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Iliazd

VERZÜCKUNG

Aus dem Russischen von
Regine Kühn
Mit einem Vorwort von
Régis Gayraud

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Inhalt

Vorwort

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Vorwort

Im April des Jahres 1930 war im Schaufenster der Buchhandlung von Jacques Povolozky in der Pariser Rue Bonaparte ein bescheiden anmutendes Buch zu sehen. Der gelbgrüne Einband zeigte eine merkwürdige Vignette, die eine mehrteilige Vase oder den Längsschnitt einer Muschel darzustellen schien. Das auf Russisch erschienene Werk trug den Titel Woskhischtschenije, was so viel wie »Verzückung« bedeutet, aber auch »Bewunderung«, und (im Russischen) Assoziationen von »Raub« und »Entführung« weckt. Der Name des Autors, Iliazd, dem heutigen deutschen Leser als Verfasser des Romans Philosophia bekannt, war den russischen Emigranten 1930 in Paris durchaus ein Begriff. Für sie war er ein Mitglied des linken, revolutionären und des Kontakts zu den Bolschewiki verdächtigten Flügels, den die meisten von ihnen verabscheuten. Der Name des Verlags – 41° – deckte sich mit dem der Künstlergruppe, die Iliazd unter seinem richtigen Namen Ilja Sdanewitsch zwischen 1918 und 1920 in Tiflis gegründet hatte. Die Ausrichtung dieser Gruppe stand dem Wirken von Dada so nahe, dass der Ende 1921 nach Frankreich gelangte Sdanewitsch sich natürlicherweise an den letzten Ausläufern des Dadaismus beteiligte und gleichzeitig seine eigene Poesie weiterentwickelte, der er den Namen Za-um gab, was so viel bedeutet wie »jenseits des Verstands«. Diese Gedichte bestehen aus Lauten ohne genaue Bedeutungen, die in einer konstruktivistischen Typografie angeordnet sind. Von einem Vorwort des Dadaisten Georges Ribemont-Dessaignes begleitet, war in Paris unter seinem Pseudonym bereits 1923 das Drama LeDantue Farom, [Le Dantju als Leuchtturm] das fünfte Stück eines 1916 begonnenen dramatischen Za-um-Zyklus im Verlag 41° erschienen, der aparterweise zugleich als Meisterwerk des Dadaismus wie auch des Konstruktivismus galt.

Verglichen damit wirkte das Werk, das 1930 im Schaufenster von Povolozky zu entdecken war, ausgesprochen konventionell, ja geradezu spröde. Dem Titel Woskhischtschenije (Verzückung) folgte die traditionelle Bezeichnung »Roman«, die auf eine Rückbesinnung des Autors auf das Herkömmliche zu deuten schien. Beim Öffnen des Buchs stieß man auf einen dichten, in durchnummerierte Kapitel und regelmäßige Absätze gegliederten Text. Das einzige auffällige Element der Seitengestaltung war erst auf den zweiten Blick auszumachen: Der jeweils letzte Satz vor dem Zeilenumbruch und dem Einzug des Folgeabsatzes endete ohne Punkt, als sollte eine Atempause oder, besser noch, ein Auffliegen suggeriert werden. Im Grunde genommen berichtigte dieses Kuriosum nur eine bisher unbeachtete typografische Redundanz.

Ein paar Tage später ließ Iliazd, der sein Werk selbst verlegte, jedes Exemplar mit einer Manschette und folgendem Aufdruck versehen: »Die russischen Buchhändler haben sich geweigert, dieses Buch zu verkaufen. Wenn Sie genauso furchtsam sind, lesen Sie es nicht!« Außer Povolozky – der mit den Malern Larionow und Gontscharowa sowie mit Tzara und Picabia befreundet und als Buchhändler auf russische Bücher sowie auf die Werke der ebenfalls von ihm herausgegebenen Pariser Avantgarde spezialisiert war – hatten tatsächlich alle anderen russischen Buchhändler in Paris Iliazds Buch »wegen eines Dutzends angeblich nicht druckbarer Wörter« abgelehnt, wie der Autor später erklären sollte. Ironischerweise deckte sich die Einschätzung der russischen Buchhändler im Namen der Moralvorstellungen und der Religion mit der Zensur, der die sowjetischen Verleger das Werk aus diametral entgegengesetzten Gründen unterzogen hatten.

