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Inhalt

[Cover]

Titel

Kriegerdenkmal ganz hinten

Revolution

Landbewohner

So und nicht anders

Liebesbrief vom Lande

Fugen

Ans Licht

Hände gebunden

Brände

Sommerfrische für Max Hölz

Hunger vor allem

Durst

Entleerung

Vergangenes Jahrtausend

Kinder

Noch ein Nachtbild

Letzter Brief eines alten Mannes

Wortschatz

Zuwider

Total deformiert

Auf dem Land

Moos

Kontaktfreude

Eine Erscheinung aus dem Nachtgebiet

Kino

Abermals der Porträtmaler

Wieviel

Nummer eins

Heimat Göttingen

Nebengeräusche

Kriegerdenkmal ganz hinten

Na endlich

Spätvorstellung

Fortschreitend Lina

Adieu Warschau

Außerhalb und innerhalb

Ruhe bitte

Dr. Brey

Falten

Annähernd Moskau

Wandrei zurück oder Der Henker von Warschau

Unten im Schwarzwald. Eine Talgeschichte

Nördlich der Liebe und südlich des Hasses

I Ein Vormittag auf dem Land

II Die Sprache der Augen

III Stadtrand

IV Heimat

V Armut nimmt die Stelle der Seelen ein

VI Echoversuche im luftleeren Raum

VII Eine blutige Geschichte

VIII Soll und Haben

IX Ein blinder Passagier steigt zu

X Botenfrau Briefträger Wochenblatt

XI Das Dorf

XII Gespräche am Krankenbett

XIII Auf Leben und Tod

XIV Wölfe

XV Reise in eine verhangene Landschaft voller Katastrophen

XVI Telefonat eins

XVII Telefonat zwei

XVIII Eduard

XIX Geräusche beim Entsichern der Pistolen

XX Der Kampfflieger

Dunkelkammer

Steglitz

Stomps in Gießen

Laterna magica

Der Schloßpark

Die Altenburger Geschichte

Erinnerung an ein Foto

Dunkelkammer

Aus dem Leben der Maler

Ein Winter am Anfang

Schöne Aussicht auf Gefahr

Das Atmen der Bilder

Die Krankheit, zu schreiben

Bullenbuch und Mordgeschichte

Auftakt mit Arnold Z.

Gandersheim

Schatten vom Glück

Schönheiten der Pfalz und unseres Irrsinns

Der Torweg

Nachwort

Nachweise

Autorenporträt

Über das Buch

Impressum

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Kriegerdenkmal ganz hinten

Revolution

Er wurde tot in einem Waldstück am Fuß des Hohen Hagen gefunden. Das war am fünfundzwanzigsten März. Bedenkliche Zeitungsnachrichten steigerten die Erregung. Niemand konnte nämlich sagen, wie er ums Leben gekommen war. Es hieß, sein Kopf sei gar nicht gefunden worden. In der folgenden Nacht brannte der Ziegenstall des Lehrers Meseke nieder. Und am siebenundzwanzigsten März hielt die Bevölkerung eine Versammlung ab. An Grönwohl, der sich in Hannover aufhielt, wurde ein Ultimatum geschickt. Die Bevölkerung verlangte die Herstellung alter Rechte. Mit ergebenem Gruß. An die Spitze der Fordernden hatten sich Kawe und Bergweitemeier gestellt. Die Versammlung nahm einen stürmischen Verlauf. Alle waren sehr aufgebracht. Sie nannten Grönwohl einen Ausbeuter, den Förster und den Lehrer seine Helfershelfer und Lakaien. Die Ansprachen von Bornemann, Elend und einem Tischler namens Bertram, der aus Göttingen heraufgekommen war, fanden starke Beachtung. Ende März ließ Grönwohl durch den Lehrer die einschlägigen Gesetze verlesen. Es ist nicht bekannt geworden, wie viele Zuhörer Meseke fand, doch am ersten April war das ganze Dorf in Aufruhr. Mit Hacken, Äxten und Spaten zog man auf den Kirchhof. Grönwohl jedoch hatte, um die Bevölkerung und besonders seine Landarbeiter zu beruhigen, einen Ochsen schlachten und mit einem Zentner Kartoffeln verteilen lassen. Allerdings schien das keinen besonderen Eindruck gemacht zu haben. Man nahm hin, was gegeben wurde, aber Liebe entstand nicht. Infolge dessen beklagte Grönwohl beim Pfarrer seinen schlechten Ruf unter den Aufständischen. Er glaubte, mehr verdient zu haben. Der Pfarrer wies auf den abgebrannten Ziegenstall hin und nickte. Am zweiten April wurde der Tote endlich begraben, ohne daß sein Kopf gefunden worden wäre. Allgemein hielt man Grönwohl für schuldig. Anderntags marschierte die Garde der einfachen Leute, der wüste Haufe. Auf Zureden der Anführer hatte man die Fahne auf dem Schloß gelassen, worüber die Schloßbewohner sehr erbittert waren. Grönwohl reiste ab. Keinesfalls wollte er die Fahne eigenhändig übergeben, was die Garde einerseits als Beleidigung empfand und andererseits als Stolz auslegte. Als ein Kind im Basaltbruch den Kopf fand, wußte es nicht gleich, daß es der Kopf war. Der Schreck, den man im Dorf bekam, hielt lange vor. Jetzt wurde es ernst. Also marschierte die Garde am vierten April in einem Schwarm von Kindern vors Schloß, holte die Fahne, ließ sich sieben neue Karabiner aushändigen und bildete im Steinbruch ein offenes Viereck, in dessen Mittelpunkt Kawe mit der Fahne stand. Während der Pfarrer eine Rede hielt, entblößten alle die Köpfe. Die Musik spielte: Nun danket alle Gott. Dann ging die Menge auf den Dorfplatz, wo getanzt wurde. Der Abend verlief heiter und ruhig. Grönwohl äußerte sich, endlich zurückgekommen, abfällig über das Ergebnis der Verhandlungen in Hannover. Ein Brief aus der Hauptstadt sprach von neuerlichen Unruhen und vom beabsichtigten Sturz der Regierung. Trotzdem zeigte Grönwohl sich sehr freundlich und ließ Freibier geben. Jeden Morgen schoß die Garde im Steinbruch die neuen Gewehre ein, und Grönwohl sagte zum Pfarrer, er könne deshalb kaum noch schlafen. Nachdem in der Nacht Bertram nach Göttingen gerufen worden war, zog die Bevölkerung am achten April erneut auf den Kirchhof. Kawe sprach einige ergebene Worte und ließ die Garde vorbeimarschieren. Grönwohl stand neben ihm. Kawe sagte: bald wird alles anders. Grönwohl machte ein unbewegtes Gesicht und ließ die Fahne wieder aufs Schloß bringen. Eigenhändig verschloß er die Karabiner im Schrank. Seht euch die Felder an. Es ist höchste Zeit.

