Erster Teil
Die Kluft

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Die Menschenpumpe

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Erwin und Mildred heirateten in New York und verbrachten ihre Flitterwochen am oberen Hudson. Den darauffolgenden Winter verlebten sie wieder in der Stadt; und als das Frühjahr des Jahres neunzehnhundertsechzehn kam, hatten sie sich noch immer nicht von ihrem Erstaunen erholt darüber, daß der Krieg noch keineswegs zu Ende war, sondern sich in Europa zu einer schauerlichen Angewohnheit auszuwachsen schien.

Aus ihrem früheren Optimismus (was die Dauer des Krieges anging), verbunden mit der herzlichen Antipathie, die sie der Bevölkerung ihres Zwangsexils entgegenbrachten, erklärt es sich auch, daß sie sich nicht die geringste Mühe gaben, sich einen festen Freundeskreis zu bilden, auf den sie hätten zurückgreifen können. Erwin hätte immerhin noch Winkel gefunden, warme Ecken, wo er sich an einem Schatten von Verständnis dürftig hätte anwärmen können; sie aber mit ihrer englischen Abneigung gegen überstürzte Herzlichkeit hatte ihn mehrfach verhindert, mit gewissen Menschen in Kontakt zu bleiben; hatte ein paar für Europa sehr nützliche, aber für den jetzigen oberflächlichen Allerweltsbetrieb unangebrachte Vorurteile mitgebracht, an denen sie vielleicht selbst litt, deren sie aber ohne Verlust an Selbstachtung nicht entraten durfte. Sie machte auch ihn reserviert. Was jedoch einem anderen gut gestanden, was ihm die Wege geebnet hätte, schadete Erwin, da er ein zu einladendes Äußeres besaß. Der schlichte Durchschnittsamerikaner ging selten an ihm vorüber, ohne die Verlockung zu spüren, ihm auf die Schulter zu klopfen oder ihm eine Zigarre anzubieten. So wurde er frühzeitig schon von seinem natürlichen Instinkt, der Menschen nötig hatte, künstlich abgelenkt und gleichsam zwischen Tisch und Stuhl gewiesen... Andererseits ersetzte ihm die amüsante Persönlichkeit seiner Gefährtin viel von dem, was er zuweilen halb schmerzlich vermißte.

Nach dem Gefühlssturm der ersten gemeinsamen Wochen, in denen sich ihre inkongruenten Naturen abschliffen und ihre Liebe ihm plötzlich vollerblüht in den Schoß fiel – (nachdem er fast geglaubt, ihr fürderes Verhältnis würde sich auf Kameradschaftlichkeit und freundschaftliche Rücksichtnahme beschränken müssen) – geschah es, daß sie einander völlig unentbehrlich wurden und daß die durch nationale Verschiedenheiten gestörte Harmonie ihr ruhiges Strombett fand.

Trotz der festen Erwartung eines Heimes, wie es ihnen ein baldiges Ende des Krieges lockend vor Augen stellte – (und der Krieg mußte doch einmal ein Ende haben!) – spürten sie nach gelegentlichen Ausflügen in die Stadt, nach wirbelndem Wechsel von Gesichtern, nach Vorstellungen oder Lichtbildern, voll von zuckender Handlung in stechend heller Bestrahlung, eine ungeheure Leere um sich herum... Diese Leere wuchs überall hervor. Sie hing in den Profilreihen, die sich ihnen beim Eintritt in die Untergrundbahn leicht verblüfft entgegendrehten. Sie grinste aus den maskenhaften Gesichtern gleichgültiger Kellner. Sie dröhnte, taub an ihnen zerplatzend, aus den gellenden Rufen der Zeitungsjungen. Sie stieg aus jeder Straßenschlucht und kreischte metallen aus den Achsen der L-Züge, die sich eine Viertelmeile von ihren Fenstern entfernt scharf um eine Kurve quälten; ja, sie schwebte sogar als ein böser Geist in deutsch aufgeputzten Lokalen, wo alles darauf berechnet war, mit Holzvertäfelung, neckischen Zinnkrügen, heimatlichen Städtebildern und deutschen Speisebenennungen stimmungsvoll zu wirken.

Oft schien Europa ihnen zum Greifen nahe, und doch war es nur ein gestohlenes Flittergewand, das man an die Dinge gehängt hatte und das vor einem durch die Nase gesprochenen Laut, vor einem kaltglitzernden Blick, vor dem gehetzten, von Fusel verseuchten Atemstoß eines Trunksüchtigen herabglitt und zur Schimäre wurde. Das nackte Amerika, die kalte, wuchtige und erbarmungslose Maschine, sprang enthüllt hervor. Es wurde nichts aus der Anheimelung.

Sie fühlten sich hilflos im Bereich der großen Fangarme, die täglich Millionen ausgeleerter, nach Geld fiebernder Menschen an sich rafften und täglich wieder in ihre dürftigen, phantasielosen Behausungen zurückpreßten. Stets konnten sie das Pochen des Herzens fühlen, das in diesem Moloch arbeitete, das Geräusch einer großen Pumpe, die Kontrakte, ephemere Schwindelunternehmungen, Grundstücksspekulationen, Kriegsbestellungen in sich hineinsog und sie als einen Strom von Geld, eine trübe Fontäne fragwürdig erraffter Dollarscheine wieder hervorspie. Nirgends war man sicher vor Geld; Gedanken und Handlungen rochen danach, und was sie beide bis dahin als Schönheit empfunden, schien aus dem Leben gestrichen. Wohl gab es noch süßes Himmelsblau, schlanke, bezaubernde Kinder, Hafengeschäftigkeit gleitender Mäste im Morgennebel und täglich halberspähte Menschlichkeiten, die das Herz flüchtig rühren konnten; aber all dieses befruchtende Stimmungsgold schien verschwendet an Menschen, die nur in Masse dachten, nur in Masse existieren konnten und unter dem Stempel einer selbstgewollten Zwecksklaverei ärmlich dahinvegetierten. Ja, wimmelnden Insekten glichen sie auf einem unerschöpflichen, von Gott in milder Güte ihnen gespendeten Nahrungsklumpen; auf einem großen, von ungeheuren Möglichkeiten trächtigen Stück dieser Welt, in dem sie nach Herzenslust schürften; das nie genug hergeben konnte, nur damit die Insekten ihr sinnlos wirres Hasten nicht abzudämpfen hätten...

