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JONNY APPLESEED

Joshua Whitehead

JONNY APPLESEED

Roman

Aus dem Amerikanischen
von Andreas diesel

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Die Originalausgabe erschien zuerst 2018 unter

dem Titel Jonny Appleseed bei Arsenal Pulp Press.

© 2018 by Joshua Whitehead

We acknowledge the support of the

Canada Council for the Arts.

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1. Auflage

© 2020 Albino Verlag

Salzgeber Buchverlage GmbH

Prinzessinnenstraße 29, 10969 Berlin

info@albino-verlag.de

Aus dem Amerikanischen von Andreas Diesel

Umschlaggestaltung: Johann Peter Werth

Satz: Robert Schulze

Umschlagabbildung: Erin Konsmo

Printed in Germany

ISBN 978-3-86300-303-6

Mehr über unsere Bücher und Autoren:

www.albino-verlag.de

Für Nohkômak, kisâkihitin

& für Terri Cameron, du fehlst mir jeden Tag.

Inhalt

Kapital 1

Kapital 2

Kapital 3

Kapital 4

Kapital 5

Kapital 6

Kapital 7

Kapital 8

Kapital 9

Kapital 10

Kapital 11

Kapital 12

Kapital 13

Kapital 14

Kapital 15

Kapital 16

Kapital 17

Kapital 18

Kapital 19

Kapital 20

Kapital 21

Kapital 22

Kapital 23

Kapital 24

Kapital 25

Kapital 26

Kapital 27

Kapital 28

Kapital 29

Kapital 30

Kapital 31

Kapital 32

Kapital 33

Kapital 34

Kapital 35

Kapital 36

Kapital 37

Kapital 38

Kapital 39

Kapital 40

Kapital 41

Kapital 42

Kapital 43

Kapital 44

Kapital 45

Kapital 46

Kapital 47

Kapital 48

Kapital 49

Kapital 50

Kapital 51

Kapital 52

Kapital 53

Kapital 54

Kinanaskomitin

Glossar

Kleines wörterbuch Der cree-sprache

1

Mit acht wurde mir klar, dass ich schwul bin. Ich blieb spätabends auf, wenn alle anderen schon im Bett waren, und sah mir im Fernsehen meiner Kokum Queer as Folk an. Sie hatte eine Satellitenschüssel und alle Sender, die man so empfangen konnte – natürlich ohne zu bezahlen. Damals wohnten meine Mom und ich bei meiner Kokum, weil mein Dad uns sitzengelassen hatte – ich glaube, er nahm einen Songtext von Loretta Lynn etwas zu wörtlich und kam eines Tages von einer Sauftour einfach nicht mehr nach Hause. Queer as Folk lief um Mitternacht; ich schaltete den Ton aus und die Untertitel an, damit keiner was hörte, und dämpfte die Helligkeit, damit das Licht nicht unter ihren Türen hindurchflackerte wie ein gottverdammter Poltergeist. Ich liebte QAF; ich wollte auch einer dieser schwulen Männer sein und ein tolles Leben in Pittsburgh führen. Ich wollte in einem Loft wohnen, in Schwulenbars gehen, mit süßen Typen tanzen und auf Klappen herummachen. Ich wollte in einem Comicladen oder an einer Universität arbeiten und reich und sexy sein. Das wollte ich. Ich holte mir auf Brian Kinneys Schwanz einen runter und stellte bei Justin Taylors blankem weißem Arsch auf Pause, um zu kommen. Damit die braungeblümte Couch meiner Kokum sauber blieb, brachte ich meine Decke mit und wischte mich mit einem Strumpf ab. Ich hielt immer den Atem an und verkrampfte meine Zehen, um beim Kommen nicht zu keuchen. Als ich dann kam, dachte ich, so muss sich Schönheit anfühlen: meine Haut gespannt und brennend, mein Körper feucht wie Schlamm.

Als ich älter wurde, ich glaube, ich war 15, sah ich Dan Savage und Terry Miller im Internet, die mir sagten, dass es besser wird. Sie behaupteten, sie wüssten, was ich durchmache, sie würden mich kennen. Wie das, fragte ich mich. Ihr kennt mich nicht. Ihr kennt Latte Macchiato und Eigentumswohnungen – ihr habt keinen Schimmer, was es heißt, ein brauner schwuler Junge im Reservat zu sein. Ich hatte damals noch nicht mal eine Starbucks-Filiale gesehen und keine Ahnung, warum man einen kleinen Kaffee dort ‹groß› nennt. Das war ungefähr zur selben Zeit, als ich anfing, Freier anzuziehen wie das Licht die Motten, was wenigstens meine finanzielle Situation verbesserte. Das war natürlich vor der Zeit der Apps, mit denen man Fotos austauschen kann, und der Webcam-Sites, mit denen ich mittlerweile meinem Geschäft nachgehe, aber auch damals war das Internet voller Leute, die mit anderen Leuten Kontakt suchten, und das galt vor allem für Peguis. Wir hielten uns mithilfe von Facebook und Handys auf dem Laufenden. Im Chatroom der Gaming-Seite Pogo schickten wir uns gegenseitig schmutzige Textnachrichten. Ich nannte mich Lucia und gab mich als Mädchen aus, um mit anderen Jungs zu flirten. Oft spielten wir Online-Billard oder Dame und plauderten nebenher. Ich gab mich naiv und lenkte das Gespräch auf schmutzige Themen; dabei vermittelte ich ihnen gern das Gefühl, dass sie am längeren Hebel saßen. In dieser Hinsicht bin ich wohl ein bisschen sadistisch. Ich bin vielleicht die sexuelle Fantasie, aber ich bin auch derjenige, der die Fäden in der Hand hat. Hatten die Jungs erst mal Bilder von nackten, verschwitzten Leibern im Kopf, gab es kein Zurück mehr. Sex stellt verrückte Sachen mit Menschen an – es ist wie ein Blackout oder wie Autopilot. Der Körper weiß, was er will, und er nimmt es sich. Das kann gefährlich werden, wie ich später noch herausfinden sollte, aber wer diesen Trieb manipulieren kann, kann eine Person kontrollieren. Ich fühlte mich wie Professor X – wie ein Telepath.