Landbewohner

Meistens wird lautes Jammern unterdrückt, damit der Tote nicht wieder aufgeschrien werde. Der Herr ist tot. Dann geht jemand durch die Ställe mit demselben Ruf, um das Vieh zu wecken. Das Kinn wird aufgebunden, auch durch ein Rasenstück gestützt. Der Tote soll kein Nachzehrer werden. Nach der Waschung muß das Wasser an einem Ort vergraben werden, wo niemand darübergehen kann. Bevor jedoch der Tote in einen Sarg gelegt wird, hebt man ihn vom Bett auf eine Bank oder ein Brett in der Wohnstube. Das Brett wird später an eine sumpfige Wegstelle oder über einen Bach gelegt. Es mahnt vielleicht doch. Zwei ganze oder halbe Nächte wird die Leiche verwacht, um den Toten durch Scherze zu unterhalten. Auch werden diese Nächte zu Stelldichein und ausgelassenen Pfänderspielen genutzt. Kinder berühren, küssen, beißen die nackte große Zehe des Toten. Bleibt er geschmeidig, so folgt ihm bald ein anderer Hausbewohner. Auf alle Fälle schütte man dem Zug einen Topf Wasser nach. Die nächstverwandten Männer legen die Hüte nicht ab. Öfter wird die Leiche im offenen Sarg begraben, das Gesicht von einem kleinen Brett verdeckt. Einige Orte kennen sogar den Gemeinsarg, aus dem die Leiche genommen wird, um auf einer Bohle in das Grab gelassen zu werden. Nacheinander, immer aus anderer Sicht, tragen die Angehörigen der Gemeinde die Biografie des Verstorbenen klagend vor. Die Dämmerung ist für Fehlgeburten und Selbstmörder. Abgerissene und abgenommene Gliedmaßen kommen beiseite, bis sie Platz in einem Sarg finden. War der Tote verschuldet, so hat die Witwe ihren Gürtel ins Grab zu geben. Anschließendes Essen heißt nicht selten: das Fell versaufen. Je schneller einer vergessen werden muß, desto prächtiger soll das Begräbnis sein. Deshalb werden selbst im Stall Tische und Bänke aufgestellt. Ehrenplätze für Pfarrer, Arzt, Hebamme, Kirchendiener, Bürgermeister, Totengräber, Schreiner, die Verwandten der Leiche. Alkohol verleitet zu Schlägereien. Die folgende Nacht verbringen die Hausbewohner am Tisch sitzend. Es dürfen nur einsilbige Wörter gesprochen, nur unumstößliche Wahrheiten verkündet werden. Zu allen Zeiten hat es den Herrn und den Knecht gegeben. Gut und schlecht. Arm und reich. Hoch und tief. Rechts und links. Vorschrift bleibt Vorschrift.

