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WILFRIED KRUSEKOPF

Segeln in
Gezeitengewässern

Theorie und Praxis der
Tidennavigation

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Delius Klasing Verlag

Vorwort

Viele Segler wagen es nicht, oder zögern zumindest, einen Törn in Gewässern mit Gezeiteneinfluss zu segeln. Manche Ostsee- und Mittelmeer-Segler halten das Segeln in Tidengewässern für zu risikoreich. In der Tat kann ein Törn in Tidengewässern bei schlechter Vorbereitung in Problemsituationen führen und manchmal sogar mit einer Havarie enden. Ziel dieses Buches ist es, tidenunerfahrenen Seglern den Schritt in die für sie neue Welt der Gezeitengewässer zu erleichtern, sodass sie in die Lage versetzt werden, den durch Ebbe und Flut geprägten Törn sicher, entspannt und mit Freude zu segeln. Alle im Zusammenhang mit Gezeiten beim Segeln häufig auftretenden Situationen werden in diesem Buch praxisnah, somit törnorientiert abgehandelt. Der physikalische Hintergrund der Gezeiten wird einleitend behandelt, doch steht er hier nicht im Vordergrund. Das vorliegende Buch zielt in erster Linie pragmatisch auf den Einsatz von Kenntnissen über die Gezeiten in häufig auftretenden Situationen während eines Segeltörns im Tidengewässer. Es werden darum die physikalischen Zusammenhänge nur in der Breite beschrieben, wie es für den Segler zum Verständnis, zur Törnplanung und zur Durchführung des Törns von Bedeutung ist. Für ein tieferes physikalisches Verständnis eignet sich die im Anhang genannte weiterführende Literatur.

In Europa sind die Küsten der Nordsee, der Britischen Inseln und Frankreichs in besonderer Weise durch Gezeiten geprägt. Die größten durch Ebbe und Flut hervorgerufenen Wasserstandsunterschiede werden mit bis zu 13 Metern in Saint-Malo in der Bretagne gemessen. Die stärksten Tidenströme Europas treten in Nordschottland und zwischen den englischen Kanalinseln auf mit bis zu 8 Knoten Strom. Das Hauptaugenmerk dieses Buches liegt nicht nur auf dem Befahren der Wattengewässer. Ziel ist es, dem Fahrtensegler, unabhängig vom gewählten Segelrevier, auch auf Langfahrt eine Hilfe für die Törnplanung zu geben. Der geografische Schwerpunkt der Beispiele liegt im Bereich Westeuropas zwischen Cuxhaven und Lissabon.

Zweifellos ist die Planung und Durchführung eines Törns im Tidenrevier aufwendiger als das Segeln im tidenfreien Gewässer. Aber ist es nicht gerade die Auseinandersetzung mit den Kräften der Natur, die den Reiz des Segelns ausmacht? Die Gezeiten bringen eine weitere Variable in dieses Spiel mit vielen Parametern. Für Segler in Westeuropa sind die Tiden »das Salz in der Suppe«. Für weltweites Segeln gar sind gute Kenntnisse über die Zusammenhänge der Gezeiten unabdingbar.