Auf diese Weise begann meine Webcam-Karriere: mit Online-Billard und Cybersex. Auf diese Weise lernte ich Tias kennen. Er war mein erster fester Cyber-Freund – ich war die russische Prinzessin Lucia, und er war der indigene Junge, der sich fünf Jahre älter machte, als er war, und davon träumte, seine Unschuld zu verlieren.

Was waren wir doch für ein Paar!

Damals war ich noch ungeoutet, aber in der Schule war allen klar, dass ich anders war. Man nannte mich Schwuchtel, Homo, Tunte – die ganzen netten Sachen eben. Aber ich machte mir nichts draus. Manchmal merkte ich, dass sowohl Mädchen als auch Jungs verstohlen meinen Körper betrachteten. Ich war unter hundert verschiedenen Namen bekannt. Außerhalb meiner Familie nannte niemand mich Jonny; alle nannten mich den ‹Schluckspecht›. Wer mich in der Zeit zwischen meinem zwölften Lebensjahr und heute kannte, kennt mich wahrscheinlich unter diesem Namen. Ein Schulfreund verpasste mir den Spitznamen, als ich beim Dosenstechen eine Bierbüchse in unter acht Sekunden leertrank; das ist anscheinend Weltrekord für NDNs*. Später spann ich den Spitznamen weiter und nannte mich nach verschiedenen Spechtarten: Ich war Buntspecht, Hüpfspecht, Zwergspecht, WH (als Kurzform von Wendehals); manchmal, vor allem, wenn meine Mom mir von einem Ausflug in die Stadt ein neues Shirt mitgebracht hatte, nannte ich mich auch Woody Woodpecker – weil ich mir so richtig schick vorkam.

Meinen wirklichen Namen Jonny habe ich nie gemocht. Ich wurde nach meinem Dad benannt, einem Schulabbrecher, Alkoholiker und Möchtegern-Countrystar. Ich hörte nie wieder von ihm, nachdem er uns sitzengelassen hatte. Irgendwann fanden wir heraus, dass er bei einem Brand in einem anderen Reservat umgekommen war. Mir macht das nichts aus, aber die Leute vergessen sowas nicht. Wildfremde Menschen fragen mich: «Ach, du bist doch der Sohn von Soundso, dem Säufer?» Am peinlichsten war jedoch eine Szene in einem christlichen Zeltlager, Camp Arnes. Ein Erzieher namens Stephen ließ uns vorm Essen immer ein Lied singen. Es hieß ‹Johnny Appleseed› und ging so:

Oh, der Herr ist gut zu mir,

deshalb danke ich dem Herrn,

was ich brauche, gibt er mir,

Vater, Mutter, Sonne, Liebe.

Oh, der Herr ist gut zu mir, Johnny Appleseed, Amen.*

Klingt toll, was? Nun, in diesem Zeltlager knutschte ich mit meinem ersten Lover Louis – ein Silberfuchs, der wie Stephen als Erzieher im Zeltlager arbeitete –, und als wir gerade in meiner Koje (im Quartier der Rotfüchse) herummachten, erwischte uns einer seiner Kollegen. Es stellte sich heraus, dass Louis eine Freundin im Iglu-Quartier hatte, und als man uns ertappte, regte er sich furchtbar auf und behauptete, ich wäre ihm nachgestiegen. Ein paar Stunden später wusste das ganze Zeltlager von der Sache, und alle fingen an, mich Jonny Rottenseed zu nennen. Siehe da, beim Gebet vorm Essen schloss niemand mehr die Augen oder senkte das Haupt, nein, alle starrten sie mich an und flüsterten miteinander, Ekel und Angst auf den Gesichtern. Offenbar kann ein NDN schon im zarten Alter von zehn Jahren ein schwuler Sexualstraftäter sein. Und was sollte das Ganze überhaupt? Darf ein Junge keine sexuellen Bedürfnisse haben? Ist es wirklich ein Verbrechen, wenn ich meinen Körper selbst berühren und von anderen berühren lassen will? Es ist ja schließlich mein Körper, klaro?