Und selbst nachts – (es schienen ähnliche Sterne wie über Sussex oder über Thüringen) – kam die große Pumpe nicht zur Ruhe. Sie schien etwas leiser zu arbeiten, aber es war, als ob ihre Arbeit unterirdisch zitternd weiterwühlte, wenn an verschiedenen Plätzen und Straßenquadraten Manhattans die Luft plötzlich zerrissen wurde von dumpfen Explosionen. Die Insekten gruben weiter durch den Felsen hindurch. Sie spürten neue Verkehrskanäle auf, sie wühlten selbst unter dem Wasser Wege. Sie ließen sich nicht genügen an ihren staunenswerten Verkettungen zwischen Himmel und Erde, an gigantischen Netzen aus Stahl, unter denen große Verkehrsdampfer hindurchzugleiten vermochten ohne ihre Schornsteine umzulegen; nein, sie eroberten sich den Felsen selbst und machten ihn porös, auf daß die Menschenpumpe nicht zu rasten brauche. Kaum erschütterten diese Explosionen ein Fenster, geschweige denn, daß sie ein leichtes Vibrieren in die Last von Beton gebracht hätten, die mit oft zwanzig oder dreißig Stockwerken über ihnen getürmt hing. Aber man hörte sie, hörte sie durch die schwächeren Nachtgeräusche hindurch, die immer noch laut genug brausten, um einer kleinen europäischen Residenz das Gepräge einer entfesselten Weltstadt zu geben.

Erwin und Mildred fuhren in ihren Betten auf, denn sie wußten, es war etwas da: eine halbe Erdumdrehung entfernt lastete etwas, rumorte etwas aus tausend speienden Metallschlünden hervor, das nicht wegzudenken war, das wie ein Alpdruck, wie eine schwere Bürde auf einem gesunden Organ dieser Welt lag und sich dort spitz und grausam, Entzündungen verbreitend, eingrub und weitergrub, Tag für Tag. Und die dumpfen Böllerschüsse der Dynamitsprengungen unter ihnen, wenn sie auch ein Friedensgeräusch waren, schienen ihnen wie ein unerwarteter, peinigender Warnruf, wie ein schwacher Versuch, jene entfernte Hölle nachzuäffen. Die ganze Nacht hindurch stand vor den Fenstern, selbst wenn sie geschlossen waren, ein kompakter Körper von wiehernden, aufgestörten Lauten, der keine Pause kannte und um die frühesten Morgenstunden mit grausamem Rhythmus anschwoll, bis er in das große Tagesgeschrei hineinwuchs. Das war damals Amerika für sie. Beider Ohren waren noch empfindlich, noch keine Haut war ihnen über das Trommelfell gewachsen. Sie blicken frisch und interessiert in das Leben, das ihnen noch bunt erschien, wo seine Farben anderen längst zu Grau zerlaufen waren. Sie sprachen mit vielen Leuten; doch ihre nette Ironie wurde verkannt und mit Plattheiten vergolten; ihre kleinen Gefühlsausbrüche mit nichtssagendem Syrup bestätigt und entwertet zurückerstattet. Ihre Interessen wurden zu Marotten und ihre Kenntnisse zu bloßem Gedächtniskram, entbehrlich darum, weil er sich auf den ersten Blick nicht in Geld umdenken ließ...

Der Mann mit den toten Augen

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Um diese Zeit wehte ihnen ein Prospekt ins Haus, auf dem wörtlich folgendes vermerkt stand:

»Die leichte Erreichbarkeit von Lakewood, die abwechslungsreiche Bequemlichkeit seiner Unterhaltungen, die gesunde Atmosphäre seines balsamischen Klimas und seine trockene Erde, vereint mit den Naturschönheiten seiner tiefen, duftenden Fichtenwaldungen und Seen sind seit langem von jedem Kenner unserer Erholungsorte freimütigst zugestanden worden.«

Nach dieser schwungvollen Einleitung erfolgte eine längere Schilderung, die sich nicht genugtun konnte an bunter Ausmalung der Lage, der landschaftlichen Reize, der Privatschulen samt Betätigungen von Kirche und gesellschaftlichem Leben, das von einer großen Ansiedelung gepflegt werde. Ja, diese Schilderung überbot sich selbst, als sie die Vorteile des Country-Klubs, die Reize der Gegend, des Ruderns, Reitens und Motorfahrens erschöpfte; auch streifte sie mit ernstem Seitenblick die Verdienste um Gemüt und künstlerische Bedürfnisse, deren Lakewood sich erfreute, erwähnte den Nachmittagstee in den Hotels, nannte ihn mit Entdeckerfreude eine scharmante englische Volkssitte und verweilte des längeren auf den erstklassigen Lichtbild-Theatern. »Der herrliche Park des Mr. Gould ist dem Publikum weit geöffnet, und eine große Tribüne bietet Tausenden Sitzgelegenheit, die das Pferde-Polo genießen wollen ...« Der Artikel schloß mit einem Loblied auf die Zentral-Bahn von New Jersey und mit kordialer Einladung, sich, falls man noch nicht ganz überzeugt sei, brieflich über all diese Vorzüge zu vergewissern.

Erwin fühlte auf diese Annonce hin eine gewisse Wehmut. Irgend etwas Europäisches in ihm geriet in Versuchung, der Idee näher zu treten. Das las sich ja genau wie eine Schweizer Hotelreklame; wie? ein Duft von Lugano oder sonst einem paradiesischen Fleck der Alten Welt war darin ... Dieser aus kindlicher Reise-Frühe stammende Duft machte ihm zu schaffen ... Rest eines Märchenglaubens an verschollene Prospekte ... Der Kontrast zwischen dem gegenwärtigen Dasein und dieser kaum fünfzig Meilen entfernten landschaftlichen Perle war ungeheuer; wie hätte er den Mut gefunden, zu glauben, die ganze Schilderung sei nur der Geschäftsphantasie eines Grundstückvermittlers entsprungen? So setzte er sich auf die Bahn und fuhr nach Lakewood hinaus.