So und nicht anders

Bei den Kindern fing ich vor acht Jahren an. Dazu Anlaß gaben mir Fleiß beim Federreißen, gutes Benehmen und mein Geburtstag im Mai, zu dem ich die fünfundzwanzig Schulkinder einlud. Um zwölf Uhr war Abfahrt nach dem Wald. Um neun kehrten wir zu den vor der Tür wartenden Eltern heim. Kosten: fünfundzwanzig Liter Malzkaffee zu einer Mark und jedem Kind ein Brötchen für fünf Pfennig. Kleine Sachen und Geschenke fallen fort, wenn Eintrittsgeld gezahlt werden muß. Wir sind hundertzwanzig Menschen auf einem Gut von tausendzweihundert Morgen. Auf je zehn Morgen entfällt ein Mensch. Niemals werden zwölf Mark überschritten. Eine Extraausgabe war die Beschaffung von Material für die selbstgemachten Landesfahnen und die Vereinswimpel, die aber Jahrzehnte überdauern können, wenn sie im Gutshaus aufbewahrt werden. Allerdings nur dann. Das Ziel der Fahrten wechselt. Immer verläuft der Ausflug schön und ohne Mißklang auch für meine Besucher, die mich begleiten. Zur besseren Beaufsichtigung werden Scharwerkerinnen mitgenommen. Bei Gelegenheit konnte ich feststellen, daß die Mädchen wenige unserer schönen Volkslieder kannten, und um mit ihnen in Zusammenhang zu bleiben, bestellte ich sie mir zu Winteranfang für eine Gesangsstunde am Sonnabend abend. Verlegen und erstaunt kamen alle. Mit den Hausmädchen waren es fünfzehn. Kosten entstanden nicht, da ich alte Schulbücher benutzte. Drei Jahre lang haben wir regelmäßig geübt, um bei Familienfestlichkeiten im Dorf tätig werden zu können. Als dann der Sonnabend wegen der länger gewordenen Arbeitstage nicht mehr geeignet war, verlegten wir den Unterricht auf Sonntag abend und in den Garten. Störend war nur, daß während unserer Stunden die männliche Jugend hinter dem Zaun versteckt mitgrölte. Wir brachten sie um etwas, scheint mir. So beschloß ich, auch sie heranzunehmen, was nach einigen Schwierigkeiten gelang. Als im vorigen Herbst die geregelten Stunden wieder begannen, erschienen auf meine Bestellung alle neunzehn jungen Leute ohne Ausnahme, betrugen sich angemessen, sahen mir bei Gesprächen in die Augen und fehlten ohne ausreichende Entschuldigung nicht eine Stunde. Lediglich einmal kam es nach der Zusammenkunft zu einem Brand in einem Strohschober. Wenigstens gehörte das Stroh dem Pächter, über dessen Frau und ihr Benehmen, besonders ihre Gemeinsamkeit mit ortsfremden Personen, wir uns oft beklagt haben. Im Dezember wurde bedauerlicherweise die Dorfkirche erbrochen. Pfarrer Brummhard hatte in jener Nacht keinen Mut, Ordnung zu schaffen, sprach später aber von einem ekelhaft ausschweifenden Gelage, das stattgefunden habe. Ich mußte meinen Gesangszöglingen seinerzeit heftig ins Gewissen reden und ihnen die Ordnung der Welt ans Herz legen. Denn was jetzt an Tumulten in den Städten sich ereignet, was an Konfusion und Verwirrung dort wuchert, würde, aufs Land getragen, unseren Gewohnheiten den Todesstoß versetzen. Mit Begeisterung jedenfalls wurde gesungen und eine Menge schöner Lieder gelernt, zum Beispiel das Flaggenlied, Morgenrot, Nun leb wohl du kleine Gasse, Als die goldne Abendsonne und vieles andere mehr. An manche Lieder wie Andreas Hofer habe ich staatsbürgerliche Unterweisung geknüpft. Diese Art Wohlfahrt kostet nichts außer Zeit und Kraft, hat sich allerdings reichlich gelohnt. Gerstenkaffee ist das Getränk bei unseren Tanzveranstaltungen, die statt eines Erntefestes viermal im Winter ausgerichtet werden: am neunten November, zu Weihnachten, am Präsidentengeburtstag und zur Fastnacht. Eine ganz wesentliche Beigabe ist es, daß die Gutsherrschaft ein oder zwei Mal hingeht und an der ausgesprochen harmlosen Fröhlichkeit teilnimmt. Grönwohl gewinnt aus diesen Stunden große Freude, aber ich habe gute Augen. Die Hysterikerin in Kassel habe ich ihm seinerzeit gegönnt, auf dem Gut würde die Autorität leiden. Seit zwei Wintern besteht meine Volksbücherei. Jeden Sonntag von eins bis halb zwei ist Ausleihe, und nur selten fehlt einer der zwanzig Abonnenten. Anschreiben, Wechseln und Ordnen besorgt unter meiner Aufsicht ein Scharwerker. Der Bestand setzt sich aus siebzig eigenen alten Kinderbüchern und etwa achtzig aus der Bundeszentrale für Heimatdienst zusammen. Eine kleine Fortbildungsschule dagegen, die ich mir in einem stillen Trauerjahr aus zehn Mädchen und sechs Jungen zusammengestellt habe, mußte ich aufgeben, da das gesellschaftliche Leben große Anforderungen an mich stellte und ich zudem die Erfahrung gemacht hatte, daß meine Mädchen, die alle auf unserem Anwesen tätig sind, zu viel Arbeitszeit versäumten. Achtsamkeit und Ausdauer bei den Jungen lassen noch reichlich zu wünschen übrig. Langsam und ungeschickt geht die Arbeit voran. Die ist beim Landwirt zugegebenermaßen manchmal schwer. Aus zehnstündiger Arbeitszeit werden gelegentlich zwölf oder fünfzehn Stunden. Das überwinden die Tagelöhner aber verhältnismäßig leicht. Geteiltes Leid ist nur noch halbes Leid. Der Besitzer und auch die Tochter des Hauses halten sich neben ihnen und ertragen die Hitze des Tages geduldig. Auf diese harte Zeit folgt der recht angenehme Landwinter. Wir essen alle an einem Tisch. Auch die Fütterung des Viehs wird gemeinsam besorgt. Nach dem Abendbrot sitzen die Mädchen in der warmen Küche, stricken, lesen in dem von mir gestifteten Notburgakalender für Dienstboten und singen hin und wieder eines meiner Lieder. Höre, sage ich dann zu Grönwohl, wie in alten Zeiten, und Grönwohl wischt sich die Augen. Von sieben bis zehn gehts in die Spinnstube. Wenn dort auch nicht mehr alles zum besten ist und ans Spinnen kaum gedacht wird, hat die Einrichtung doch einen guten Kern, und wir wollen nicht vergessen, daß alle diese uns derb und geschmacklos erscheinenden Späße und Scherze zum inneren Ausgleich der Jugend führen. Einen Höhepunkt des Winters sehe ich in unseren Volksabenden. Da ein Gemeindehaus nicht gebaut werden kann, gebe ich für die Abende unseren großen Saal, der einen Eingang von der Straße her hat. Die Möbel und Teppiche werden herausgenommen und Gartenbänke aufgestellt. Stets habe ich nur eine Woche zu üben brauchen, da sehr gut gelernt wurde. Die Mädchen spielen gegen fünfzig Pfennig Eintritt und lassen das Geld anderntags durch eine Deputation zum Pfarrer tragen, der es weiterleitet. Aber auch der Sommer ist angenehm. Sonntags wird im Kälbergarten ein Platz abgesteckt. Von vier bis sechs machen die Mädchen Reigenspiele, die Jungen turnen am Reck und dürfen ein altes Krokettspiel benutzen. In diesem Sommer hat Grönwohl, mein Mann, auch die Scharwerker und Knechte herangezogen. Den Gartengesang allerdings haben wir vorübergehend einstellen müssen, da ein früher frohes Mitglied an Lungenkrebs leidet und von unserer Fröhlichkeit nichts hören soll. Um dennoch den Zusammenhalt zu wahren, räumen wir meinen Dachboden auf, was auch Spaß macht. Unsere Knechtsfrauen, die getreulich jahrein jahraus zum Melken kommen, wollen von den Spielen nichts wissen und lieber zweimal im Jahr von mir zum Kaffee eingeladen werden. Grönwohl schlug seinerzeit die Gutsküche vor, aber ich entschied mich für den Saal. Auch wenn das Parkett danach gründlich gesäubert werden muß, zeigt sich der Nutzen. Alle Frauen vereint darüber hinaus der von mir eingerichtete Nähabend, den ich bisweilen kurz besuche. Er wird von der Frau des Lehrers, mit dem wir gut Hand in Hand arbeiten, geleitet und näht für die Fürsorge Säuglingswäsche, die an jede uneheliche Mutter im Dorf verteilt wird. Übrigens, wer einmal durch die Ställe und Mägdestuben eines Gutes wie des unseren geht, wird allenthalben das zweischläfrige Bett finden. Meist steht es im Stall unter der Treppe zur Futterkammer. Stroh, darüber ein grobes Laken und ein dickes Deckbett: das ist der Ort, wo unsere Dienstboten die Müdigkeit verschlafen und neue Kraft zur Arbeit gewinnen. Das Zusammenschlafen ist eingefleischte Gewohnheit und mag Vorteile haben, die wir nicht erkennen. Gewiß aber ließen sich mit ganz geringen Mitteln für jeden das eigene Bett und die eigene Kammer schaffen, und wenn es nur durch Wände von Stabbrettern wäre. Das fördert Wahrnehmung der eigenen Belange gegenüber den anderen und weckt das Heimatgefühl, denn unsere Leute haben ein feines Gespür dafür, ob sie nur als Arbeitskraft angesehen werden oder ob man ihnen daneben noch Verständnis für ihre Bedürfnisse und Nöte entgegenbringt, sei es auch durch Abschaffung des zweischläfrigen Bettes. So habe ich vor Jahren gelegentlich eines Brandes beobachtet, daß die Matratze sich Eingang in die Kreise unbemittelter Dorfbewohner verschafft hat. Es fiel mir damals ein, wie ich als Kind gehört hatte, dieser oder jener Kranke müsse gestorben sein, da das Stroh auf den Mist geworfen worden war. Auch bei einem Sterbefall unter den Knechten hat die Leichenfrau nach Ankleiden des Toten das Bett entleert und das Stroh beseitigt, worüber Grönwohl sich ärgerte. Meiner Ansicht nach sollte der Stroheinlage auf alle Fälle der Vorzug gegeben werden. Ich selbst besitze sowohl Matratzen als auch Strohbetten, benutze erstere lediglich, um den Mägden letztere zu lassen. Allerdings sagt Grönwohl: die Matratzen haben Vorzüge. Wie auch immer, unsere Leute rechnen es mir hoch an, daß ich mir Gedanken mache. Wöchnerinnen- und Krankenpflege zähle ich für mich und für die Frauen von Pfarrer und Lehrer zu den selbstverständlichen Dingen. Da die Leute freie ärztliche Behandlung und Medizin haben, gebietet es die Klugheit, beizeiten mit Rat und Tat beizustehen und langwierige Krankheiten zu verhüten. Hin und wieder wird auch ein ernstes eindringliches Wort an rücksichtslose und temperamentvolle Männer gerichtet werden müssen. Weihnachtsgeschenke, vom Vorgänger mehr als reichlich gegeben, hat Grönwohl sofort abgeschafft in der Erkenntnis, daß es den Scharwerkern Freude macht, ihre Kinder selbst zu beschenken, und daß sie auch alle in der Lage dazu sind. Der Gedanke der großen Weihnachtsbescherung war längst geschwunden. Was unsere Bevölkerung braucht, sind nicht Bestechung und Geschenke, sondern Zuneigung, Verständnis und Gerechtigkeit. Geben wir ihr dies ohne Eigennutz aus unserer Verpflichtung heraus, wird die Befriedigung nicht ausbleiben. Darin stimmt mir Grönwohl zu.

