Im Kreis geschrieben

 

Bruno Moebius

 

 

 

 

 

Impressum

 

Texte: Bruno Moebius

Layout: Bruno Moebius

Cover Design: Bruno Moebius

ISBN: 9783966612999

© 2019, Mediagency

mediagency@gmx.net

 

 

Moerike

 

»Sag, Hilde: Sollen wir uns morgen diesen Moebius anhören?«

»Moebius? Wer ist das?«

»Na, der da, der auf dem Plakat.«

Die mit ›Hilde‹ Angeredete dreht sich ein wenig, um das Plakat, das halb hinter ihr hängt, sehen zu können.

»Lesung«, sagt sie dann. »Was liest der da? Fried, Busch, Goethe und eigene Texte – na, das kann ja was sein …«

»Wer weiß – ich kenne ihn zwar nicht, aber die täten ihn sicher nicht hier auftreten lassen, wenn er nicht gut wäre.«

»Meinst du? Der Kaffee ist auch nicht gut, und sie servieren ihn trotzdem.«

Beide lachen.

»Mit dem Kaffee haben Sie nicht ganz unrecht«, mische ich mich vom Nebentisch her ein. »Aber den Moebius sollten sie sich nicht entgehen lassen.«

»Kennen Sie ihn?«, fragt Hilde.

»Kennen wäre zu viel gesagt, aber ich habe schon von ihm gehört – er soll wirklich gut sein.«

»Aber wie er aussieht … diese langen Haare … und unrasiert ist er auch. Man sollte annehmen, dass sich jemand rasiert, ehe er sich für ein Plakat fotografieren lässt«, sagt die, deren Name noch nicht gefallen ist.

»Was du immer herumnörgelst, Gusti. Wichtiger ist doch, dass er gut vorträgt – und dass er eine schöne Stimme hat. So wie der junge Mann da.«

»Und wenn er auch so gepflegt aussähe wie er«, beharrt Gusti.

»Nun, ich muss gehen«, sage ich, »vielleicht bis morgen. Ich werde jedenfalls hier sein.«

»Auf Wiedersehen, Herr … wie war doch gleich Ihr Name?

»Moe … ähm … Moerike.«

Wozu die Pferde scheu machen. In spätestens einer halben Stunde würden sich die alten Mädchen ohnehin nicht mehr an den unrasierten Moebius und den gepflegten jungen Moerike erinnern.

»Mölny – der Name kommt mir irgendwie bekannt vor«, höre ich im Weggehen.

»Ja, mir auch … hatten die nicht einen Gemüsestand hier auf dem Markt?«

Wie oft habe ich es mir schon geschworen – doch ab nun werde ich mich eisern daran halten – und meinen Mund halten …

 

 

Spooky

 

Wieder einmal sitzt der Autor vor einem leeren Blatt Papier und lutscht an der Füllfeder – am hinteren Ende, versteht sich! –, als könne er eine Geschichte aus ihr heraussaugen.

Manche Schreiberlinge sind mit der Gewöhnung an einen erheblichen Geräuschpegel, meist durch Hintergrundmusik oder den Fernsehton verursacht, aufgewachsen. Sie können sich nur konzentrieren, wenn sie mitten im Lärm hocken. Andere wiederum lassen sich im Biergarten die Sonne ins Gesicht scheinen und sich vom Klirren der Gläser und dem von gelegentlichem Gelächter unterbrochenen Stimmengemurmel um sie herum inspirieren.

Der tragische Held dieser Geschichte braucht Ruhe. Er hat schon so vieles gesehen, gehört und erlebt, dass er voll von Geschichten ist, so voll, dass er dann und wann zu platzen droht, wenn er nicht die eine oder andere herauslässt.

Deshalb schreibt er.

Wenn er erst einmal weiß, was er schreiben will.

Friseure, Barmänner, Taxifahrer und Fußpflegerinnen hören tagtäglich Geschichten, die ihnen die Kundinnen und Kunden ungebeten auftischen. Es sprudelt nur so aus ihnen heraus, von der ersten bis zur letzten Minute des trauten Zusammenseins, als wäre die Hirn-Mund-Schranke geborsten.

Der Autor, nennen wir ihn doch der Einfachheit halber Moebius, sitzt hingegen eine halbe Ewigkeit da und aus der Feder kommt weder vorne noch hinten etwas heraus.

Hat er seinen Beruf verfehlt?

Sollten nicht eher diejenigen schreiben, die im Frisiersalon oder während einer Taxifahrt so viel zu erzählen wissen?

›Darüber könnte ich ein Buch schreiben‹ ist eine gängige Redensart derer, die in ihrem Drang, das Hirn völlig zu entleeren, drauflosplappern, als hätte die Menschheit genau darauf gewartet. Sie haben aber garantiert noch keine einzige Zeile davon geschrieben.

Wahrscheinlich liegt es daran, dass sie kein Blatt Papier vor sich liegen haben, wenn es sie überkommt.

Moebius mangelt es nicht an Werkzeug und Material.

Ihm fehlt es an der nötigen Ruhe.

Das Rattern des Rasenmähers vor dem Fenster ist längst verstummt, die an den Wochenenden plärrenden oder kreischenden Kinder treiben ihr Unwesen im Kindergarten oder in der Schule.

Moebius starrt auf das weiße Rechteck vor sich, das ihn lockt und gleichermaßen zurückweist.

Was ist es bloß, das ihn immer wieder aus der Konzentration reißt, ihn keinen klaren Gedanken fassen lässt?

»Na, wie kommst du voran, mein Schatz?«

Frau Moebius, die sich schon seit geraumer Zeit auf dem kleinen Balkon der Wohnung den ersten warmen Strahlen der Frühlingssonne hingegeben hat, steckt den Kopf ins Zimmer.

»Ich weiß nicht recht. Ich finde keinen Anfang. Ich kann mich nicht konzentrieren. Diese Geräusche …«

»Es ist doch gar nichts zu hören. Ganz friedlich ist es hier draußen.«

»Draußen vielleicht, aber hier drinnen … kaum denke ich, ja, so kann es gehen, kommt irgend so ein Knistern, ein Blubbern …«

»Bist du sicher, dass es nicht in deinem Kopf knistert?«

Moebius muss wider Willen lachen.

Der Humor seiner Frau ist ansteckend. Glücklicherweise.

»Ich bin sicher, dass es aus der Küche kommt. Es hört sich an wie ein tropfender Wasserhahn, aber ganz unregelmäßig. Und manchmal poltert es.«

Jetzt sieht sie doch ein wenig besorgt drein.

»Das will ich auch hören.«

Sie tritt ins Zimmer und setzt sich zu ihrem Ehemann.

Umgehend setzt der altbekannte Vorführeffekt ein. Es ist mucksmäuschenstill. Kein Knistern, kein Blubbern, kein Poltern.

»Also, ich höre absolut nichts«, stellt die Autorengattin nach einer Weile fest. Er mag nicht, wie sie ihn dabei ansieht. Sie muss es nicht aussprechen. Er weiß auch so, dass sie jetzt die Störgeräusche tatsächlich in seinem Kopf vermutet.