Mit den Fichtenwäldern hatte der Prospekt recht, wenn sie auch nicht das Augenfälligste waren, was ihm zunächst begegnete. Etwas sumpfiges Land, gesprenkelt mit Birkenbeständen, Erlengestrüpp, Weiden und von wildem Wein pittoresk verhängten Platanen und Pappeln waren bei der Einfahrt in den kleinen Bahnhof bemerkbar. Der Bahnhof war äußerst neuzeitlich, sehr appetitlich aus Zement, roten Backsteinen und weißgestrichenen Fensterverschalungen errichtet; das Personal von einer blühenden, dunkelblauen Sauberkeit und patriarchalischer Würde. Ernste Gepäckträger gaben ihm Audienz, und einer von ihnen ließ sich sogar herab, seine Handtasche schlenkernden Schrittes über die sandige Straße nach einem kleinen Wohnungs-Vermittlungsbureau zu bringen, wobei nichts in der Welt ihm ferner lag, als sich um den Herrn des Gepäcks, den leicht transpirierenden, überflüssig erregten Fremden zu kümmern...

In dem Vermittlungsämtchen, einer reinlichen Stube in mäßigstem Format mit einem Mahagonizahltisch, auf dem illustrierte Broschüren Lakewood von allen Seiten und in jeder Beleuchtung zeigten, stellte der pompöse Träger das Gepäck auf den Boden und verließ ihn mit einem schläfrigen Grunzlaut, nachdem er leicht sinnend auf das Fünfzigcentstück geblickt, das er sozusagen nur aus Gewohnheit in seine Tasche schlüpfen ließ. Während Erwin auf Bedienung wartete, verfinsterte sich der asphaltierte Raum; ein paar Donnerschläge erschütterten die Fenster und harte Tropfen klatschten auf die staubige Straße, um sich nach weiteren zehn Minuten zu einem Landregen zu entwickeln, der solide Dauer versprach. Erwin hatte sich, bevor er eingetreten war, noch ein wenig umgeblickt, hatte ein paar enorme Hotels wahrgenommen, hübsche, flache, sechsstöckige, in einer Art von Schweizer Stil errichtete Gebäude, abgezirkelte Wege, von samtenen Grasflächen gezierte Gärten und einige Privatpaläste, die offenbar sehr reichen Leuten gehören mußten, denn niemand schien darin zu wohnen, und sie waren augenscheinlich nur für einen späteren Saisonbetrieb in eine halbe Bereitschaft gesetzt.

Jetzt aber, als er sich noch näher über das Städtchen durch das Fenster hindurch orientieren wollte, löschte der gleichmäßig graue Regen alles aus und versperrte ihm die Welt. Nur die dunklen Klumpen einiger strotzender Laubbäume und die blutenden Farben pyramidenförmig angelegter Beete schimmerten noch hervor.

»Sehr reizend,« dachte er, »vielleicht gerade das, was man sich wünscht. Natürlich, im Ort selbst wird man nicht wohnen können. Die vielen Garagen deuten auf einen entfesselten Motorbetrieb. Auch wenn diese Hotels alle gefüllt sind, wird man sich wohl einander lästig fallen und nicht gut zur Ruhe kommen. Scheint mir so eine Art amerikanisches Homburg zu sein, aber die Landschaft gefällt mir, und es wird ja auch ringsumher, von den Straßen entfernt, idyllischere Plätzchen geben. Sehen wir zu, was dieser Jüngling uns vorzuschlagen hat.«

Damit richtete er einen fragenden Blick auf eine in sorgfältig gebügeltes weißes Flanell gekleidete Figur unbestimmten Alters, die irgendwie lautlos aus dem Hintergrunde auftauchte und mit zuckenden Bewegungen magerer Finger den Haufen Prospekte auf dem Tisch zu ordnen begann. Mit kurzen Worten wies Erwin auf sein Begehren hin, nämlich ein gemütliches, gut möbliertes Häuschen in der Nähe oder etwa ganz auf dem Lande, wonach der Jüngling, ihn tot ansehend, hervorstieß: »Yes Sir; very well, Sir!« – und dann von irgendeinem Regal ein Bündel Photographien raffte, das er Erwin vorwarf, so zwar, daß diese Bilder irgendwie bereits zauberhaft geordnet vor dem Verblüfften zu liegen kamen. Hierauf begann er zu erklären. Sein nasales Englisch haspelte sich in rasender Geschwindigkeit durch ein Loch seiner gummiartig verzogenen Lippen. Zwischendurch grinste er, erwartete Anerkennung, beinahe Komplimente; stürzte sich auf ein neues Bild und war mit zehn von diesen Ködern bereits fertig, ehe Erwin auch nur daran denken konnte, sich irgendwelche Begriffe zu bilden. So schien es eine Art Lotteriespiel, als der Kunde auf gut Glück seine Faust auf ein Bild legte, das ihm anmutiger erschien als die anderen.