Inhalt

Vorwort

1.    Entstehung der Gezeiten und ihre Einflussvariablen, Begriffsbestimmungen

1.1  Grundbegriffe

1.2  Kräfte zwischen Erde, Mond und Sonne

1.3  Einfluss des Windes auf den Wasserstand

1.4  Einfluss des Luftdrucks auf den Wasserstand

1.5  Gezeitenströme

2.    Informationsquellen, technische Hilfsmittel

2.1  Deutsche Gezeitentafeln und Tidenkalender

2.2  Englische Gezeitenunterlagen

2.3  Französische Gezeitenunterlagen

2.4  Strömungskarten und -tabellen

2.5  Tidennavigationshilfen in der Natur

3.    Vier Methoden zur Bestimmung der Gezeiten

3.1  Tidenbestimmung mittels BSH-Gezeitentafeln

3.2  Tidenbestimmung mit Diagrammen nach der Methode der ATT

3.3  Berechnungen per Formel mit dem Taschenrechner

3.4  Die Zwölftelregel

4.    Tidennavigation in der Segelpraxis

4.1  Vor dem Auslaufen

4.2  Ansteuerungen und Hafeneinfahrten

4.3  Im Hafen

4.4  Ankern

4.5  Im Fluss

5.    Mögliche Tidenprobleme im Küstenbereich

5.1  Streckenplanungsaspekte

5.2  Gezeitenströme als Gefahr

5.3  Extremsituationen

6.    Trockenfallen

6.1  Geeignete Bootstypen und Kielformen

6.2  Wahl des passenden Ortes

6.3  Vorbereitungen zum Trockenfallen

6.4  Trockenfallen an der Hafenmauer

7.    Von Cuxhaven nach Lissabon

       Törnplanungshilfen für die große Reise durch Gezeitengewässer von Deutschland in den Atlantik

7.1  Von Cuxhaven nach Calais (370 sm)

7.2  Alternative GB: von Dover nach Penzance auf englischer Seite (340 sm)

7.3  Alternative F: von Calais nach Brest auf französischer Seite (390 sm)

7.4  Trans-Biskaya oder Harbourhopping in Frankreich und Spanien?

7.5  Von La Coruña nach Lissabon (380 sm)

Weiterführende Literatur

Informative Websites

Register

1. Entstehung der Gezeiten und ihre Einflussvariablen, Begriffsbestimmungen

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Eine Tide.

1.1 Grundbegriffe

Vorab sollen die fünf wichtigsten Begriffe der Gezeitenbeschreibung geklärt werden: Ebbe, Flut, Hochwasser, Niedrigwasser und Tidenhub. Unter Nicht-Seefahrern ist es üblich, den tidenbedingt höchsten Wasserstand als Flut und den niedrigsten als Ebbe zu bezeichnen. Dies entspricht weder der nautischen, noch der ozeanografischen Definition. Mit Flut wird der in Europa etwa 6 ¼ Stunden dauernde Vorgang des ansteigenden Wassers beschrieben, von seinem niedrigsten Stand hinauf zu seinem höchsten Stand. Es ist also ein Prozess und kein Zustand. Dementsprechend wird im Folgenden der Begriff »Ebbe« als Vorgang des tidenbedingten Abfließens des Wassers vom höchsten zum niedrigsten Niveau benutzt. Der Zustand des niedrigsten Wasserstandes wird Niedrigwasser (NW) genannt und der Zustand des höchsten Niveaus wird begrifflich als Hochwasser (HW) definiert. Der Wasserstandsunterschied zwischen aufeinanderfolgendem Hochwasser und Niedrigwasser trägt den Namen Tidenhub.

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Yacht bei HW.

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Yacht bei NW.

Die Tiefenangaben in einer Seekarte (Kartentiefen) müssen einheitlich auf einen eindeutig definierten Pegel bezogen sein (Kartennull). Auf allen neueren europäischen Seekarten sind die Tiefenangaben einheitlich auf das gezeitenbedingt niedrigstmögliche Niedrigwasser bezogen. Gezeitenbedingt bedeutet astronomisch verursacht, was erklärt, warum auf Englisch dieses Referenzniveau als Lowest Astronomical Tide bezeichnet wird, abgekürzt LAT. Aber Vorsicht: Dies ist nicht identisch mit dem absolut niedrigstmöglichen Wasserstand, denn durch den Einfluss von ablandigem Wind und hohem Luftdruck kann sich die Wassertiefe weiter verringern. Details dazu s.u.

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Sinuskurve mit Tidenstieg, Tidenfall, Steigdauer, Falldauer.

Dass der Mond mit seiner Gravitationskraft auf die Wassermassen der Erdoberfläche wirkt und damit die Hauptursache für das Entstehen von Ebbe und Flut darstellt, lernen Kinder schon in der Grundschule. Doch schaut man sich das Phänomen der Gezeiten etwas genauer an, so stellt man fest, dass vieles gar nicht so einfach zu durchschauen ist. Einige Beispiele:

image Warum gibt es nicht einmal, sondern zweimal täglich Hochwasser? Die Erde dreht sich doch in 24 Stunden nur einmal, nicht zweimal, und der Mond steht immer auf einer Seite.

image Warum verschiebt sich der Zeitpunkt des Niedrigwassers von Tag zu Tag? Und warum ist diese Verschiebung nicht regelmäßig?

image Warum ist der Wasserstandsunterschied zwischen höchstem und niedrigstem Stand, genannt Tidenhub, nicht immer gleich im Laufe eines Monats bzw. eines Jahres?

image Warum ist der Tidenhub in manchen französischen und englischen Häfen doppelt, ja dreimal so hoch wie in Deutschland? Der Mond ist schließlich am gleichen Tag in ganz Europa derselbe.

