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Impressum
© 1976/2019 Pabel-Moewig Verlag KG,
Pabel ebook, Rastatt.
eISBN: 978-3-95439-944-4
Internet: www.vpm.de und E-Mail: info@vpm.de

Fred McMason

Odyssee der toten Seelen

Das Wrack ist uralt – und es birgt ein Geheimnis

„Inselspringen“, so nannten die Zwillinge Hasard und Philip den herrlich aufregenden Spaß, von einem Inselchen zum anderen zu segeln, um neugierig nachzusehen, was es dort gab.

Die kleine Jolle befand sich weit draußen auf See, im Bereich der mehr als hundert kleinen Inseln, Eilande und Atolle der Seychellen.

Überall leuchteten unter ihnen bunte Korallengärten in unvorstellbarer Pracht. Bunte Fische flitzten unter der Jolle hindurch, und einmal sahen sie eine riesige Muräne, die aus einer kleinen Grotte unwillig ihren monströs-häßlichen Schädel hervorreckte. Sie waren so eifrig bei der Sache, daß sie anfangs nicht bemerkten, wie die Jolle immer schneller wurde.

„Mann, haben wir ein Affentempo drauf!“ rief Hasard junior staunend. „Das kann doch nicht allein am Wind liegen!“

Es lag nicht am Wind, keinesfalls, denn der Wind wehte nur mäßig. Es lag daran, daß sie in einen Mahlstrom geraten waren, einen stark ziehenden Sog, der sie wie ein richtiger Trichter in sich aufnahm.

Weiter vorn waren gigantische Wirbel zu sehen, und inmitten dieser Wirbel hatte sich ein Höllenschlund aufgetan, der nur darauf wartete, das Boot zu sich herunterzuziehen …

Die Hauptpersonen des Romans:

Hasard junior – Mit seinem Zwillingsbruder Philip unternimmt er eine Erkundung der Inselwelt der Seychellen – ein „Inselspringen“, das allerdings mit Gefahren verbunden ist.

Old Donegal O’Flynn – Der „Admiral“ bricht für seine Enkel eine Lanze und steckt ihnen heimlich eine Buddel Rum zu.

Philip Hasard Killigrew – Der Vater muß vor der Abenteuerlust seiner Söhne kapitulieren, aber dann fangen die Sorgen erst richtig an.

Edwin Carberry – Der Profos ergreift zusammen mit Smoky die Flucht, als sie den „Knochenmann“ entdecken.

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

1.

An diesem Januartag des Jahres 1597 blickten die Männer von der „Santa Barbara“ auf ein einmalig paradiesisches Bild.

Die Seychellen lagen vor ihnen – Inseln des Friedens, palmenbewachsen, von Korallenriffen geschützt, eingebettet in samtblaues Wasser, über dem sich ein Himmel mit Schäfchenwolken wölbte.

Immer mehr Inseln tauchten auf. Da gab es große, fast unüberschaubare Inseln, aber da gab es auch winzige Eilande und Atolle, die wie schaumgekrönte Perlen aus dem Meer wuchsen.

Die Vegetation der Inselwelt war mehr als üppig. An den scheinbar unberührten und jungfräulichen Stränden wuchsen Palmen der Gruppe Borassae und Areceae. Einige Stellen waren dicht mit Kasuarinen bewachsen.

Aber es gab auch hügelige und bergige Granitinseln mit Steilküsten, die knapp neunhundert Yards über dem Meeresspiegel aufragten.

In den Korallengärten der Inseln tummelten sich riesige Seeschildkröten. Sie gaben sich so unbekümmert, als wüßten sie nichts von jenen Wesen, die ihnen nachstellten.

Auch die Seeschwalben störten sich nicht an dem weißgrauen Vogel, der mit geblähten Segeln über das Meer glitt. Anmutig und graziös ließen sie sich vom Wind tragen und hielten nach Beute Ausschau, die es hier im Überfluß gab.

Hasard sah gedankenvoll den weißen Feenseeschwalben nach, die paarweise durch die Luft flogen und nur wenige Flügelschläge brauchten, um noch höher zu steigen. Sie schienen zu schweben, als hätten sie kein Gewicht. Strahlend weiß schimmerten sie in der Sonne und glitten dann wieder zum Land zurück.

„Viel höher nordwärts werden wir nicht mehr segeln“, sagte er nach einer Weile, immer noch in Gedanken versunken. „Schließlich müssen wir auch mal an die Rückkehr denken, obwohl sich dieser Abstecher durchaus gelohnt hat.“

Sie hatten die Westküste von Madagaskar umsegelt, den Komoren einen Besuch abgestattet und befanden sich jetzt dicht unter dem Äquator.