Zurück im Reservat stellte ich in unserer schäbigen kleinen Behelfsbibliothek Nachforschungen über meinen Namensvetter an. Dort gab es kein integriertes Bibliothekssystem; die Bücher lagen einfach auf drei großen Haufen: Haufen A (das Weltall), Haufen B (Peguis-Fischereijahrbücher) und Haufen C (alles Mögliche). Das machte es mir nicht gerade einfach. Es stellte sich heraus, dass Johnny Appleseed ein amerikanischer Volksheld war, der dadurch berühmt wurde, dass er in West-Virginia Apfelbäume pflanzte. Ich begriff nicht, wieso wir im Zeltlager ein Lied über ihn sangen – ich hätte lieber was über Louis Riel, Häuptling Peguis oder Buffy St. Marie erfahren, statt einen Weißen zu ehren, der im amerikanischen Grenzland mit Apfelkernen um sich schmiss. Allem Anschein nach war er eine Art moralischer Märtyrer, der Jungfrau geblieben war, weil man ihm zwei Frauen im Himmel versprochen hatte. Ach, und ein Tierfreund war er auch; ich las, wie er ein Pferd rettete, indem er es mit Grashalmen fütterte, ganz im Geist von Walt Whitman. Ich verwette mein linkes Ei darauf, dass er auch ein Sklavenhalter war und seine Apfelbäume auf indianischem Gebiet pflanzte. Eins weiß ich jedenfalls: Im Reservat sind Äpfel sauteuer, und in meinen Augen waren sie nun etwas Negatives.

Mein Stiefvater Roger nannte mich einen Apfel, als ich ihm mitteilte, dass ich das Reservat verlassen will.

«Du bist außen rot», sagte er, «und innen weiß.»

* Das Sternchen verweist auf Erläuterungen im Glossar am Ende des Buches.

2

Als ich das Reservat verließ und nach Winnipeg zog, nutzte ich Grindr und Rez Fox, um Freunde zu finden – großzügige Freunde natürlich. Meine Wohnung war strahlend weiß – weiße Lampen, Wände, Decken, selbst die Toilette war weiß. Unsere Kloschüssel im Reservat war so alt, dass sie mokkafarben war, und der Deckel, der in meiner Kindheit zu Bruch gegangen war, wurde erst durch den meines Cousins ersetzt, nachdem er bei einem Unfall mit dem Schneemobil umgekommen war. Meine Mom motzte den Deckel mit einem flauschigen roten Bezug auf, den sie im Wal-Mart gekauft hatte. «Das hab ich mal im Marlborough-Hotel gesehen», sagte sie, «ich finde, das sieht echt edel aus.» Ein NDN-Bad ist ein Farbwirbel aus allen möglichen Quellen: Flohmärkte, Second Hand, Spenden. Als Kind war ich mal bei einem Familiengrillfest, wo ich mich mit den Erdnussbutter-Marshmallows meiner Kokum vollstopfte und meine älteren Cousins mir ein paar Gläser Bacardi 151 gaben, die in der Speiseröhre schrecklich gebrannt haben. Ich war elf Jahre alt und schon am frühen Nachmittag betrunken. Ich rannte aufs Klo meiner Kokum und kotzte ein ganzes Konfetti an Farben in die Schüssel – Rum, Erdnussbutter und zerkaute Marshmallows. Als ich fertig war, drückte ich ab, aber die Spülung funktionierte nicht. Ich geriet in Panik, öffnete den Wasserkasten und schaufelte die Kotze mit den Händen dort hinein. Wenige Tage später erzählte mein Onkel uns bei Tee und Kuchen, weil «irgendein betrunkener Volltrottel in den Wasserkasten gekotzt hat, wächst da jetzt Schimmel». Ich verspürte so etwas wie Stolz darauf, dass ich nun ‹dazugehörte›, wurde aber trotzdem rot.

Auf Grindr fand ich haufenweise Männer in Winnipeg, und alle trugen sie lustige Namen wie Fotohomo und Nudedude, wie Figuren aus einem Kinderbuch von Dr. Seuss. Überall nackte Oberkörper, und ratzfatz hatte ich eine ganze Sammlung von Schwanzbildern. Ich fand, dass die Jungs sich eine Scheibe von meinen künstlerischen Selfies abschneiden könnten, auf der Welt gibt es schließlich noch mehr als Pfirsich- und Auberginen-Emojis. Auf allen Profilen stand «will mit dir chatten» und «Diskretion Voraussetzung», und ich fragte mich, was Diskretion denn mit Sexdates zu tun hatte.

Mein erstes Sexdate mit einem Typen fand auf der Party eines Freundes im Reservat statt. Der Typ war ein großer, weißer Junge, der mit einem NDN-Freund gekommen war, der ihn hereingeschleust hatte und als eine Art Vermittler auftrat, damit die Rüpel ihm nicht den Arsch versohlten. Er trug Hemd und Krawatte und erzählte allen, dass er Psychologie studierte. Sein Kumpel fing an, mit einem der Mädels aus dem Reservat zu flirten, und setzte ihn in eine Ecke, wo er belämmert hockte und wie ein Aufpasser wild hin und her blickte. Er hatte lange, knochige Finger, fast wie ein Gerippe, und die Haare waren zurückgekämmt und klebrig vom Gel. Ich wollte ihm schon sagen, dass er das mit Bärenfett besser hinbekäme, aber an seinem dünnen Twink-Körper konnte ich ablesen, dass er nichts anfassen würde, was irgendwie mit Fett zu tun hatte. Er saß still da, den Oberkörper nach vorn gebeugt, die Ellbogen wie an den Flanken festgeklebt, und nippte an seinem Rotwein, während er den Blick durch den Raum wandern ließ. Wie dumm, dachte ich, zu so einer Party Wein mitzubringen – da hätte er sich gleich ein Schild umhängen können: «Ich gehöre hier nicht hin.» Ich beobachtete ihn aus der Ferne, und auch meine Freundin Tasha musterte ihn. «Der ist echt süß, oder?», sagte sie. «Den werd ich mir nachher krallen.» Du bist noch blöder, als du aussiehst, Tasha, der Typ ist stockschwul. Er wackelte nervös mit dem Fuß; es sah aus wie ein zuckender Fischschwanz. Ich hatte Mitleid mit ihm, schnappte mir eine Dose Coors Light und setzte mich ihm gegenüber.