Aufeinanderfolgende Wasserstandsdifferenzen zwischen Hochwasser und Niedrigwasser sind in der Regel nicht gleich hoch, der Tidenhub ist nicht konstant. Darum liegt es nahe, den Begriff Tidenhub zu zerlegen in die beiden Begriffe Tidenstieg und Tidenfall. Der Tidenstieg beschreibt die Höhendifferenz zwischen Niedrigwasser und folgendem Hochwasser, während der Tidenfall als Höhendifferenz zwischen Hochwasser und anschließendem Niedrigwasser zu verstehen ist (s. Zeichnung). Die zugehörigen Zeitmaße heißen Steigdauer und Falldauer. Die Gesamt-Wassertiefe zu einem beliebigen Zeitpunkt setzt sich zusammen aus dem Tidenstand und der Kartentiefe, somit: WT = KT + TS. Der Tidenstand wird auch als Höhe der Gezeit bezeichnet (s. Zeichnung S. 7).

1.2 Kräfte zwischen Erde, Mond und Sonne

Das Gravitationsgesetz

Die Erkenntnis, dass es im Wesentlichen Gravitationskräfte und Rotationskräfte sind, die die Gezeiten entstehen lassen, wurde erstmalig von dem deutschen Naturphilosophen, Mathematiker und Astronomen Johannes Kepler im Jahre 1609 formuliert. Ein knappes Jahrhundert später gelang es Isaac Newton im Jahre 1687 diese Kräfte zu quantifizieren. Das von ihm entdeckte und mathematisch formulierte Gravitationsgesetz erlaubte es erstmalig, Anziehungskräfte zu berechnen. Das Gesetz besagt, dass sich zwei Massen m1 und m2 gegenseitig mit einer Kraft anziehen, die direkt proportional zu ihren Massen und umgekehrt proportional zum Quadrat des Abstandes ihrer Mittelpunkte ist. Anders formuliert: Je größer die sich anziehenden Massen sind, umso größer ist auch ihre gegenseitige Anziehungskraft, wobei eine Verdopplung der Massen auch eine Verdopplung der Anziehungskraft zur Folge hat. Darüber hinaus wirkt sich der Abstand zwischen den Mittelpunkten der beiden Massen in der Weise aus, dass die Anziehungskraft umso größer wird, je kleiner der Abstand ist. Und zwar in einer Weise, bei der eine Halbierung des Abstandes eine Vervierfachung der Anziehungskraft zur Folge hat.

Der Wert G in der Zeichnung beschreibt die sogenannte Gravitationskonstante, eine Naturkonstante, die einen Wert von

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Das Gravitationsgesetz.

Es heißt »Der Mond kreist um die Erde«, doch ist dies stark vereinfacht, denn der Mond bewegt sich nicht auf einer Kreisbahn, sondern auf einer Ellipse um die Erde. Somit ist der Abstand Erde–Mond mal größer, mal kleiner. Minimal beträgt der Abstand etwa 370.000 km, maximal etwa 407.000 km. Somit ist auch die gegenseitige Anziehungskraft (Gravitation) mal größer, mal kleiner, denn sie vergrößert sich mit kleiner werdendem Abstand. Diese Anziehungskraft bewirkt eine in Richtung und Stärke wechselnde Verlagerung der an der Erdoberfläche beweglichen Wassermassen. Der Wechsel der Kräfte folgt dem wiederkehrenden Zeitraum von etwa 28 Tagen, die der Mond für eine Erdumrundung braucht. Doch nicht nur der Mond, sondern auch die Sonne hat Einfluss auf die Gezeiten. Zwar ist der mittlere Abstand Erde–Sonne etwa 375-mal größer als der mittlere Abstand Erde–Mond, doch beträgt andererseits die Masse der Sonne etwa das 27-millionenfache der Masse des Mondes. Aufgrund dieser Größenverhältnisse wirkt die Gravitationskraft der Sonne trotz ihres – im Vergleich zum Mond – extrem großen Abstands zur Erde dennoch beachtlich. Die Wirkung der Anziehungskraft der Sonne auf die Gezeiten beträgt etwa 40 % der des Mondes, ist also immerhin knapp halb so stark wie der Einfluss des Mondes. Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass der Einfluss der Planeten auf die Gezeiten vernachlässigbar ist.