»Ich höre auch nichts«, gibt er zu.

»Nun, dann kannst du es ja noch einmal versuchen. Ich werde uns einstweilen einen leckeren Salat machen.«

Sie ist die fabelhafteste Köchin, aber auch sie kann nicht geräuschlos Zwiebel schneiden, Knoblauch hacken, Blattsalat und Tomaten waschen und Eier kochen, also legt er das jungfräuliche Blatt Papier und die Füllfeder zur Seite und schaltet den Fernsehapparat an.

Der Salat ist schnell zubereitet und sie langen kräftig zu, akustisch untermalt von einem Werbeblock mitten in ihrer Lieblingsserie.

»Hörst du das? Was ist das?«, fragt sie plötzlich.

»Was denn?«

»Nun, dieses Geräusch. In der Küche, glaube ich.«

»Ich höre nichts. Nur den Fernsehton.«

Sie essen weiter und jetzt läuft auch wieder die Serie. Es wird gekämpft, geschossen, dazu dröhnt die Filmmusik, die niemand braucht, die aber jedem aufgezwungen wird.

»Da ist es wieder!«

Das feine Gehör der Autorengattin ist unbestechlich.

Moebius schaltet das Fernsehgerät stumm.

Blubb. Blubb. Knister …

»Ja, jetzt höre ich es auch. Genauso war das vorhin auch.«

Beide stehen auf und tasten sich vorsichtig zur Küche hin. Die Geräusche werden lauter.

»Der Kühlschrank!«

»Himmel! Der ist doch nagelneu. Gestern erst geliefert. Der kann doch nicht kaputt sein.«

»Vielleicht ein Transportschaden. Oder er steht nicht im Lot.«

Frau Moebius kennt sich aus mit so etwas …

»Ich sehe mal in der Bedienungsanleitung nach. Vielleicht haben wir irgendetwas falsch gemacht.«

Herr Moebius liebt Bedienungsanleitungen. Sie haben ihn schon mehrmals aus höchster Not errettet.

Zwei mitteldicke Hefte in vermutlich allen Sprachen der Welt, nur nicht in Deutsch …

Halt! Da ist noch eine Beilage …

Wer schreiben kann, kann meist auch lesen, und Moebius wird schnell fündig.

»Geräusche entstehen durch das Kühlmittel und sind völlig normal«, steht da. Mehr nicht.

Der alte Kühlschrank, der kürzlich verstorben ist, hat sich mucksmäuschenstill verhalten, außer, wenn der Kompressor lief. Der Neue hat einen fast unhörbaren Kompressor, doch wenn der nicht läuft, blubbert und knistert das Kühlmittel lauter als jeder Kompressor jedes alten Kühlschranks.

»Dann werden wir uns eben daran gewöhnen müssen. Immerhin haben wir jetzt einen Namen für ihn. Wir nennen ihn ›Spooky‹.«

Frau Moebius hat Sinn für das Praktische.

Der Autor Moebius auch.

Er wird eben auf dem kleinen Balkon schreiben, wo man den Kühlschrank nicht hört. Allerdings nur, wenn die Kinder der Nachbarn im Kindergarten oder in der Schule weilen.

Während der Schulferien kann er sich notfalls im Schlafzimmer einschließen …

 

Der Tag des Sonnenschirms

 

Man kennt das: Der Winter neigt sich endlich dem Ende zu, wir sind voll der Vorfreude auf den Frühling mit seinen Düften, Blüten, dem milden Sonnenschein und den Gefühlen, die er uns beschert – und dann knallt stattdessen der Sommer brutal in unsere verschlafene Ecke am Stadtrand.

»Wozu haben wir eigentlich einen hübschen Balkon, wenn wir nie draußen sitzen können, weil es entweder zu kalt oder zu heiß ist?«, fragte ich eines Morgens, als wir ebendort zum Frühstück saßen. Die Sonne würde erst nach neun Uhr diese Seite des Hauses erreichen, deshalb war es jetzt noch schattig und recht angenehm.

»In der Sonne wird es viel zu heiß. Sogar jetzt im Mai«, antwortete meine Liebste und biss von ihrem Kuchen ab.

»Ja, eben deshalb frage ich. Ich meine, wir sollten endlich einen Sonnenschirm kaufen.«

»Und wo wollen wir den aufstellen? Es ist doch kein Platz hier. Der Balkon ist zu klein. Es passt doch gerade noch der kleine Tisch mit den zwei Stühlchen her … und natürlich George.«

Letzterer war unser Blauer Kartoffelstrauch, Enzianbaum, oder wie das Ding hieß. Er stand in einer Ecke und wucherte beachtlich. Er mochte offenbar die Sonne, die sommers täglich zehn Stunden lang versuchte, das blecherne Balkonsims einzuschmelzen.

»Es muss doch möglich sein, einen Schirm anders zu befestigen als an einem tonnenschweren und platzraubenden Sockel«, sagte ich und begab mich ins Innere der Wohnung. Wozu gab es das Internet? Dort war doch wohl alles zu finden, was das Herz begehrte, und ich begehrte jetzt einen Sonnenschirm, und zwar heftig. Ich wurde schnell fündig, noch dazu auf der Website des Baumarkts, der kaum einen Steinwurf von unserer Behausung entfernt war.

»Ich hab’s!«, frohlockte ich. »Es gibt solche Klammern oder Zwingen, mit denen man das Gestänge des Sonnenschirms am Sims festmachen könnte! Das würde uns keinen Platz rauben.«

»Meinst du, dass das hält? Was, wenn Wind aufkommt? Erinnere dich an den Schirm mit dem mächtigen Betonsockel im Urlaub. Den hat es über die Treppe der Veranda hinuntergeweht.«

»Das war ja auch ein Gewittersturm.«

»Und bei uns hier gibt es keine Gewitter?«

Meine Liebste sträubte sich heftig gegen die äußerst praktische Anschaffung, die ich im Sinn hatte. Warum, das war mir unerklärlich. Sie saß doch selbst gerne auf dem Balkon und floh jedes Mal, wenn die Sonne kam.

»Wir spannen den Schirm ja nur auf, wenn wir draußen sitzen wollen. Bei Regen und Sturm sind wir doch nicht auf dem Balkon. Der Schirm wird dann selbstverständlich zusammengeklappt.«

Es war mir offenbar gelungen, sie zu überzeugen, denn noch am selben Nachmittag suchten wir gemeinsam den Baumarkt auf. Ich brauchte eine Weile, um mich im reichhaltigen Angebot zurechtzufinden, doch dann hatten wir einen schön in einer Tragetasche verpackten Sonnenschirm und eine Halterung für das Balkonsims erstanden und machten uns auf den Heimweg.

Zu Hause angekommen schlüpfte ich hastig aus Schuhen und Jeans. Ich konnte es kaum erwarten, die Schraubzwinge, denn etwas anderes war das nicht, zu montieren. Es war das reinste Kinderspiel. Meine Liebste beobachtete mein Treiben von ihrem Klappstühlchen aus. Ihr Blick schien mir ein wenig zweifelnd, doch das konnte mich nicht beeindrucken.