Liebesbrief vom Lande

Tanz in der Spinnstube kann den sogenannten Fleischhaufen ergeben. Häufig weiß man sich bei der Arbeit, im Wirtshaus und nachts in der Kammer, dann aber auch im Stall, auf dem Feld, namentlich während der Ernte, zu finden. Im Sommer werden große Opfer gebracht. Von den Eltern zum Beispiel, indem sie der heiratsfähigen Tochter eine abgelegene Kammer anweisen. Brot und Bier findet der Mann im Schrank. Auch das. In der Regel heiratet er, wenn das Mädchen geboren hat. Dünnbesiedelte Gebiete, weißt du, haben mehr uneheliche Geburten. Ist sie vermögend, wird eine ledige Mutter gern genommen, die Kuh mit dem Kalb. Dem Verführer wird der Hosenlatz abgeschnitten und an die Brunnensäule genagelt. Geschoren werden Mädchen, sobald sie mit Auswärtigen oder Soldaten zu tun gehabt haben. Nadel und Schere soll man sich nicht schenken. Verkehrt das Mädchen mit mehreren Männern, so streut man Sägespäne von ihrer Haustür bis zum Bullenstall. Einigermaßen wirksam scheinen Liebesspeisen, wenn ihnen Blut, Schweiß, Haar, Urin oder Nagelreste vom eigenen Körper beigemischt sind. Der Brautgürtel bleibt Eigentum der Gemeinde und wird nach der Hochzeit wieder in die Truhe gelegt. Am ersten Tag können mehrere hundert Gäste, bis zu tausend Gratulanten kommen. Das Hemd, das der Bräutigam trägt, ist auch für das Begräbnis bestimmt. Dicke Haut kann man nicht kratzen. Die vorausgegangene Werbung war der Kuhhandel. Nach dem Handschlag schläft der Bräutigam bei der Braut. Wirft jemand beim Aufgebot seinen Hut nach vorn, hat er die Hochzeit verboten. Der Polterabend wird hier Hühnerhochzeit genannt. Wenn es am Hochzeitstag donnert, muß die Braut einen schweren Gegenstand heben. Im Schuh hat die Frau Erbsen und Geld, sie will wohl fruchtbar und reich werden. Ihre Mutter sieht in Alltagskleidern zu oder arbeitet. Der Bräutigam küßt dem Vater die nackten Füße, der Mutter den Schoß. Vielleicht fordert die Frau den Mann vor der Kirchentür zum Wettlauf heraus. Den von der Braut wo auch immer verlassenen Sitz muß sogleich eine der Brautjungfern einnehmen, damit er nicht auskühlt. Beim Essen sitzt das Paar im Brutwinkel. Die Köchin tritt mit der Klage über ihre verbrannte Hand auf, um ein Trinkgeld zu fordern. Nachdem der Pfarrer das Ehebett gesegnet hat, zündet das Paar die Kerzenreste aus der Kirche an und geht zu Bett, wenn sie ausgebrannt sind. In den ersten drei Nächten, sie nennen sie Tobiasnächte, wird Enthaltsamkeit gefordert. Freilich kannst du das Verbot auch umgehen. Dagegen die Ruhe. Ist unbedingte Mutterpflicht. Gleichmäßige Arbeit stört aber nicht. Das Kind bekommt ein Mal an der gleichen Körperstelle, welche die schwangere Frau im ersten Schreck berührt. Daher ist angebracht, daß sie sich in solchen Fällen an den Hintern greift. Geht sie unter einer Wäscheleine hindurch, wird sich die Nabelschnur um den Hals des ungeborenen Kindes schlingen. Trinke ich in Gegenwart einer Schwangeren, muß ich sagen: Prost, Hans im Keller. Keine Tür, keine Lade darf abgesperrt sein, wenn eine leichte Geburt erwünscht ist. Eine Frau, die nicht mehr gebären will, zieht fünf Hosen an. Viele Brüder, wenig Güter, sagt sie dem Mann bei Gelegenheit. Aber sonst ist hier die Liebe im großen und ganzen frei.