»Ich möchte mir das da gern einmal ansehen.«

»Nummer dreiundsiebzig. Jawohl, mein Herr,« knarrte der Jüngling, um im selben Tonfall, nur mit erhöhter Stimme, anzuordnen:

»Bringt sie heraus von hinten!«

Wer diese »sie« war, erklärte sich sofort, als ein ziemlich mitgenommener Ford-Viersitzer von außen um das Bureau herumwankte und sich mit schnarrendem Getöse vor die Tür schob. Das Wesen im weißen Flanell machte einen Satz über den Zahltisch und sprang, noch von der Schwelle, auf den Chauffeurplatz, der von einem flachshaarigen Knaben freigegeben wurde. Mit äußerster Zeitersparnis wurde auch Erwin in den Wagen genötigt, und er hatte erst Gelegenheit, die Türe zuzuklappen, als das Gefährt sich mit weitem Satz, der die Lachen spritzend zerpflügte, auf eine wilde Wanderschaft in die Regendämmerung hinaus begab. Der Jüngling fuhr so sicher, schien die Gegend derart unheimlich zu kennen, daß er, halb von seinem Steuerrad zurückgewandt, Zeit und Muße fand, Erwin weiterhin mit großen Salven von Nasaltönen zu bedenken. Sein Redefluß ähnelte im Tempo dem des entfesselten brüchigen Motors, an dem er das Äußerste an Leistungsfähigkeit herausholte. Mit europäischer Höflichkeit, leicht vorgebeugt, nach Verständnis der Bemerkungen ringend, die ihm im Telegrammstil zugefeuert wurden, versäumte Erwin, sich die Gegend zu betrachten, durch die man fuhr. Nur unklar kam ihm zum Bewußtsein, daß die letzten zehn Minuten hindurch eine gleichmäßige, wie eine Hecke geschnittene Wand von Grün an seiner Seite entlang glitt. Es war kein Wunder, daß der Jüngling des Weges nicht achtzuhaben brauchte, da es sich um eine schnurgerade Straße handelte, an der rechts und links, unklar erkennbar, anscheinend hübsch gebaute und mit Veranden versehene Sommerhäuschen lagen. Als er gerade Luft schöpfte und sich umsehen wollte, fuhr ihm eine Tropfengarbe ins Gesicht; im gleichen Moment machte der Wagen eine abrupte Drehung, noch eine ebenso plötzliche Wendung, stolperte ein wenig, fauchte röchelnd auf und hielt vor einer kleinen Villa inmitten von Fichten und kleinen Laubbäumen, welche die Einfahrt schmückten.

»Hier ist Ihr Haus,« sagte der Jüngling mit schöner Überzeugung und mit einer Gebärde, als habe er den ganzen Staat New Jersey zu verschenken. »Nehmen Sie sich Zeit, ich werde Sie begleiten.«

Er zog einen Schlüssel hervor, öffnete die Haustüre und ließ Erwin eintreten.

Vorläufig hielt man sich im Erdgeschoß auf, und der Jüngling wies Erwin einen gepolsterten Stuhl zu, während er sich selbst auf die Fensterbrüstung setzte.

»Yes Sir!« sagte er. »Wenn Sie sich hier umsehen, dann werden Sie bemerken, daß dies das Haus eines gebildeten Mannes ist, eines Mannes, der studiert hat. Ja, er ist auch einmal in Europa gewesen,« und er wies auf eine Reihe von Photographien aus Italien und Griechenland, die die Wand oberhalb des Bücherbrettes verschönten. »Er ist ein Seelsorger, ein sehr feiner Mann, und er betreibt Mission im Judenviertel von New York. Seine Frau ist krank. Die arme Dame muß in Kalifornien eine Kur gebrauchen und da Mr. Merryweather sie sehr lieb hat und nicht ohne sie leben kann, so vermag er es auch nicht, allein hier draußen zu leben, sondern schlägt der größeren Geselligkeit wegen doch lieber sein Quartier in New York auf. Alles steckt voll von Andenken an die arme Dame. Soweit ich Sie aber verstehe, kommen Sie mit Ihrer Frau und den Dienstboten her, das bringt Leben ins Haus, auch wenn es ursprünglich nur als Alterssitz gedacht war für ein behäbiges Ehepaar in reiferen Jahren... Der Prospekt wird Sie darüber aufgeklärt haben, mit wie offenen Armen man hier in Lakewood Fremde aufnimmt, so daß Sie sich fast als Ortseingesessener vorkommen und ungern – ich sage sogar, beinahe schmerzlich – den Moment empfinden werden, wo der Kontrakt abläuft...«

»Wie ist die Lage des Hauses?« fragte Erwin. »Ist ein bischen einsam hier, wie?«

»Aber bester Herr,« rief der Jüngling enthusiastisch und begann mit wilden Schritten den Raum zu durchqueren, »verehrter Herr, sind wir nicht im Handumdrehen hier gewesen? Ein paar Schritte quer durch den Wald bringen Sie auf die Hauptstraße und ein paar weitere Schritte ins Herz des Städtchens. Wieder verweise ich auf den Prospekt. Ist nicht der herrlichste Fichtenwald kostenfrei zu Ihrer Verfügung? Haben Sie nicht sogar Schwimmgelegenheit im See Carasaljo? Stört man Sie hier etwa, wenn Sie geistig arbeiten wollen? Wird Ihnen nicht alles ins Haus gebracht, was Sie an Nahrungsmitteln bedürfen? Das Telephon, es ist wahr, ist nicht in Ordnung, das kann neu gelegt werden und das macht man in zwanzig Minuten – nicht länger – so wahr ein Gott im Himmel lebt und die Worte in meinem Munde zählt!« (Hier überzeugte sich Erwin, daß er es mit einem Irländer zu tun hatte.) »Ich kann Ihnen gratulieren, nur herzlich gratulieren. Sie haben es gut getroffen, Sie sind ein Glückspilz. Ich habe mir im Bureau schon gedacht, wie Sie die Faust, ohne nachzudenken, fest auf das Bild dieses Hauses legten: Der Mann hat Geschmack, der Mann weiß was Gutes zu schätzen. Greifen Sie zu. Ich rate Ihnen nicht bloß als Geschäftsmann, sondern als Freund, der die Gefühle eines Fremden zu würdigen vermag.«

Nach diesem Erguß sah er Erwin mit toten Augen an, in die diesmal etwas wie ein gespensterhaftes Licht trat. Breitbeinig stand er da, die Hände in den Hosentaschen, ein Bild schlichter Überzeugungskraft.