Der Roman entstand im Wesentlichen in den Jahren 1926 und 1927. Ende 1927 ließ Iliazd über seinen in Russland verbliebenen Bruder ein Typoskript an die Redaktion der sowjetischen Zeitschrift Krasnaja Now schicken, die damals der Prosa der sogenannten »Weggefährten« nahestand: Schriftsteller, die zwar nicht der Partei angehörten, deren Ideologie aber weitestgehend unterstützten. Nach einer positiven Aufnahme (der Roman soll zunächst in der Zeitschrift, dann als eigenständige Publikation erscheinen) schreibt Kirill zwei Monate später an Ilja: »Der Roman ist sehr schön, aber gerade werden 40 Verlage geschlossen, es wird nun schwieriger, ihn zu veröffentlichen.« Iliazd wusste damals nicht, dass Krasnaja Now mitten in einer ideologischen Neuorientierung steckte. Der Gründer und Herausgeber Alexander Woronskij war gerade entlassen worden und sollte bald als Trotzkist verhaftet werden. Die offizielle Absage kam im Mai 1928. Kirill bot das Buch daraufhin dem Verlag Federazija an, der mehrere der geschlossenen Verlage ersetzte, darunter auch den, in dem Krasnaja Now erschien: Es folgte jedoch eine weitere Absage. Beanstandet wurden vor allem ein gewisser Mystizismus, eine ästhetisierende, dem Schicksal der Figuren gegenüber gleichgültige Haltung, die fehlende Benennung von Ort und Zeit sowie die seltsame, linkische, manchmal scheinbar fehlerhafte Sprache. Iliazd bezog Stellung gegen die Kritik. Auf den Vorwurf des Mystizismus entgegnete er, »Verzückung« sei kein mystisches Gefühl, sondern eines, das Revolutionen vorausgehe und sie präge; er habe es zum Beispiel in den Augen der Matrosen gesehen, die Lenin im April 1917 am Finnischen Bahnhof empfingen. Ebenso wenig könne man Gorki vorhalten, ein religiöser Schriftsteller zu sein, weil seine Gestalten beteten. Iliazd unterstrich, dass er eine klare Meinung zu der von ihm beschriebenen ungerechten Gesellschaft habe, und seine Sprache, der man vorwerfe, sie sei »jenseits von Zeit und Raum«, sei die eines Internationalisten. »Man hat mir gesagt«, schrieb er, »dass meine Sprache wie eine Übersetzung wirke, umso besser! Ihr vorzuwerfen, sie sei fehlerhaft, ist jedoch eine Übertreibung.«

Außer den unanständigen Wörtern waren die meisten damaligen Leser vor allem von der dezidierten Hermetik, den im Russischen seltenen Begriffen, dem vergessenen Wortschatz und den unerwarteten Wortkombinationen überrascht. Natürlich kann man Iliazds Entgegnung auf seine Zensoren nicht allzu viel Bedeutung beimessen: Es handelt sich weitestgehend um eine Standardantwort. Bemerkenswerterweise benutzt Iliazd jedoch, wenn er von der Sprache »jenseits von Raum und Zeit« spricht, exakt dieselbe Formulierung, mit der er 1913 seine Theorie des »Totalismus« erläuterte: Indem er sich weigerte, die Zeit als einen künstlerischen Wert zu betrachten, hatte er sich damals gegen den Futurismus gewandt.

Za-um war für Iliazd die ideale Ausdrucksweise der »Totalismus«-Poesie, weil er sich damit an das menschliche Unterbewusstsein wenden konnte, das von den Erinnerungen an die gemeinsamen kulturellen Strukturen der Menschheit geprägt ist. Diese mehrdeutige Lautpoesie ohne genau definierte Bedeutungen schuf Verbindungen zwischen unterschiedlichen, manchmal weit voneinander entfernten Kulturen. In den mit den Mitteln des Za-um verfassten Theaterstücken entstand so eine Schichtung aus verschiedenen Bezugsebenen – Mythen, Legenden, Religionen, Kosmogonie, aber auch Literatur und sogar zeitgenössische russische Geschichte … –, die durch die Lautsprache verknüpft werden sollten, um beim Zuhörer ein Gesamtgefühl aus Individuellem und Universellem hervorzurufen.

Eine solche Schichtung ist auch in Verzückung erkennbar. Die Sprache des auf Russisch verfassten Romans ist schlüssig und syntaktisch so durchstrukturiert, dass sie für den russischen Leser gut verständlich ist. Indem sie mit den verschiedenen Wortbedeutungen und den mitschwingenden Resonanzen spielt und dabei auf ein breites Spektrum an kulturellen Referenzen Bezug nimmt, stellt sie jedoch eine Verlängerung des Za-um mit anderen Mitteln dar. Womöglich bildet also die Sprache den Mittelpunkt des Romans: und mit der Sprache sämtliche weiteren Ausdrucksmittel – Schreie, Seufzer, Blicke und Gesten – in ihrer Mehrdeutigkeit und ihren zahllosen Interpretationsmöglichkeiten.

