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weissbooks.w

image Christoph Höhtker

Das Jahr der Frauen

Roman

© Weissbooks GmbH Frankfurt am Main 2017

Alle Rechte vorbehalten

Konzept Design

Gottschalk+Ash Int’l

Satz

Publikations Atelier, Dreieich

Umschlaggestaltung

Julia Borgwardt, borgwardt design

unter Verwendung eines Motivs von

info@vnz-art.de/photocase.de

Foto Christoph Höhtker

© Alexandra Sonntag

Erste Auflage 2017

image ISBN 978-3-86337-137-1

weissbooks.com

Christoph Höhtker

Das Jahr der Frauen

Roman

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Das Jahr der Frauen

Inhalt

I. La ville d’Antibes

II. Die Präfektur Tottori

III. Marseille – les quartiers nord

IV. Der Großraum Nürnberg-Fürth

V. Houston/Texas

VI. Sevastopol plage

VII. Buffalo (New York)

VIII. In den Ebenen von Alberta (CN)

IX. Die Quellen von Charmilles

X. (L’île de) Koh Yao Noi

XI. La provincia de Valparaiso

XII. Greater London

Anhang

Freitag, 4. Januar 2013, 17.04 Uhr. Psychotherapeutische Praxis Dr. Yves Niederegger, Route de Florissant, Genève-Champel

»So, Herr Stremmer … ein neues Jahr.«

»Tja, so ist es.«

»Wie fühlen Sie sich dabei?«

»Fühlen wobei?«

»Nun, für viele Menschen ist der Beginn eines neuen Jahres durchaus eine emotionale Angelegenheit. Manche denken über ihr Leben nach, ziehen Bilanz, setzen sich Ziele … entwickeln Hoffnungen.«

»Ah ja?«

»Wie steht es da bei Ihnen? Haben Sie sich Ziele gesetzt?«

»Nein.«

»Keine Pläne?«

»Nein.«

»Nichts, was Sie eventuell anders machen wollen?«

»Herrgott … Also gut: Ich nehme mir vor, mich noch engagierter meinen unendlich langweiligen beruflichen Aufgaben zu widmen. Zufrieden?«

»Nun, keine Vorsätze zu haben, muss nichts Schlechtes sein. Im Gegenteil, das könnte eine gewisse Zufriedenheit mit Ihrer Situation ausdrücken. Wie haben Sie denn die Wochen seit unserem letzten Termin verbracht? Weihnachten, Sylvester – gibt es etwas, wovon Sie berichten möchten?«

»Außerdem werde ich endlich den Zwiebel-Text fertigmachen.«

»Das … das war eine Art Kurzgeschichte, habe ich recht?«

»Ich werde dieses Jahr mit wahllosen Frauenbekanntschaften verbringen, was halten Sie davon?«

»Nun, ich dachte, das machen Sie bereits.«

»Ja, aber ohne System, ohne ideologische Grundlage. Ab jetzt geht es um Rhythmen, um streng terminierte Episoden. Das Jahr hat zwölf Monate, richtig? Pro Monat werde ich versuchen, eine Frau zu verbrauchen. Wie hört sich das für Sie an?«

»Das ist ein durchaus … ambitionierter Plan. Was versprechen Sie sich davon?«

»Absolut nichts.«

»…«

»Oder was weiß ich: Sozialkontakte. Bestätigung. Hören Sie, vielleicht sollten wir die Sache als Wette angehen.«

»Als Wette?«

»Ich sage, ich schaffe zwölf Frauen in einem Jahr, Sie halten dagegen.«

»Warum sollte ich?«

»Weil es eine Wette ist, Herrgott. Außerdem: Ein Dutzend Frauen in einem Jahr? Ohne Geld? Ich darf nicht direkt dafür bezahlen. Machbar, klar. Trotzdem sage ich, die Chancen stehen nicht schlecht, dass Sie gewinnen.«

»Und wenn ich gewinne, was dann?«

»Das müssen Sie entscheiden.«

»Und wenn Sie gewinnen?«

»Wenn ich gewinne, darf ich mich anschließend umbringen.«

»…«

»Und um Ihre Frage zu beantworten: Weihnachten habe ich Dokumentationen geguckt.«

»Die ganze Zeit? Haben Sie niemanden getroffen? Mit niemandem telefoniert?«

»Ich habe während der gesamten Weihnachtsfeiertage entweder im Internet nach Dokumentationen über afrikanische Bürgerkriege gesucht oder mir Dokumentationen über afrikanische Bürgerkriege angeschaut. An etwas anderes kann ich mich nicht erinnern.«

I.

La ville d’Antibes

In den Tagen nach dem Zusammenbruch aß ich meistens Reis. Reis in allen möglichen Erscheinungsformen, zu allen möglichen Tageszeiten. Vermutlich hatte das alles noch mit Mari zu tun, Nostalgie, symbolisches Verschlingen, usw. – keine Ahnung, warum, aber in diesen Wochen im letzten Frühling, die ich hauptsächlich mit nichts verbrachte, fand ich Gefallen an unausgewogener asiatischer Ernährung.

Im Moment esse ich keinen Reis. Allerdings sitze ich am Küchentisch. Das Notebook vor mir leuchtet, irgendetwas wandert in meinen Magen, ich studiere die Angebotspalette dieses Partnerschaftsanbahnungsportals: CTS71HK0 (40), Zürich, Galeristin (»Ein perfekter Tag? Jeder Tag ohne Telefon.«) / FTZ22AW7 (45), Bern, Gesundheitswesen (»Blonde lange Haare, weibliche Figur, ein paar Falten, aber die gehören zu mir, wie hoffentlich bald Du.«) / ROI88PC5 (35), Zürich, Projektleiterin, zwei Kinder (4 und 11 Jahre) (»Ich mag mein Leben, so wie es jetzt ist.«) / VXE09SD8 (32), Zürich, Künstlerin (»Es ist gut, wenn die Sonne scheint und die Tage und Menschen sexuell auflädt.«) / BHZ20JK4 (37), Genf, UN-System (»I’d like to begin something really new. Passionate, loving, caring, thoughtful, sexy.«) / NUP93HH3 (35), Genf, Finanzindustrie (»Ich erwarte viel von meinem Partner, aber ich gebe noch mehr.«) / GRO74GE7 (31), Berlin, Lektorin (»Bin ich wirklich hier? Na ja, warum nicht?! Merkt ja eh keiner.«) / FUL42XB2 (42), Hamburg, IT (»Romantische Liebe – gibt es das eigentlich? Und wenn nicht, warum fehlt sie mir dann?«) / LAW60MI6 (34), Zürich, Veterinärin, ein Kind (12 Jahre) (»Bergtouren, Fahrradfahren, oder einfach mal nichts tun.«), und was erzählt VXE09SD8, die Künstlerin, wer soll ihre Tage aufladen? Die Sonne?