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Mondphasen

Aufgrund der Bewegung des Mondes um die Erde wird dieser von der Sonne in unterschiedlichen Winkeln beleuchtet. Die nebenstehende Zeichnung verdeutlicht die vier Mondphasen im Laufe eines Mond-Monats: Vollmond, abnehmender Halbmond, Neumond, zunehmender Halbmond.

In erster, etwas simpler Betrachtung der beschriebenen Verhältnisse wären nun zwei Schlussfolgerungen naheliegend: Erstens: Da sich die Erde bekanntlich in 24 Stunden nur einmal dreht, dürfte es in 24 Stunden nur ein Hochwasser und ein Niedrigwasser geben.

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Zweitens: Bei Neumond müssten sich die Gravitationskräfte von Sonne und Mond maximal addieren, also einen maximalen Tidenhub verursachen, da sie ja in gleicher Richtung gemeinsam wirken, was durchaus der Realität entspricht. ABER bei Vollmond müssten sie sich gegenseitig abschwächen, da sie ja in entgegengesetzten Richtungen auf die Erde wirken. Somit müsste diese Konstellation einen deutlich geringeren Tidenhub verursachen als bei Neumond. Beobachtet man jedoch die reale Natur am Meeresufer, so stellt man fest, dass beide Schlussfolgerungen falsch sind. Offensichtlich berücksichtigt unsere Betrachtungsweise nicht alle Einflussvariablen. Was fehlt?

Das Rotationssystem Erde-Mond hat einen gemeinsamen Schwerpunkt

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Bei jeder Rotation entstehen radial nach außen gerichtete Kräfte, genannt Fliehkräfte. Die Erde rotiert in 24 Stunden einmal um sich selbst, der Mond in 28 Tagen einmal um die Erde und das kombinierte »Rotationsduo« Erde-Mond dreht sich in etwa 365 Tagen einmal um die Sonne. Statt jede dieser Drehbewegungen isoliert für sich zu betrachten, ist es zum Verständnis unabdinglich, die wechselseitige Überlagerung der Gravitationskräfte und der Fliehkräfte dreidimensional im Gesamtzusammenhang zu sehen. Es ist nicht ganz leicht, sich die Abläufe ohne umfassende physikalische Vorbildung zu verdeutlichen. Ein dreidimensionales Modell würde das Verständnis erleichtern, doch müssen wir uns hier mit Zeichnungen begnügen. Der entscheidende, neu hinzukommende Gesichtspunkt ist die Tatsache, dass das Rotationsduo Erde-Mond sich weder um den Mittelpunkt der Erde noch um den Mittelpunkt des Mondes, sondern um einen gemeinsamen Schwerpunkt dreht, der sich zwar innerhalb der Erde, jedoch nahe der Oberfläche in Richtung Mond befindet. Etwas simpel formuliert dreht sich also nicht nur der Mond um die Erde, sondern die Erde »eiert« auch ein wenig um sich selbst. Die Bewegung ist vergleichbar mit der Körperbewegung eines Hammerwerfers, der in der Drehung mit seiner Körperbeugung nach hinten die Fliehkraft des Hammers ausgleichen muss. Die obenstehende Zeichnung soll die Zusammenhänge verdeutlichen.