Verzückung ist zunächst ein Bergroman über starke, leidenschaftliche Menschen, die sich über die vom Flachland diktierten Gesetze hinwegsetzen. Obwohl die russischen Verleger dem Autor vorwarfen, sein Roman habe keinen erkennbaren zeitlichen und räumlichen Rahmen, scheint die Geschichte Anfang des 20. Jahrhunderts zu spielen, in einer Region, die stark an das Hochgebirge des Kaukasus erinnert. Innerhalb des Romans existiert ein deutlich umgrenzter Raum, der aus drei detailliert beschriebenen Ebenen besteht: oben der Quecksilbersee und ein einsames, mit Kropfigen und Blöden bevölkertes Dorf, etwas unterhalb davon das Dorf mit dem Sägewerk, noch weiter unten das Flachland mit einer schmuddeligen, düsteren Siedlung und schließlich eine kleine Hafenstadt. Iliazd verarbeitet Erinnerungen an seine Expeditionen in den Kaukasus und die Bergbesteigungen, die er als junger Mann in die entlegenen Berge Swanetiens mit ihren wilden, mysteriösen Bewohnern unternommen hatte. Viele Berge und Gestalten des Romans scheinen den Gemälden von Niko Pirosmani entstiegen, dem großen naiven Maler Georgiens, den der junge Ilja Sdanewitsch mitentdeckt und als einer der Ersten zu sammeln begonnen hatte. Wenn man die spärlichen Hinweise zu deuten versteht, ist auch der zeitliche Rahmen genau vorgegeben. Die zwölf Kapitel entsprechen fast genau den zwölf Monaten. Im zehnten Kapitel zum Beispiel findet die große Jagd exakt zehn Monate nach den Ereignissen am Romananfang statt. Noch präziser ist die Zeit an Ivlitas Schwangerschaft abzulesen. Von allen Figuren sind im Übrigen ausschließlich Ivlita und ihr Vater, »der Ehemalige«, der Zeit unterworfen. Ivlita wird mit einer zirkulären Zeit assoziiert, mit der ewigen Wiederkehr der Jahreszeiten und Menschen (verwechselt der eigene Vater sie nicht sogar mit seiner verstorbenen Frau?). Mit Ausnahme ihres Gangs zur Höhle, einem Wendepunkt der Handlung, bewegt sich Ivlita räumlich nur in ihren Gedanken, die sie weit über die Berge hinaus ins »Land der Flügel« tragen. Ivlitas Träumereien sind typisch für das, was der Philosoph Gaston Bachelard psychisme ascensionnel nennt. Nicht zuletzt findet sich auch im russischen Originaltitel des Romans das Präfix »wos«, das eine Bewegung von unten nach oben suggeriert.

Außerdem nimmt Iliazd auf den Symbolismus Bezug, der ihm in seiner Jugend so viel bedeutet hatte. Der Symbolisierungsprozess, der über das poetische Bild die materielle Welt mit der geistigen verknüpft, wird durch Ivlita verkörpert. Sie versteht die Sprache der Natur, sieht, wer sich hinter den Lebewesen verbirgt, und entschlüsselt »den Verstand des Verstandes«. Ihre Reinheit findet ihr Pendant in dem jungen Mann Lavrentij, der aus Freiheitsliebe desertiert und das Unreine bekämpft, das in Gestalt eines zügellosen Wandermönches in die Berge Einzug gehalten hat: Er tötet aus Freiheitsdrang und stiehlt um des bloßen Rauschs willen. Doch sobald er der unverdienten Gnade entsagt und Reichtümer anzuhäufen versucht, verliert er endgültig seine Freiheit und seine Reinheit: Sein Niedergang beginnt. Im Gegensatz zu Ivlita gehorcht Lavrentij den Gesetzen des Raums: ein ständiges Hin und Her, schwindelerregende Talfahrten, wilde Zickzackkurse und stürmische Aufstiege. Als junger Mann hatte Iliazd ein langes, von Nietzsche beeinflusstes Gedicht über Ikarus verfasst. Während Ikarus, im Labyrinth geboren, der Sonne entgegenstrebt und schließlich abstürzt, schlägt Lavrentij bei seiner unsinnigen Suche den genau entgegengesetzten Weg ein. In einem letzten Aufbäumen wählt auch er den aufsteigenden Weg und sucht, zu spät, auf den Gipfeln nach der verlorenen Reinheit.

Verzückung ist mit versteckten literarischen Anspielungen durchsetzt. Ganze Passagen, einzelne Situationen oder Details der Narration erinnern mehr oder weniger explizit an Werke der russischen Literatur – dafür ließen sich unzählige Beispiele anführen. Die im Roman agierenden Terroristen und Agents Provocateurs beziehen sich auf das politische Leben in Russland Anfang des 20. Jahrhunderts, aus dem Iliazd wie schon in den Za-um-Stücken seine Inspiration bezieht. Ihre Schatten geisterten bereits durch Andrej Belys Petersburg. Ebenso präsent ist der fantastische Realismus der russischen Literatur von Gogol bis Leskow, dessen pittoreske Gestalten und sprachliche Experimente aufgegriffen werden. Für den Romananfang scheint Iliazd auf mehrere Gestalten und Begebenheiten aus Saltykow-Schtschedrins Provinz Poschechonien zurückzugreifen: Die Familienstruktur der verzärtelten oder fleißigen Kropfigen ist – wie auch die absonderlichen Lieder, die im Dorf gesungen werden – direkt aus dieser Chronik übernommen, in der ebenso pittoreske und gewaltsame Sitten herrschen wie in Verzückung. Aus dem Werk von Saltykow-Schtschedrin stammen, übrigens in einer sehr ähnlichen Reihenfolge, auch folgende Motive: der Deserteur, die im Dorf eintreffende Untersuchungskommission, die Beschreibung des Dorffestes mit den Eimern voller Wodka und nicht zuletzt der leere Sarg von Bruder Mokij. Die Doppelgänger Lavrentij-Martinjan spielen unmissverständlich auf die Doppelgänger Alexej und David in Turgenjews Erzählung Die Uhr an, aus der auch der Name Martinjan stammt. Bei Turgenjew trägt diesen Namen ein mit seiner Tochter zusammenlebender Greis, dem die Sprache abhandengekommen ist und der insofern Ivlitas Vater vorwegnimmt. Das Leben von Ivlita und ihrem Vater zeigt deutliche Anklänge an die Lebensumstände von Puschkins Tatjana in Eugen Onegin; und eine lange Passage des Romans wirkt fast wie die exakte Übertragung eines Abschnittes aus diesem Versroman.