«Vielleicht lässt du das mit dem Wein mal besser und trinkst das hier», sagte ich und öffnete die Dose. «Und nimm in Dreigottesnamen den blöden Schlips ab.»

Er sah mich eine Sekunde lang fragend an, die Augen glasig von dem seltsamen Hunger, den wir beide spürten. Er löste seine knochigen Finger und lächelte mich an. Seine Zähne wiesen rosa Weinflecken auf, um die Lippen zeichnete sich schwach ein roter Ring ab. Wie zum Teufel hatte er das nur gemacht? Hatte er das Gesicht auf das Glas gedrückt und den Wein geschleckt wie eine Katze ihr Wasser? Ich nahm das als Zeichen Manitos, dass dieser Mann auf Rimmen stand.

«Danke», sagte er. «Von diesem Wein kriege ich Bauchweh.»

«Willst du ’ne Tablette?»

«Oh nein, danke, ich nehme keine Arzneimittel, wenn es nicht wirklich nötig ist, wegen der Superbazillen, weißt du. Ich will keine Immunität entwickeln.»

«Klar doch, Kumpel», sagte ich, «und deswegen kippst du den Wein, als wäre es Medizin.»

Er lachte, und ich verdrehte die Augen – ich würde ihm bestimmt keinen Tee aus Oshawurzel als Alternative anbieten.

«Wo kommst du her?», fragte ich.

«Aus Kitchener.»

«Aha, ist das in der Nähe der Hauptstadt?»

«Nicht wirklich, das sind ein paar Stunden mit dem Auto.»

«Nimmst du mich mal mit?», fragte ich spaßeshalber.

«Nun ja, klar doch, wenn du mal in der Gegend bist, sag Bescheid.»

Da wusste ich, dass ich ihn an der Angel hatte – ich konnte sehen, dass er schon einen Ständer bekam, wenn er nur von der Hauptstadt redete. Er erzählte mir, dass er an der McMaster studierte, berichtete von seinen Kursen und erklärte mir den Bystander-Effekt.

«Es gab eine Studie, wo Forscher in einer kontrollierten Umgebung einen Notfall nachstellten und Statisten dafür bezahlten, einfach weiterzugehen und keine Hilfe zu leisten», sagte er.

«Und warum das?»

«Um zu untersuchen, wie Menschenmengen auf Notfallsituationen reagieren – die bezahlten Statisten gehen vorbei, und das überträgt sich auf andere, und so entsteht der Bystander-Effekt.»

Mir erschien diese Hypothese nicht sonderlich bahnbrechend – er war offenbar noch nie im North End von Winnipeg gewesen. Aber mir gefiel, wie dieses Gespräch ihn zu beleben schien, wie sein ganzer Körper sich mir zuwandte wie der Zweig einer Zeder. Mir gefiel, wie sein Mund sich um die Worte herum bewegte, als würde jedes seiner Worte mit einem O beginnen, sein Mund wurde selbst ein großes O, und sein Atem ging keuchend; seine Lippen waren feucht von Spucke, und wenn man seitlich schaute, erinnerten seine Grübchen an Arschbacken. Ich wollte ihn öffnen, seine Haut spreizen und in ihn hineinkriechen, damit ich so tun könnte, als ob ich hochtrabende Begriffe wie Dendrit, Placebo oder Effektgesetz begriffen hätte – ich kannte dieses Gesetz nicht, aber dafür ein paar andere ziemlich gut, die von eins bis elf nummeriert waren*. Als er vom Neocortex sprach, fragte ich mich, ob das der Teil des Gehirns war, mit dem ich ihn wahrnahm. Der einzige Cortex, den ich kannte, war eine Figur aus dem Videospiel Crash Bandicoot – vielleicht redeten wir ja darüber?

Er laberte weiter, und ich berührte sein Knie mit meinem. Seinen Redefluss störte das nicht, aber ich spürte, wie er die Berührung erwiderte und mit seinem Knie ganz langsam meine Beine spreizte, als würden wir ohne Sattel auf einem Pferd reiten. Als mein Blick von seinem Mund zu seinem Knie wanderte, sah ich den Umriss seines Schwanzes, der unter der engen Jeans auf seinem Schenkel lag – wie ein Steak, das darauf wartete, gebraten zu werden. Er bemerkte meinen Blick; seine Augen waren mittlerweile blutunterlaufen vom Zigarettenrauch. Auf einmal bekam ich Angst. Sein Körper wirkte jetzt gar nicht mehr schüchtern, und die roten Augen erinnerten mich an die Geschichten vom Wendigo, die meine Kokum mir erzählte hatte, wenn ich nicht brav gewesen war.