»So! Fertig! Und jetzt stecken wir das Ding hier hinein!«

»Meinst du, dass das halten wird? Sieht irgendwie wackelig aus.«

Ich rüttelte ein wenig an der Zwinge. Sie bewegte sich keinen Millimeter.

»Das hält!«

Ich zog den Sonnenschirm aus der Tragetasche. Das Gestänge bestand aus zwei Teilen, deren einer am geschlossenen Ende eine Spitze aufwies.

»Ah! Den kann man auch irgendwo in die Erde oder in Sand rammen. Sehr praktisch, falls wir in Urlaub fahren.«

»In den Balkonboden können wir ihn jedenfalls nicht rammen«, sagte meine Liebste trocken.

»Dazu habe ich ja die Halterung montiert!«

Ich schob die Stange in die geöffnete Zwinge an der Seite der Aufhängung und drehte an der Flügelschraube, um die Stange festzuklemmen. Als das Gewinde an seinem Ende ankam, wusste ich, dass die Stange zu dünn war.

»Das ist ärgerlich. Auf der Verpackung ist angegeben: ›Bis 20 Millimeter Durchmesser‹. Aber das Mindestmaß ist nicht ersichtlich. Zu dumm!«

»Und was machen wir jetzt?«

»Wir umwickeln die Stange, damit sie an der passenden Stelle dicker wird. Hast du irgendwo einen Lederstreifen oder einen alten Gürtel, den du nicht brauchst?«

»Nein.«

Ich vermeinte, ein schadenfrohes Lächeln um ihre Mundwinkel spielen zu sehen.

«Ich hab’s! Klebeband!«

Ich holte eine Rolle Isolierband und wickelte Lage um Lage um die Stange, bis mir der Umfang ausreichend gewachsen schien. Ja, jetzt konnte ich die Stange mit der Klammer festhalten und die Stellschraube war noch nicht ganz am Anschlag.

Ich probierte, ob die Konstruktion wohl stabil sei, dann schob ich den zweiten Teil, die Stange, an der sich der eigentliche Schirm befand, in die untere, dickere hinein. Ja, die Höhe passte auch. In der tiefsten Position reichte das gesamte Gestänge bis eine Handbreit unter den Balkon über unserem. Ich spannte den Schirm auf, noch immer unter aufmerksamer Beobachtung meiner Liebsten.

»Wie ausgemessen!«, frohlockte ich. Die Spannweite des Schirms erstreckte sich um Haaresbreite bis zu den Seitenwänden. Größer hätte der Schirm nicht sein dürfen …

»Wie ausgemessen? Ich dachte, du hättest gemessen, bevor wir den Schirm kauften.«

»Ja, das habe ich auch. Das war nur so eine Redensart, du weißt schon.«

Ich hatte natürlich nicht gemessen gehabt. Dass der Schirm so vortrefflich passte, war reiner Zufall. Oder Glück. Oder dem Umstand zu verdanken, dass ich den mit dem kleinsten Durchmesser gewählt hatte.

»Farblich passt er jedenfalls wundervoll zu meiner künstlerischen Ausgestaltung des Mauerwerks«, ließ sich meine Liebste zu einer bescheidenen Anerkennung meiner Leistung herab.

»Ja, deshalb habe ich auch diese Farbe ausgesucht. Von drei möglichen …«

Ich prüfte noch einmal die Stabilität der Befestigung. Mit dem doch recht schweren Schirm daran bewegte sich das Ganze ein paar Millimeter in alle Richtungen, aber bedenklich schien mir das nicht zu sein.

»Sieh nur – man kann den Schirm auch neigen!«

»Kann man das nicht bei jedem Schirm?«

»Äh, vermutlich schon. Ich weiß nicht. Diesen jedenfalls kann man.«

Ich setzte mich und betrachtete mein Werk in Ruhe. Ja, so hatte ich es mir vorgestellt. Jetzt würden wir im Schatten sitzen können, und schiene die Sonne noch so lange zu uns her.

»Jetzt haben wir uns aber Kaffee und Kuchen verdient«, sagte die Liebste.

»Gute Idee. Und ich räume einstweilen den Verpackungsmüll weg und wasche meine Hände.«

Sie verschwand in der Küche, ich im Badezimmer.

Man hält nicht für möglich, was sich auf dieser Welt in nur zwei Minuten verändern kann, doch den sprichwörtlichen Blitz aus heiterem Himmel gibt es wirklich. Es gab ihn auch, als ich aus dem Badezimmer wieder zurück auf den Balkon kam. Ein Knall folgte unmittelbar danach, und schon prasselte Regen auf den Sonnenschirm hernieder. Das Material würde doch wohl wasserfest sein, oder etwa nicht?

»Ein Gewitter«, rief ich in die Wohnung hinein.

Die Antwort meiner Liebsten ging in einem erneuten Donnerschlag unter. Der Wind zerrte an dem wasserfesten Sonnenschirm. Die Schraubzwinge hielt bombenfest. Trotzdem war es wohl ratsam, den Schirm zu falten. Ich löste den Verriegelungshebel, der die obere, innere Stange in der unteren, äußeren festhielt, wollte eben nach oben greifen, um die Neigung des Gestänges zu begradigen, sonst hätte ich ja den oberen Teil nicht nach unten ziehen und den Schirm somit zusammenfalten können, als eine gewaltige Sturmbö unter den wasserfesten Stoff fuhr und ihn in die Höhe riss. Die innere Stange glitt aus der äußeren, meine Hände griffen ins Leere …

Der Schirm fuhr hoch wie ein entfesselter Fesselballon. Dann trudelte er abwärts, erreichte beinahe wieder das Niveau unseres Balkonsimses – allerdings in gut zehn Metern Entfernung, und schließlich wurde er erneut in die Höhe und seitwärts gerissen, sodass er auf die ausladende Krone des Ahorns am östlichen Rand der Wiese vor unseren Fenstern zutrieb.

Ich musste etwas unternehmen!

Ich rannte ins Wohnzimmer und prallte mit meiner Liebsten zusammen, die eben aus der Küche kam.

»Der Sonnenschirm … ich muss ihn einfangen!«

Ich drückte mich an ihr vorbei, schlüpfte in meine Schuhe und stürmte aus der Wohnung, die Treppe hinab und ins Freie. Es goss wie aus Eimern, doch darum konnte ich mich jetzt nicht kümmern. Ich musste zur anderen Seite des Hauses, und als ich um die Ecke bog, fand mein suchender Blick den Schirm hoch im Geäst des Ahorns, dessen Zweige wild rudernd gegen den Sturm ankämpften. Etwas traf mein Gesicht wie Nadelstiche. Es hagelte. Kleine, feine Hagelkörner prasselten vom beinahe schwarzen Himmel herab und vielleicht waren sie es, die den Schirm aus den Fängen des Ahorns befreiten. Ich schöpfte Hoffnung. Wenn er jetzt zu Boden fiele …

Der Hagel war so plötzlich zu Ende, wie er begonnen hatte. Dafür zerrte eine Sturmbö an mir, am Ahorn und am Sonnenschirm, riss ihn hoch über den Baum hinweg und über die Begrenzungsmauer des direkt neben unserem Haus befindlichen Friedhofs. Nun gut – musste ich eben ins Friedhofsgelände. Ich wandte mich um und sah meine Liebste auf dem Balkon. Sie hielt ihre Kamera vor ihr Gesicht und ich ahnte, dass sie ein paar interessante Fotos vorzuzeigen haben würde, vielleicht sogar ein Video. Auch darum konnte ich mich jetzt nicht kümmern. Ich sprintete los. Der Eingang zum Friedhof war etwa drei oder vierhundert Meter entfernt und ich keuchte ordentlich, als ich ihn erreichte. Ich wandte mich nach rechts, strebte der Gegend zu, in der ich den Entführten vermutete, ließ meine Blicke schweifen, und dann sah ich ihn!