Fugen

Sie klagt nicht, doch hat sie sich vor einigen Jahren das Leben ganz anders ausgemalt. Fast durchweg kennen nämlich die Bauerntöchter der Umgebung das Lebensziel, einen Beamten oder doch Gewerbetreibenden zu heiraten. Manche hoffen, in die Stadt zu kommen und an ihren Vergnügungen teilnehmen zu können. Aber die Bäuerin im Nebenhaus. Morgens um vier sehe ich sie im Kittel über den Hof gehen. Sie hat die Milchkanne in der einen und den Transistor in der anderen Hand. Gernot, sage ich, geh und hilf der Nachbarin. Aber Gernot fühlt sich schwach und zieht sich zurück. Und dennoch bleibt die Familie die stärkste Grundlage des Staates. Was auch sonst. Heidrun hat mir erzählt, daß die Nachbarin für sich und den Mann nur ein Bett hat. Es steht in der Küche. Tisch und Bett, sagt Heidrun vorwurfsvoll, und keine langen Wege. Drei Zimmer mußten wir abschließen, hat ihr die Nachbarin geklagt. Wer soll die säubern. Der Regen dringt durch die Fensterrahmen und läuft die Wand hinunter. Und was wird mit dem Messingbeschlag der Türen, hat die Nachbarin gerufen. Alles verkommt. Denken wir doch nur an die Flurbereinigung, diese verdeckte Art der Bodenreform. Draußen vor dem Dorf sitzt der Siedler auf zehn Hektar unserer besten Äcker. Ihr Mann liebt die Socialdemokratie auch nicht. Muß man da nicht Strauß wählen, wird Heidrun von der Nachbarin gefragt. Das Wort Lohndiener kommt ebenfalls allmählich aus der Mode. Und wer wagt heute noch, einen Dienstbotenkalender zu verlegen. Von den Eltern der Nachbarin wurde der Messingbeschlag auf den Haustüren noch blank gehalten, und die Knechte verließen in den Winternächten kurz nach zwei das Bett. Dafür hatten sie tagsüber mehr Ruhe, denn gedroschen wurde nur bei Dunkelheit. Diese Kindheit, ruft die Nachbarin immer wieder, war doch das Schönste. Aber jetzt. Mein Mann läßt keine Nacht vergehen. Wie oft schlafe ich schon, wenn er mir zwischen die Beine langt. Kein Wunder. Frau Beate aus Flensburg, jede Woche bringt der Briefträger was von ihr. Denken Sie doch nur an Lina Stanizek, wie dreckig gings der, sage ich erschrocken. Wir sprechen mit der Hebamme, die den Bezirk betreut. Der Geburtenrückgang ist beträchtlich. Zur Freude am Kind können sich die Frauen nicht mehr durchringen. Eine gar nicht kleine Schuld tragen die Nierenleiden: wenn du andauernd pissen gehen mußt. Die neue Mutter ist am nächsten Tag wieder auf den Beinen, sonst fehlt der Knecht. Unser Arbeiter bekam alles in allem tausend Mark und sah dennoch unzufrieden aus. Auch erzählt uns die Bäuerin, daß ihr Mann bei Neumond nicht schlafen könne. Dann denkt er an Pommern und seine Gutsleute und macht sich Sorgen. Jetzt werden hier auch schon Kolchosen geplant. Gernot tritt ins Zimmer, er hat der Nachbarin doch geholfen. Heidrun droht mir mit dem Zeigefinger. Wie schafft die Frau das alles nur. Ihr Mann läßt ja keine Nacht aus. Gernot geht ihr zur Hand, wenn der Mann sich morgens ausschläft. Fragt man die Mädchen im Dorf, warum sie nicht bei der Nachbarin in Stellung treten, so erfährt man, daß sie allgemeine Gliederschmerzen, Auszehrung und Frauenkrankheiten fürchten. Auf dem Gutshof bei Frau Grönwohl wird gesungen, bei der Nachbarin aber nur gesprochen, sagen sie. Dann liegt das Gehöft auch abseits vom Dorf. Sechsundvierzig wurden sämtliche Bewohner mit automatischen Waffen getötet. Zehn Opfer, ohne daß ihnen Gerechtigkeit widerfahren wäre. Im Dorf denkt man, das Gehöft ist mit dem Gutshof verwechselt worden, was bei Neumond leicht geschehen konnte. Außerdem hatte man die Zwangsarbeiter in den beiden letzten Kriegsjahren hinter Schloß und Riegel gehalten. Wie soll sich da einer zurechtfinden. Die Nachbarin war in jener Nacht in Göttingen tanzen und hatte vorher die Stammkundschaft beliefert. Den Perser draußen im Flur haben wir von Professor Hahn. Sich ausführlicher auszusprechen, ist den Landbewohnern meist nicht gegeben. So steht die Nachbarin im Sommer um vier auf, melkt zehn Kühe, füttert die Schweine und das Geflügel und bereitet das Frühstück, oft werden wir eingeladen. Während wir noch in der Küche sitzen, wachen die Kinder auf. Wir ziehen sie an und machen sie für die Schule fertig. Die beginnt um acht oder um elf, da spielen Zufälle mit. Dann ist die Nachbarin müde und legt sich zu ihrem Mann ins Bett. Manchmal hören wir es krachen. Der Wind, der Wind, sagen die Kinder. Es sind drei. Das vierte trägt die Nachbarin noch unter der Schürze. Später frühstücken wir aufs neue. Der Mann macht den Wagen zum Getreidefahren fertig. Die Zimmer müssen schon unaufgeräumt bleiben. Nun beginnt Laden und Arbeit im Fach. Mittags melkt die Nachbarin nochmals, füttert, kocht, ißt im Stehen. Am Abend wiederholt sich die Arbeit des Tages in verstärktem Maße. Darüber wird es nicht selten vierundzwanzig Uhr, besonders am Sonnabend, wenn Sonntagskleidung und Wochenwäsche gerichtet werden. Am Sonntag morgen radelt der Pfarrer vom Nachbardorf ein. Wir haben viel über ihn gehört, lehnen im Fenster und rufen: grüß Gott, Herr Pfarrer, schönes Wetter heute. Die Kirche steht am oberen Ende der Straße. Wir haben beschlossen, sie zum Dorf zu rechnen. Für die Nachbarin gilt es an diesem Tag, die allgemeine Futterarbeit zu verrichten und zu schlafen. Auf dem Gutshof sollen wöchentlich vierhundert Pfund Brot gebacken und umsonst verteilt werden. Die Nachbarin sagt: das ganze Gratisgeben setzt die Leute herunter, ist ein Übelstand und fördert den Müßiggang. Die geringste Bezahlung dagegen hebt. Meine Mutter und Großmutter kochten für ihre Kranken und Wöchnerinnen im Dorf aus eigenen Mitteln Suppe und kräftige Mahlzeiten und kleideten die Kinder der Dorfarmut zu Weihnachten und anderen Gelegenheiten in haltbare Sachen. Sie zeigt uns braune Photos, die kennen wir schon, diese knielangen Hosen, die abgewetzten Röcke, auch mit den Gesichtern ist nicht alles in Ordnung. Jedem Dritten die Schwindsucht. Da war Barmherzigkeit am Platz, die von der Nachbarin heute nicht mehr gewagt wird: der Versandhandel, die Warenschwemme, eine Flut von Geld. Auch die Dorfkirche komme ins Wanken, hat uns der Pfarrer gesagt, während er auf den Treppenstufen der Kirche unsere Hand in beiden Händen hielt. Diese Arbeiternot, ach diese Arbeiternot. Nichtevangelische Bevölkerung siedelt sich in der Gemeinde an, arbeitet in Göttingen, zieht die Mietpreise rauf und stört unser Dorf. Im Herbst ruft der Pfarrer einen Reitclub ins Leben. Damit wird er seine Jugend an das Dorf und an die Kirche binden. Die Großmutter der Nachbarin nahm den Landstreicher, der hustend am Zaun saß, zur Pflege in die eigene Kammer und steckte ihn in saubere Leibwäsche. Wurde es dem Hausherrn zuviel, dann gab sie ihm zur Antwort: sind sie dessen nicht würdig, so sind sie dessen doch bedürftig. Der Geistliche seufzt. Wir kümmern uns um künstlichen Dünger, Hagelversicherung, halten die Bauern davon ab, ihre alten Truhen und Schränke in die Stadt zu geben. Es ist einfach unwahr, daß eine dörfliche pappgedeckte Scheune normalen Ausmaßes billiger sei als eine solche mit geneigtem, zünftig gedecktem Dach. Schauen wir doch nur, wie die Fugen am Sockel klaffen. Der Maurer nennt sie Krampfaderfugen und hat Mühe damit gehabt. Alles verfällt. Geht man sonntags über Land, sieht man die Gutsarbeiter wie am Werktag beschäftigt. Im Dorf selbst scheint allgemeiner Waschtag zu sein. Treppen und Autos ertrinken. Hier war ein Tag der Familie geplant, aber das Gasthaus, sagt der Pfarrer. Entscheidend ist die Gasthausreform, von der wir uns viel versprechen. Nachdem er das gesagt hat, entfernt sich der Geistliche eilig. Bei Gelegenheit fragen wir die Nachbarin nach ihrer Großmutter. Eine Frau, wie sie im Lesebuch stand, sagt die Nachbarin.