Noch eindeutiger bezieht sich Iliazd auf die Romane Dostojewskijs, insbesondere auf Verbrechen und Strafe, aber auch auf Die Dämonen und Der Idiot. Neben Turgenjew verweist das Paar Lavrentij-Martinjan auf Der Doppelgänger. Vor allem die biblische Behandlung des Sujets verbindet Verzückung mit den Werken Dostojewskijs. Alle Bibelmotive, deren Verwendung an Dostojewskijs Erzähltechnik erinnert, ranken sich um die christusgleiche Figur Lavrentijs. Er ist als einzige Gestalt in der Lage, Scham und Ekel für die anderen und für sich selbst zu empfinden. So ist der Mörder des Mönchs paradoxerweise ein christlicher Held, wovon die mit ihm assoziierten Bibelmotive zeugen. Ganze Passagen des Evangeliums werden aus dem Jordantal in Iliazds Hochgebirgstal versetzt. Josef, der Zimmermann und »offizielle« Vater Jesu, ist dem Anschein zum Trotz nicht sein richtiger Vater; dementsprechend kennt niemand die genaue Herkunft Lavrentijs, und die einzige Autorität, der er sich unterstellt, ist der Sägewerkinhaber – gewissermaßen auch ein Zimmermann. Die Apostel Petrus und Andreas stammen aus einer Stadt, deren Name »das Haus des Jägers« bedeutet; Lavrentij wiederum schart seine ersten Jünger im Haus des alten kropfkranken Jägers um sich. Das erste Wunderzeichen Jesu ist die Verwandlung von Wasser in Wein bei der Hochzeit zu Kana; auch Lavrentij gelangt durch ein Festessen zu Bekanntheit. So wie Jesus seine Wunder am Sabbat vollbringt, plündert Lavrentij die Postkutsche just in der Winterpause. Von Jesus heißt es, dass kein Prophet je aus Galiläa hervorgegangen sei; der alte Kropfige sagt dementsprechend zu Lavrentij, er als Flachlandbewohner könne nicht sehen und verstehen. Es würde zu weit führen, an dieser Stelle eine erschöpfende Liste aller Seitenmotive aus dem Leben Jesu aufzuführen, die an die Anfänge Lavrentijs erinnern.

Sobald Lavrentij nicht mehr wahllos tötet und sich in den Dienst der Revolutionäre stellt, ist sein Weg auch mit prophetischen und vor allem apokalyptischen Motiven gepflastert. Das erste apokalyptische Vorzeichen ist Lavrentijs Erwachen neben einem Leichnam, einem von Basilisk Getöteten. Genau genommen, spielt diese Episode nicht direkt auf die Apokalypse an, sondern auf die berühmte Passage des Lukasevangeliums über die Ankunft des Gottessohns: »In jener Nacht werden zwei sein auf einem Lager: Der eine wird aufgenommen und der andere zurückgelassen werden« (Lukas, 17,34). Die eigentlichen Parallelen zur Johannes-Apokalypse beginnen, als Ivlita Lavrentij verrät. Sie empfängt ihn, mit kostbarem Schmuck angetan, in einem rosa Kleid und reicht ihm ein mit Schnaps gefülltes silbernes Trinkhorn. In der Apokalypse heißt es: »Und das Weib war in Purpur und Scharlach gehüllt und überladen mit Schmuck aus Gold und Edelgestein und Perlen; es hielt einen goldenen Becher in seiner Hand, ganz voll von Abscheulichkeiten und von dem Unrat seiner Unzucht« (Apk. 17,4). Vor allem nachdem Lavrentij aus dem Gefängnis geflüchtet ist und dreimal das Pferd wechselt, bevor er zu Fuß weiterzieht (vgl. die vier Pferde der Apokalypse), häufen und präzisieren sich die Anspielungen. Das Kapitel 16 strotzt geradezu von Querverweisen auf die Offenbarung des Johannes, die sich in zahllosen, Lavrentijs Weg säumenden Kleinigkeiten spiegeln: das Lamm, das nach seinem Durchzug an einem Spieß gebraten wird, der rötliche Mond am Himmel oder die vom Himmel fallenden Sterne.

Als Ivlita und ihr Kind am Romanende zu Bäumen werden, klingt das Neue Jerusalem an, mit dessen Beschreibung die Apokalypse endet. Während der Lebensbaum des neuen Zeitalters jedoch zwölf Früchte trägt, für jeden Monat eine, und seine Blätter zur Heilung der Völker dienen, ist der Baum von Ivlita und ihrem Kind abgestorben: Es ist keine Erlösung zu erwarten. Lavrentij hat Schuld auf sich geladen, weil er nach irdischen Schätzen suchte. Er hat seine Chance, Christus gleich zu sein, verspielt.