Und Erwin schlug vor, das Haus noch gründlich zu betrachten. Zunächst ging man in den Keller, wo eine elektrische Pumpe neuesten Fabrikates in Betrieb gesetzt wurde, dann sah man sich die Küche an, dann die oberen Räumlichkeiten; alles war nett, sauber, gute Holzarbeit, solide Möbel, voll von verzeihlichen, vertrauenerweckenden, altmodischen Kinkerlitzchen; es gab sogar Makartsträuße und ein aus Perlmutter verzwickt gefertigtes Bild, das »Seeleute in Not« oder die Insel Capri vorstellen konnte; kurzum, es fehlte nichts, was zu einem gedeihlichen Landaufenthalt an städtischen Bequemlichkeiten nötig war. Sogar Mückennetze waren vor den Fenstern, wie er sich unlieb überzeugen mußte, als er den Kopf herausstecken wollte und mit der Stirn ein Dreieck in das Drahtgeflecht stieß. Das Badezimmer war ein Traum aus weißen Kacheln, Steingut und fehlerfrei lackiertem Blech; das laufende Wasser funktionierte auf den leisesten Druck mit starkem Strahl, der mit dem taktmäßigen Geräusch der Pumpe unten harmonierte. Es war eiskalt trotz der Glut. Er fand auch gar nichts, worauf er seinen Finger legen konnte und sprechen: »Hier, verehrter Freund, straft die Wirklichkeit Sie Lügen.« Und nachdem er das ganze Cottage eingehend geprüft hatte, ging er hinten herum, fand alles zu einer gedeihlichen Hühnerzucht Notwendige, einen Holzstall und einen zur Not brauchbaren Automobilschuppen, sogar ein Hundehaus, das ebenso neu und brauchbar schien wie der ganze übrige Besitz. Zudem kam die Sonne während seiner Inspektion hervor und erfüllte die ganze Gegend mit Duft und Heiterkeit.

Freilich, als sie sich wieder in den Wagen setzten, brach der Regen von neuem aus. Sie sausten im gleichen Tempo zurück, wie sie gekommen waren. So konnte Erwin mit bestem Willen von der Hauptsache, nämlich von dem Distrikt, in dem das Haus lag, keinen festen Begriff gewinnen. Er tröstete sich aber mit dem Gedanken, daß man ein kleines Juwel wie dieses Haus kaum in eine ganz reizlose Gegend gebaut hätte, ohne gröblich gegen alles Stilgefühl zu verstoßen.

Er war schuldlos ...

Einzug

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Nachdem zwei rothaarige Irländerinnen, beide wenig erfreulich, der jungen Frau »Audienz gegeben« und sich dahin entschieden hatten, daß die neue Herrschaft ihnen nicht ganz entsprach, erschien Madleen. Zunächst machte sie den Eindruck, als könne man sie nur mit der Feuerzange anfassen. Ihre Haut war schmutzigbraun mit speckigem Glanz darüber, der aber, wie sich später herausstellte, ein Naturphänomen war und nichts mit Unappetitlichkeit zu tun hatte. Sie wog etwa zweieinhalb Zentner und war in strahlend weißes, gestärktes Leinen gekleidet, das pittoresk von ihr abstand, wenn sie sich einmal setzte; doch trotz ihres Gewichtes setzte sie sich selten und nahm ihre Aufgabe mit großem Temperament, in Angriff. Ihr Haar war nicht wollig, sondern deutete durch strähnige Qualität kubanische Herkunft an, wenn sie sich auch sonst wenig von den Negern unterschied, die man an der Ostseite etwa der hundertundzehnten Straße bemerken kann.

Mildred versuchte sofort, ihr englische Disziplin geläufig zu machen, indem sie ihr ein weißes Häubchen vorschlug und einen Wechsel in der Erscheinung von sechs Uhr abends an: Bedingungen, die sie sofort annahm, da sie über ein neues Schwarzseidenes verfüge. Doch immerhin geriet sie zunächst in einige Nervosität, weil sie es ihrer neuen Herrschaft gleich von Anfang an recht machen wollte und mehrmals in das richtige Tempo zurückgedämmt werden mußte. Ihre Sprache war ein sanftes, sehr gutturales Schnattern, ganz aus der Kehle. Sie lachte häufig und entblößte einen Kranz von starken Zähnen dabei.

Es gefiel ihr, daß sie aufs Land kam. Ihre Begriffe von Land hatte sie aus dem Süden. Es schwebte ihr ein wuchernder Horizont dabei vor aus Mais, viel strotzendem Mais, von bunten Kopftüchern gesprenkelt, und Singsang-Abende bei Feuern, die man mit trockenen Kolben nährt. Sie träumte davon, aus dem Vollen wirtschaften zu können. Ihre Seele witterte einen seit noch wenig Generationen verschollenen Erdgeruch.

Sie übernahm von vornherein die Führung des heimatlosen Paares, und da sie äußerste Bedürfnislosigkeit verriet, wurde Mildreds umschattetes Auge etwas weniger kritisch, während sie diese Ausstellung von Naturinstinkten betrachtete; ihre feingeschnittene leicht gebogene Nase gewöhnte sich an den typischen Dunst, in den das Negerweib gehüllt war. Dieser Dunst glich der Erinnerung an einen Stall, in dem reinrassige Tiere gezüchtet werden; und Mildred hatte ein Auge für Rasse, wo und wie sie sich auch äußerte.

Weniger Glück hatte in ihren Augen der »junge Mann« im weißen Flanell, der sich bereits auf dem Bahnhof einfand. Was es war, das seinen toten Augen wiederum jenes gespenstische, kurze Licht gab, ließ sich nicht genau erkennen. Auf alle Fälle fiel es auch Erwin auf, daß der Blick des Mannes etwas Lauernd-Gläsernes, fast Starres hatte. Vielleicht war dies erklärlich durch Schrumpfung der Pupillen nach starker Inanspruchnahme eines Narkotikums. Auch fiel Erwin diesmal eine Note im Wesen des Vermittlers auf, die ihm auf einmal nahelegte, er könne sich leicht in der Altersabschätzung des »Jünglings« um einige fünfzehn Jahre vergriffen haben.