Liebe VXE09SD8,

Deine Version eines perfekten Tages gefällt mir sehr. Ich mag die Vorstellung, wie Du durch sommerlich glühende Straßen gehst und über ein neues künstlerisches Projekt nachdenkst, während der Schweiß Dein T-Shirt an Deinen leicht salzig schmeckenden Brüsten kleben lässt. Ich stelle mir vor, dass Du an einem bereits träge schwülen Morgen eine Bäckerei betrittst, in der ich als Verkäuferin arbeite und den Laden sofort hinter Dir abschließe. Ich stelle mir mich als junge Steuerprüferin vor, die Dich beruflich bedingt im Atelier aufsucht, in dem Du aufgrund der Temperaturen nur mit einem Slip bekleidet an dieser interessanten Skulptur auch dann noch weiterarbeitest, nachdem ich bereits damit begonnen habe, die Feuchtigkeit von der golden schimmernden Haut Deines Nackens zu küssen. Ich höre Dich in einer Sprache seufzen, die nichts zu tun hat mit diesem kranken Gestammel, das man in Zürich immer wieder ertragen muss.

Einige Worte zu mir: Ich bin Anfang vierzig und komme aus Deutschland. Ich sehe gut aus, bin beruflich wie privat erfolgreich und verdiene überdurchschnittlich.

Viele Grüße aus Genf und hoffentlich bis sehr bald,

Frank

Ich lese mir alles noch einmal durch und schicke die Nachricht trotzdem ab. Mittlerweile ist es 19:59 Uhr. Wie zufällig fällt mein Blick auf den Küchenschrank, in dem ich die Weinflaschen vor mir verberge.

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Am Sonntag arbeite ich zunächst wieder an meiner Kurzgeschichte zum Thema Zwiebeln. Anschließend mache ich einen Spaziergang. Der Himmel ist wolkenlos und es weht ein eiskalter Wind, und von den sieben Menschen, die mir in der letzten Dreiviertelstunde begegnet sind, gehörten vier der Kategorie ›psychisch auffällig‹ an. »Bise« – was für ein freundliches Wort. Die Bise ist aus den Bergen gekommen, um Haut aus Gesichtern zu schälen. Deswegen haben sich die Normalen zurückgezogen. Jean-Pierre und Natalie, aber auch José und Maria, Abedine und was weiß ich, der ganze Ethnien-Mix dieser gespenstischen Stadt sitzt in den Wohnungen herum, während draußen der Sturm die anderen Geräusche schluckt und ich zu allem Überfluss wieder Überlegungen zu meiner beruflichen Situation anstelle. Genauer gesagt, ich suche nach Adjektiven, die meine Karriere realistisch und dennoch lebensbejahend darstellen. Solche Adjektive existieren nicht. Es ist, das sage ich mir häufig, schon ein Wunder, dass ich überhaupt wieder einen Job habe. Seit der Geschichte bei Suisse Forex, meine ich. Seit Paul, Céline und ich … Egal. Vorbei. Nicht daran denken. Alles, was damals war – vergessen! Die Suche nach Formulierungen gehört übrigens unmittelbar zu meinen beruflichen Pflichten. Insofern arbeite ich schon wieder. Ich arbeite gegen einen Wind an, dessen Feindschaft absolut ist. Das gefällt mir an diesem Wind. Auch wenn man, speziell an Wochenenden, nicht unbedingt versteht, warum – man zieht sich an, tastet sich vor die Tür und dort, noch im windgeschützten Eingangsbereich, empfängt einen ein Wind, der nichts anderes im Sinn hat, als Vitalfunktionen auszulöschen. Der mich zwingen möchte, aufzugeben, mich irgendwo hinzusetzen und zu warten, bis die Kälte meine Venenwände porös gefroren hat. Der Wind will, dass mein Gehirn zu Millionen kleiner Körner zusammentrocknet, die rascheln und klicken wie Salz in einem Salzstreuer. Salzkristalle in meinem Kopf – das Bild könnte noch mit den Drogen zu tun haben. Seitdem ich keine von Maris Pillen mehr nehmen darf, geht die Phantasie manchmal mit mir durch, als hätte ich eine von Maris Pillen genommen. Generell ist es erstaunlich, was mit einem geschieht, wenn alles vorbei ist. Was Mari jetzt wohl macht? Sie lebt noch in der Stadt, das ist sicher. Ich sollte sie mal anrufen und zum Abendessen einladen. Allerdings sprechen einige Dinge dagegen. Einige Stimmen erheben Einspruch, weswegen ich lieber nach vorne schaue, wobei das Problem ist, dass da vorne lediglich diese Bar zu erkennen ist, von der ich eigentlich schon vorher wusste, dass sie am Sonntag geschlossen hat. Ich habe es durch Champel geschafft, durch Malagnou und dann durch Eaux-Vives, und jetzt weigert sich das Ziel dieses Sonntagsausflugs einfach, ein Ziel zu sein? Ich komme trotzdem näher heran, erkenne Stühle, die man mit den Sitzflächen auf die Tische gelegt hat. Oder gestellt? Was ist das passende Verb? Vor meinen Augen entfaltet sich eine eher simple Szenerie und ich bin nicht in der Lage, diese angemessen zu beschreiben, und bevor sich dieses Problem in mir festfrisst, werde ich zum Glück durch ein leichtes Rütteln in der Hosentasche abgelenkt. Steifgefrorene Finger verlassen ihre eisigen Manteltaschenhöhlen und kramen das Telefon heraus. Mein Partnerfindungsportal gibt per SMS bekannt, dass eine bestimmte Buchstabenkombination sich die Mühe gemacht hat, mir eine Botschaft zu übermitteln. Gleichzeitig schießt mir eine Windböe mit voller Wucht durch die Gehörgange, hinterlässt dort ein Kreischen, das nach und nach zu einem säuselnden Fiepen abklingt. Es ist ein Sonntagnachmittag Mitte Januar, gleich wird es dunkel. Die Chancen, dass man mich findet, wenn ich doch noch irgendwo zusammensacke, werden sich weiter verringern. Ich sollte umkehren, mich schleunigst in Sicherheit bringen, doch ich gehe in Richtung See. Ich freue mich schon auf die Wellen und die Enten. Die werde ich XY33XX33 zeigen, falls sie den Fehler begehen sollte, mich zu besuchen. Wir werden Enten und Schwäne betrachten, etwas in einer der berühmten geschlossenen Bars dieser Stadt trinken. Danach werden wir in meine komische Wohnung zurückkehren, wo ich ein Reisgericht zubereite, das wir gemeinsam vor dem Kamin einnehmen, den ich von Zeit zu Zeit mit Wohnzimmermöbeln und Hautschuppen füttere, und es ist so kalt, dass mein Kopf vom Hals abzubrechen droht. Wo liegt eigentlich der Gefrierpunkt von Gehirnzellen? Ab wann erstarrt der Speichel zu bitterem Speiseeis? Die wichtigen Fragen habe ich nicht gestellt. Die wichtigen Fragen habe ich weder meinem Telefon noch im Biologieunterricht gestellt, und jetzt ist es zu spät, noch einmal die Schulbank zu drücken. Ich erreiche den Quai Gustav Ador. Es ist kein einziges Auto unterwegs. Diese Straße ist so leer wie die Straßen in meinen Träumen, als ich noch Drogen nehmen durfte. Andererseits: Wer war eigentlich Gustav Ador? Nun, vermutlich ein bemerkenswerter Mensch. Ein Entscheider. Ein Visionär. Jemand wie der Executive Chairman. Bestimmt hat man schon jemanden dafür bezahlt, ein Buch über den Mann zu verfassen. »Gustav Ador – Fabrikant und Humanist«, »Randnotizen zu Gustav Ador«, »Die geheimnisvollen Anlageprodukte des Gustav Ador«. Ich überquere also Gustav Ador und stehe dann auf der Uferpromenade. Weiter draußen auf dem See tragen die Wellen weiße Kronen. Diese Scheißdinger sind hoch! Ich laufe zu der Landzunge, die die Hafeneinfahrt markiert, wobei Markieren ein etwas unglücklicher Ausdruck ist, den ich trotzdem durchgehen lasse, denn der Wind hat nun ernsthaft damit begonnen, mir Ohren und Nase zu amputieren. Der Wind nimmt mehr als fünfzig Prozent meiner Aufmerksamkeit in Anspruch, weswegen es mir unmöglich erscheint, bei der Wortwahl besondere Sorgfalt walten zu lassen. Ich erreiche das Ufer. Da vorne schaukeln tatsächlich ein paar Enten. Die Wellen knallen gegen die Kaimauer. Gischt fliegt durch die Luft. Verwandelt sich auf den Steinen in Eis. Die Luft ist beängstigend klar. Ich kann wahrscheinlich hunderte von Kilometern weit sehen und obwohl die Sonne noch nicht untergegangen ist, glitzern bereits Sterne. Es ergibt sich ein Tag-Nacht-Himmel von seltener Schönheit, der allerdings die Enten kaum interessiert. Die Tiere schwimmen entschlossen umher. Sie stehen unmittelbar im Überlebenskampf, denn vermutlich ist es recht kühl unter ihren geschwollenen, irgendwie obszönen Bäuchen. Oder sind das Brüste? Womit verdammt nochmal liegen Enten eigentlich im Wasser? Gustav Ador, Philanthrop und Großanleger, beschäftigte sich in den letzten Jahren, bevor er zu einer wochentags stark befahrenen Straße transzendierte, vor allem mit den verschiedenen Körperteilen einheimischer Wasservögel. Ich drehe mich ein wenig aus dem Wind, tue dabei aber so, als schaute ich mich lediglich um. Im Sommer stapelt sich hier alles. Tausende von Menschen mit ihren Nationalitäten und Sonnenbrillen unterhalten sich in ihren ekligen Sprachen, und ich bin, wenn es mein Terminkalender zulässt, wenn es mein stets blitzblanker Terminkalender zulässt, natürlich mit von der Partie. Im Sommer gibt es hier unten jede Menge Material. Das ist bekannt und speziell Lynberg schwärmt davon. Von seinen Sommerausflügen an den See. Von elastischer Haut, in die sich reife Blicke bohren. Damals Paul, jetzt Lynberg – scheinbar ziehe ich solche Leute an. Niederegger jedenfalls glaubt, das hat mit mir zu tun. Das glaube ich auch. Und überhaupt: Was ist eigentlich los mit mir?

