhielt demnach die Nummer 45W1. Die ursprünglich geplante Erfassung der Berichte über die Verfahren aller österreichischen Volksgerichte hätte, wie sich zeigte, den zeitlichen und finanziellen Rahmen gesprengt, sie musste auf das Volksgericht Wien beschränkt werden. Es liegen jedoch Teile des Materials über die Volksgerichte Graz, Linz und Innsbruck vor.

Die einleitenden Angaben zu jedem Fall enthalten, soweit aus mindestens einem Bericht ersichtlich, außer der laufenden Nummer, Datum, Namen, Alter und Beruf des (der) Angeklagten die Delikte laut Anklage, den Vorsitzenden, den Staatsanwalt, den Verteidiger (e. o., ex offo, verweist auf Pflichtverteidiger) und das Urteil. Die Abkürzung verb. weist darauf hin, dass zumindest einer Zeitung zu entnehmen war, die Strafe sei bereits durch die Untersuchungshaft verbüßt. Wenn in zumindest einer Zeitung auf den Vermögensverfall (Verm. Verf.) hingewiesen wurde, taucht er in den Angaben zum Fall auf; Fehlen dieses Hinweises bedeutet nicht, dass Vermögensverfall nicht trotzdem ausgesprochen wurde. Wenn ich im amtlichen Teil der Wiener Zeitung späterer Jahre auf die Verlautbarung über die Aufhebung des Vermögensverfalls stieß, wurde dies als Hinweis auf die Aufhebung des Urteils in die einleitenden Angaben zum Fall aufgenommen. Bei den Quellenangaben (Zeitung, Datum) scheint das Jahr nur dann auf, wenn auf den Fall in einem nicht unmittelbar auf die Verhandlung folgenden Beitrag Bezug genommen wurde. Über eine Anzahl von Fällen liegen zwar Berichte über eine Hauptverhandlung vor, die aber zur Einvernahme von Zeugen oder aus anderen Gründen vertagt wurde und über die kein späterer Bericht mehr aufgefunden werden konnte. Diese wurden nicht in die Dokumentation aufgenommen.11

Die Zeitungszitate enthalten eine Fülle zeitgeschichtlicher Informationen, die dem damaligen Wissensstand entsprechen, nichtsdestoweniger aber manche Vorgänge in einem neuen Licht erscheinen lassen (z. B. 46W15, 46W112, 47W59, 48W100, 48W134, 50W36). Eine Überprüfung anhand späterer Erkenntnisse hätte sowohl den Rahmen als auch die Methodik der Arbeit gesprengt.

Die Arbeit entstand vor der Rechtschreibreform, die Einleitung und der den Fällen jedes Jahres vorangestellte kurze Text entstanden bei der Vorbereitung der Drucklegung. Die dadurch entstandenen Brüche in der Rechtschreibung sind hoffentlich entschuldbar.

Um die Auffindung prominenter Prozesse zu erleichtern, wurden in das Verzeichnis der Vorsitzenden und ihrer Fälle Kurzhinweise auf einzelne Verfahren eingefügt.

Ich kann nur hoffen, dass mir nicht allzu viele Fehler unterlaufen sind.

Die Fälle des Jahres 1945

Die Sprache der frühesten Nachkriegszeit, oder besser: deren Sprachen, die Sprache der Radikalität ebenso wie die Sprache der Scheinradikalität, die Sprache der Klarheit ebenso wie die Sprache der blumigen Vernebelung, spiegeln auf frappante Weise die persönlichen Befindlichkeiten und politischen Positionen und Absichten der Akteure in der jungen Zweiten Republik. Dies betrifft in besonderem Maß ihre Äußerungen über die Verfolgung der NS-Straftaten.

Wer die ersten Wochen nach der Befreiung in Wien erlebte, konnte nur den Eindruck gewinnen: ein einzig Volk von Brüdern (leider fehlen im Rütlischwur die Schwestern). Einig im Glück über seine Befreiung, in der Abscheu angesichts des Terrors und der Verbrechen der vergangenen sieben Jahre, eines Sinnes gegen eine Minderheit, die zig Millionen Tote, unbeschreibliches Leid und das materielle Elend Europas verschuldet hatte.

Es waren die Wochen des scheinbar ungetrübten antinazistischen Konsenses. Liest man heute die Äußerungen österreichischer Politiker der frühen Nachkriegszeit12, ergibt sich allerdings ein differenzierteres Bild dessen, was sie bewegte und was nicht, und wie die einen ihre Absichten offen aussprachen, andere ihre verhüllten.

Noch vor der Ausrufung der österreichischen Unabhängigkeit hatte Karl Renner mit seinem oft zitierten Brief an Josef Stalin samt seiner Kaskade schwülstiger Schmeicheleien ein taktisches Meisterstück geliefert. Der Verweis auf seine Bekanntschaft mit Leo Trotzki inmitten all des Honigs, den er dem Diktator ums Maul strich, war ein schwerer Tabu-Bruch. Renner wusste selbstverständlich, dass es in der Sowjetunion ein todeswürdiges Verbrechen war, den Namen Trotzki in den Mund zu nehmen. Mittels vorgeblicher Ahnungslosigkeit verpackte er einen Widerhaken in seinen Schmeichelbrief, eine klare Botschaft an Stalin: Sie rechnen wohl mit meiner Willfährigkeit, aber ich bin keiner Ihrer Satrapen!

Der Satz in der Unabhängigkeitserklärung vom 28. April, wonach „die nationalsozialistische Reichsregierung Adolf Hitlers kraft dieser völligen politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Annexion des Landes das macht- und willenlos gemachte Volk Österreichs in einen sinn- und aussichtslosen Eroberungskrieg geführt hat, den kein Österreicher jemals gewollt hat, jemals vorauszusehen oder gutzuheißen instand gesetzt war, zur Bekriegung von Völkern, gegen die kein wahrer Österreicher jemals Gefühle der Feindschaft oder des Hasses gehegt hat“, geht freilich auch auf ihn zurück.

Ob der Behauptung, kein wahrer Österreicher habe jemals Gefühle der Feindschaft oder des Hasses gegen Russen, Polen, Serben oder Franzosen gehegt, dürfte sich Karl Kraus im Grab umgedreht haben. Und gerade jene wahren Österreicher, die von Anfang an gegen Hitler gewesen waren, weil sie dessen Absichten sehr wohl durchschauten und den Krieg voraussahen, statt, wie Renner, den Anschluss öffentlich gutzuheißen, durften darüber rätseln, ob sie eine wohlbedachte oder nur eine im Übereifer nach der falschen Seite ausgeteilte Ohrfeige empfangen hatten. Gewiss, das Recht auf den Status eines befreiten Landes musste energisch legitimiert werden. Aber damit war auch bereits der Grundstein der österreichischen Lebenslüge gelegt.

Einen Tag später besichtigte der provisorische Staatskanzler das schwer beschädigte Parlamentsgebäude und sprach unmissverständlichen Klartext, indem er vor der sowjetischen Generalität, den Journalisten und Mikrophonen erklärte: „Wir nehmen die heilige Verpflichtung auf uns, sobald nur irgend möglich, das Volk zu freien demokratischen Wahlen aufzurufen, damit es seine definitive Regierung bestelle und uns die Bürde unseres Amtes wieder abnehme. Wir wollen dieser neuen Volksvertretung Rechenschaft ablegen und zurücktreten.“ (NÖ 30.4.) Möglicherweise hatte Renner ganz anders geartete sowjetische Absichten ins Kalkül gezogen und ihnen mit diesen Sätzen einen Riegel vorgeschoben.