„Viel zu weit nördlich schon“, murmelte Hasard, „aber die Neugier hat uns immer weitergetrieben.“

„Was sind schon ein paar Wochen Zeit“, meinte Ben, „an unserer Ladung kann nichts verderben, aber dafür haben wir eine Menge Neues gesehen und hinzugelernt. Immerhin haben wir auf den anderen Inseln jenen längst ausgestorben geglaubten Riesenvogel gefunden.“

„Ja, es war sehr interessant. Aber einmal ist Schluß damit.“

„Das heißt also, daß wir jetzt umkehren werden?“

„Ich weiß, daß alle es bedauern. Dazu ist diese Inselwelt einfach zu herrlich und paradiesisch. Ich denke, wir sehen uns einige dieser Inseln noch einmal genauer an, studieren die Fauna und Flora, versorgen uns mit dem, was die Inseln bieten, und gehen dann auf den alten Kurs zurück, der um Afrika herumführt.“

Er lehnte sich an die Schmuckbalustrade und sah einem Fregattvogel nach, der mit aufgeplusterter roter Brust dicht über dem Wasser flog und auf seine Lieblingsspeise, fliegende Fische, lauerte, die an einigen Stellen immer wieder aus dem Wasser schnellten. Als er sich endlich einen geschnappt hatte, flog er in einem eleganten Bogen zu der hohen Küste zurück, an die kraftvoll die Brandung donnerte.

Hasard suchte mit dem Spektiv die Strände ab. Nach einer Weile ließ er es wieder sinken.

„Keine Anzeichen, daß die Inseln bewohnt sind. Bei den anderen war das der Fall, aber hier scheint alles unberührt zu sein.“

Er dachte daran, wie sie erst vor kurzem auf den anderen Inseln zwanzig Malaien aus den Händen der Franzosen befreit hatten. Dort war es recht turbulent zugegangen. Hier dagegen schienen keine Eingeborenen zu leben, hier gab es nur Pflanzen und Tiere, die in stiller und einträchtiger Harmonie lebten.

Smoky sang laufend die Tiefe aus. Sobald sich die Farbe des Wassers voraus etwas veränderte, wurde er noch durch einen zusätzlichen Ruf aus dem Fockmars gewarnt, wo Luke Morgan stand und wachsam Ausschau hielt.

Zwei kleinere Inseln wurden gerundet. Auch sie waren unberührt, aber von Mangrovendickicht gesäumt. Zwischen ihren hohen Wurzeln bewegten sich kleine reiherähnliche Tiere, die emsig ihre Schnäbel ins Wasser hieben. Sie fischten nach Schalentieren.

Hasard ließ Kurs auf eine andere Insel nehmen, die größer war und höher aus dem Wasser ragte. Sie wies einige Hügel auf, die ebenfalls mit üppiger Vegetation ausgestattet waren. Dazwischen lag eine tiefdunkle Stelle. Den Erfahrungen nach konnte es da Trinkwasser geben.

Noch waren sie zwar gut eingedeckt, aber in diesen südlichen Breiten verdarb das Wasser bei der schwülwarmen Luft rapide, und dann bildeten sich ebenso schnell grünliche Algen. Daher war es besser, das Trinkwasser vor der Weiterreise noch einmal zu wechseln.

Daß sie bald wieder umkehren würden, sprach sich mittlerweile schon unter den Arwenacks herum. Hatten sie erst einmal die Südspitze von Afrika gerundet, begann der lange und eintönige Törn über den Atlantik. Dort aber waren die Inseln nicht halb so interessant wie hier, und diese Tatsache löste lebhaftes Bedauern aus.

„Dafür werden wir aber in der Karibik wieder entschädigt“, sagte der Decksälteste Smoky. „Da haben wir alles ungefähr wieder wie hier, außerdem sind wir dann im Stützpunkt, wo es ganz sicher eine Menge Neuigkeiten geben wird.“

Old O’Flynn, der neben Smoky mit ein paar anderen am Steuerbordschanzkleid der Kuhl stand, löste seinen Blick vom Land und drehte sich langsam um.

„Ich weiß nicht, ich weiß nicht“, murmelte er dumpf und rieb seine Finger gegeneinander. „Ich habe so ein merkwürdiges Gefühl, als würden wir die Karibik noch lange nicht erreichen. Ich kann das nicht erklären. Es ist mehr so eine Ahnung, versteht ihr?“

Sie alle verstanden Old O’Flynns „Ahnungen“, denn die hatten es oftmals in sich und boten Anlaß zu endlosen Diskussionen, bei denen gewöhnlich nicht viel herauskam.

„Aber wir gehen auf Gegenkurs, wenn wir die Inseln ein bißchen durchforscht haben“, wandte Smoky ein.