Er stand auf und gab mir ein Zeichen, ihm zu folgen. Wir bahnten uns den Weg durch eine Gruppe Indigener, die sich an der Tür drängten. Man traf überall welche, sie rauchten wie ein Schlot und benahmen sich wie die gottverdammte NDN-Polizei: «Wer bist du?» – «Wo kommst du her?» – «Wen kennst du?» Am besten bringt man immer gleich den Ausweis und die Liste seiner biologischen Attribute mit, wenn man eine Party in einem Reservat besuchen will. Er ging die Treppe hinunter, als würde er sich auskennen, und ich folgte ihm mit ein paar Schritten Abstand. Er schlüpfte in den Wäscheraum in der hintersten Kellerecke, und ich ging ihm nach. Der Zementboden war uneben, fühlte sich unter meinen Fußsohlen aber erfrischend kühl an. Er zündete sich eine Kippe an und stand vor mir, kaum sichtbar im Schein der Zigarette. Der Raum hatte keine Tür und war nur mit einem Laken abgehängt, und es lag eine Menge Schmutzwäsche herum, vieles davon von einem Baby und anderes von einem kleinen Kind. Er schob alles auf einen Haufen und setzte sich darauf, um sein Hemd aufzuknöpfen. Seine Brust war eine Tundra bis auf ein paar vereinzelte dunkle Härchen. Ich kam näher und ging vor ihm in die Knie, berührte seine Nase mit meiner, ehe seine Lippen nach meinen suchten. Er hob mein Shirt an, und mein Bauch war nackt in der Dunkelheit. Seine Finger folgten der Ameisenspur meiner Schamhaare, und sein Zeigefinger versank in einer Kuhle meines Beckens.

«Und wenn jemand reinkommt?», fragte ich und hielt ihn auf. Mein Körper war schweißnass, und das war mir peinlich – ich wollte beim Sex nicht glitschig wie ein Aal sein.

«Hier kommt keiner runter», erwiderte er großspurig. Wie zum Teufel willst du das wissen, dachte ich, du bist doch zum ersten Mal hier.

«Jede Menge Leute kommen her, um rumzumachen, deswegen liegt die ja hier.» Ich wies mit dem Kinn auf die Matratze in der Ecke.

Er seufzte, stand auf und lehnte die Matratze vor den Eingang.

«So, wenn jemand kommt, gibt uns das ein paar Minuten Zeit, um uns was überzuziehen», sagte er. Er baute sich über mir auf, seine große Gestalt kaum sichtbar, weil meine Augen sich noch nicht an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Der Boden war kalt, aber seine großen Hände brannten wie Kohle auf mir. Sie kamen mir jetzt noch größer vor, breit genug, um mich ganz zu umfangen. Er öffnete die Hose und befreite ein hartes Stück Fleisch, das steil nach oben wies. Er zog mich an den Beinen nach unten, manövrierte seine Hüfte gegen mein Ohr, und nach einer leichten Drehung schmeckte ich ihn. Die Mehlschwitze seines Safts – weißes Ektoplasma, das in meinen Mund schoss. Ich wollte es und wusste gleichzeitig nicht, was ich damit machen sollte. Ich habe mich immer gefragt, wie er diese Magie hinbekam, wie er seinen Körper in der Dunkelheit verwandelte, wie seine Kanten mich stießen, aber niemals schnitten, wie er in mich hineinpasste wie eine Brustwarze in den Mund eines Babys, wie ich ihn kopfüber lesen konnte. Sein gestaltwandelnder Körper umhüllte mich, bedeckte mich, ließ mich feierlich schwitzen. Als er kam, grunzte er wie ein Schwein, und sein Körper umfasste mich wie eine Schnauze.

Sex hat für mich immer schon die magische Fähigkeit, Dinge in mir zu erwecken, die gestorben waren. Nachdem wir uns abgewischt hatten, knöpfte er sich die Jeans zu und ging. Ich weinte. Meine Haut war warm und aufgekratzt. Maskwa, dachte ich, ich reise mit meiner Zunge, nur um dir zu begegnen.

Das Lustige an Grindr ist, dass es dort jede Menge Rothaut-Jäger gibt. Sie verehren dich als Fetisch, wenn du schreibst, dass du ein echter indianischer Wolfsjunge bist, dass du mit Pfeil und Bogen auf ihre Gesichter und ihre Schwänze zielst. Aber ich war ja Profi – ich wollte smart arbeiten, nicht hart. Ich nutzte eine Collage aus Schwanzbildern, um Freier zu ködern. Wenigstens gab es bei Grindr die Kategorie ‹Native American›, das ersparte mir eine Menge Arbeit. «Du bist Indianer, hm?», schrieb mir jemand, und ich antwortete: «Ja, willst du mal sehen?» und schickte einen Link zu einer meiner Websites. Das war ein Kinderspiel – alle auf dieser verdammten App waren besessen von irgendwelchem New-Age-Scheiß: Leute, die im VW-Bus durch Kanada tourten und sich dabei wie Kerouac vorkamen, Hipster-Schamanen, die Kristalle und Geoden sammelten und nach einem NDN suchten, der ihre Hexenkünsten beglaubigte. «Du suchst das Gütesiegel? Hier ist meine Website!»

Ich wurde von Männern zu Ausflügen gebucht, die Dinge schrieben wie: «Lass uns ein irres Abenteuer in den mystischen Wäldern erleben und durch die Galaxie schwimmen.» Mystische Begegnungen kannte ich nur von den Gassen im Reservat, wenn man unerwartet einem Kojoten gegenübersteht, der alle Vögel mit seinem Geheul vertreibt, oder einem Fuchs, der jeden verfluchten Abend auf derselben Straße auftaucht, nur um dich anzuschauen. Ich fand es lustig, dass man im schwulen Tierreich zu einem Mischwesen werden konnte: ‹Bär›, ‹Otter›, ‹Wolf›, ‹Fuchs›. Hätten die Schwulen nur einen Schimmer davon, wie mächtig Mistahi-Maskwa in Wirklichkeit sein konnte.