Ans Licht

Das Kind hat bei der Geburt ein Stück Fleisch von der Form einer Zunge im Mund. Das soll nicht verschluckt werden, sonst lernt das Kind nicht laufen. Also erhält die Magd, die den Klumpen herauszieht, ein Geldgeschenk. Dieses Fleischstück muß vertrocknen und darf nicht begraben werden. Wollte die Frau einen Jungen haben, konnte sie viel auf der rechten Seite liegen. Dem Mann hats gefallen. Ebenso soll die Nachgeburt verdorren und darf nicht unter der Erde verfaulen. Man hängt sie deshalb in Bäume, und zwar, wo der Hof einen Eichenhain hat, in Eichen, sonst in Obstbäume, zumeist die schlechtesten, oder in Eschen, auch auf Dornen. Man bringt sie in den höchsten Wipfel. Um so größer wird das Kind. Sie muß im Baum zerfallen, damit der Nachwuchs den Kopf gut trägt. Immer wieder finden sich Altenteiler, die nicht satt werden und das Fleisch aus den Bäumen holen. Schrecklich, sagt der Pfarrer. Dann sagt er: wenn die Schwangere jemanden beschimpft hat, sieht das Kind diesem ähnlich. Da gibt es auch noch andere Verbindungen, kann ich mir vorstellen. Kriecht die Frau unter ein Pferd, dauert die Schwangerschaft wie beim Pferd ein Jahr. Manche Dörfer halten sich eine Saugfrau, die die erste Milch absaugen muß. Es sind dies gewöhnlich dürre Frauen, denen der Beruf zugute kommen soll. Viele haben die Meinung, eine Geburt müsse auf dem Stuhl und dürfe nicht im Bett geschehen. In das Wasser des ersten Bades wird Geld für die Hebamme gelegt. Kindern darf man am Anfang nicht die Nägel schneiden. Die Mutter muß sie abbeißen. Als in Stornfels der Lehrer eine Frau mit dreizehn Kindern nach der Zahl derselben fragte, wurde die Frau sehr ungehalten und wollte die Zahl nicht sagen. Eins bedingt das andere. Der Kindsvater muß in der Gastwirtschaft einen ausgeben, er muß das Kind pissen lassen. Hat man Unglück mit den Kindern, soll man drei junge Hunde, die noch nicht die Augen geöffnet haben, nach Sonnenuntergang lebendig vor der Schwelle vergraben, ohne dabei zu sprechen. Auf den ersten Kirchgang nimmt die Mutter die Nabelschnur mit, sie verliert sie auf dem Nachhauseweg. Zu den Kindtauffeiern hatten früher nur Eheleute Zutritt, weil vieles zur Sprache kam. Paten sind beim ersten Jungen beide Großväter und der älteste Bruder des Vaters, beim ersten Mädchen beide Großmütter und die älteste Schwester der Mutter, beim zweiten Jungen der zweite Bruder des Vaters, der erste Bruder der Mutter und der Mann der ersten Schwester des Vaters, beim zweiten Mädchen die erste Schwester der Mutter, die erste Schwester des Vaters und die Frau des ersten Bruders der Mutter. Einige Sonntage später hält die Mutter Kirchgang. Häufig wird jetzt vergessen, sie erneut einzusegnen, weil die im Segen enthaltene Bitte nach weiteren Kindern ungern gehört wird.

Hände gebunden

Gernot geht am zweiten Ostertag auf ein Bier zu Mutter Jütte und macht die Bekanntschaft der fünfzehnjährigen Ulla. Wegen der unschuldigen Miene des Mädchens wagt er trotz äußerster Erregung nicht, Ulla auf dem gemeinsamen Nachhauseweg zu berühren. Wir kennen nicht nur die Gesetze, sondern auch die Hüter der Gesetze. Beim Frühstück erzählt die Nachbarin, daß Ulla seit Jahren geschlechtliche Beziehungen zu Grönwohl unterhält. Grönwohl kennt die Gesetze vielleicht nicht. Um so besser kennt er die Hüter der Gesetze. Ähnliche Vorsicht, sagt Heidrun zu Gernot, bindet dem Klassenkampf die Hände.

Brände

Viele Brombeerblüten bedeuten allgemeine Unzucht im Dorf. Wird nicht im Gegensatz zur Getreideernte bei der Heumahd Mittagsruhe gehalten. Läßt die Binderin eine Garbe liegen, gebiert sie ein uneheliches Kind oder wird von einem fremden Mann schwanger, wenn sie verheiratet ist. Sagt der Bauer. Wir kennen den Grund. Schiebt ein Mädchen in der Aschermittwochnacht zwischen elf und zwölf einen Wagen auf den Hof, wobei es nackt sein muß, so kommt der Freund, wer immer das ist, und hilft ab. Manche Mägde hat öfter der Bauer bedient. Schließlich kann in den ersten sechs Wochen Brühe aus Schweinehoden getrunken werden. Um eine Schwangerschaft von vornherein zu vermeiden, muß die Frau nach jeder Menstruation solche Brühe nehmen. Ist sie nicht recht zufrieden, bäckt sie Weihnachten menschliche Figuren und hängt sie an den Christbaum. Eingedrückte Stäbchen bezeichnen Brüste und Glied. Es gibt viel Spaß, auch für die Frau. Stellt nämlich ein Mädchen sich in der Matthiasnacht nackt mit gespreizten Beinen an eine Ecke des Tisches, legt es auf die zweite ein Brot, auf die dritte ein Messer, und beugt es sich genügend weit vornüber, so erscheint der Zukünftige erst am Rücken und dann bei der vierten Ecke, um das Brot zu schneiden. Osterwasserholen: kein Wort darf gesprochen werden. Die Ella B. war mit ihrem Liebhaber auf dem Weg zur Quelle, als plötzlich der Mann seine Körperwinde läßt und das Mädchen unbedachte Worte spricht. Kurze Zeit später sind sie auseinandergegangen. Im Tanzsaal befinden sich keine Bänke. Die Mädchen stehen untergehakt an den Wänden. Eine Aufforderung geschieht meist, indem der Mann dem Mädchen mit dem Kopf oder der Hand winkt oder auch mehrmals pfeift. Am dreiundzwanzigsten November wird eine Zusammenkunft bei M. in Rodhein ausgehoben, und die Teilnehmer werden zu je sechzig Mark Geldstrafe verurteilt. Am achten Januar dringt man bei der Witwe B. in Langd ein, wo acht Mädchen und drei Männer anwesend sind. Am vierundzwanzigsten Januar werden in Langd achtzehn junge Leute zu je zwanzig Mark Geldstrafe verurteilt. Am sechsundzwanzigsten Januar wird in Steinheim im Haus des J. eine Versammlung mit siebzehn teils recht betagten Teilnehmern ausgehoben. Kurze Zeit vorher hatten sie das Licht klein gemacht. Am zwölften Februar werden drei Männer und fünf Mädchen aus Langd angezeigt. Am einundzwanzigsten Februar lassen sich neun Männer aus Rodheim beim Großbauern K. verhören. Am sechsundzwanzigsten Februar der Tischler S. aus Hungen und weitere sechs Männer. Am neunundzwanzigsten Februar zahlen sechs Männer, die eine Zusammenkunft in Inheiden besucht haben, am achten März drei Männer aus Trais, am neunten März sieben Männer aus Ulpha, am gleichen Tag neun Männer aus Langsdorf, am achtzehnten März aus Steinheim vier Männer und drei Mädchen. Alle waren berechtigt, sich friedlich und ohne Waffen in geschlossenen Räumen zu vereinen. Der Pfarrer schreibt, seine Tochter sei nun sechzehn Jahre, und von allen Seiten werde sie aufgefordert, an den Spinnstuben teilzunehmen. Er lehne dies ebenso wie seine Frau ab. Jedoch habe er nur die Wahl, entweder seiner Tochter Erlaubnis zu geben oder sich mit der Mehrzahl der Einwohner zu verfeinden, die glauben würden, er halte sich und seine Familie für was Besseres. Wohl oder übel werde er seine Einwilligung geben müssen. Gott wird meine Tochter leiten. Glaubwürdige Gemeindemitglieder haben mir empört versichert, daß bei derartigen Spinnstuben oft die Lichter ausgelöscht würden und sich dann ein Treiben entwickele, wie es in einem Bordell nicht schlimmer sein könne. Es ist darüber hinaus bekannt geworden, daß in mehreren Ortschaften der Mißbrauch besteht, unter dem Vorwand gemeinschaftlichen Spinnens am Abend Veranstaltungen jüngerer Leute beiderlei Geschlechts stattfinden zu lassen, welche zu anstößigen, der Sittlichkeit nachteiligen Exzessen wie allgemeinem Entblößen, Teufelsbeschwörung, völliger Trunkenheit, Reden gegen die Regierung oder gar Unzucht aller Anwesenden über viele Stunden bei gelöschten Lichtern führen. Oder es werden im Freien stehende Ackergeräte mutwillig fortgeschafft. Vornehmlich den anständig sich haltenden Mädchen nagelt man Aborttüren vor die Fenster. Der Pfarrer, will er auf nächtliche Ordnung halten, wird beschimpft. Oft findet er seine Klinke mit Kot beschmiert. Wenn auch die Schlafkammern weitab liegen, soll es doch vorkommen, daß Mädchen in Gegenwart ihrer Mutter beschlafen werden. Dafür belohnt der Freier die Mutter anschließend gerne. Der Hausherr ist unterrichtet und meidet sein Schlafzimmer.