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Am Abend sitze ich wieder vor dem Rechner. Dieses Partnerfindungsportal. Zürich hat also tatsächlich geantwortet:

Hey, lieber GF72LG04,

das ist aber eine ungewöhnliche Nachricht! Woher weißt Du, was ich (nicht) anhabe, wenn ich arbeite? Das weiß sonst nur Pomme, mein Kater image

Möchtest Du noch etwas über mich wissen? Bestimmt. Also, ich bin eine Schwedin und lebe seit einiger Zeit in Zürich. Keine Angst, die Sprache hier habe ich noch nicht angenommen, aber mein (Hoch-)Deutsch ist ziemlich gut, findest Du nicht? But we can also speak English if you like. Et si vous préférez le français – pas de problème.

Und ich bin geschieden! Ich fühle mich frei, meine Haut fühlt sich frei. Die möchte etwas erleben. Ich auch …

So, so, Du bist also beruflich und privat erfolgreich und siehst dazu auch noch gut aus. Klingt ein wenig nach Ironie, oder? Hoffentlich …

Wir sollten uns schnell treffen – was meinst Du? Soll ich nach Genf kommen oder Du nach Zürich?

Bis bald,

Malin

Ich lese den Text noch einmal. Dann schaue ich mir ihr Foto an. Dann lese ich den Text erneut und danach schalte ich den Rechner ab. Die Dinge lassen sich hervorragend an.

Später am Abend schaue ich einen amerikanischen Spielfilm im Fernsehen. Der Film wird selbst in den Begleitinformationen des Bildschirmtexts als Kitsch bezeichnet und gefällt mir außerordentlich. Besonders mag ich die sehr gut aussehende Hauptdarstellerin, die eine sehr herzkranke Vegetarierin spielt. Ich bin gerührt und weine ein wenig. Dann, völlig ansatzlos, komme ich auf die Idee, dass mein Fahrrad nicht mehr da sein könnte. Also fahre ich – mit einem Glas Wein in der Hand – hinunter in die Tiefgarage. Natürlich steht das Ding genauso da, wie ich es im November, Oktober, irgendwann gegen Ende meines letzten Lebens abgestellt habe. Außerdem ist Freizeitmann da. Freizeitmann wohnt im Vierten, aber er raucht nur unterirdisch. Ich nehme morgens missmutig den Aufzug nach unten – und wen treffe ich? Ich komme 21 Stunden später völlig erledigt wieder – und wer wartet schon in seinem Betonverlies? Irre, dass so ein Typ in so einem Haus wohnt. Wer zahlt eigentlich für den? Wer finanziert diese ausgebeulten Achtzigerjahre-Jogging-Trachten? Ich komme also in -1 an, entdecke – Gott sei Dank, wirklich, Gott sei Dank – mein Fahrrad, begrüße Freizeit, drehe um, steige wieder in den Aufzug und fahre zurück in die Wohnung. In der Zwischenzeit hat sich dort nichts verändert. Der Wind heult, mein Weinglas leert sich rasend schnell. Langsam erreiche ich wieder dieses Stadium. Diesen interessanten Zustand. Es ist besser für mich, für alle anderen, wenn das nicht geschieht. Freizeitmann sah mich eben irgendwie freundlich an. Netter Kerl. Wenn das so weitergeht, werde ich bald zusammen mit ihm dort unten stehen, und vermutlich ist das der Grund, warum ich mich mitten in der Nacht noch einmal an den Rechner setze.

Liebe Malin,

ich finde Deine Art zu schreiben sexy. Andererseits ist es auch möglich, dass ich zu Deiner Art zu schreiben keine Meinung habe und nur Dein Foto sexy finde. In jedem Fall bin ich mit einem Treffen einverstanden. Ich könnte nach Zürich kommen und mich als Kunstsammler verkleiden. Während der Verhandlungen könntest Du mir ein Glas Sekt reichen und im Übrigen Deine Arbeitskleidung tragen. Aber das sind keine Bedingungen, nur Vorschläge – falls uns gleich zu Beginn unserer Ehe langweilig ist.