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Zwei Flutberge pro Tag

Auf der dem Mond zugewandten Seite der Erde werden die Wassermassen gravitationsbedingt angezogen. Es entsteht ein sogenannter Gravitations-Flutberg. Auf der dem Mond abgewandten Seite der Erde entsteht allerdings auch ein Wasserberg, der aber nicht durch Gravitationskräfte verursacht wird, sondern durch die Fliehkraft aus der Drehung der Erde um den gemeinsamen Schwerpunkt Erde-Mond. Man könnte diesem Wasserberg den Namen Fliehkraft-Flutberg geben. Die Anziehungskraft zum Mond hin und die Fliehkraft vom Mond weg sind gleich groß und halten sich gegenseitig im Gleichgewicht. Zu beachten ist hierbei, dass sich diese Bewegungen auf den Mond-Monat von etwa 28 Tagen beziehen!

Wenn man sich diese Zusammenhänge klarmacht, wird verständlich, warum die Flut während der 24-stündigen Erddrehung nicht nur ein einziges Mal, sondern zweimal auftritt.

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Nun müssten nach den bisherigen Überlegungen die Zeitintervalle zwischen zwei aufeinanderfolgenden Hochwassern jeweils etwa zwölf Stunden betragen. Schaut man sich die Gezeitentafeln unter diesem Gesichtspunkt genauer an, so stellt man fest, dass dies keineswegs der Fall ist.

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Gezeitentabelle.

In der nebenstehenden Abbildung sind Hoch- und Niedrigwasserzeiten und -höhen ausschnittsweise für Brest in der Bretagne dargestellt. Die rot umrandeten Felder zeigen aufeinanderfolgende Daten für Hochwasser.

Oft sind es etwa 12 Stunden 25 Minuten, aber es gibt Tage, an denen der zeitliche Abstand zwischen zwei aufeinanderfolgenden Hochwassern nur um die 12 Stunden, an anderen Tagen um die 13 Stunden beträgt. Wie ist das möglich?

Der Mond benötigt – wie oben schon beschrieben – etwa 28 Tage für eine Erdumrundung. Daraus folgt, dass er während eines Tages etwa den 28sten Teil von seiner Gesamtlaufbahn um die Erde durchläuft. Man kann sich die jeweilige Position des Mondes auf seiner elliptischen Bahn auch in Winkelgraden von 0° bis 360° vorstellen. Ein Tagesabschnitt beträgt dann 360°: 28 = 12,86°. Der Mond hat also sozusagen nach einer Tagesdrehung der Erde (24 Stunden) einen Drehwinkelvorsprung von 12,86°. Diese 12,86° »Vorsprung« lassen sich in einen Zeitunterschied in Bezug auf die Erddrehung umrechnen. Da sich die Erde in 24 Stunden um 360° dreht, legt sie also den 24sten Teil von 360°, also 360°: 24 = 15° in einer Stunde zurück. Das heißt, 15° Winkeldifferenz entsprechen einer Stunde Zeitdifferenz. Rechnet man nun proportional die 12,86° »Mondvorsprung« in ein Zeitmaß der Erde um, so erhält man etwa 51 Minuten. Das bedeutet, dass von der Erde gesehen der Mond sich erst nach 24 Stunden 51 Minuten wieder in derselben Stellung befindet wie am Tag zuvor. Somit müssten sich im Tageswechsel die Hochwasserzeiten etwa um 51 Minuten verschieben. Tatsächlich tun sie das auch an bestimmten Tagen. Doch gibt es im Laufe eines Monats einige aufeinanderfolgende Tage, an denen sich die Hochwasserzeiten um bis zu zwei Stunden, an anderen Tagen nur um wenige Minuten verschieben. Unser oben beschriebenes Modell mit Gravitations-Flutberg einerseits und Fliehkraft-Flutberg andererseits ist offensichtlich nicht ausreichend, um diese zeitliche Unregelmäßigkeit im Auftreten aufeinanderfolgender Hochwasser zu erklären.

Die Erklärung für dieses überraschende Phänomen ergibt sich aus der elliptischen Bahn des Mondes um die Erde. Zwar legt der Mond diese 360°-Drehung in 28 Tagen zurück, doch ist seine Bahngeschwindigkeit auf dieser Ellipse keineswegs konstant. Befindet sich der Mond näher an der Erde, so beschleunigt er. Bewegt er sich hingegen in der Nähe des Maximalabstandes von der Erde, so ist seine Bahngeschwindigkeit verlangsamt. Das bedeutet, dass der Mond keineswegs regelmäßig 12,86° Winkeldifferenz in 24 Stunden Erddrehung zurücklegt. In Erdnähe können es weniger als 12° sein und bei maximaler Entfernung zur Erde deutlich mehr als 13°.