Er hing aufgespießt an dem metallenen Kreuz, das eine der Grabstätten zierte, und sah erbärmlich aus. Der Stoff hatte einige Risse abbekommen, Fetzen hingen an der weißen Stange herab.

Er war nicht mehr zu retten, das war eindeutig, doch auch wenn dies hier ein Friedhof war, konnte ich den Sonnenschirm hier nicht zur ewigen Ruhe betten. Also zerrte ich ihn von dem Kreuz herab, brachte es trotz des völlig verbogenen Gestänges zustande, ihn zusammenzufalten, und trat den Rückweg an. Vor dem Friedhofstor standen große Müllbehälter. Ich hinterließ die traurigen Überreste in einem von ihnen, dann trabte ich heimwärts. Erst jetzt spürte ich die Nässe und die Kälte so richtig. Ich hatte mir bestimmt einen Schnupfen geholt, doch das war es mir Wert.

Als ich eben am Haustor läuten wollte – ich war ja ohne Hausschlüssel weggerannt –, wurde es von innen geöffnet. Unsere Nachbarn, mitsamt Besuch, kamen heraus. Ich grüßte, sie sahen mich alle sechs oder sieben mit großen Augen an, dann rannte ich die Treppe hoch. Hinter mir hörte ich ein Kichern, dann lautes Lachen. Meine Liebste öffnete die Tür.

»Du bist ja echt nicht normal«, sagte sie und lachte los, als hätte ich eine rote Pappnase im Gesicht und einen lustigen Hut auf dem Kopf.

»Nun ja, ich dachte, ich könnte den Sonnenschirm retten.«

»Schon klar, aber … nur in Shirt und Unterhosen?«

Ich nieste. Dann sah ich an mir hinunter.

Und wenn schon …

»Mein Held!«, flüsterte meine Liebste und küsste mich.

Ja, so mag ich das …

 

 

Sonntagsausflug

 

Der Oktober neigt sich dem Ende zu und es ist erstaunlich warm für diese Jahreszeit. Seit Tagen liegt am Morgen Nebel über den Niederungen, der sich am Vormittag auflöst und prächtigem Sonnenschein Platz macht. An den vergangenen Wochenenden ist immer etwas dazwischengekommen, doch heute ist Sonntag, heute scheint die Sonne, und heute will ich endlich einen kleinen Sonntagsausflug machen. Seit dem Urlaub im August, also seit mehr als zwei Monaten, habe ich mich nicht mehr bewegt, so scheint es mir. Wenn ich nicht bald etwas unternehme, werde ich mit dem Sofa verwachsen und nie wieder davon loskommen!

Der Urlaub. Viel Bewegung hat es auch da nicht gegeben. Es ist viel zu heiß gewesen, ständig zwischen fünfunddreißig und vierzig Grad im Schatten – wie soll man sich da bewegen? Mehr als ein paar kleine Spaziergänge haben wir nicht geschafft, von einem einzigen Ausflug einmal abgesehen. In die Altenbachklamm in der allersüdlichsten Steiermark, wo die Drosseln bereits Slowenisch spotten. Bach und Klamm, da denkt man an kühles Wasser, das tobend und brausend in Katarakten zu Tal stürzt, an schäumende Gischt, deren Nebel die erhitzten Gesichter der Wanderer belebend benetzt, doch weit gefehlt! Ein kümmerliches Rinnsal hat sich den Berg hinab gequält und meine Herzallerliebste und ich uns daneben schwitzend und keuchend hinauf. Ein Fiasko. Die zweite geplante Begehung einer Klamm weiter nördlich haben wir dann doch lieber abgesagt, und so ist Woche um Woche bewegungslos dahin gegangen. Bis heute.

»Schatz, heute machen wir einen Ausflug«, verkünde ich beim Frühstück.

»Mhm.«

»Etwas mehr Begeisterung, bitte. Wir müssen wirklich an die frische Luft, ein wenig Bewegung machen.«

»Wohin willst du denn?«

»Ich dachte an den Wienerwald«, sage ich vorsichtig. Bloß nicht weit mit dem Auto fahren.

»Wo im Wienerwald?«

Immer diese Details! Wald ist Wald.

»Vielleicht zur Wienerhütte. Dort gibt es einen großen Parkplatz und man ist gleich im Wald. Und weit zu fahren ist es auch nicht.«

»Heute ist Sonntag, da wird es nur so von Leuten wimmeln.«

Das ist wahr, denke ich. Dann habe ich eine geniale Idee.

»Lainzer Tiergarten!«, schlage ich vor.

»Oh ja! Der Lainzer Tiergarten. Da war ich zuletzt, als ich noch ein Kind war. Wahrscheinlich war es ein Schulausflug. Oder vielleicht war ich doch schon älter? Ein Firmenausflug? Ich weiß nicht mehr.«

»Na, wenn du schon ewig nicht mehr dort warst, passt es ja. Aber waren wir nicht schon gemeinsam dort?«

»Nein, bestimmt nicht. Das wüsste ich.«

»Also gut, dann auf in den Lainzer Tiergarten!«

Die Sache ist beschlossen, und ich hole meine nagelneuen Wanderschuhe aus dem Karton.

»Dort brauchen wir aber eigentlich keine Wanderschuhe – sind doch schöne Wege dort.«

»Egal. Wozu habe ich die Wanderschuhe. Heute will ich sie endlich einweihen.«

In der Altenbachklamm bin ich noch mit Halbschuhen über Stock und Stein und Baumwurzeln und gefühlte eintausendfünfhundert Leitersprossen geklettert. Das soll mir nicht noch einmal passieren!

Ich bin beinahe euphorisch, als wir wenig später tatsächlich im Auto sitzen und losfahren. Die Euphorie lässt ein wenig nach, als wir uns dem Ziel, dem Lainzer Tor, nähern. Der Verkehr wird immer dichter und die Straße, die zum Tor führt, ist beiderseits verparkt – schon seit ein paar Hundert Metern.

»Die sind alle im Lainzer Tiergarten«, sagt meine Herzallerliebste.

»Unsinn, die parken hier, weil sie hier wohnen«, behaupte ich. Vor uns fahren mehr und mehr Autos in einer Kolonne, die immer langsamer wird.