Also, welche Pläne hast Du für das nächste Wochenende? Ich habe keine.

Frank

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Montag, 7. Januar, 09:30 Uhr, GEF-Headquarters Geneva (GEF-HQG), vierter Stock, Tagungsraum 2. Vor der riesigen Fensterfront breitet sich der See aus. Am westlichen Ufer, merkwürdig entrückt im winterlichen Morgenlicht, wuchern die Büro-Schachteln der Organisationen wie kantige Metastasen die Hügel hinauf. »Target setting 2013« – wir sind hier, um festzulegen, warum wir hier sind, und die Liste der Anwesenden umfasst: Valerie Spasowsky-Taylor, Head of Communications, Liz Stevenson, Teamleiterin Internal Communications (und offizielle Kontaktperson zum Büro des EC), Jeff Bellinghusen vom Büro des Executive Chairman, Lynberg und ich (GEF Latest, multifunktionale Textproduktionslastesel), Wilson, Lacroix und Martinez (Zuträger, Datensammler, letztlich habe ich keine Vorstellung davon, womit diese Menschen ihren Lebensunterhalt verdienen).

Spasowsky-Taylor, eine schlanke, brünette, vielleicht vierzigjährige Kanadierin, trägt einen engen beige-braunen, kurz über den Knien endenden Rock, dazu eine blaue enge Bluse, eine braune Strumpfhose und braune, angesichts der Höhe der Absätze gerade noch dezent wirkende Pömps.

»Ladies and Gentlemen«, sie setzt tatsächlich so an, wenn auch mit einem ironischen Unterton. »Ladies and Gentlemen, 2013 will be the last year Mr Gonzales-Blanco will serve this organization as Executive Chairman. As we all know, Raphael created the GEF, he embodies its spirit like nobody else. Under his guidance the GEF has become one of the most successful and respected non-governmental organizations world-wide. It serves as one of the global platforms for communication and knowledge transfer. It has become a major player in conflict settlement, its impartiality and professionalism has …«, es ist unglaublich, aber es fällt mir erst jetzt auf, dass Valerie momentan niemand anderen zitiert als … mich. Das ist mehr oder weniger mein Text, genauer gesagt mein Editorial der Dezember-Ausgabe von GEF Latest, den monatlich erscheinenden Hausmitteilungen. Unwillkürlich schalte ich ab. Meine Gedanken verlieren ihren Fokus, schweifen ab, wandern unweigerlich Richtung Norden:

Malin Nordström wurde am 28. Oktober 1978 in Göteborg geboren und wuchs in einem wohlhabenden, schon ländlich geprägten Vorort der mittelschwedischen Metropole auf.

Als dritte und jüngste Tochter von Lars Nordström und Annafried Bengtson-Nordström, einem Professor für Soziologie (Schwerpunkt Systemtheorie) an der Universität Göteborg und einer Lehrerin für Englisch und Geschichte, absolvierte Malin die Grundschule und anschließend das Gymnasium ohne Probleme, allerdings auch ohne größeres Engagement. Stattdessen, und im Gegensatz zu ihren beiden Schwestern, den Zwillingen Annika und Freja Nordström, offenbarte die äußerlich sämtlichen Schwedinnen-Klischees entsprechende Blondine schon frühzeitig künstlerische Neigungen.

Im Alter von zwölf Jahren hatte Malin ihren ersten Freund, den gleichaltrigen Nachbarsjungen Lasse Berg. Auf Lasse folgten zahlreiche andere, denn Malin war wegen ihres offenen, unkonventionellen, im Kern aber unzugänglichen, ja geheimnisvollen Wesens, vor allem aber aufgrund ihrer sich bereits früh abzeichnenden Attraktivität bei männlichen wie weiblichen Altersgenossen beliebt.

Mit neunzehn Jahren zog Malin Nordström nach Stockholm, wo sie zunächst ein Studium an der Königl. Kunstakademie aufnahm, dieses jedoch bald abbrach und fortan als DJ tätig war, während sich ihre künstlerischen Aktivitäten immer mehr in Richtung Bildhauerei entwickelten. Unter anderem stellte sie in ihrer 2004 abgeschlossenen Serie »MEkea« eine Reihe von Skulpturen her, deren Formgebung stark an Fabelwesen aus der nordischen Naturmystik erinnerte, die jedoch andererseits mit Insignien der schwedischen Konsum- und Wohlstandsgesellschaft ausgestattet bzw. sogar aus diesen gefertigt waren. Der Kritiker Sigfrid Andersen-Möller sah daraufhin in Nordströms Arbeiten »keine banale Konsum- und Fortschrittskritik, sondern das permanent Andere in uns, die Nachtseite des schwedischen Erfolgs- und Wohlstandsmodells«.

Nach einer Phase nationaler und sogar internationaler Aufmerksamkeit in den ersten Jahren des neuen Jahrtausends konzentrierte sich Malin Nordström in der Folgezeit wieder mehr auf ihre musikalischen Aktivitäten, die ihr nach und nach einen gewissen Bekanntheitsgrad in der skandinavischen Clubszene einbringen sollten. Im Sommer 2006 ging Nordström nach Zürich, um für einige Wochen in einem Elektro-Club im Zürcher Kreis 4 zu arbeiten. Während dieses Aufenthalts verliebte sich die Skandinavierin in den Schweizer Rechtsanwalt Markus Thun, den sie nur wenige Wochen später heiratete. Nordström zog in die Schweiz, arbeitete weiter vor allem als dj, erlebte die ihren Angaben zufolge produktivste Periode ihres Lebens und verließ Thun im Oktober 2011.

Im Winter 2012/2013 lernte Malin Nordström schließlich den charismatischen PR-Mann Frank Stremmer aus Genf kennen. Wie nicht anders zu erwarten, wurden die beiden ein Paar und verbrachten … Ich wache auf, weil plötzlich nicht mehr kaltes Business-Kanado-Amerikanisch, sondern ein näselnder Cornwall-Akzent die Geräuschkulisse bildet. Valerie hat Liz das Wort erteilt, wir sind bei den essentiellen Dingen angelangt: die kommenden zwölf vor uns lauernden Monate. Unsere »Herausforderungen«. Der EC wird in diesem, seinem letzten vollen Arbeitsjahr noch einmal verstärkt auf Reisen gehen und wir sollen ihn dabei begleiten. Aufgabe ist, alles, was dieser bedeutende Mann sagt und tut und denkt, zu dokumentieren, für die Nachwelt bereitzustellen. Das alles natürlich neben unserer generellen Arbeit am Gonzales-Blanco-Biographie-Projekt (Code-Name: »Valparaiso«), dessen konzeptuelle Planung immer noch nicht abgeschlossen ist. Für GEF Latest sollen wir in die Rolle von echten Journalisten schlüpfen und über die letzten beruflichen Zuckungen eines Mannes berichten, der zweifellos bereits heute als Legende, als Figur der Zeitgeschichte gilt. Ich schaue Lynberg an. Seine schweden-, seine Malin-Nordström-blauen Augen sind geöffnet und dennoch, quasi innerlich, geschlossen. Eine mit Sicherheit drogeninduzierte Stand-by-Position. Liz informiert uns unterdessen darüber, dass für Anfang April in Sachen »Valparaiso« ein mehrtägiges Brainstorming-Seminar geplant ist. Sie nennt außerdem einige der Reisestationen, die im Terminkalender des EC schon feststehen: Warschau, Lissabon, San Francisco, Wien, New York, Berlin. Alles so weit ok, aber wenig aufregend. Dann jedoch, es geht um den nächsten Dezember und Liz’ Miene verdüstert sich ein wenig, werden die Namen plötzlich exotischer. Die Gerüchte sind also wahr, ich habe an Weihnachten nicht umsonst recherchiert. Liz betont, die Planungen seien noch nicht abgeschlossen, doch höchstwahrscheinlich wird es auch wieder nach Afrika gehen, den Lieblingskontinent Gonzales-Blancos, und zwar in einige durchaus nicht uninteressante Zonen. Ich denke an die Bilder, mit denen ich mich über die Feiertage berauscht habe. Und dann denke ich an Niederegger.