Sommerfrische für Max Hölz

Das Bild können wir drei Wochen im Jahr sehen, nennen wir es Sommerfrische. Der Himmel ist blau. Frisches Grün umgibt uns. Eilig geht der Pfarrer über den Kirchhof. Sein Talar rauscht und knistert. Vielleicht denkt der Pfarrer an den Ponyclub, den er im Herbst gründen will, um die Jugend an die Kirche zu fesseln. Wir haben gut zugehört. Die schwarzen Bücher unterm Arm sind schwer, die Glocken läuten, und hat er mit dem Schloß der Sakristeitür Schwierigkeiten, was macht das: der Himmel ist blau, der Pfarrer ist bei dieser oder jener Sache, der Mensch ist gut. Grüß Gott, Herr Brummhard, hat Heidrun zu wiederholtem Mal gerufen, aber der Pfarrer knirscht nur mit dem Kies. Warum knirscht er mit dem Kies, fragt Gernot, mein sogenannter Freund Dieter hat nie mit dem Kies geknirscht, er konnte wie ein Indianer über den schwierigsten Boden schleichen. Der Pfarrer hat es eilig, sage ich, da muß er das Knirschen in Kauf nehmen. Wir gucken uns um. Wenn das Wachstum auf den Gräbern von Dauer sein soll, muß es auch Bienen geben. Wir könnten den Kirchhof absuchen. Aber lieber bleiben wir auf der Mauer sitzen und beobachten den Pfarrer. Das Knirschen hat aufgehört. Weshalb, fragt Heidrun. Weil der Pfarrer stehengeblieben ist, sagt Gernot, in seiner Hand sehe ich den Schlüssel zur Sakristeitür. Warum ist die Nachbarin heute im gelben Kleid zur Kirche gegangen. Warum steht die Kirche am oberen Ende der Straße. Der Pfarrer hält sich vor einem Grab in der letzten Reihe auf. Er bückt sich und pflückt ein Stück Papier aus dem Efeu. Wir ahnen: ein Grashalm am falschen Platz schmälert schon. Auch hier spielt der Ehrgeiz seine Rolle. Die Sakristeitür quietscht, die Glocken verstummen, jetzt ist die Orgel an der Reihe. Und wenn der Pfarrer auch nicht bei der Sache ist, was machts: der Himmel ist blau, der Mensch ist gut, mit den Grabstellen kann man Ehre einlegen. Ein Friedhof ist ein Friedhof, wir können ihn uns vorstellen. Wer liegt in dem Grab, von dem er das Papier entfernt hat, fragt Gernot. Ein Grab ist ein Grab, wir können es aufsuchen. Heidrun springt zuerst von der Mauer. Die Orgel verstummt, jetzt ist die Gemeinde an der Reihe. Eine feste Burg ist unser Gott. Wir finden die Kirchhofsmauer übermäßig hoch. Immer diese Verschwendung, das strengt doch an. Das Grab liegt im Schatten. Es ist breit genug, daß wir nebeneinander stehen können. Ein schönes Grab, sagt Gernot, man könnte es sich schöner nicht wünschen. Wahrscheinlich hat er sich schon vor dem Frühstück für die zweihundertzweiundfünfzigste oder zweihundertsechsundfünfzigste Division entschieden, für die Klugheit oder für die Treue bis in den Tod. Heidrun sagt: den Namen habe ich nie gehört. Ein gutes Holz haben sie für das Kreuz genommen, sagt Gernot und führt die Fingerspitzen über das Blattgold. Max Hölz, sagt Heidrun, den Namen habe ich nie gehört. Falkenstein, sage ich, sagt dir das nichts. Plauen im Vogtland, sage ich, Putsch von Kapp, Mansfelder Aufstand, zuletzt der alte Herr in der Chmielnastraße. In Warschau, sagt Heidrun und weiß Bescheid, sie bückt sich nach einer Streichholzschachtel. Ein schönes Fleckchen, sagt Gernot, eine Sommerfrische, es gibt nichts Schöneres. Die Sakristeitür quietscht, der Kies knirscht, die schwarzen Bücher unterm Arm sind schwer. Ausgerechnet hier, sagt Heidrun, warum liegt er ausgerechnet hier. Es gibt nichts Schöneres als eine Sommerfrische, sagt Gernot, letztes Jahr war Herr Stanizek hier, und im August sind sogar Wandrei Vater und Sohn für eine Woche gekommen. Waren wir nicht wie eine ganze große Familie, alle die gleichen Münder, Zähne, Zungen, fixen Ideen. Tot ist tot, hat die Nachbarin noch am Morgen zu mir gesagt, während sie das gelbe Kleid anzog und ich mich schon auf den zweiten Schlaf eingerichtet hatte.