Als schwuler Bär hat man stämmig, haarig und supermännlich zu sein, aber als ich mir einen Stammesnamen auf Grindr aussuchte, wählte ich Bär, weil das nun mal mein Clan war. Wenn Männer mein Profil aufriefen und meinen ausgeprägten Kiefernknochen sahen, schrieben sie mir: «Du bist ein Twink und kein Bär.» Wie lustig, dachte ich dann, du bist auch keiner. Wenn ich das klarstellte, wurden sie sauer und schrieben mir, ich solle nicht die beleidigte Leberwurst spielen – ich sei wohl schlecht gefickt worden. Aber mal ehrlich, wenn du beim Analsex Schmerzen hast, dann machst du irgendwas falsch. Ich fand es hingegen immer komisch, dass der große Schöpfer schelmisch genug war, den männlichen G-Punkt in den Anus zu legen. Ich habe mal gelesen, dass man Stammesnamen wie Anishinaabe und Algonquin mit «Wesen aus dem Nichts geschaffen» übersetzen kann, und dass wir aus dem Atem von Gitchi Manito erschaffen wurden. Früher dachte ich, das hieße, dass ich keinen Körper hätte, also lernte ich schon vor langer Zeit, Liebe wie ein wildes Tier zu machen – die Pow-Wows lehrten es mich, sie sangen die Haut zurück auf meine Knochen.

3

Nichts und niemand bereitet einen auf den Schmerz vor, wenn man die Heimat verlässt. Mein ganzes Leben lang wollte ich das Reservat verlassen, und jedes Mal, wenn es so weit war, ließ ich es sein. Es tat weh. Der Abschied tat weh. Es war nicht so glanzvoll, wie es bei Julia Roberts in Eat Pray Love aussah. Ich kann nun mal nichts anderes frühstücken als gebratene Fleischwurst oder Frühstücksfleisch; ich kann zu keinem Gott beten, vor dem ich mich fürchte; und ob man es glaubt oder nicht, selbst im 21. Jahrhundert können sich zwei braune Jungs immer noch nicht im Reservat verlieben. Sorry, Julia, deine Blah-Blah-wir-sind-doch-alle-gleich-Sonntagsreden haben mir nichts gebracht. Ich bin immer noch ich: ein brauner Junge, der die X-Men und Jake Bass mag.

Ich habe gelernt, dass Abschiede immer wehtun – zu Hause ist kein Ort, sondern ein Gefühl. Heimat muss man fühlen, und um sie zu fühlen, muss man sie sinnlich wahrnehmen: riechen, schmecken, hören. Und sie ist auch nicht immer gemütlich – das gilt zumindest für NDNs. Tatsächlich ist sie ziemlich oft ungemütlich. Aber man ist dort daheim, wo das Bannock-Brot im Ofen bräunt und deine Kokum Tee kocht und dabei Pfeilwurzkekse isst. Man ist dort daheim, weil man dort sein muss – die Routine befriedigt das Bedürfnis. Und im Laufe der Zeit wird Heimat etwas Mobiles – man kann diese Rituale mit sich nehmen, die Heimat umpflanzen wie eine Blume. Ja, vielleicht ist Heimat wie eine Blume, eine Sonnenblume, die mit ihrem großen bunten Kopf der Sonne folgt – oder ist das vielleicht eine zu extravagante Metapher für NDNs? Vielleicht sind wir eher so wie Löwenzahn, ein Unkraut im Garten, aber hübsch anzusehen. Ja, ein NDN-Heim ist wie Löwenzahn: hübsch, aber zum Wegwerfen, und erfüllt mit zahllosen kleinen Samen, die sich in Wünsche auflösen, wenn kleine weiße Hände sie pflücken.

Meine Heimat ist voller Hoffnungen und voller Gespenster.

4

An der Zufahrt zu meinem Reservat saß früher immer ein Mann auf einem Gartenstuhl und winkte allen zu, die ankamen. Wir nannten ihn ‹Smiling Steven›, aber für mich war er insgeheim unsere Empfangsdame. Er ist nicht mehr da – er ist weg, wie so viele andere auch. Dieses Reservat ist mittlerweile wie ein Geisterhaus. Im Geiste bin ich da, und ich blicke auf in den leeren Himmel voller Sterne, die zu sehr an Zucker erinnern. Das Land ist leer bis auf das Heulen der Hunde und einzelner Kojoten. Das Quellwasser sammelt sich in Pfützen, die sich wie eine Decke über das Reservat legen – der schwüle Dunst ein schmutziger Nebel, der mich an die Venus erinnert; selbst die Luft schadet uns schon. Ich frage mich, ob meine Onkel immer noch nach dem Sasquatch suchen, frage mich, ob Außerirdische uns immer noch beobachten und sagen: «Ich hab dir’s ja gesagt», drüben in Jackhead, wo, wie alle NDNs behaupten, das Militär eine UFO-Landung vertuscht hat; ich frage mich, ob meine Kokum noch weiß, wie man Milchreis kocht. Ich frage mich, wie es Tias wohl geht, und bitte den Schöpfer, seinen Schmerz auszulöschen, damit er ihn nicht an seine Kinder weitergibt – und auch nicht mehr an sich selbst.