»Ich habe alles in prächtigster Bereitschaft für Sie«, knarrte die eilige Begrüßung. »Das Haus funktioniert vom Dach bis zum Keller. Auch die Mistreß wird sich prächtig einleben. Dies ist ein ruhiger Ort, so ruhig, wie ein Mann, der mit dem Hirn arbeitet, sich nur wünschen kann. Es ist eine ideale Ruhe. Hehe! Und die Nachbarschaft –« (hier saßen sie schon selbviert im Auto und der Sprecher am Lenkrad) – »die Nachbarschaft ist sehr originell. Ein Studium wert! Alles freundliche Leute, zuvorkommende Leute, die auch die Ruhe über alles schätzen«.

»Der Kerl gefällt mir nicht«, flüsterte Mildred kurz und bündig Erwin zu, während Madleen etwas verschüchtert ihre öligen Augen in der Gegend umherrollte.

Das Auto war bereits in einen so sausenden Takt geraten, daß nur noch Fetzen des Gespräches von vorn verständlich waren: »Balsamisches Klima« – »Tausende gesund geworden« – »Leute kommen als Ruinen und scheiden als Stiere« – »Fichtenduft« – »Ozon« – »prächtige Verbindung« – »Golfplatz« –

In diesem Moment machte das Gefährt die frühere schlenkernde Kurve, bohrte sich im rechten Winkel in den Wald und hielt wie damals mit atemraubendem Ruck vor der Einfahrt zum Häuschen. Der »Jüngling« gab noch eine kleine Probe großer Lebendigkeit, indem er über die geschlossene Klapptüre sprang, die Schlüssel dem neuen Hausherrn fast schelmisch zuwarf und sich in überflüssiger Weise um die Herausbeförderung der dicken Negerin bemühte.

Man ging ins Haus und in einer Sekunde lag der Kontrakt, reif für die Unterschrift, auf dem Tisch.

»So, mein Herr, jetzt fehlt nur noch Ihre und Ihrer Frau kleine Signatur und dann kann man Ihnen endgültig gratulieren. Sie bekommen es billig«, und mit einem fast bedauernden Schnalzen wiegte er den Kopf.

Erwin setzte nach kurzer Überlegung seinen Namen darunter. Indem er Mildred die Feder reichte, bat er sie, das Dokument vollgültig zu machen.

Es gibt Momente, in denen man auf einen flüchtigen, unkontrollierbaren Verdacht kommt, irgend etwas Wichtiges werde versäumt, etwas nie wieder Gutzumachendes bettle um Rücksichtnahme, ohne daß man klar verstünde, was diese lautlose, äußerst dringliche Frage bezwecke... Ja, alle Dinge ringsum bebten von dieser Frage, und eine kurze Lähmung schien herabzufallen wie ein Hauch, der die Politur einer Platte huschend erblinden macht. Mildred saß mit der Feder in der Hand da. Auf einmal warf sie sie hin und ging auf die Veranda hinaus, zitternd von der Anstrengung, sich zu vergegenwärtigen, was eigentlich an der Unternehmung sie so schmerzhaft störe.

Draußen traf ihr Blick in Grün. Zwei hübsch angelegte Beete, etwas verwildert, waren dem sandigen Boden entwunden worden; halbentblätterte, violette Azaleen und ein Tulpenbaum, dessen verdorrte Blütenhülsen von früherer, prangender Entfaltung zeugten, standen im Zentrum. Es war eine ausgedehnte Lichtung vor dem Haus. Sie sah die Straße blinken und die Nähe der Straße schien ihr plötzlich Mut zu geben, als habe sie, wie ein erstickender Taucher, plötzlich das Ventil gefunden, durch das sie atmen konnte. Die schnelle Bedrückung war vorüber, es war nur noch eine leise Angst vor irgend einer dunklen Verantwortung zurückgeblieben, die sie sich nicht zu enträtseln vermochte. Alles was sie sagen konnte, als sie zögernd zurückkam, war:

»Es scheint mir ein wenig still hier zu sein.«

Und sie schnitt dem Vermittler, der gerade zu einer neuen Suada ausholen wollte, das Wort kurz ab, indem sie hinzusetzte: »Aber das Haus ist ja ganz und gar, was ich mir wünschte.«

Ja, innerhalb des Hauses schien plötzlich alles sehr traulich und einschmeichelnd zu ihr zu reden. Waren die Linien der Fenster nicht die breiten, niederen, ausladenden der Landhäuser in Sussex? War diese Vertäfelung nicht anheimelnd? Diese erinnerungsbelasteten, starkgebauten Möbel, diese klassische Bibliothek, dieser Kamin und die gewundene Holztreppe, die ein weiteres Asyl eröffnete in eine Reihe kleiner, engumgrenzter, handlicher Gemächer? Kurz war das ganze Haus nicht, als habe sie es selbst erfunden, um sich über diesen Teil der Welt, der sie nicht losließ, der ihr wie ein Kerker schien, mit einem Kindheitstraum hinwegzutäuschen? »Es ist ja nicht für die Ewigkeit«, sagte sie sich noch einmal und grub die Schneidezähne leicht in die volle Unterlippe. Es wird vorübergehen, so oder so. Sie hörte bereits den wuchtigen Schritt des Negerweibes von oben und ihr gurrendes Selbstgespräch ... Ja, dieses Geschöpf war überall zu Hause und setzte sich in jeder Umgebung breit zurecht, wie es ihren ursprünglichen Instinkten entsprach. Warum sind wir so anspruchsvoll?

Und kurz entschlossen setzte sie sich nieder und fügte ihren Namen bei.

Eine kleine Unbehaglichkeit verursachte ihr noch die diebische Bewegung, mit der der Vermittler das Dokument in seine Tasche zauberte; er war aber sonst eitel Kordialität, sein Gemüt schien beruhigt, seine Augen wieder vollständig ausdruckslos, Knöpfen gleich, die einen Regenhimmel spiegeln.