Das Thema der verborgenen Schätze und der schicksalhaften Suche nach ihnen ist in Verzückung allgegenwärtig – wie im Übrigen auch in Iliazds Roman Philosophia, wo es allerdings nicht mit dem Bergmotiv, sondern mit dem Orient assoziiert wird. Nahezu alle Figuren sind von dieser Suche, die sie schließlich das Leben kostet, wie besessen. Nur der alte Kropfige, der älteste Dorfbewohner, ist weise genug, ihr nicht zu folgen. Er offenbart Lavrentij, dass die Schätze tatsächlich existieren, aber nur verfügbar sind, solange sie nicht gefunden werden: »Finde sie, und sie zerfallen zu Staub.« Anschließend lehrt er ihn, was er unter dem größten aller Schätze versteht: so lange wie möglich zu leben und von der vergeblichen Suche nach materiellen Gütern abzulassen. Mit der Schatzsuche geht der unwiderrufliche Niedergang der Figuren einher, sowohl der psychische Verfall als auch der konkrete Abstieg ins Tal. So erklärt sich Lavrentijs Scheitern. Er, der Lauterste von allen, hat nicht begriffen, wo die wahren Schätze liegen.

In einem 1939 verfassten Begleittext zu seinem Sonettzyklus Afat nennt Iliazd Verzückung »eine Definition der Poesie als stets vergeblicher Versuch«. Der Schnee ist das Symbol für die Reinheit dieses Schatzes, die durch seine Entdeckung zunichtegemacht wird. Der Schnee ist Reinheit, die sich verflüchtigt, sobald man sie mit Füßen tritt. Die Poesie ist ihm ähnlich: rein, ebenmäßig, allumfassend und zugleich vergänglich; sie existiert, um verletzt zu werden. »Man soll ein Buch nicht schreiben, damit es gelesen wird. Ein gelesenes Buch ist ein totes Buch«, schreibt Iliazd 1930 in eines seiner zahlreichen Notizhefte.

Verzückung lässt sich nicht nur als Parabel auf eine unmögliche Poesie, sondern auch als Schlüsselroman lesen, der mit den Abenteuern der Bergbewohner auf das Schicksal der russischen Futuristen anspielt. Die Bergbewohner erinnern stark an die Poeten der »Linken Front der Künste«, die wie Deserteure die Tore zur Freiheit weit aufstießen. Ganz oben auf dem Berg befindet sich »das Dörfchen mit dem unglaublich langen und schwierigen Namen, so schwierig, dass nicht mal die Bewohner ihn aussprechen konnten«. Seine Bewohner, Kropfige und Blöde, singen Lieder, deren absurde Texte (hier benutzt der Verfasser das nach dem Wort »zaum« gebildete Adjektiv) keiner bekannten Sprache zuzuordnen sind. Die Poesie dieses Ortes ist demnach Za-um-Poesie. In den Gestalten der Blöden und Kropfigen findet man mit Iliazd befreundete Dichter, Za-umniki wie Alexej Jelissejewitsch Krutschonych und Igor Terentjew gespiegelt, die sich selbst gern als Idioten titulierten. Und vielleicht spiegelt sich Welemir Chlebnikow in Iona? Der einbeinige Iona, der Ivlitas Schönheit verachtet, erinnert an den einäugigen Dawid Dawidowitsch Burljuk, der 1914 mit ähnlichen Worten die Schönheit geißelte. Im selben Dorf wohnen in einer Art holzgeschnitztem Palast – wie dem Palais idéal des Briefträgers Cheval – auch Ivlita und ihr Vater, der verträumte und kauzige frühere Waldhüter, genannt »der Ehemalige«. Möglicherweise hat Iliazd sich in dieser Figur, die sich mit der Lösung hochkomplizierter Probleme beschäftigt und paradoxe Überlegungen anstellt, selbst ein Denkmal gesetzt. Schreibt er in seinen Erinnerungen über Konstantinopel nicht, dass seine Freunde und Mitbewohner ihn auch »den Ehemaligen« nannten?

Es ist wohl müßig, nach genauen Entsprechungen zu suchen. Auffällig sind jedoch die Parallelen zwischen Lavrentijs Geschichte und der des berühmtesten russischen Futuristen Wladimir Majakowskij. Der einstige Dichter des Ichs und des triumphierenden Begehrens hatte schließlich das Gebiet der reinen Poesie verlassen und seine Feder in den Dienst eines kollektiven Wir und revolutionären Aktivismus gestellt; und hatte nicht eine Frau bei dieser Bekehrung, die ihn seine Seele kostete, eine wichtige Rolle gespielt? Jenen, die an der Parallele zwischen Lavrentij und Majakowskij zweifeln, hat Iliazd einige farbsymbolisch aufgeladene Hinweise hinterlassen: Die Romankulisse wechselt vom anfänglichen Weiß zu Rot und geht später in Braun über. Nach den ersten »zweckfreien« Morden am Mönch Mokij und am Steinmetzen Luka – die den Mord an Kunst und Moral versinnbildlichen – schlüpft Lavrentij, nunmehr Anführer der Räuberbande, in ein gelbes Hemd als Zeichen seiner Macht. 1930 war allgemein bekannt, dass Majakowskij in seiner futuristischen Jugend für seine Auftritte eine provozierend wirkende gelbe Bluse bevorzugte. Ivlitas Verrat, der Lavrentijs Niedergang einleitet, badet im roten Schein der Revolution, der das ganze 11. Kapitel überstrahlt. Im apokalyptischen Finale schließlich vermischen sich Rot und Grün zu einem schmutzigen, schlammigen Braun.