Ich betrachte das Nichts, das wüste Land voller Dreck, eine heilige Hölle, wenn es je eine gab. Ich betrachte dich und fühle die Tränen kommen. Ich will dich fragen, ob du noch da bist und zuhörst, will dich fragen, ob du nicht auch verschwunden bist. Es hieß immer, es sei unser Los zu verschwinden, und hier stehe ich und denke mir, dass wir die Kunst des Verschwindens bei Gott gemeistert haben. «Hey, du», rufe ich in den Abgrund hinein, «bist du überhaupt noch da?» Vor Aufregung und vom trockenen, starken Wind bekomme ich Nasenbluten – ich komme mir vor wie Elfi aus Stranger Things, die Lasten tragen muss, die für kleine Jungsmädchen viel zu schwer sind. Ich spüre das Blut aus meiner Nase rinnen und spreche ein vergessenes Mantra der Cree, das immer so geht: befreimich, befreimich, befreimich.

In letzter Zeit ertappe ich mich viel zu oft bei Selbstgesprächen. Der Wind zerzaust mir das Haar; ich strecke die Hände hinaus in die Finsternis und warte, dass jemand mich nimmt.

5

Der Himmel ist in den letzten Tagen immer grau, und ich sage mir dann, dass meine Kokum ein großes Feuer in Saskatoon entzündet hat und dass dieser Rauch, der nach Zeder und Esche riecht, ihre Medizin ist, die über die Grenze zieht. Aber er hängt in meinem Wohnzimmer und dringt in meine Vorhänge, klebt an meiner Haut und nistet sich tief im Gewebe meiner Sterndecke ein – die noch den Umriss eines Leibes nachbildet, der schon wieder verschwunden ist. Meine Wohnung ist ein Raum voller Gerüche, die an den Wänden haften: der Rauch eines Waldbrands in Saskatchewan, Kush, der allzu süße Geruch braun werdender Bananen, der stechende Gestank von Sex. So fängt mein Morgen an: Ich wache auf, gehe pissen, wärme mir den letzten Rest Kaffee der Vornacht auf und öffne das klapprige Fenster im Bad, wo ich meistens rauche, weil in diesem Haus Rauchverbot herrscht. Ich drücke die Kippen in einer alten Dose Pepsi Light aus, die bessere Tage gesehen hat. Die Aussicht aus dem Badezimmerfenster beschränkt sich auf die grauen Backsteine des Odeons, eine verrostete Feuerleiter und eine Taube, die sich auf dem Fensterbrett des leer stehenden Gebäudes auf der anderen Straßenseite ihr Nest gebaut hat. Hier begegnen wir uns jeden Morgen: ich, wie ich Asche und getrockneten Speichel von meinen Lippen reibe, und dieser Vogel, wie er ordentlich kleine Zweige, Kakerlaken und Hühnerknochen auf dem Fensterbrett anhäuft. Dummer kleiner Vogel, denke ich immer, baut sich ein Nest an diesem toten Ort.

Während ich meine Zigarette rauche, starren wir uns an. Die Taube legt den Kopf zur Seite und fixiert mich mit ihren Knopfaugen, und ich wippe mit dem Kopf im Rhythmus des Straßenlärms. Ich frage mich, ob der Vogel wohl dasselbe über mich denkt und sich im Taubenkopf die Frage stellt: Was ist das für ein dummer Mensch, der sich auf dem Land der Geister ein Nest baut? Beide sind wir wunderliche Geschöpfe, die sich in Räumen bewegen, die weniger ein Heim sind als eine Unterkunft für Verzweifelte; beide versuchen wir, aus dem Müll anderer Leute unsere Betten zu machen. Vielleicht haben wir beide utopische Träume und glauben, dass hier früher berühmte und bedeutende Menschen lebten und dass sich deren Lebendigkeit auf uns überträgt? Ich paffe am Stummel meiner Zigarette, inhaliere weniger Tabak als den Rauch eines brennenden Filters, nicke dem Vogel zu und sage: «Ich glaube, genau das tust du, wenn du glaubst, dass ich das glaube.» Ich blase eine Rauchwolke aus, die immerhin nicht nach dem Gestank von Ärschen und Schwänzen riecht, eher nach der Oshawurzel, die meine Kokum immer trank. «Die hat magische Kräfte», sagte sie immer, «die hat Mistahi-Maskwa aufgeweckt.»

Ich brate mir ein paar Spiegeleier zusammen mit den herzförmigen Stückchen Fleischwurst, die noch übrig sind, gieße mir Orangensaft ein, der aber nicht mal für ein halbes Glas reicht, weshalb ich ihn mit Getränkepulver und Leitungswasser strecke – ein typischeres NDN-Frühstück gibt es nicht. Ich werfe auf meinem Handy einen Blick auf Facebook und lese langatmige Monologe von Menschen, mit denen ich zur Highschool gegangen bin: Soundso ist schwanger, der Freund der Cousine meiner Cousine ist mal wieder auf Sauftour, in einem Reservat ist ein Feuer ausgebrochen, ein kleiner Junge wurde von wilden Hunden angefallen, sowie unzählige Posts über verschwundene Mädchen.