»Well, I guess, we all will have to travel a bit.« Liz schließt ihre Ausführungen mit einem resignierten Lächeln, gleichzeitig dreht sich Lynberg zu mir um, gibt mir Gelegenheit, seine (mitten im Winter) gebräunte Haut, deren geweitete Poren zu betrachten. Nicht zum ersten Mal sind meine Empfindungen bei seinem Anblick so widersprüchlich, dass ich mich zu keiner eindeutigen Meinung durchringen kann. Ich sage: »Let’s talk about this later«, und wende mich meinem strahlend weißen, völlig jungfräulichen Notizblock und gleich anschließend erneut dieser schimmernden Lache dort unten, dieser beinahe unwirklich attraktiven Kulisse jenseits der Fensterfront zu.

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Auto, Zug, Flugzeug? Die Arbeitswoche vor Malin verbrachte ich ausschließlich mit der Frage, auf welche Weise ich die zweihundertfünfzig Kilometer nach Zürich überwinden sollte. Außerdem veranstalteten sie in der GEF-Kantine wieder ein Indien-Festival, weswegen Lynberg und ich am Dienstag oder am Mittwoch oder am Donnerstag indisch aßen, und während mir Lynberg erklärte, dass seiner Erfahrung nach Beziehungen zu Frauen führerscheinpflichtig sein sollten, woraufhin ich behauptete, dass Beziehungen zu Frauen nicht existieren, während wir beide uns also über irgendein, stark gewürztes Zeugs hermachten, schritt – samt Entourage – der Executive Chairman vorbei. Natürlich haben wir gegrüßt. Natürlich haben wir beide unseren Respekt bekundet. Ich für meinen Teil wäre am liebsten niedergekniet und hätte dem Mann die Füße geküsst. Denn immerhin ist der EC wahrscheinlich der Hauptgrund, warum ich überhaupt noch essen darf. Mir ist die große Ehre zuteil geworden, in einem Team mitzuarbeiten, das sich – abgesehen von marginalen Fingerübungen (»GEF Latest«) – praktisch ausschließlich mit dem Wesen und Wirken dieser außergewöhnlichen Persönlichkeit beschäftigt. Nächstes Jahr geht der Trottel in Rente, es zieht ihn zurück auf seine Landgüter, aber vorher wurde noch genügend Geld vom Communications-Etat abgezweigt, um ein völlig irres Buchprojekt zu finanzieren. Man hat Boten in die Welt hinausgesandt, um eine Schar Lohnschreiber zu rekrutieren, die sowohl in der Lage als auch willens sind, die Reden sowie das segensreiche Schaffen des Raphael Gonzales-Blanco zu erfinden, einem Latino-Philosophen aus – so will es die Mythologie – einfachsten Verhältnissen, der sich mit Hilfe der Jungfrau von Guadeloupe nicht nur seit Ewigkeiten an der Spitze eines angeblich global geachteten Non-Profit-Gebildes hält, sondern dieses sogar einst selbst ins Leben gerufen hat. RGB, wie er auf den Fluren, nie allerdings von mir genannt wird. Erfinder, Hauptnutznießer und Vaterfigur der zwangsläufig in Genf beheimateten Global Enhancement Foundation (GEF), einem Laden, der es sich zum Ziel gemacht hat, alles mit jedem palavern zu lassen: Wirtschaftsfürsten und malayische Hüttenbewohner, Internetpioniere und Geranienzüchter, Umweltfrevler und Pornographieabhängige. Assistiert von potenten Sponsoren kümmert sich die GEF um alles und nichts, und die ausufernden GEF-Kongresse genießen nicht nur aufgrund ihres exklusiven Catering-Standards hohe Anerkennung. Das auf all diesen Veranstaltungen prominent platzierte, dem Vernehmen nach vom EC selbst komponierte GEF-Motto lautet: »Communicating for a better tomorrow«. Jemand hat vor einiger Zeit einmal dem genial widersinnigen Wahlspruch am Eingang des Hauptgebäudes mit dickem schwarzem Edding ein »Stop« vorangestellt, und gewisse Anteile in mir bilden sich seit einiger Zeit ein, dass ich dieser Jemand gewesen bin. Lynberg und ich aßen also irgendwann in der letzten Woche indisch, das zumindest ist eindeutig passiert. Wir haben uns hauptsächlich über dieses Afrika-Ding im Dezember unterhalten, wobei mir weder seine noch meine Absichten in dieser Hinsicht völlig klar sind. Wir sind übereingekommen, die Sache später zu klären. Letzte Woche sind zudem noch ein paar andere Dinge geschehen. Zum Beispiel Wilson. Wilson schleicht an einem dieser ineinanderfließenden Tage an meinem Büro vorbei, und verrückterweise habe ich plötzlich Lust, meine Artikulationsfähigkeit zu überprüfen: »Wilson, how are you?«

Er kommt zurück und sagt: »Very good, Sir.«

»I mean really: How are you?«

»Yeah, I’m perfect.«

»I mean, really really. Are you alright?«

Er macht eine von amerikanischen Politikern bekannte Geste, der Zeigefinger deutet auf mich bzw. ins Nichts. »Of course not. I think it’s just the Prozac helping me out.«

Oder dieser pashtunische oder afghanische oder was weiß ich Verkäufer in Plainpalais. Keine Ahnung, was ich in der Gegend wollte, aber ich habe in dieser Woche zweifelsfrei in einem Tabakladen in Plainpalais eine Packung Parisienne verlangt, woraufhin wiederum er mich fragte, ob ich nicht gleich zwei wolle.

Darauf ich: »Pourquoi? Les deux sont moins cher?«

Darauf er, irre lächelnd: »Non.»