Wenn man diese variierenden Winkeldifferenzen wieder in ein Stunden-Zeitmaß umrechnet, so kommt man in der Tat auf die stark variierenden Zeitabstände zwischen aufeinanderfolgenden Hochwassern. Es soll nicht unerwähnt bleiben, dass in dieser Erklärung der Einfluss der Sonne bewusst unberücksichtigt bleibt, was eine Vereinfachung darstellt und das Verständnis erleichtert. Tatsächlich sind die Zusammenhänge also noch etwas komplizierter.

Es sei an dieser Stelle nebenbei darauf hingewiesen, dass es an manchen Küsten unserer Erde, bedingt durch oft komplizierte Überlagerungseffekte, starke Abweichungen gibt von diesem uns vertrauten Auftreten von zwei Flutbergen pro Tag. In der Tat gibt es Küstenabschnitte im Roten Meer und im Pazifik, wo die oben beschriebenen Zusammenhänge überlagert werden von weiteren Variablen (Resonanzschwingungen und andere Überlagerungen von großräumigen Wellensystemen), die dazu führen, dass dort die Zeiten des Eintretens von Hoch- und Niedrigwasser nicht so einfach zu berechnen sind wie an vielen Orten in Europa. Große Flussmündungen und große trichterförmige Buchten können ebenfalls die Regelmäßigkeiten der Gezeiten stören. Überraschenderweise gibt es sogar Orte im Pazifik, an denen sich nicht zweimal, sondern nur einmal in 24 Stunden ein Flutberg bildet. Die konkrete Ausbildung der Gezeiten wird auf den Ozeanen und in Randmeeren wie der Nordsee auch wesentlich von der meist unregelmäßigen Form des Meeresbeckens und des Küstenverlaufs beeinflusst. Wäre die Erdoberfläche vollständig von Wasser bedeckt, so würden zwei Flutberge von etwa einem halben Meter Höhe stetig in derselben Richtung um die Erde fließen. Die Kontinente teilen aber das Wasser der Erdoberfläche in verschiedene Ozeane auf, an deren Rändern das gezeitenbedingt fließende Wasser umgelenkt oder reflektiert wird. Hierdurch entstehen Überlagerungsphänomene, die rein mathematisch-physikalisch nicht eindeutig erklärt werden können.

Springzeit und Nippzeit

Bisher wurden lediglich zeitliche Aspekte von Hoch- und Niedrigwasser beschrieben. Die Beobachtung der Wasserstände in Tidengewässern lehrt aber, dass es auch extreme Unterschiede geben kann im Hinblick auf die Höhe des aufgelaufenen und abgelaufenen Wassers. Am gleichen Ort kann sich der Tidenhub, je nach Mondphase und Jahreszeit, um das Doppelte, ja Dreifache verändern.

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Tidenkurven Springzeit–Nippzeit.

Einige Beispiele:

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Die Ursachen für diese erheblichen Differenzen im Tidenhub versteht man, wenn man sich die Überlagerung der Gravitationskräfte von Mond und Sonne auf die Wassermassen der Erdoberfläche detaillierter anschaut. Für das bessere Verständnis der Überlagerung der Gravitationskräfte von Mond und Sonne ist ein kurzer allgemeiner Exkurs in die Addition von Vektoren sinnvoll. Für unsere Zwecke vereinfachen wir den Begriff »Vektor« im Sinne eines Kraftpfeils, also einem Wert mit Richtung und Stärke. Es geht hier darum, in zeichnerischer Form das Resultat der Überlagerung von zwei Kräften im Raum zu bestimmen. Für unsere Anwendung sind vier Fälle von Interesse:

a) Vektor A und Vektor B, verschiedener Größe, wirken parallel in die gleiche Richtung.

b) Vektor A und Vektor B, verschiedener Größe, wirken parallel, aber in entgegengesetzter Richtung.

c) Vektor A und Vektor B, verschiedener Größe, wirken senkrecht zueinander.

d) Vektor A und Vektor B, verschiedener Größe, wirken in einem beliebigen Winkel zueinander.