Die Verknüpfung der Geschichte Christi und seiner ersten Jünger mit der des Futurismus ist nicht ungewöhnlich: In beiden Fällen handelt es sich um Formen der Rebellion, in beiden Fällen wurde die Revolte durch die Maßregelungen von Religion oder Politik verraten und vereinnahmt. Auch die Tatsache, dass Lavrentij gleichzeitig an Christus und an Majakowskij erinnert, ist nicht verwunderlich. In seinen futuristischen Gedichtbänden stellt Majakowskij selbst diesen Bezug her, und es ist nur der zaristischen Zensur zuzuschreiben, wenn sein großes autobiografisches Poem Wolke in Hosen nicht, wie ursprünglich geplant, Der dreizehnte Apostel heißt. Verzückung sollte nur wenige Wochen nach Majakowskijs Selbstmord erscheinen. Die Poesie, ein stets vergeblicher Versuch …

Unter vielerlei Gesichtspunkten ist Verzückung mit ihren zahllosen Querbezügen ein Welt-Roman wie andere bedeutende Romane des 20. Jahrhunderts. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts lesen wir die Welt von Ivlita, Lavrentij und den anderen Bergbewohnern mit ihren eigenwilligen Regeln, Traditionen und ihrer Folklore als Gegenentwurf zur unterkühlten, alles beherrschenden Welt der Moderne außerhalb der Künstlerateliers. Vielleicht ist Verzückung vor allem das Werk eines Dichters und dessen ungebrochener Faszination für die natürliche Poesie der archaischen und ästhetischen Welt, die er auf seinen Ausflügen ins Gebirge entdeckt hatte. Er vermittelt uns deren Reiz, und wir dürfen uns ihm als Leser des einfachen Bergromans, den Iliazd zu schreiben vorgibt, getrost überlassen.

Régis Gayraud

Aus dem Französischen von Nicola Denis

1

Der Schnee wuchs schnell an, ließ die Glockenblumen verschwinden, dann die Steine, schon trat Bruder Mokij auf Weiß statt auf Moos und Farben. Anfangs war es nicht kalt, die Flocken setzten sich auf die Wangen, versanken im Bart, glitten erfrischend ab. Die mit Felsen besteckten Flanken des Tals begannen sich in der rebellierenden Luft in Spitze zu kleiden, später verschwanden sie gänzlich, die stiebenden Flocken erzitterten nun, tanzten, wirbelten, peitschten Bruder Mokijs Gesicht, verklebten, reizten die Augen. Der Pfad, den Blicken verborgen, entfloh oft den nackten Füßen, der Wanderer stürzte dann und wann in die Spalten zwischen den Rollsteinen. Manchmal blieb ein Fuß stecken und Bruder Mokij fiel, wälzte sich, die Mönchsketten schepperten, mühsam kam er, wenn er genug Eis gefressen hatte, wieder hoch

Schließlich dröhnten die Posaunen. Die Winde rissen sich von den umliegenden Bergketten los, tauchten ins Tal ein und bekämpften sich erbittert, nur wusste man nicht, weshalb. Von rechts schickten die Leibhaftigen, den Zwist nutzend, widerliches Heulen, im Rücken klang es wie Geigen oder wie die mühsam das Unwetter durchdringende Klage eines gequälten kleinen Kindes. Zu diesen Stimmen gesellten sich meist mit nichts vergleichbare Stimmen, manchmal versuchten sie wie Menschenstimmen zu klingen, aber so unbeholfen, dass klar war, es ist Einbildung. Auf den Gipfeln begannen sie ein launisches Spiel, stießen die Schneemassen hinunter

Doch Bruder Mokij fürchtete sich nicht und dachte nicht an Umkehr. Von Zeit zu Zeit bekreuzigte er sich, spuckte aus, wischte sich mit dem Ärmelaufschlag das Gesicht, folgte dem gewohnten, nicht besonders schwierigen Weg durch den Talgrund. Allerdings war der heutige Gang von all den Gängen, die er über diesen und auch über benachbarte, weniger zugängliche Pässe gemacht hatte, der unangenehmste. Noch nie hatte der Pilger solch Rasen beobachtet, vor allem nicht zu dieser Jahreszeit. Im August ein solcher Tanz. Dabei hatte dieser Weg gar keinen besonderen Grund, die Berge hatten keinen Anlass zur Aufregung. Wenn das Schicksal ihn jedoch verschont und es ihnen nicht gelingt, ihn jetzt sofort mit einer Lawine zu überrollen, wird er in ein, zwei Stunden außer Gefahr sein