»Die suchen einen Parkplatz«, meint meine Beifahrerin, die keine Ahnung hat.

Zwei Autos mit polnischen Kennzeichen biegen rechts ab.

»Siehst du – die wollen dort oben irgendwo jemanden besuchen«, triumphiere ich, die geschätzten vierzig Fahrzeuge vor uns ignorierend, die auf den Parkplatz vor dem Tor zusteuern. Ich biege links ab.

»Meinst du, dass es hier besser ist?«, fragt mein Schatz.

»Sieht nicht so aus«, muss ich zugeben.

Wir fahren etwa einen Kilometer weit in einer Schleife vom Eingang zum Lainzer Tiergarten weg. Dann gibt es Parkplätze.

»Das ist mir jetzt aber zu blöd«, sage ich. »Da laufen wir ja ewig bis zum Eingang. Ich fahre zum Sankt Veiter Tor, dort ist bestimmt gar nichts los.«

»Weißt du, wo das ist?«

»Ich habe es mir daheim auf dem Stadtplan angesehen. Das kann man nicht verfehlen.«

Zehn Minuten später wenden wir in einer Sackstraße.

»Es ist ganz in der Nähe«, sage ich. »Ich bin nur falsch abgebogen – weiter unten.«

Beim Tor ist eine Buschenschank oder etwas Ähnliches, das weiß ich, und als mir nach einigen verwirrenden Kurven und Windungen ein Hinweisschild zum Lokal ›Wildsau‹ ins Auge springt, ziehe ich den Wagen elegant neunzig Grad nach rechts. Fahrverbot – ausgenommen Anrainer. Egal, wir parken ja gleich hier. Nur fünfzig Meter weiter.

»Hier geht’s nach oben, da kommen wir genau zum Sankt Veiter Tor«, behaupte ich.

Wir steigen aus und beginnen den Anstieg. Die schmale Straße ist ziemlich steil, und nach siebzig Metern schwitze ich. Mein Atem pfeift.

»Können wir ein wenig langsamer gehen?«, frage ich mit dem letzten Rest von Atemluft.

»Du rennst ja so«, höre ich undeutlich durch das Brausen des Blutes in meinen Ohren.

Das wäre also geklärt. Wir kriechen weiter.

Fünfzehn Minuten später stehen wir vor dem Tor. Punktgenau getroffen. Das Tor ist geschlossen, aber ein Schild hängt daran: »Wanderweg entlang der Tiergartenmauer«, steht da, ein Pfeil zeigt nach links, einer nach rechts. Ein Fiasko.

Wir entschließen uns spontan für links und folgen dem Weg bis zu einer Biegung. Dahinter geht es steil bergab und am Verlauf der Mauer erkennen wir, dass der Weg später wieder steil ansteigen wird.

»Das blöde Tor muss hier irgendwo sein«, sage ich. »Ich sehe mir das im Internet an!«

Wer nicht nur wandern, sondern auch mit der Zeit geht, trägt immer und überall sein Smartphone bei sich. Die mobile Internettechnologie ist so hoch entwickelt, dass es auch in entlegenen Gebirgstälern kein Verbindungsproblem gibt.

Ich komme nicht ins Internet. Kein Netz, sagt mein Smartphone.

»Verdammt! Das gibt es doch nicht! In jedem Scheiß-Autobahntunnel funktioniert das, aber hier in Wien …«

Ich bemerke den Ausdruck aufkeimenden Mitleids im Mienenspiel meiner tapferen Gefährtin.

»Wir gehen am besten zurück zum Auto und fahren zum richtigen Tor. Es muss ein Stück weiter dort drüben sein.«

Mein energisches Auftreten hat meine Souveränität wiederhergestellt, das ist deutlich zu sehen. Wir machen uns also auf den Weg zum Auto. Die steile Straße hinab geht viel besser als umgekehrt. Wir brauchen nicht fünfzehn Minuten, sondern nur fünf, und ich schwitze nicht, kann auch normal atmen. Die Welt ist schön!

Die Nase des Autos zeigt steil nach oben. Die Räder stehen auf feuchtem Herbstlaub. Hinter uns lauert ein Gesteinsbrocken, der vermutlich vor Jahrhunderten irgendwo in den Hohen Tauern als Felssturz zu Tal gedonnert ist und jetzt in Ober-Sankt-Veit die Leute daran hindern soll, in engen Gassen mit Fahrverbot zu parken. Ich merke schnell, dass es nutzlos ist, die Drehzahl beim Anfahren in den roten Bereich zu treiben. Meine Herzallerliebste schrumpft im Beifahrersitz und wächst erst wieder, als ich es mit viel Gefühl geschafft habe, dem Felsbrocken zu entkommen und das Auto die läppischen fünfzig Meter im Leerlauf rückwärts habe hinunterrollen lassen. Nun geht es wieder vorwärts, an einer Bushaltestelle vorbei, und die Kopilotin merkt an, dass dieser Bus wahrscheinlich derjenige ist, der genau zum Sankt Veiter Tor fährt.

Es ist ein Kinderspiel, der Busroute zu folgen, und so landen wir endlich am lang ersehnten Ziel.

Dieses Tor ist tatsächlich geöffnet. Muss es auch sein, denn woher kämen oder gingen sonst die Massen von Spaziergängern?

Wir schwimmen im Strom durch die Pforte und sehen uns den Lageplan an dem kleinen Häuschen gegenüber des Eingangs an. Links führt der Weg zum Lainzer Tor. Bergab. Nein, nichts für uns; da müssten wir später wieder nach oben. Unser Auto wartet ja hier auf uns.

»Rechts geht es zum Wienblick«, sage ich. »Was hältst du davon? Die Aussicht ist heute bestimmt sehr schön.«

»Ja, meinetwegen.«

Wir wandern los. Es geht leicht bergan. Endlos. Nach zehn Minuten machen wir die dritte Verschnaufpause. Ich blicke nach unten. Wir haben bestimmt schon dreihundert Meter geschafft!

»Das sieht gar nicht so weit aus, wie wir jetzt gegangen sind«, rutscht es mir heraus.

»Es kann nicht mehr weit sein. Dort oben ist der Berg aus«, macht mir meine Bergkameradin Mut.

Wir gehen weiter.

Zwei rüstige Senioren überholen uns im Laufschritt, er recht zügig und kraftvoll, wogegen sie so verkrampft aussieht, dass ich mich frage, ob ihr das wohl Spaß machen könne.

Zwei noch ältere rüstige Senioren kommen uns flott entgegen.

»Schau, die haben es auch geschafft!«, werde ich aufgemuntert.

»Die sind wahrscheinlich von der anderen Seite her gekommen. Dort ist es bestimmt flacher«, schnaufe ich.

Wir kommen an einem Gittertor in einem Zaun an, das nur durchschritten werden kann, wenn man an der einen Seite zwei hölzerne Stufen hoch und auf der anderen Seite hinuntersteigt. Zwei Stufen. Himmel, meine Schuhe sind aus Blei!