Natürlich habe ich zwei Packungen erstanden. Seine Taktik hatte Erfolg. Außerdem verleitete sie mich dazu, für eine ganze Viertelstunde das Zürich-Transport-Problem zu vergessen. Diese Afrika-Geschichte. Meine dreihundert anderen Probleme. Eine Suggestivleistung, von der ich Niederegger berichten muss, falls ich verrückt genug bin, Niederegger noch einmal von etwas zu berichten, und in diesem Moment kommt endlich, endlich jemand mit einem Getränkewagen den Gang entlanggeruckelt. Ich ordere, obwohl ein pashtunischer Reflex mir etwas anderes sagt, nur eine Alkoholeinheit. Rot oder Weiß? Ist mir egal, Herrgott. Ich deute verschwommen auf die Flaschen in diesem Ding. Der Zugkellner entscheidet sich für Rot. Eine gute Wahl, wie ich finde. Ein Team von Kennern, die Schweizer Bahnangestellten. Gibt es eigentlich schon ein Buch über ihren Boss? Über seinen Weinkeller? Um die Wirkung meines Getränks zu verstärken, krame ich nochmal den Zettel mit Malins Mail von heute Morgen heraus.

Gesendet: Samstag, 12. Januar 2013 um 10:22 Uhr

Von: «Malin Nordström» <malin.nordstroem@gmail.com>

An: «Frank Stremmer» <f.stremmer@bluemail.ch>

Cc:

Betreff: Gleich

Hej Frank!

Ich werde nichts tun, ok? Ich werde nichts vorbereiten. Ich werde im Atelier arbeiten und in Arbeitskleidung sein. Hmm, leider ist Winter, also ist es meine Winterarbeitskleidung. Du kommst einfach rein, ich drehe mich um, und wenn mir gefällt, was ich sehe, wenn ich das mit Deinem Schreiben, deinem Schreibstil zusammenbringen kann, verstehst Du, wenn das irgendwie für mich zusammengehört, dann … Mal schauen, was dann … Ich bin aufgeregt.

Und Du?

Bis gleich, Malin

Mit meinem »Schreiben«? Ich will auf keinen Fall mit irgendeinem »Schreiben« zusammengebracht werden! Falls die Gonzales-Episteln oder meine anonym hingeklecksten GEF latest-Artikel einmal direkt auf mich zurückfallen sollten, bin ich erledigt. Dann lande ich direkt vor dem Volksgerichtshof. Andererseits: Wozu sich jetzt mit solchen Dingen beschäftigen? Weshalb an einem späten Samstagvormittag an die Arbeit denken? Weshalb überhaupt irgendwas? Ich nehme einen vorsichtigen Schluck Bahn-Wein. Tief unten, im kalten Januarlicht, liegt immer noch der See. Eine Traumlandschaft: Rauhreif-überzuckerte Weinberge, winzige Ortschaften am Wasser, drohende, steil aus dem See aufragende Bergwände im Hintergrund. Lynberg behauptete neulich, die Gegend am nordöstlichen Ufer, die Bahnpassage, bevor der Zug in den Tunnel eintaucht, biete den schönsten Blick, die vollkommenste Perspektive weltweit. Ich schaue also noch einmal aus dem Fenster und mache dann mit meinem Telefon einige Fotos von mir. Denn es ist wichtig zu wissen, was Malin gleich zu sehen bekommt. Zu meinem Gesicht passt, wie ich feststelle, absolut jede Art zu schreiben. Überhaupt, auch jede Art zu reden erscheint mir denkbar. Oder Reis zu essen, Rotwein zu trinken, Robben zu häuten. Mit anderen Worten: Das, was ich in dem Apparat sehe, gefällt mir. Diese Woche, die Wochen vor dieser Woche, das alles hat kaum Spuren hinterlassen. Die Nächte, in denen ich neuerdings auf Geräusche achte. In denen ich Geräusche bewerte, zu ihren Quellen zurückverfolge. In denen ich gottverdammtnochmal Angst habe. Mit meinem Gesicht scheint das alles noch nichts zu tun zu haben. Es ist praktisch unmöglich, mit diesem Gesicht etwas zu tun zu haben. Das wird auch Malin bald merken. Mitten auf dem See, zehn Kilometer von jedem Ufer entfernt, entdecke ich ein Boot. Fährt das irgendwo hin? Es sieht nicht so aus, als hätte dieses Segelboot ein Ziel. Ein später Samstagvormittag in sicherer Distanz zu allem. Ich sehe den Kapitän vor mir, wie er in herrischer Pose an Deck steht, eine Hand am Ruder, in der anderen das Telefon. Plötzlich eine Erschütterung im Boot. Etwas hat angebissen. Etwas Großes. Der Skipper eilt nach vorne, zu der Carbonfaserangel, die ihm voriges Jahr ein erfolgreicher afghanischer Tabakhändler schenkte. Der Mann erreicht den Bug, reißt die Angel aus der Verankerung und lässt sich genießerisch lächelnd von einem Wal unter Wasser ziehen. In die kalten Tiefen des Sees, über dem und an dem vorbei ich Richtung Zürich rolle, um eine weitere schönste Landschaft der Welt zu ertragen. Außerdem treffe ich dort angeblich eine Bildhauerin und einen weiblichen DJ, weswegen ich jetzt beschließe, den Tag als Kunstprojekt anzugehen, als eine Art Collage. Ich werde mich dem Strom der Ereignisse hingeben, die Dinge einfach laufen lassen, anschließend jedoch eine Interpretation verfassen und diese vielleicht in einen zukünftigen Gonzales-Text einarbeiten. Dieser ölige Drittweltclown hat eindeutig zu wenig Sex – zumindest, was dieses Biographieprojekt betrifft. Ansonsten lege ich meine Hand für nichts ins Feuer. Niemand weiß, wie hoch der Etat für seine Partys drüben in Cologny ist. Lacroix hat Wilson erzählt, ich hätte erzählt, dass für die letzte dieser erlesenen Festivitäten sogar eine Hundertschaft Panflöten-Indios eingeflogen wurde. Nun, ich habe natürlich gar nichts erzählt. Stehe ich bei solchen Anlässen etwa auf der Gästeliste? Musiziere ich in einem Indianerorchester? Die Wahrheit ist: Ich befinde mich in keinerlei sozialen Position. Irgendwann im letzten Jahr wurden die letzten Fäden gekappt und Niederegger versucht seit Monaten, neue zu spannen, doch wir beide wissen letztlich, das ist sinnlos. Andererseits bin ich momentan unterwegs zu einem Rendezvous. Wenn die Schweizer Bahn ihre Versprechungen einhält, werde ich in knapp zwei Stunden am Zürcher Hauptbahnhof aussteigen, einem Taxifahrer einen Zettel in die Hand drücken und dann die Augen schließen. Wie wenig konkrete Erwartungen ich an die nächsten Stunden habe! Da ist höchstens eine leichte Beklemmung. Die Aussicht, reden, viel und vor allem originell reden zu müssen, erzeugt eine Art Unwohlsein, was unter Umständen damit zu tun haben könnte, dass ich Kommunikation in jeder Hinsicht ablehne. Um mich abzulenken, betrachte ich das Etikett dieser Miniaturweinflasche. Auch das natürlich Kommunikation. Also schaue ich aus dem Fenster. Wir gleiten durch die Vororte einer Stadt. Das berühmte zweisprachige Kommunikationslabor Fribourg. Der Zug fährt fast im Schritttempo. Ich sehe eine junge Frau eine leere Straße heruntergehen. Sie trägt einen unförmigen Wintermantel; für einen Moment kann ich sogar ihr Gesicht erkennen. Ich habe insgesamt nur vage Anhaltspunkte, aber in meinem Gehirn springt dieser spezielle Projektionsrechner an, eine Apparatur, die wesentlich komplexer arbeitet als die Prozessoren in meinem schwachsinnigen Telefon; in meinem Kopf ergibt eine erste Auswertung der verfügbaren Datensätze, dass die Frau insgesamt gut und dazu auch noch auf eine sehr gute Art und Weise gut aussieht. Das ist wichtig. Das ist überhaupt das Allerwichtigste. Es kommt immer darauf an, wie man gut aussieht. Das ist das Geheimnis. Mari zum Beispiel sah sehr gut sehr gut aus. Mari und ihre Pillen haben mich für immer verlassen. Ich habe Lust zu sterben deswegen, obwohl andererseits nun der Zug in den Bahnhof einfährt. Wie groß ist Fribourg? Wie viele Menschen leben hier? Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, in einer Stadt mit zwei Sprachen und siebzigtausend Dialekten eine Frau zu finden, die man vor zwei Minuten für fünf Sekunden in einer bahnhofsnahen Straße entdeckt hat? Ich werde aussteigen und suchen. Mich vor dem Bahnhof kurz orientieren. Vielleicht einen Blick auf eine Umgebungskarte werfen. Die Straße, in der sie unterwegs war, identifizieren. Ihr Tempo und ihre Gehrichtung berücksichtigen. Ihre jetzige Position, besser: ihre möglichen jetzigen Positionen prognostizieren, dann eine Auswahl unter ihnen treffen, dann losgehen. Die beißende Kälte gar nicht spüren. Eine Fährte aufnehmen, eine Witterung. Währenddessen weitere Überlegungen anstellen, währenddessen … und so weiter und so weiter.