Die Mulden, durch die sich der Wanderer, bei jedem Schritt bis zu den Knien im Schnee versinkend, bewegte, mündeten in einen steilen Anstieg, der vor dem Pass zum Südhang lag. Drei Stunden nach Beginn des Schneesturms hatte Bruder Mokij diesen Hang erreicht. Erklimmen konnte man ihn höchstens auf allen vieren. Die Arme versanken tiefer als die Füße, der Schnee war so locker, dass der Stock, der ihm entglitten war, spurlos verschwand; manchmal kam unter dem Mönch alles in Bewegung, dann zog er den Kopf ein und versuchte den Bergsturz aufzuhalten. Was ringsum geschah, sah Bruder Mokij schon nicht mehr. Doch spürte er: Es übersteigt seine Kräfte. Er wurde leichter, klarer, wuchs, schwebte. Hörte das Tosen der Schluchten nicht, horchte nicht auf ihre Possen. Nur Durst breitete sich in seinem Körper aus, umso stärker, je länger er Eis nagte, bis der Schnee sich erst rosa färbte, dann mit Blut bedeckte. Endlich war der Hang nicht mehr so steil, dann noch weniger: Dort eine Stelle, so eben, dass man keinen Schritt ohne tödliche Müdigkeit tun kann. Bruder Mokij riss die vereisten Wimpern auseinander, erstarrte und fiel lang hin

Über ihm raste weiter der Sturm. Gespenstische Schatten bewegten sich um ihn herum oder gingen über ihn hinweg, warfen ihn um. Schauen war schwer, aber man musste den riesigen lockigen Tod anschauen, sich um die eigenen Gliedmaßen kümmern, schlimm, vom Tod berührt: sehen, wie die verknoteten Finger anschwellen, starr werden, sich mit Grind und Beulen überziehen, platzen, und aus den Rissen tropft das nicht mehr rote, nicht mehr wahrnehmbare Leben. Doch wieder ist es leicht, kein Schmerz, man kann atmen. Die Zweige streifen noch irgendwie die Schneeflocken von den Lidern, man kann sich bekreuzigen und den grausigen Zauber im Auge haben. Ihm ist immer wärmer vom Schnee, der müde Wanderer darf in solch einer Minute schlafen. Der Sturm singt, verjagt alle anderen Töne, das Totengebet

Sterbend wollte Bruder Mokij sich noch an etwas erinnern, vielleicht auch an jemanden, aber er hatte keine Zeit, und auch der Zustand der Seele erlaubte nicht, an vergangene und unbedeutende Dinge zu denken. Die Seligkeit des Gletscherschlafs war vermutlich Sünde, aber eine dem Lebenden vergönnte Belohnung und das Tor zum Himmel. Der Begrabene erwartete das Öffnen der Pforte und das himmlische Licht, das sich ergießen sollte. Unerschöpflich sind Weisheit und Fülle der Wohltaten dessen, der ihm diesen wunderbaren Tod schickt

Doch Bruder Mokij schlief und schlief doch nicht, die Ordnung der Dinge wollte, dass sein Geist sich wiederbelebte und zu arbeiten begann. Eine Reihe Kleinigkeiten, es wurden mehr und mehr, zwang dazu, ihnen Bedeutung beizumessen und sie dann dem Niederen zuzuordnen. Weshalb das so war, wusste der Zugewehte nicht, doch er kam zu dem Schluss, seine Seele hätte sich also noch nicht vom Körper gelöst, der Tod hätte sie noch nicht genommen. Man musste noch warten, und allmählich kam ihm der Gedanke, das Warten sei quälend, man müsse die Ereignisse beschleunigen. Klar war schon, der Tod hatte Bruder Mokij genommen, doch wieder fallen lassen, zufällig oder auf Anordnung von oben, er war also wieder frei, oder anders, in irdischer Existenz, denn im Jenseits gibt es keine Persönlichkeit, also auch keine Freiheit, du löst dich im Absoluten und Notwendigen auf

Als er das überprüft und sich überzeugt hatte, alles verhalte sich genau so, kehrte der Wanderer zur Bewegung zurück. Er hatte versucht die Arme zu bewegen, das gelang erst nicht, dann fand der rechte einen Ausweg und jene Kruste, die sich aus dem von der Körperwärme getauten Schnee gebildet hatte. Die Kruste erwies sich als nicht sehr fest, mithilfe des anderen Arms begann Bruder Mokij das Gewölbe zu durchbrechen und einen Weg durch die dicke Schicht zu bahnen, das ging noch leichter, da der Schnee trocken und pulvrig und offenbar nur in geringer Menge angeweht worden war

Bruder Mokij mühte sich, spannte sich, bis er furzte und selbstzufrieden kicherte. Plötzlich sackte die Wölbung weg; man konnte sich ohne Schwierigkeiten aufrichten, abklopfen und umschauen. So ist es

Bruder Mokij stand aufgerichtet am Ausgangspunkt des Gletschers, der direkt auf dem Sattel des Bergkamms lag und nach beiden Seiten abfloss. An den morgendlichen Sturm erinnerten ein paar Wolken, Nebelschwaden und die Schneefransen an den Steilwänden. Es war nach allen Seiten offen, ergötze dich an der hochgebirgigen Umgebung, setze deinen Weg ungehindert fort! Doch dem Mönch entrissen sich weder Lobpreisung noch Dankbarkeit. Er kicherte noch dreckiger, als wäre er zufrieden, jemanden hinters Licht geführt zu haben. In seinem eben noch so entschlossenen, in der Todesminute leuchtenden Blick blitzte Angst auf, Unsicherheit, das Bewusstsein der eigenen Unreinheit. Hatte der Tod ihn verschmäht, weil er gesehen hatte, mit wem er es zu tun hat? Der Mönch eilte los, übers Eis zum höchsten Punkt des Kamms, es war überhaupt nicht mehr weit