Aber ich schaffe es. Hinauf und hinunter. Hundert Meter vor uns und hundert Meter über uns kann ich den Himmel sehen. Lächerliche hundert Meter!

»Wo diese Kinder bloß die Energie hernehmen? Die müssen ja auch hier heraufgestiegen sein, und jetzt klettern sie auf diesem Baum herum.«

»Ja, so sind Kinder. Wenn sie einen Kletterbaum sehen, kennen sie keine Müdigkeit«, erklärt mir die, die wohl auch einmal Kind war.

Auf den letzten fünfundzwanzig Metern reiße ich mich zusammen, um zwischen Dutzenden stehenden und sitzenden gaffenden Spaziergängern und spielenden Kindern hindurch locker und flockig eine freie Sitzbank anzusteuern.

Sitzen! Welch eine Wohltat!

Wir atmen ein paarmal tief durch, dann zücke ich mein Smartphone, um diesen Augenblick der Glückseligkeit für immer fotografisch festzuhalten, und als mich meine Gipfelstürmerin auf die Wange küsst, gelingt mir ein Lächeln. Klick.

»Irgendwie freue ich mich schon auf daheim, auf dem Sofa sitzen und Kaffee trinken«, sagt sie.

»Ich auch. Wir sollten irgendwo auch Kuchen besorgen.«

»Ja, Kuchen wäre fein, aber woher …«

»Nun, aus einer Konditorei. Es wird doch auch am Sonntag eine Konditorei geöffnet haben.«

Dermaßen beflügelt machen wir uns auf den Rückweg. Es ist ein heiterer, beschwingter Rückweg, denn es geht bergab. Nur bergab. Keinen Meter nicht bergab.

»Jetzt sehe ich im Internet nach, ob hier irgendwo eine Konditorei ist«, sage ich, als wir im Auto sitzen.

Mein Smartphone meldet: kein Netz. Es ist zum Verrücktwerden.

»Wir fahren am besten stadteinwärts. Irgendwo muss man doch wieder eine Verbindung bekommen!«

Einen Kilometer weiter klappt es dann. Die Konditorei im Einkaufszentrum unweit unserer Wohnung hat laut Auskunft der Website bis achtzehn Uhr geöffnet, auch an Sonn-und Feiertagen. Nun geht alles blitzschnell. Wie im Zeitraffer. Wir sitzen mit Kaffee und Kuchen auf unserem roten Sofa.

»Zu Hause ist es doch am schönsten«, sagt meine geliebte Heimkehrerin.

»Ja, aber nur, weil du da bist!«

Das ist das Schönste am Sonntagsausflug: das Kuscheln danach …

 

 

Lost and found

 

»Am Mittwoch habe ich doch diese Lesung. Ich hätte so gern noch eine neue Geschichte geschrieben bis dahin.«

Karina blickt von ihrer Kaffeetasse auf.

»Na, dann schreib‹ eine.«

»Es sind aber nur noch zwei Tage bis dahin.«

»Das geht sich locker aus. Denk an deine Kollegen, die bei diesem Schnellschreibwettbewerb mitmachen. Die schreiben einen ganzen Roman mit 50.000 Wörtern in nur dreißig Tagen, da wirst du doch eine kleine Geschichte von vielleicht drei oder vier Seiten in zwei Tagen schaffen!«

»Rein technisch: kein Problem. Aber ich weiß nicht, worüber ich schreiben könnte.«

»Warum schreibst du nicht einfach über unsere kleinen Missgeschicke, zum Beispiel, dass wir immer wieder auf der Suche nach irgendetwas sind, das wir verlegt haben?«

Sie ist meine gute Fee.

Die Idee ist naheliegend und simpel, könnte direkt von mir stammen.

»Ja, warum nicht? Da kommt schon einiges an Material zusammen, wenn ich es mir recht überlege. Du bist ein Schatz!«

Karina freut sich sichtlich.

»Dann mach‹ dich an die Arbeit!«

Ja, es ist Arbeit. Es ist kein Vergnügen, ein leeres Blatt Papier, sei es auch nur ein virtuelles auf einem Bildschirm, anzustarren und nach dem ersten Satz zu ringen.

Ich kenne das. Wie viele kurzweilige Geschichten und spannende Romane blieben und bleiben ungeschrieben, weil dieser vielleicht unscheinbare und doch allerwichtigste Satz einfach nicht kommen wollte!

Ich habe mit den Jahren wirklich alles versucht; mir genüsslich eine Zigarette gegönnt und auf die Inspiration gewartet, mir mit einem Glas Wein die Wartezeit versüßt, mich mit den Mittagsnachrichten im Radio abgelenkt, um mich nicht zu verkrampfen.

So viel Zeit habe ich jetzt nicht. Ich erinnere mich an Ratschläge wie: Schreib’ doch einfach, was dir einfällt, und sei es auch unsinniges Zeug – das kannst du dann immer noch nachbearbeiten …

Fehlanzeige: Mir fällt ja nicht einmal Unsinniges ein.

50.000 Wörter in 30 Tagen.

Wie machen die das?

Und wozu?

Wäre es nicht sinnvoller, einen einzigen Satz zu suchen, den, der uns das Universum erklärt oder den, der ein sterbenskrankes Kind zum Lachen bringt?

Wie lächerlich erscheint da das Bemühen, einen Anfang für eine so alberne Geschichte zu finden, wie ich sie jetzt schreiben möchte!

Es interessiert doch niemanden wirklich, dass ich zwei meiner Geräte, die ich in meinem Tonstudio verwende, nach einer Übersiedlung monatelang vermisst habe. Es war ein herber Rückschlag, denn es waren teure Geräte, doch nach mehreren Suchaktionen habe ich die Vermisstenakte als unerledigt geschlossen und mich mit einer armseligen Alternative zufriedengegeben.

Stets auf Ordnung bedacht, verwahre ich wichtige Dinge stets so, dass sie griffbereit sind, und selbstverständlich weiß ich immer, was wo zu finden ist. Manchmal weiß ich es aber erst, wenn ich zufällig eine der Plastiktaschen in der Ecke unter all den anderen hervorziehe und sich darin lang vermisste Gerätschaften wiederfinden.

Manche der unauffindbaren Gegenstände stellen meine Geduld auf eine härtere Probe. Unangefochten in Führung liegen zum Beispiel eine Kameratasche mitsamt darin befindlicher Videokamera und das dazu passende Kamerastativ. Ich weiß, dass ich damit ein paar Theateraufführungen in Deutschland gefilmt habe, dass sich die Aufnahmen auf der Festplatte meines Computers befinden, aber der spätere Verbleib von Kamera und Stativ ist seit Jahren ungeklärt.

Nicht ganz so lange, aber lange genug fehlt eines der Mikrofone in meinem Fundus.

In diesem Fall neige ich zur Annahme, dass es mir widerrechtlich entwendet worden ist, es könnte sich aber auch irgendwo verkrochen haben, um mich zu ärgern, genau wie Dutzende von Feuerzeugen und Kugelschreibern.

»Nun, wie weit bist du schon mit deiner Geschichte?«, fragt Karina zu Mittag.