Der Zug rollt wieder an. In Fribourg sind eine Menge zweisprachiger Studenten zugestiegen, die das Abteil sofort mit Unterhaltungen über ihre interessanten Leben erfüllen. Ich höre mir das also an. In anderthalb Stunden bin ich in Zürich, in zweieinhalb Stunden, falls alles klappt, bin ich in Malin, und die Fribourger Studenten hantieren andauernd mit ihren Telefonen. Ich schaue mir diese Leute an, ihre technische Ausstattung, krame dann mein eigenes Gerät hervor, das praktisch im selben Moment den Nachrichten-Signalton von sich gibt. Mein Telefon ist aufgewacht. Es wurde von all den anderen Telefonen geweckt und selbstverständlich betrachte ich seine Stille, seine in letzter Zeit anhaltende Lautlosigkeit als Zeichen. Als einen von mehreren Indikatoren: Schlafendes Telefon gleich toter Besitzer. Toter Besitzer gleich unfähiger Psychologe. Unfähiger Psychologe gleich schlafendes Telefon. Neulich, vor drei oder vier Sitzungen, konfrontierte ich Niederegger mit diesem Dreisatz. Er atmete daraufhin zwei- oder dreimal aus, sagte eine Weile nichts. Danach stellte er eine Frage, die irgendein anderes Thema betraf.

Wir erreichen Bern. Ein Teil der Studenten sowie ein Teil der Telefone verlässt das Abteil. Vor dem Fenster schwirrendes Bahnsteigtreiben. Dutzende Gesichter und Körper. Lebensgeschichten, die gottseidank niemand aufschreiben wird. Der erhabene Blick aus dem zweiten Stock eines Doppelstockzuges. Die Melancholie des Allein-Reisenden, das Gewimmel dort unten, dazu ein exquisiter Rotwein – wenn das so weitergeht, verwandle ich mich in einen Kolonial-Engländer, der auf seinem Elefantenbalkon einen Ausritt in die Leprakolonie unternimmt: Samstag 15. Januar 1894, apathische Hitze, überall Fliegen, ich fühle mich seltsam. Barimba mit majestätischem, kraftvollem Schritt. Dort unten dieser gespenstische Ort, diese armen Menschen. Ihre riesigen Augen. Wie fremdartig doch die Gesichter wirken, so gleichgültig dem eigenen Leid gegenüber. Dagegen die Makakengruppe am Waldrand, mit den possierlichen, fröhlich spielenden Jungen: letztlich weit menschlicher. Merkwürdig, beim Anblick der Affen muss ich plötzlich an Mari denken. Ich habe nun, so glaube ich zumindest, verstanden, dass alles ein Fehler war. Warum ich sie nie hätte herkommen lassen sollen. Der Traum von einem gemeinsamen Leben hier, nahe bei meinen Aufgaben, war ein Trugbild.

Barimba trägt mich aus dem Dorf hinaus. Ich fühle mit all meinen Sinnen, wie das Leid von mir abfällt; auch dieser ekelhaft süße Geruch nach lebendiger Verwesung verschwindet allmählich. Im Wald der Gesang unzähliger Vögel. Wobei Gesang gar nicht das richtige Wort ist. Gelächter trifft es besser. Bösartiges, mitleidloses Gelächter, mit dem durchaus ich gemeint sein könnte. Heute um 16 Uhr wieder Tee beim Colonel. Bis dahin sollte ich, nein werde ich … und so weiter und so weiter und so weiter. Ich meine, was sagen solche Gedanken über Niederegger, seinen bisherigen Therapieerfolg aus? Um Niederegger zu vergessen, beschließe ich, an Gonzales-Blanco zu denken. Ich werde mich ein letztes Mal mit der Frage beschäftigen, warum ich mich so häufig mit diesem Idioten beschäftige. Was will ich eigentlich von diesem Mann? Weshalb fesselt mich der EC auch noch in meiner Freizeit, ja selbst auf dem Weg in das Atelier einer schwedischen Konzeptkünstlerin, die mir eben per SMS mitgeteilt hat, dass etwas unter ihrer Haut passiere, dass ihr ganzer Körper von einer »fast schon unangenehmen Spannung« erfasst sei. Ich gebe es zu, Gonzales-Blanco fasziniert mich. Selbstredend verabscheue ich ihn, weil er ein eitler Schwachkopf ist, aber ich verehre ihn auch, weil er jemandem wie mir Arbeit verschafft. Andererseits ist es wahrscheinlich genauso: Ich verabscheue ihn, weil er mir Arbeit verschafft, und ich verehre ihn, weil er ein eitler Schwachkopf ist. Der Zug nimmt zügig Tempo auf, erreicht bald Maximalgeschwindigkeit. Die Landschaften hinter Bern. Die Verteilung und Häufigkeit von Hochregalen im Weichbild von Olten. Der unheilverkündende Formationsflug einiger Raben am Himmel über Aarau. Es gibt so unendlich viele Details, denen ich mich widmen könnte. Deren Zusammenhänge interessant genug sein könnten, um mein Gehirn daran zu hindern, diese kleinen Säuretropfen abzugeben, sich nach und nach in eine schwarze, hochkomprimierte Wolke zu verwandeln. Niederegger sagt, dass die Tropfen, die er ganz anders nennt, dass jene Substanzen eventuell eine Folgeder Substanzen sind, die ich mit Mari genommen habe. Mit Mari hatte ich damals interessante Momente. Die Dinge mit Mari waren gut, bevor sie außer Kontrolle gerieten. Bevor ich mich zu verflüssigen begann, zu kochen, danach zu erkalten, zu erstarren, und wahrscheinlich hat Niederegger Recht: Verschiedene chemische Prozesse in mir sind dauerhaft außer Kontrolle geraten. Oder aus dem Gleichgewicht, wie er sich ausdrückt. Nun, gegen chemische Prozesse, die außer Kontrolle geraten, habe ich überhaupt nichts. Damit kann ich umgehen. Dafür habe ich früher eine Menge Geld ausgegeben. Jetzt, wenige Kilometer vor Zürich, sehen die Dinge anders aus. Meine Augen krampfen sich in die Landschaft, doch die Gegend ist hermetisch abgeriegelt. Ich dringe nirgendwo ein. Und die Raben von eben sind davongeflogen. Sie sind abgebogen in einen anderen Lebensweg.