Hunger vor allem

Hört man das erste Mal den Kuckuck rufen oder die Frösche quaken, muß man sich nackt mit dem Rücken auf die Erde legen, damit man das Jahr über keine Rückenschmerzen bekommt. Ein Messer darf nicht mit der Schneide nach oben auf dem Tisch liegen, sonst schläft man nicht gut. Das ist der Grund. Warzen heißen Leichendorne. Man entfernt sie, indem man in einen Faden so viele Knoten schlägt, wie man Warzen hat, und ihn unter dem Schweine- oder Ferkeltrog, unter der Dachtraufe oder an der Nordseite des Hauses vergräbt. Tante Kurio legte ihn in Gottes Namen unter ein auf feuchtem Boden stehendes Gefäß oder warf ihn in den Abort. Ihrer Meinung nach half auch kreuzweises Bestreichen mit einer Speckschwarte. Die Heilung mußte an einem Freitag versucht werden. Freitags soll man auch Finger- und Fußnägel schneiden. Gefundene Tücher bleiben liegen, wo sie liegen. Womöglich hat sie ein Kranker mit Wundabsonderung bestrichen: wir ahnen, daß es schlechte Menschen gibt. Kürzlich ging in Rodheim ein Mädchen, um gesund zu werden, unter einen Ahornbaum, zog sich nackt aus und vergrub sein Hemd. Am gleichen Morgen wollte der Bauer F. dort ein totgeborenes Kalb verscharren. Weder gelangte der Kadaver in die Erde noch das Hemd wieder heraus. Frau F. fragte ihren Mann allerdings: wo ist deine Joppe. Hat man die Syphilis, so muß man durch das Schlüsselloch in ein Zimmer sehen, in dem ein Mädchen gerade die Unschuld verliert. Mit dem kranken Kind geht Heidrun zum Tischler und stellt es in einen aufgerichteten Sarg. Unmittelbar über dem Kopf des Kindes wird ein Loch in den Sargboden gebohrt. Ist das Kind über die Lochhöhe gewachsen, dann müßte der Schaden behoben sein. Auch wird ein Menschenschädel, in dessen Besitz einer heutzutage nicht mehr so leicht wie vor vierzig Jahren gelangt, verbrannt, und der Kranke schläft eine Nacht auf der Asche. Sammelt man am Morgen Weinbergschnecken und läßt sie in einem Glas an der Sonne stehen, so werden sie zu einer öligen Masse, die man bei Rheumatismus trinkt. Die geschwollenen Brüste einer Wöchnerin reibt der Mann mit Wegerich ein, den er in Butter gebraten hat. Er darf auch kosten. Ausgekämmte oder abgeschnittene Haare soll man nicht zum Fenster hinauswerfen, sonst bauen sie die Vögel in ihre Nester, und man hat das ganze Jahr über Kopfschmerzen. Bleibt einer Frau die Regel weg, muß sie über roten Buchweizen gehen. Eine Geschwulst klingt ab, wenn sie mit Kot bedeckt ist. Krebs heilt durch Einreiben mit Kinderurin. Diesen erhält man, indem man einer Dreijährigen ausreichend zu trinken gibt, sie in einem Sack auf den Boden trägt und den Sack vor der Luke öffnet, so daß das Kind glaubt, es würde hinuntergeworfen. Vor Angst läßt es Wasser, das unten jemand auffängt. Gegen Kolik ist das Kauen von jauchegetränkten Stoffknäueln gut. Wer auf Kreuzwegen sein Wasser läßt, bekommt ein Gerstenkorn: die Wegpisse. Rissige Hände heilen, wenn Urin aus dem natürlichen Abfluß über sie läuft. Bei Diphtherie allerdings wird der mit Petroleum vermischte Urin getrunken. Hat man sich mit einem Taschentuch abgewischt und es danach einer Jungfrau zur längeren Benutzung gegeben, weichen Hämorrhoiden. Den Kot des Kranken muß ich an vier Freitagen bei Dunkelheit unter einem Holunder vergraben. Ich darf dabei kein Blatt berühren. Eiternde Wunden überträgt man, indem man Eiter in einen Lappen drückt und diesen in ein Stück Fleisch steckt, das man verkauft. Der Fleischer wird den Mund halten. Warzen, die mit geronnenem Menstrualblut bedeckt werden, verschwinden. Bei Verstopfung hilft ein Stück Seife, in den After gesteckt. Bettnässen wird von der Hand eines Toten geheilt. Man legt sie um den Geschlechtsteil oder führt sie ein. Auf das Feuermal eines Neugeborenen soll die Wöchnerin öfter ihren Kot streichen. Nach der Geburt bekommt sie als erste Nahrung eigene Milch. Eine Frau kann kein Wasser lassen: man steckt ihr Porree, ein Stück Zwiebel, einen Löffel Pfeffer oder weißen Ingwer in die Scheide. Blähungen beseitigt der Rauch von Bohnenstroh, wenn er in den After zieht. Auch kann man eine Flasche, deren Boden man abgeschlagen hat, mit dem Hals in den Darm einführen. Hat deine Frau keine Milch, dann legen wir drei erhitzte Feldsteine in den Urin und lassen die Dämpfe unter einer Sackabdichtung gegen die Brüste streichen. Gibt die Frau dagegen rote Milch oder geht blutiger Urin ab, mußt du ihr das Astloch eines Brettes auf die Brustwarze legen und Milch ausdrücken. Blutungen werden mit eingeführten Spinnweben gestillt. Gegen Weißfluß ißt die Betroffene gekochte Schweinehoden. Um einem Säufer das Trinken abzugewöhnen, gießt man einer Leiche, nachdem man sie auf die Seite gelegt hat, Schnaps in den Mund, läßt ihn nach kurzer Zeit wieder herauslaufen und gibt ihn dem Säufer zu trinken. Klagt eine Frau bei der Vereinigung über Beschwerden, muß sie vor Sonnenaufgang ins Freie gehen, sie sticht ein Stück Rasen aus, läßt Urin in das Loch und legt das Gras verkehrt wieder auf. Desgleichen verfährt sie mit ihrem Kot. Sie fordert den eigenen oder einen beliebigen Mann auf, es ihr nachzumachen. Dieses und anderes habe ich gesehen. Eine Familie S. in Schotten hat Mittel gegen Schwangerschaft, die sie bis München und Salzburg durch das ganze Land vertreibt. Alle Bemühung schlägt nur an, wenn ein Mann von einer Frau und eine Frau von einem Mann unterwiesen worden ist. Vieles geschieht ohne meine Kenntnis. Kranke dürfen nicht gefüttert werden: Hunger ist die beste Medizin. Das wissen wir nicht erst seit heute.

Durst

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