Ein Ping, und ich sehe eine neue Nachricht auf dem Schirm aufblitzen. Jemand namens Hatehound schickt mir eine Message: «Lust auf Sex?» Ich tippe: «Wer ist da?», und sehe die drei kleinen Punkte, die anzeigen, dass er schon an der Antwort sitzt. Der ist aber schnell, denke ich mir, und hoffe auf leicht verdientes Geld. Schnelle Typen machen nicht so viel Arbeit, ich muss mich in der Regel nicht mal selbst befummeln, weil ein paar verspielte Schwanzbilder schon reichen, um sie zum Orgasmus zu bringen und mir zwanzig bis dreißig Kröten zu verdienen. Vor den langsamen Typen muss man sich in Acht nehmen, die laugen dich und deinen Körper aus und wollen immer noch mehr. Bilder und Webcam-Shows sind das eine, aber ich kann ein Lied davon singen, wie anstrengend es ist, für Kunden eine ganze Welt zu erschaffen, die zu deinem Körper und zu ihrem passt, und zu keinem sonst. Ich kann ein gerade erst volljähriger Twink für sie sein, wenn sie das wollen, aber das kostet extra – und dabei stelle ich nicht mal die unschönen Erinnerungen in Rechnung, die diese Fantasien ans Licht holen. Meistens jedoch soll ich den NDN spielen. Ich habe mir vor ein paar Jahren an Halloween einige Kostüme gekauft, die mir dabei helfen: Pocahontas und Häuptling Gefleckter Schweif. Sobald ich weiß, welche Art von Körper sie suchen, kann ich mich der Typveränderung unterziehen. Ich kann ein Apache sein, der im Grenzland Cowboys skalpiert, auch wenn ich in Wirklichkeit ein Oji-Cree bin.

Einmal sagte ein Kunde, ich hätte da unten eine «rote Rakete». Ich stöhnte ihm was vor, während Frank Waln im Hintergrund rappte, und fragte ihn wieder und wieder: «Na, willst du meine rote Rakete?» Später schaute ich nach, was ‹rote Rakete› bedeutet: Meistens ist damit die Rute eines Hundes gemeint. Ich dachte einen Moment nach, dann akzeptierte ich die Vorstellung: Ich fügte der Liste an Wesen, in die ich mich verwandeln konnte, einfach ‹Hund› hinzu und verlangte pro Sitzung ein paar Dollar extra.

Die Antwort von Hatehound erschien auf meinem Handy. «April hat mir heute Morgen von dir erzählt, offenbar hast du ihn letzte Nacht richtig umgehauen.» April? Er meint wohl ‹hardck22› – ich glaube, er sagte, sein Name sei April. Ich frage nie nach dem richtigen Namen, aber den merkte ich mir, weil ich lachen musste und dachte, er mache einen Witz oder sehne sich nach dem Frühling. Ein Teil von mir wollte sagen: «April? Klar, und ich bin January Jones.» Ein anderer Teil von mir wollte weinen, weil April der Todesmonat meiner Kokum ist. Aber ich lachte bloß, und ich glaube, das regte ihn auf – hätte er doch nur gewusst, dass ein NDN lacht, um eine frische Schicht Medizin auf eine offene Wunde aufzutragen.

«Gib mir zwanzig Minuten», schrieb ich an Hatehound. Wieder tauchten die drei Pünktchen auf dem Schirm auf, und ich überlegte, in wen ich mich in dieser Zeit verwandeln wollte. Ich kann so viele verschiedene Persönlichkeiten sein, während der Kunde nur eine sein kann – das erregt mich. Ich habe so viel Macht, wenn ich mich verwandle – große Macht über Blut, Adern und Nervenenden.

«Klar», erwiderte er, und ich schrie leise auf. Ich nahm meinen Bodysuit aus schwarzem Samt aus dem Schrank. In der nächsten halben Stunde wäre ich nicht bloß Catwoman, sondern jede Version von ihr, die besten Teile von Michelle Pfeiffer, Julie Newmar und Anne Hathaway in einer Person. Als ich mir den Bodysuit über die Waden und die Schultern streifte, sah ich meine braune Haut unter dem Reißverschluss verschwinden und hatte das Gefühl, das Heft in der Hand zu haben. Vielleicht hätte ich als Catwoman ja den Mut, ihn zu fragen, wie er auf so großem Fuß leben und so wenig für den Rest von uns übrig lassen konnte?

«Catwoman?», schrieb Hatehound, als ich ihm ein Bild schickte. «April meinte, du wärst wie du selbst gekleidet gewesen, so mit Ponyfrisur? Warum ziehst du diese merkwürdige Show ab?»

Ich schnaubte verächtlich und erhöhte mein Honorar für die Sitzung auf dreißig Dollar. Als er das ablehnte und nur 25 auf mein Snapchat-Konto überwies, nahm ich die Katzenohren ab und fragte ihn: «Und was versuchst du mir vorzumachen?»

6

Als wir noch Kinder waren, nahmen uns Tias’ Eltern mit zum Campen nach Hecla, ungefähr eine Stunde östlich des Reservats. Hecla liegt im Grindstone-Park, dort gibt es jede Menge Bäume, Wasser und Weiße. Wir bauten unsere Zelte auf einem der dafür vorgesehenen Plätze auf: ein kleiner Stamm von Braunhäuten, die in billigen Zweimannzelten campierten, während neben uns eine dreiköpfige Familie in einem Campingmobil hauste, das mehr gekostet hatte als unser Haus – ich fragte mich immer, wie diese riesigen Dinger wohl von innen aussahen. Tias und ich zogen unsere Badehosen an und liefen zum Strand, zwanzig Minuten durch den Park. Um uns flogen Pusteblumensamen durch die Luft, wirbelten umher wie Ballerinen. Tias’ Gesicht wirkte immer viel weicher, wenn er sich in freier Natur befand; sein sonst so schmerzlicher Gesichtsausdruck schwand, und seine Wangengrübchen erstrahlten wie kleine Sterne.

Nikâwiy