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a b c d zu den o. g. Fällen, Vektorüberlagerung.

Das Überlagerungsergebnis der beiden Vektoren A und B wird per Zeichnung dadurch gefunden, dass man den Anfang des einen Vektors an die Spitze des anderen schiebt. Der resultierende Vektor ist die Verbindung des Startpunktes des ersten Vektors mit der Spitze des zweiten Vektors. Es entstehen in den vier Fällen der Überlagerung dann folgende resultierende Vektoren:

a) Das Überlagerungsergebnis, die Resultierende, ist die direkte Addition der beiden Vektoren A und B in Größe und Richtung.

b) Der resultierende Vektor hat die Größe der Differenz der beiden Vektoren A und B und die Richtung des größeren Vektors.

c) und d) Der resultierende Vektor steht schräg zu den ersten beiden und ist umso größer, je mehr sich die Richtungen von A und B der Parallelen in gleicher Richtung nähern.

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Hafeneinfahrt bei HW und bei NW.

Mondphasen zur Spring- und Nippzeit

Unser Verständnis von Vektorüberlagerungen soll nun auf die Gezeitensituation in den vier Mondphasen angewendet werden:

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Man beachte, dass in den Zeichnungen die Größen- und Abstandsverhältnisse der Himmelskörper den grafischen Notwendigkeiten angepasst wurden und in keiner Weise der Realität entsprechen. Bei Neumond (Zeichnung a) stehen Sonne, Mond und Erde im Weltall nahe an der geradlinigen Verbindung ihrer Mittelpunkte. Stehen sie exakt auf dieser Geraden, so ist der Mond von der Erde aus nicht mehr sichtbar. Er erscheint einem Beobachter in diesem Fall auf der Erde nur noch als Abdunkelung eines Teils der Sonne (manchmal auch der gesamten Sonne), denn von der Erde schaut der Beobachter auf die abgeschattete Mondseite. Diese besondere Situation wird auch als partielle oder vollständige Sonnenfinsternis bezeichnet. Dies ist also ein Sonderfall der Neumondsituation.

Die Gravitationskräfte von Sonne und Mond addieren sich in dieser Konstellation maximal, sodass es bei der Verteilung der Wassermassen auf der Erdoberfläche zu besonders hohen Hochwassern und besonders niedrigen Niedrigwassern kommt. Es herrscht Springzeit.

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Auch bei Vollmond (Zeichnung b) stehen Sonne, Mond und Erde im Weltall nahe an der geradlinigen Verbindung ihrer Mittelpunkte, jedoch in anderer Folge. Stehen die drei Himmelskörper exakt auf einer Geraden, so verschwindet der Mond im Schatten der Erde und ist dann nicht mehr sichtbar, was man als Mondfinsternis bezeichnet. Dies ist ein Sonderfall aller möglichen Vollmondsituationen. Nun ließe sich auf den ersten Blick bei dieser Konstellation vermuten, dass sich eher eine Abschwächung als eine Verstärkung der Tiden ergeben müsste, denn die Gravitationskräfte von Sonne und Mond sind ja einander entgegengerichtet. Dies ist jedoch ein Trugschluss, denn es gibt ja zwei Flutberge auf der Erdoberfläche, die beide den Gravitationskräften unterliegen. Somit bildet auch diese Konstellation eine Springzeit.

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Betrachtet man nun die Halbmond-Himmelskonstellation (Zeichnung c), so wird deutlich, dass die Gravitationsvektoren von Sonne und Mond senkrecht zueinanderstehen, was bedeutet, dass der resultierende Gravitationsvektor kleiner ist als die einfache (geradlinig gedachte) Überlagerung der beiden Vektoren. Vereinfacht formuliert: 3 + 4 ist nicht 7, sondern nur 5. Im Hinblick auf die sich an der Erdoberfläche bewegenden Wassermassen bedeutet dies, dass die Hochwasser etwas niedriger und die Niedrigwasser etwas höher sind als bei Vollmond oder Neumond. Es herrscht Nippzeit