»Ich bin mittendrin. Ich habe jetzt eine Liste der verschwundenen Gegenstände angefertigt. Zur Übersicht, du weißt schon. Der Rest schreibt sich dann wie von selbst.«

»Hast du schon über die Mütze geschrieben?«

Jesus – die Mütze! Die habe ich doch total vergessen. Dabei ist die Sache noch gar nicht lange her!

»Ja selbstverständlich! Das ist doch gewissermaßen der Kern der Geschichte!«

»Dann schreib schön weiter. Ich bin schon sehr neugierig, wie du DAS erzählst.«

Ich auch, um ehrlich zu sein, aber das kann ich ihr natürlich nicht sagen. Sie lässt mich im Arbeitszimmer allein zurück und ich rufe mir die Mützen-Affäre in Erinnerung.

Wir sind ja nicht nur kreativ, sondern auch karitativ tätig, und Karina häkelt zugunsten einer Hilfsorganisation Mützen, Pulswärmer und Schals, die nicht mehr Schals, sondern Loops heißen. Heutzutage heißt ja kaum noch etwas so wie früher. Sollte ich vielleicht dann doch einmal, wenn erst die Hürde des ersten Satzes überwunden sein wird, zügig dahinschreiben, werde ich mich nicht in einem Schreibfluss, sondern in einem Flow befinden und der Word-Count wird sich rapide erhöhen. Bis dahin muss mir aber einfallen, wie ich die Angelegenheit mit der Mütze erzähle, und zwar so, dass die Leser darüber lachen können, aber ohne dass Karina beim Lesen beleidigt wäre.

Meiner Ansicht nach besteht dafür überhaupt kein Grund.

Man verlegt eben dann und wann etwas.

»Sag, Bruno, siehst du hier irgendwo die Mütze, mit der du mich eben fotografiert hast?«

»Nein. Du hattest sie doch eben noch auf dem Kopf. Jetzt nicht mehr, also hast du sie abgenommen.«

»Ja. Aber ich kann sie nicht mehr finden!«

»Wo hast du sie denn abgenommen?«

»Im Schlafzimmer. Dort habe ich ja auch den Pullover ausgezogen, den ich eigens für das Foto angezogen hatte, passend zur Mütze.«

»Dann ist sie wohl im Schlafzimmer.«

»Ich habe aber schon alles abgesucht.«

Der hilfreiche Gatte begibt sich in so einem Fall unverzüglich auf die Suche, räumt Kissen und Decken vom Bett, um sicherzustellen, dass sich darunter keine Mütze befindet. Er sieht auch unter dem Bett nach und folgt der Spur zurück ins Wohnzimmer, den Blick schweifen lassend wie ein Italiener auf der Pirsch nach Kärntner Herrenpilzen.

Nichts.

»Das gibt es doch nicht. Sie ist bestimmt nie aus dem Schlafzimmer herausgekommen. Hast du sie vielleicht mit dem Pullover zusammen in den Schrank gelegt?«

»Ich habe schon nachgesehen. Ich habe alle Pullover herausgeräumt. Die Mütze ist nicht im Schrank.«

Gegen Kant kann man argumentieren. Gegen eine Frau wie Karina nicht. Es ist ratsam, sich mit einer Zigarette vor dem Fernsehschirm, der jetzt Flatscreen heißt, niederzulassen und abzuwarten. Genau das habe ich getan, und etwa eine Stunde später hat mir Karina triumphierend die vermisste Mütze vor die Nase gehalten.

»Ah! Und wo war sie?«

»Im Schrank.«

»Also doch im Schrank.«

»Ja, aber nicht zwischen den Pullovern, sondern in einem Pullover.«

Ich muss lachen, als ich mich daran erinnere, aber das hilft mir nicht weiter.

Mir fehlt noch immer DER Satz. Er muss die Leser, in diesem besonderen Fall die Zuhörer, schlagartig in meinen Bann ziehen. Er muss sie ihren Rotwein, ihre Frankfurter Würstchen und die Gedanken an die sich daheim stapelnde Bügelwäsche schlagartig vergessen lassen.

Ich kann mich nicht richtig konzentrieren.

Wo steckt bloß mein altes Wehrdienstbuch? Ich weiß genau, dass ich es irgendwann in den letzten Jahren gesehen habe. Oder war das mein Studentenausweis? Den habe ich ja vorgestern erst dort gefunden, wo ich das Wehrdienstbuch vermutet hatte. So etwas Dummes aber auch! Wozu braucht die Pensionsversicherungsanstalt dieses Büchlein? Sollen sie doch bei der NSA nachfragen. Die weiß bestimmt ganz genau, wann und wie lange ich meinen Präsenzdienst abgeleistet habe.

Wie soll ich unter diesen Umständen eine Geschichte schreiben? Vielleicht sollte ich mich mit ein paar schreibenden Kollegen zu einem Brainstorming in einem Social Network virtuell zusammensetzen. Wenn die nicht wissen, wie sie eine Hafenstadt in einer Fantasy-Umgebung oder ein paar weibliche Ratten nennen sollen, fragen sie ja auch ihre Buddys.

Nein, so geht es auch nicht. Dann müsste ich ja womöglich das Copyright mit anderen teilen oder hätte ewig ein schlechtes Gewissen, falls gerade diese Geschichte zum Anfang einer großen Schriftstellerkarriere werden sollte.

Ich muss es ohne fremde Hilfe schaffen. Es wäre doch gelacht, müsste mein Projekt scheitern, weil mir ein einziger dummer Satz nicht einfällt!

Er muss ja nicht unbedingt die Welt aus den Angeln heben, das wäre nun doch zu viel erwartet. Ich denke jetzt eher an etwas Schlichteres. Hauptsache, es geht ins Ohr.

Wie wäre es mit ›Wer kennt nicht das Phänomen der Socken, die von der Waschmaschine gefressen wurden?‹ oder so ähnlich.

Der Gedanke beginnt mir zu gefallen, doch jetzt erinnere ich mich daran, wie ich vor ein paar Tagen zwei verschieden große Socken angezogen habe.

»Meine Socken sind nicht gleich groß«, habe ich zu Karina gesagt.

»Ach! Da habe ich wohl zwei ungleiche Paare zusammengelegt. Die sehen auf dem Wäschetrockner ja alle gleich aus. Bestimmt ist in der Schublade das zweite Paar.«

»Aber das muss eine deiner Socken sein. Die ist viel kleiner, als je eine von meinen war.«

»Ja, dann musst du eben das zweite ungleiche Paar heraussuchen.«

Karina hat einen Sinn für das Praktische.

Ich auch. Es ist praktischer, mit ungleich großen Socken zu gehen, als nach dem anderen Paar zu suchen. Mittlerweile befindet sich das getragene Unpaar in der Schmutzwäsche, das andere noch immer in der Schublade, und wenn ich demnächst das betreffende Sockenpaar erwische, werde ich vermutlich abermals mit ungleich großen Socken durch die Gegend laufen. Es könnte aber auch sein, dass die Waschmaschine eine kleine und eine große Socke in ein und demselben Waschgang gefressen hat und es gar kein zweites Paar mehr gibt.