»Ich empfehle mich Ihnen! Viel Vergnügen in Ihrem neuen Heim!« sagte er mit eingelernter Betonung, als sei die Phrase ihm dauernd geläufig. »Wenn Sie meine Dienste beanspruchen, so stehe ich jederzeit zur Verfügung.« Mit diesen Worten war er bereits draußen. Der Motor schnurrte ruckweise keuchend und fand dann sein gleichmäßiges Geräusch, das schnell hinter der nächsten Wegbiegung sickernd erlosch.

Die Beiden saßen sich noch am Tisch eine Weile gegenüber. »So da wären wir jetzt«, sagte Erwin. »Ich finde es erträglich hier.«

»Ja, das Haus ist hübsch«, meinte sie. »Und mit der Umgebung – sie hat ja vielleicht auch ihre Reize, und wir werden uns ja daran gewöhnen. Morgen früh wollen wir gleich einen kleinen Spaziergang machen nach dort draußen«, und sie wies nach der Straße hin, »wo man mehr von der ›Aussicht‹ hat. Dann bekommt man wenigstens einen Begriff von der Landschaft.«

»Fühlst du dich etwa hier eingesperrt?« fragte Erwin. Eine Pause entstand.

Dann kam die Antwort... Sie war ein halb tonloses: »Ja – Irgend wie – Ich weiß nicht recht....«

Man richtete sich ein und war für Stunden beschäftigt. So war man ziemlich müde, als man ins Bett ging.

Doch trotz der großen Müdigkeit schliefen sie nicht so schnell ein, als sie vorhatten. ›Es ist die ungewohnte Stille nach dem Stadtlärm‹, dachten sie.

Verschiedene Geräusche wurden hörbar. Aus der Kammer unter dem Dach kam zuweilen ein asthmatisches Schnaufen und das Krachen des Bettgestells, in dem Madleen sich umdrehte. Aus dem Keller drang das Ticken der abtropfenden Pumpe. Diese Laute standen seltsam vergrößert in einer unnatürlichen Schwärze, in die kein Stern blinkte.

Aber der Wind war geschäftig und bewegte die Blätter, deren Geräusch die Verwandtschaft mit dem Lebendigen wieder zu besiegeln schien.

Der Hügel

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Sie erwachten beide fast gleichzeitig, ungewohnt früh. Eine Schwarzwälder Uhr, die der Vermittler während der gestrigen Inspektion aufgezogen, rief ihr eiliges, etwas heiseres »Kuckuck« herauf. Gleichzeitig schwammen von draußen Wellen von Hahnengeschrei herein, ungleichmäßig durcheinanderwogend, so daß die einzelnen spitzen Trompetenstöße nur als verworrene Masse zur Geltung kamen. Eine Unmenge Hähne schien in wütenden Wetteifer verfallen. Vollkommen wagrechtes, hellgoldenes Licht stahl sich ins Zimmer. Doch die übliche Morgenbegrüßung der Singvögel, wie man sie wenigstens vereinzelt an den Hügeln des Hudson zu hören bekommt, blieb vollkommen aus. Die ganze Gegend schien von Hähnen gepachtet.

Die Treppenstufen erzitterten jetzt, als werde ein schwerer Sack mühsam hinuntergestoßen. Das war Madleen, die zur Arbeit ging. Seltsamerweise hörte man kein Geräusch von Küchengeräten, kein Poltern oder Klirren, sondern nur die dumpfen Erschütterungen des Hauses, die ihre Schritte begleiteten. Wieder wunderten sie sich über die fast groteske Lautlosigkeit der schweren Person. Das Frühstück stand bereit, als sie herunterkamen. Alles blitzte morgenfrisch und heiter. Nachdem die »Times« genossen war, die Erwin sich aus dem Postkasten an der Straße geholt, erinnerten sie sich ihrer Absicht, eine Entdeckerfahrt zu machen. Sie wurden diesmal verschont von jenen flüchtigen Bedrückungsgefühlen, mit denen sie am vorigen Tag zu kämpfen gehabt.

Der Fichtenwald, der das Haus umgab, öffnete sich in einer längeren Einfahrt, die von großblättrigen Ahornen und drei oder vier verschiedenen Eichensorten gesäumt war. Ungefähr hundert Schritte brachten sie auf die Straße, die gelb durch die Bäume schimmerte. Auf der gegenüberliegenden Seite lagen einige schmuck gebaute, etwas verwahrloste Holzhäuser von villenartigem Charakter mit breiten Veranden, auf denen jetzt schon in dieser frühen Morgenstunde – es war kurz nach sieben – verschiedentliches Leben sich rührte. Verwaschene Blusen bewegten sich rhythmisch hinter dunkleren Holzgittern: die Damen der Spruce-Street waren bereits wach. Sie waren nicht nur wach, sondern sie schienen sich auch schon von etwa getaner Arbeit auf Schaukelstühlen auszuruhen. Hinter einem Hause näher der Überlandstraße zu schoß mit eilfertigem Geknatter ein Ford-Wagen heraus und verschwand in einer durchsichtigen Staubwolke. Der Geschäftsbetrieb des nahen Ortes streckte einen einzelnen Fangarm also auch hierher aus.

Sie waren einen Moment unentschlossen, dann machten sie sich auf, um in entgegengesetzter Richtung die Landschaft zu erforschen, die hinter der nächsten leichten Kurve der Spruce-Street sichtbar zu werden versprach. Erwartungsvoll schritten sie darauf zu. Nach fünf Minuten erkannten sie, daß es sich um keine Kurve handelte, sondern nur um eine kleine Schlingung der sonst schnurgeraden Straße. Und die Landschaft?– – –

Wie ein gelber Pfeil bohrte sich diese schlichte Straße vor ihnen durch den Wald. Den Seiten entlang rann eine gleichmäßig ermüdende Wand von Fichtenstämmen, und es war kein Wechsel in diesen Stämmen. Sie waren alle jung, und einer sah aus wie der andere. Da war kein knorriger Ast, der drohend herübergewuchtet hätte; keine Wurzel, die von Kraftdrang entstellt und sich bäumend, in den Weg gekrochen wäre. Da gab es keine turmhohen Fichten, Väter eines Wäldchens etwa, segnend über kleinerem Gewimmel schwebend ... Nein, was sie sahen, war eine große Schonung, eine mathematisch abgezirkelte kompakte Masse von Jungholz, die in ihrer trostlosen Einförmigkeit tief bestürzte ...