„Schon, schon. Aber auf diesen Gegenkursen liegt meist der Hund begraben. Ich kann mich auch täuschen. Warten wir’s ab.“

Damit war für Old Donegal das Thema vorläufig erledigt. Er wolle sich nicht festlegen, meinte er, das sei alles so ungewiß.

Edwin Carberry wollte den Alten erst ein bißchen auf den Arm nehmen, doch dann würde der granitharte alte Bursche sich nur wieder unnötig aufregen, und das brachte nichts ein. So warf er ihm nur einen langen und nachdenklichen Blick zu. Dann drehte er sich wieder um. Er musterte die Insel, auf die sie zusegelten. Sie war in ihrer Unberührtheit von einmaliger Schönheit. Auch er sah den Feenseeschwalben, den Kormoranen und anderen Vögeln nach, die ruhig ihre Kreise zogen. Sehr sorgfältig musterte der Profos das alles.

Er war in den Anblick so vertieft, daß er ein bißchen zusammenfuhr, als ihn eine Hand berührte und eine Stimme fragte: „Was suchst du denn so emsig, Ed?“

Es war der Kutscher. Hager, tiefbraun von der Sonne verbrannt, stand er grinsend neben ihm. Offenbar hatte er heute ganz besonders gute Laune.

„Ich suche gar nichts“, sagte der Profos. „Überhaupt nichts.“

„Aber etwas scheinst du doch zu suchen, sonst würdest du nicht so eifrig Ausschau halten.“

„Na gut, dann suche ich eben etwas“, brummte der Profos, „wenn du es schon so genau wissen willst.“

„Und was ist das?“ Der Kutscher war etwas neugierig, doch mit der Antwort hatte er nicht gerechnet.

„Ich suche Affenärsche, die auf Bäumen wachsen.“

„Deine Antworten auf höfliche Fragen sind ja immer von besonderem Liebreiz“, sagte der Kutscher. „Eigentlich hätte ich nichts anderes erwarten dürfen.“ Er stemmte die Arme in die Hüften und schüttelte den Kopf. „Aber bitte, ich will dir dabei keinesfalls im Wege stehen, um deinen botanischen Entdeckergeist zu bremsen. Such nur weiter“, setzte er etwas höhnischer hinzu. „Wer suchet, der findet.“

Dem Profos entging, daß der Kutscher bei den Worten ein eigentümliches Lächeln auf den Lippen hatte.

„Klar, so steht’s auch geschrieben“, brummte Carberry.

Die „Santa Barbara“ lief weiter auf die Insel zu, um einen günstigen Ankergrund zu finden. Nachdem eine Barriere aus Korallen passiert war, wurde das Wasser so klar, daß sie bis auf den Grund sehen konnten. Von unten leuchtete weißer Sand herauf. Die Entfernung zum breiten Strand betrug bestenfalls noch drei Kabellängen.

Kurze Zeit später schwoite die Galeone an langer Ankertrosse, die von einer neugierigen Schildkröte intensiv in Augenschein genommen wurde. Sie schwamm ständig drumherum und glotzte die Trosse an.

„Hier werden wir zwei oder drei Tage bleiben“, sagte der Seewolf. „Wir sehen uns alles an und decken uns mit dem ein, was die Insel hergibt. Das scheint mir schon auf den ersten Blick eine ganze Menge zu sein.“

„In der Tat, eine üppige und phantastische Vegetation“, sagte Don Juan, „und alles von so unglaublicher Friedfertigkeit. Vielleicht war das früher einmal der Garten Eden.“

„Sieht fast so aus. Nun, dann fiert mal die Boote ab, damit wir uns die Insel näher ansehen können.“

„Wer darf denn alles an Land?“ erkundigte sich Batuti mit einem freundlichen Grinsen.

„Jeder, der Lust hat. Es genügt völlig, wenn zwei Ankerwachen an Bord bleiben. Wir haben einen unbegrenzten Blick über das Meer, und Einwohner scheint es hier nicht zu geben.“

Hasard und Philip junior standen erwartungsvoll daneben. Sie waren schon seit jeher von Expeditionen und Spähunternehmungen fasziniert und begeistert, wenn es darum ging, Neuland zu entdecken. Natürlich durften sie auch mit. Hasard bat sich lediglich aus, die Wolfshündin diesmal an Bord zu lassen, damit sie die Idylle und Ruhe dieser Insel nicht störe. Sie sollte zusätzlich die beiden Bordwachen verstärken. Später sollte sie dann auch mal an Land herumschnüffeln.

Gegen Nachmittag brach der erste Trupp auf.

2.

Der Marsch über die Insel ähnelte einem Spaziergang durch ein Märchenparadies. Es gab immer wieder Neuigkeiten zu entdecken.