Es wird sich herausstellen.

Nein, das ist auch keine Story, die sich dazu eignet, eine Geschichte zu eröffnen, die von verlegten und wiedergefundenen Gegenständen handelt und zudem Leser wie Zuhörer packen soll.

»Schatz, hast du Zeit fürs Abendessen?«

Karinas Kopf schwebt im Türspalt.

»Was? So spät ist es schon?«

»Du schreibst jetzt schon seit sieben Stunden.«

Ja, wenn ich bloß schriebe.

»Noch zwei Minuten, Schatz!«

Der Kopf verschwindet.

Ich hätte es niemals übers Herz gebracht, ihr zu sagen, dass ich noch keine Zeile geschrieben habe. Sie hat mich immerhin den ganzen Tag über in Ruhe arbeiten lassen, mich nicht mit irgendwelchen Belanglosigkeiten genervt, wie es andere Frauen vielleicht getan hätten. Sie kam mir nicht mit dem Ansinnen, ich könnte doch, wenn ich schon daheim sei, nach ihrer Digicam suchen, die sie vor ein paar Tagen in die Schutzhülle gesteckt und seither nicht mehr gesehen hat.

Ja, die gute alte Digicam, mit der sie so wundervolle Fotos gemacht hat. Wo mag sie bloß sein? Wird sie wieder auftauchen?

»Es ist angerichtet!«, ruft Karina. »Kommst du?«

»Ja, Schatz! Ich komme!«

Und dann tippe ich in die erste Zeile die Worte »lost and found«.

Den Titel der Geschichte habe ich schon mal.

Enter.

Save.

Und Mahlzeit.

 

 

Erinnerungen

 

»Die Erinnerungen an Gutes und Schlechtes verhalten sich, sagen wir einmal, wie eins zu neun«, sagt Konstanze.

Bastian sieht sie überrascht an.

»Meinst du? Ist das nicht viel zu wenig? Überwiegen denn nicht die schönen Erinnerungen? Die unangenehmen Dinge vergisst man doch mit der Zeit, oder nicht?«

»Du vielleicht. Ich nicht«, beharrt Konstanze und zieht die Knie ein wenig näher heran, als suche sie Schutz vor einer drohenden Gefahr.

»Ich werde nie vergessen, welche Angst ich immer hatte, wenn mich Mutter in den Keller schickte. Überall mochten Vampire im Dunkel lauern und über mich herfallen. Ich trug damals einen Anhänger, ein Kreuz aus Perlmutt oder so ähnlich, und das hielt ich ihnen zitternd entgegen.«

Sie lacht verlegen und sieht Bastian an. Hält er sie jetzt für eine Idiotin? Denkt er zumindest, dass sie damals eine gewesen sei?

»Oh ja, das kann ich gut verstehen«, sagt er. »Ich hatte auch Angst im Keller, aber nicht beim Hinuntersteigen, sondern erst unten. Wenn ich Koks oder Kohle holen musste, beschlich mich meist mitten im Befüllen des Kohleneimers so ein Gefühl, als stünde jemand hinter mir, und dann schaufelte ich wie wild, packte den Eimer und rannte aus dem Keller nach oben, so schnell ich konnte. Es war selbstverständlich niemals jemand hinter mir.«

Nun lacht auch er, und Konstanze fühlt sich gleich viel besser. Er lacht sie nicht aus – nein, er versteht sie, weil es ihm ähnlich ergangen ist. Und er schämt sich nicht zuzugeben, dass er Angst hatte – damals. Die meisten Männer, zumindest die, die sie kennt, hätten gesagt: Das sieht dir wieder einmal ähnlich. Du warst bestimmt eine Heulsuse par excellence, stimmt‹s?

»Aber solche Erinnerungen meinst du doch wohl nicht, oder doch?«, fragt Bastian.

»Doch. Die gehören dazu, ebenso wie die Erinnerung an den Lehrer, den ich und der mich nicht mochte und der immer ›Conny‹ zu mir sagte, um mich zu ärgern; an das erfolgreiche Blockieren meiner Berufswünsche durch meine Eltern; an viele Begebenheiten und Erfahrungen mit Menschen damals und in meinem späteren Leben … aber jetzt habe ich ja dich!«

Bastian zieht sie an sich und spürt, wie die Spannung ihres Körpers nachlässt, als er ihren Nacken streichelt, während ihr Kopf an seiner Schulter ruht.

Nur zehn Prozent schöner Erinnerungen?

Er beginnt im Stillen nachzuzählen, gegeneinander aufzurechnen. Was ist eigentlich das Gute, was das Schlechte? Ist es nicht auch eine schöne Erinnerung, daran zu denken, wie beängstigend es war, allein im dunklen Keller zu sein – weil man es überlebt hat?

Am ersten Schultag nach einem Schulwechsel vor einer ganzen Klasse Fremder zu stehen und zu sagen: Ich heiße Bastian und bin euer neuer Mitschüler – weil man bald ein paar neue Freunde haben würde? Mit noch nicht ganz achtzehn Jahren zu hören: Du, ich bin schwanger! – weil man ohnehin nicht wirklich hatte studieren wollen?

Was ist das Gute, was das Schlechte?

»Weißt du – was auch immer gewesen sein mag, woran auch immer ich mich erinnere, gleich welcher Qualität … es hat mich zu dem gemacht, der ich bin, und es hat mich zu dir geführt. Dafür bin ich dankbar. Das zählt.«

»Ja, so sehe ich das auch«, sagt sie, »und es ist unglaublich, wie wir immer wieder das Gleiche denken«, und während sie in einen langen Kuss versinken, denkt Bastian:

Ich werde sie niemals Conny nennen oder vielleicht gar Stanzerl … meine Konstanze; und wenn es mich noch so sehr jucken sollte!

 

 

Der Abstellraum

 

Wer kennt nicht das Problem, dass der zur Verfügung stehende Stauraum in der Wohnung sich umgekehrt proportional zur Wohndauer verhält?

Einfacher gesagt: Je länger man wohnt, desto weniger Platz hat man. Im Laufe der Zeit sammeln sich Dinge in einem Ausmaß an, das man niemals für möglich gehalten hätte. Bücher sind so eine Sache. Sie werden ihrer mehr und mehr, und irgendwann beginnen sich Stellagen quer durch die Wohnräume zu entfalten, wenn entlang der Wände kein Platz mehr ist.

Umso eher tritt dieser Umstand ein, wenn diese mit Gemälden der haushaltseigenen Künstlerin geschmückt sind. Dem langjährigen künstlerischen Schaffen mit immer wiederkehrenden kreativen Schüben entsprechend reichen die Wände der Wohnung längst nicht mehr aus.

Hinzu kommen noch allerlei Gerätschaften, die der Musiker von heute benötigt oder eben nicht mehr oder nur selten verwendet. Da machen Stapelboxen, gefüllt mit allerlei Kabeln und Krimskrams, ihrem Namen alle Ehre und Gitarrenkoffer blockieren den Zugang zu den Schränken.