Ganz weit oben schien die Straße sich zu heben: ha! es gab dort etwas! Es gab dort die Erlösung! Mit halbem Seufzer bauten sie Schlösser von Hoffnung auf diesen fernen Hügel...! Die Straße war sandig. Bei jedem Schritt sank der Fuß zur Hälfte ein. Die Sonne, aus hellblauem Himmel, stach. Sie gingen tapfer vorwärts, beflügelt von der Sehnsucht nach dem Hügel.

»Du wirst sehen,« meinte Erwin, »dort ändert sich das ganze Bild. Irgendwo muß doch die Landschaft stecken.« Er sah auf die Uhr, es war halb acht. Sie gingen und gingen.

Mildred war verstummt. Das fröhliche Pläneschmieden, womit sie die morgendliche Frühstückszeit ausgefüllt, war versiegt. Sie blickte mit ihren grauen Augen streng in die Richtung des Hügels wie jemand, der ein Wunder erwartet, von dem er sich kaum eine baldige Erfüllung verspricht. So schritt sie vor ihm her, zäh mit ihren tapferen schlanken Beinen, und ihre weiße Gestalt auf der gelben funkelnden Fläche hatte etwas Einsames.

Die Häuser waren zurückgetreten; das letzte lag bereits eine halbe Meile hinter ihnen. Und der Hügel? – Die ganze Zeit über war er von ihnen wie eine Fata morgana hinweggerückt; jetzt deutete sich eine gewisse Abwechslung an durch ein sehr weitläufig gebautes, beinahe prächtiges einstöckiges Haus, das aus einem Klumpen von Laubbäumen trat. Auf einmal, wie durch eine Laune der Akustik, schlug ihnen der entfesselte Strom desselben Hahnengebrülls entgegen, das ihren Morgentraum durchklungen. Ein mißfarbener, zottiger Hund stürzte hervor, in tiefstem Hasse bellend; blieb wie angenagelt, mit gespreizten Beinen vor ihnen stehen und schritt dann, mit mürrischem Achselzucken gleichsam, zögernd zurück. Etwa fünfzig langgestreckte Kästen aus Fichtenholz wurden sichtbar, zwischen ihnen wimmelte es weiß durcheinander: Eine Hühnerfarm ...

Zwar keine Zucht, wie man sie in Europa kennt, von drei oder vier Dutzend bunter, gemächlicher Hennen oder schläfrig umherprunkender Hähne: nein – es war eine Masse von weißen, mageren »Leghorns«, die nach Abertausenden zählten, und über denen ein stechend-süßlicher Geruch von hellgrünem Kot stand, der, von rohen Maiskörnern untermengt, wie eine Guanoschicht den Boden verpestete. In diesem Element wateten sie mit ihren gelben, eintönigen Beinen, ermüdend gleichförmig anzusehen, und pickten wie Maschinen, jedes denselben Fraß.

»Sie sind im Kleinen« schoß es Erwin durch den Kopf –: »wie ein Bild der Bevölkerung hier. Sie waten in den Bodenschätzen umher; wenn eines eine Feder von abstechender Farbe besäße und damit kokettierte, es wäre seines Lebens nicht sicher. Nur dadurch, daß sie alle weiß sind und in Masse handeln und fressen, existieren sie. Ihre Eier müssen unsagbar fad schmecken...«

Ein vierschrötiger Mann mit semmelblonden Stoppelhaaren und hervortretenden Augen erschien in der Entfernung mit einer Harke bewaffnet. Einen Moment schob er seinen breitrandigen Strohhut aus der Stirn und starrte mit wasserblauen Augen herüber. Dann, als Erwin ihm zurief: »Ein schöner Morgen, wie?« grunzte er etwas Unartikuliertes und begann die Ställe zu reinigen. Er begann mit Nr. I und war bereits bei Nr. 3, als sie weitergingen.

»Wenn der Mann das jeden Morgen macht, vielmehr tagtäglich von morgens bis abends, muß er jede Menschenähnlichkeit verlieren,« dachte Erwin. »Aus diesem Nachbarn wird nicht viel herauszuholen sein.«

Nach weiteren zehn Minuten schienen sie auf halber Höhe des Hügels zu sein. Da ereignete sich etwas Erstaunliches: die breite Straße hörte plötzlich auf.

Sie war einfach wie weggeblasen, ganz und gar zu Ende.

Das plötzliche Gefühl, in eine Sackgasse geraten zu sein, wirkte mehr als beklemmend. Es war, als ob die Fichten eine plötzliche Verschwörung eingingen, sie einzufangen und nicht mehr herauszulassen...

Da, wie eine Erleichterung nach kurzem Asthma, öffnete sich ein kleiner Seitenpfad. Wie erlöst schritten sie darauf zu. Es hatte den Anschein, als ob er auf die Spitze des Hügels führen müsse. Sie stiegen. Sie sahen verstreuten weißen Schimmer, als ob dort ein Steinbruch sei. Auf einmal jedoch sprang ihnen die Bedeutung dieser Steine plump ins Gesicht: – es war ein Friedhof.

Grob gehauene Kreuze traten hervor, poliert, aus Rosengranit oder Marmor. Die Gräber waren wie nach der Schnur gerichtet, quadratisch zerteilt von sandigen Wegen. Eine einzige Trauerweide, ganz auf der Spitze, deutete den hilflosen Versuch zu gärtnerischem Schmuck an.

Mildreds Gesicht bekam etwas Maskenhaftes.

»Mir schwante so etwas«, sprach sie leise, als sie sich unter der Weide niederließen. »Es mußte so kommen, Erwin, es ist grausig. Soll dieser Friedhof und diese Hühner nun unsere Welt sein? Mir ist, als müßten nun all unsere hübschen Zukunftspläne in diesem sandigen Friedhofs-Stumpfsinn enden...«