Sie gingen durch eine Ansammlung von Kokoswäldern, in denen es lieblich duftete. Über der ganzen Insel lag der Geruch nach Vanille und anderen Gewürzen, eine Mischung, die sich nicht definieren ließ.

Ein drosselähnlicher Vogel mit wohlklingendem Gesang begleitete sie fast den ganzen Weg. Später verschwand er in einer Kokospalme, wo er sein Nest hatte. Von oben ertönte Gezwitscher herab.

Auf der Insel wuchsen eine Menge Früchte und Beeren. Manche waren allerdings unbekannt, so daß der Kutscher vor ihrem Verzehr warnte.

Sie fanden eine Quelle mit klarem sprudelndem Wasser. Das war ein willkommener Anlaß zur ersten Rast.

Später, in südlicher Richtung, stießen sie auf dichte Mangrovenwälder. Ganze Kolonien von weißlichen Tölpeln hockten regungslos auf den Zweigen. Die grauen Schnäbel hatten sie weit vorgereckt und starrten die Arwenacks aus ihren dunklen Augen vertrauensvoll und neugierig an, als würde ihnen niemand etwas zuleide tun. Sie sahen etwas dümmlich aus, was ihnen auch ihren Namen eingetragen hatte. Vielleicht aber zogen sie auch nur so dümmliche Gesichter, weil die Fregattvögel ihnen ständig die Fische abjagten.

Der Kutscher blieb dicht vor den Vögeln stehen, die sich so gut wie gar nicht rührten. Nur ihre Augen waren in Bewegung. Dann deutete er auf die Fregattvögel, die ebenfalls auf den Ästen der Mangroven dicht beieinanderhockten.

„Das nennt man Friedfertigkeit. Sie hocken in aller Eintracht nebeneinander, und doch gibt es jeden Tag Streit zwischen ihnen. Die Fregattvögel jagen den Tölpeln die Fische ab, es gibt ein bißchen Ärger, und danach sitzt man wieder friedlich zusammen.“

„Wie bei uns“, sagte Carberry anzüglich. „Da streiten wir uns, und später sitzen wir auch einträchtig beieinander. Jetzt wirft sich nur die Frage auf, wer sich für den Fregattvogel und wer für den Tölpel hält. Was meinst du, Kutscherlein?“

Der Kutscher hob indigniert die linke Augenbraue.

„Du gestattest sicherlich, daß ich aus Gründen der Höflichkeit auf eine Beantwortung dieser Frage vorerst verzichte.“

„Gestattet“, erlaubte der Profos großzügig. „Du würdest wohl auch nicht wagen, mich als – als – na, eben diesen letztgenannten Vogel zu bezeichnen. Die Umstände könnten es sonst erfordern, daß ich dir ein paar Zähne abjage.“

„Ich zähle dich eher zu den Sulidae, eine Familie gänsegroßer, starkschnäbeliger Ruderfüßer.“

„Dachte ich mir“, sagte Carberry zufrieden. „Diese Sulimans sehen mir schon wesentlich ähnlicher.“

„So ist es“, sagte der Kutscher würdevoll, wobei er schamhaft verschwieg, daß er statt Tölpel nur den lateinischen Namen genannt hatte.

Als sie das Mangrovenwäldchen passiert hatten, tauchten wieder Kokospalmen auf. Diesmal traf den Profos allerdings fast der Schlag.

Er blieb stehen, sperrte den Mund auf und stierte aus hervorquellenden Augen zu den Palmen hinüber.

„Das gibt’s nicht“, sagte er ächzend.

Der Kutscher grinste bis zu den Ohren. Auch die anderen begannen immer stärker zu grinsen, als sie die Palmen sahen.

„Doch, das gibt’s“, sagte der Kutscher ruhig. „Du hast doch Affenärsche gesucht, die auf Bäumen wachsen. Wer suchet, der findet.“

„Affenärsche, die auf Bäumen wachsen“, wiederholte Carberry tonlos und stierte immer noch auf die seltsamen Kokosnüsse, von einer Sorte, die er noch nie gesehen hatte.

Es war die Seekokospalme, an der die monströse Seychellen-Nuß hing. Sie ähnelte tatsächlich in verblüffender Weise einem riesigen Hinterteil, denn jeweils zwei Nüsse schienen zusammengewachsen zu sein.

An fast allen Seekokospalmen hingen diese Nüsse. Sie waren so schwer, daß sie fast einen halben Zentner wögen.

Angesichts dieses „Naturereignisses“ brandete lautes Gelächter auf. Jetzt hatte der Profos das, was er angeblich suchte, und was von ihm nur als schlechter Witz aufzufassen war. Affenärsche auf Bäumen!