Linker Hand, nur ein paar Schritte von der Stelle entfernt, wo Bruder Mokij eben gelegen hatte, riss der Gletscher ab und fiel in einen kleinen See, der die Senke unter dem Pass füllte. Obwohl auf dem übertrieben lilafarbenen Wasser Pfannkucheneis und Schollen schwammen, badete darin seelenruhig ein Schwarm Bergschmetterlinge, über der Oberfläche auffliegend oder eintauchend. Dabei war das Wasser so durchsichtig, dass man die Steine sehen konnte, und als die Flügel über den Grund wanderten, wurden die kleinsten Fühlerchen unterscheidbar

Den See umstellten böse, zerklüftete Gipfel, doch heute bewegten sie sich nicht und drohten nicht. Bruder Mokij hatte keine Lust, ihre finsteren Klippen zu betrachten, weshalb er zu einem Tal abbog, das rechts von dem eben durchquerten lag, von Festen umgeben, die entfernter lagen, sich über den Hauptkamm erhoben und deshalb ungefährlicher waren. Besonders schön ist die in den Himmel geschlagene Säule dort. Man erzählt sich, ein Jahrtausend zurück sei ein Bandit bis ganz oben hinaufgestiegen, konnte aber nicht mehr herunter. Seitdem schreit er dort, wenn es kalt ist, und fleht, man solle ihn herunterholen. Sicher sitzt er auf der abgewandten Seite, denn Bruder Mokij sah den Schreihals auch dieses Mal nicht

Eine Auerochsenherde überquerte den Gletscher talwärts. Erst liefen die Tiere langsam, jedes für sich, doch der Gottesnarr hatte die Kälber verschreckt, und die Huftiere stürzten den Steilhang hinunter, von einem Vorsprung zum nächsten und dann plötzlich ganz nach unten, zur Veterinärstation, die kaum zu sehen war und wo Bruder Mokij die taunasse Nacht verbracht hatte, die noch nichts von den morgendlichen Katastrophen verraten hatte

Für gewöhnlich gab es im Gletscher nur wenige Spalten, man musste sich, der verdeckten wegen, nicht besonders vorsehen. Jetzt kamen die Wände näher, ein Korridor. Hier muss man auf der Hut sein, sie können einstürzen, der Mönch trat möglichst sachte auf und hütete sich zu reden. Ständig hüpften Steine, auch dieses Mal flogen ein paar vorbei und verschwanden. Ein Eiszapfenkamm riss ab, aber ohne viel Lärm. Dort ein Eishaufen mit hineingesteckter Wegmarke. Der Pass!

Wie oft während seines langen Mönchdaseins war Bruder Mokij hier vorbeigekommen, jedes Jahr hatte er sich auf den Weg gemacht, das Nachbarkloster südlich der Bergkette zu besuchen. Die Jahre hatten das Gespür für geistige Dinge geschärft, irdischer Schönheit gegenüber nicht gleichgültig gemacht, deshalb konnte der Mönch auch jetzt diese riesige, sich nun vor ihm auftuende wunderschöne Senke nicht ohne neugierige Begeisterung betrachten, er wird sie zwölf Stunden lang durchschreiten müssen, ehe er bei den ersten Katen anlangt

Da der Südhang bedeutend ärmer an Gletschern ist als der Nordhang, brauchte der Fußgänger keine halbe Stunde, um die bescheidene, mit Eis und Schnee vollgestopfte Sohle hinter sich zu lassen und eine steinige kleine Wiese zu erreichen. Jetzt kann man sich ein bisschen hinlegen, die Mönchsketten ablegen, sich hätscheln, an den Fingernägeln knabbern und am Fläschchen nuckeln. Die Kutte ist verdreckt (woher kommt der Dreck?) und in Fetzen, die Ellenbogen sind blutig, die Füße hoffnungslos erfroren, die Augen brennen und der Mund ist voll Ekelzeug. Nicht nur der Stock, der treue Gefährte, auch die Mütze ist verloren. Wie nur ist der Wodka heil geblieben? Hinter einem Stein zeigte sich jemand, lachte laut und warf einen Stein nach dem blöden Gottesnarren

In diesen Gegenden jedoch sind die Berggeister nicht mehr gefährlich, man kann seine Wunden mit Erde bestreuen, sich in Ruhe ausstrecken und mit dem Betrachten der Wunder befassen, allerdings nicht lange, da auch die Sonne den Pass überschritten hat. Dort ist ein erstklassiger Gletscher, blau von darin wimmelnden Würmern. Man möchte ein paar davon herausklauben: Der Vater Abt klagt über Verstopfung und er sagt, es gäbe kein besseres Mittel dagegen als die Köpfchen dieser Würmer, in seinem Glas aber sind nur noch ein paar wenige. Und da ist die Höhle, wo der Bocksmann lebt. Letztes Mal hat er von Weitem gesehen, wie er das Gewehr eines Jägers fraß, der Pech gehabt hatte. Gut, dass der Wildbach schon stark ist, da springt niemand drüber, sonst könnte man hier einiges auszustehen haben