Der Zug nähert sich seinem Ziel. Die Vororte, das Gleisgewirr im Vorfeld des Hauptbahnhofs, die Telefone im Abteil schalten einen Gang hoch. Aus einer Million Kilometer Entfernung betrachte ich die Leute bei ihren idiotischen Vorbereitungen.

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Wir trinken jetzt Pfefferminztee auf dem Ateliersofa, und das leiernde Summen des Elektroofens könnte sehr gut auch aus dem Inneren meines Gehirns stammen, und ihre Haare, die ich gelöst habe, um sie durch meine Hände fließen zu lassen, wirken in ihrem Blond noch einmal sonnengebleicht. Ich meine, wie lange kenne ich diese Frau jetzt? Seit wie langer Zeit führe ich wieder eine Beziehung? Das Taxi hielt vor anderthalb Stunden vor einem mit Pfützen und Schneeresten übersäten Gelände. Ich gab dem Mann ein verrücktes Trinkgeld, watete über den Hof, stieg die Treppen eines dekorativ, geradezu absichtsvoll verrotteten Jetzt-Kunst-früher-Fabrik-Gebäudes hinauf, an den Wänden irgendwelche Klekse, Plakate, kleine kreative Überraschungen. Nach fünf Stockwerken kam dann diese große Eisentür, vor der ich nicht zögerte, nicht einen Augenblick, sondern praktisch zusammen mit dem Anklopfen eintrat, um am anderen Ende eines hallenartigen Raumes eine Frau mit nachlässig hochgesteckten blonden Haaren und schönen, in einer fleckigen Jogginghose steckenden Beinen zu erblicken. Sie drehte sich um, hielt kurz, sehr kurz inne, irgendwelche Analyseeinheiten vermaßen in Lichtgeschwindigkeit die Situation, und danach kam sie wortlos auf mich zu. Ich dachte an Mari. Ich erinnerte mich daran, wie sie damals, bei unserem ersten Treffen in Bel Air, die letzten Meter zurückgelegt hatte. Und ich dachte, während Malin sich mir in bedächtigem, leicht wiegendem, irgendwie bereits laszivem Gang näherte, selbstredend auch an Niederegger, der mir schon ganz am Anfang den Tipp gegeben hatte, weniger über Mari und die Pillen als vielmehr darüber nachzudenken, warum ich weiter über Mari und die Pillen nachdenke. Ein Teil in mir, und zwar derjenige, der nicht von Gonzales-Blanco besessen ist oder diffus herumtrauert, beschäftigt sich praktisch permanent mit Niederegger. Es wurde eine Standleitung verlegt, die nicht mehr zu unterbrechen ist, und es ist mehr als nur eine Vermutung, dass Niederegger in diesem Moment zu Hause in seinem aus schwarzem Marmor und gefrorenen Patiententränen erbauten Schloss sitzt und auf verschiedenen Monitoren verfolgt, wie ich Malin, die sich jetzt aufgerichtet hat, immer noch über dieses unglaublich seidige, schwedenblonde Haar streiche. Ich fühle, dass ich in meinem Leben zu Handlungen von erstaunlicher Zärtlichkeit in der Lage gewesen wäre. Ich küsse daher ihre Lippen. Deren Wärme. Die Wärme flüstert mir Sachen ins Ohr, und ihre Haut, ihre Haare, alles riecht nach trockener Hitze, so, wie ich mir einen Mittsommertag vorstelle auf einer winzigen schwedischen Insel, auf diesen Inselgruppen, die einen bestimmten Namen haben, den ich aber vergessen habe, weil ich eigentlich alles vergesse, was nicht negativ ist, was ich nicht als Nährlösung für Trauer und Verlustgefühle verwenden kann. Höchstwahrscheinlich werde ich auch diesen Moment jetzt vergessen. Es ist bedauerlich, doch vermutlich wird sich allein Niederegger daran erinnern, wie meine Hand auf ihrem Bauch liegt, wie meine Fingerkuppen hinab zu ihrem weißen schmucklosen Kaufhausslip fahren, dann diese Wölbung ertasten, die Schamlippen unter dem Stoff erzeugen. Ich schaue also in Malins Augen. Ich beobachte Malins Augen. Deren Blau ist das Hintergrundblau meines Textverarbeitungprogramms, und der Ofen verstummt plötzlich, und mein Zug fährt, wie ich leider gerade beschließe, um 20:30 Uhr.

II.

Die Präfektur Tottori

Eine oder zwei oder was weiß wie viele Wochen nach Malin sitze ich einem überfüllten Bus der Linie 8, der auf überfüllten Pont du Mont-Blanc steckengeblieben ist, und zu allem Überfluss ist schon wieder Freitag. Es ist albern, aber seit neuestem entwickele ich zu Freitagen eine Art Einstellung. Ein wirkliches Verhältnis. Ich meine, man sitzt zum Beispiel im Flugzeug und plötzlich ist da dieses Geräusch, diese winzige neue Zutat im Lärmcocktail, die niemanden sonst zu beunruhigen scheint. Doch man selber hört etwas und man ahnt, dass sich jenes leise Knarren schon sehr bald in ein schreckliches, ohrenbetäubendes Ächzen verwandeln könnte. Also nimmt man einen Schluck von seinem vierfachen Wodka-Orangensaft, schaut dann – schon wieder halbwegs entspannt – aus dem Fenster und stellt fest, dass dort, wo eben noch ein Flügel störte, nun plötzlich ein herrlicher Ausblick zu genießen ist. Und zwar auf einen zehntausend Meter weiter unten liegenden Ozean, der seinerseits noch einmal zehn Kilometer Tauchtiefe anzubieten hätte. Freitage sind, wie ich festgestellt habe, Tage mit ganz hervorragenden Ausblicken.

Am 23. Februar 1973, dem Namenstag des heiligen Polykarp von Smyrna, kam es auf dem Pan Am-Flug PA