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Heart of Sky:

Astrala

von Alice Camden

 

Impressum

© dead soft verlag, Mettingen 2017

http://www.deadsoft.de

 

© the author

 

Cover: Irene Repp

http://www.daylinart.webnode.com

Bildrechte:

© ArtOfPhotos – shutterstock.com

© sdecoret – shutterstock.com

 

1. Auflage

ISBN 978-3-96089-108-6

ISBN 978-3-96089-109-3 (epub)

 

Inhalt:

Jake, ein junger Space Ranger, der sowohl unter der Narbe in seinem Gesicht als auch unter seinem brutalen und eintönigen Job leidet, wird auf einem Routineflug von Piraten gefangen genommen.

Ausgerechnet in die Hände des schönen und berüchtigten Kinan Astrala muss er geraten!

Doch statt ihn zu töten, schlägt Astrala ihm einen Deal vor und Jake wird unfreiwillig Teil der Mannschaft der legendären „Heart auf Sky“.

Er verliebt sich in den Piratenkapitän – bis er endlich das Geheimnis des mysteriösen Mannes entdeckt. Jetzt muss er sich entscheiden: Wird er Astrala bei seinem Wahnsinnsplan unterstützen?

 

Kapitel 1

 

Jake presste einen Handballen auf sein künstliches Auge. So heftig stach der Schmerz hinter seiner Stirn, dass sich alle seine Muskeln gleichzeitig anzuspannen schienen. Unter einem leisen Stöhnen sah er zu Boden. Die dunkle Fläche schien das qualvolle Gefühl aufzusaugen. Einen Augenblick später atmete er erleichtert aus und ließ seine Hand beruhigend über sein Gesicht gleiten. Das gleißende Licht in der Abflughalle des Raumhafens, die ständig wechselnden Bilder der Monitore, die vor jeder Sitzreihe schwebten, das war zu viel für sein billiges Auge. Wieder einmal war es überreizt und alles, was der Chip darin bewirkte, war dieser pulsierende Schmerz, der tief in Jakes Kopf drang.

Doch jetzt ließ das quälende Stechen langsam nach. Jake streckte seine langen Beine von sich und lehnte sich dankbar mit dem Rücken an das dicke Polster der Wartesessel. Mit einem Finger strich er nachdenklich über das schwarze Comarmband an seinem Handgelenk. Nichts leuchtete auf. Keine Nachrichten oder Anweisungen waren angekommen. Erleichtert blickte Jake vom Boden der Abflughalle zu seinen schwarzen Stiefeln. Vielleicht hatte er einfach zu wenig geschlafen?

Der gestrige Einsatz war wirklich anstrengend gewesen. Die Bilder des sterbenden Gentechs, der blutend am Boden lag und röchelnd seine Hand nach ihm ausstreckte, hatten ihn bis in die Nacht verfolgt.

Jake lehnte sich leicht nach vorne. Eine hellbraune Haarsträhne fiel über sein künstliches Auge. Könnte er doch nur die Erinnerung einfach aus sich herauslaufen lassen, dachte er erschöpft. Mit zwei Fingern strich er die Strähne zur Seite und ließ sich mit einem leisen Seufzen zurück gegen den Sessel fallen. Ihm war, als würde das viele Blut, das er gestern gesehen hatte, plötzlich durch den Hallenboden aufsteigen. Seine Erinnerungen vermischten sich damit und Übelkeit stieg aus seinem Magen.

Nachdenklich knetete Jake die Finger seiner rechten Hand. Nicht noch so ein Einsatz! Bitte, in den nächsten Monaten brauchte er keine weiteren toten Gentechs. Sie sahen aus wie Menschen, starben wie Menschen. Nun, sie waren aus einem Zellcoktail in einem Labor entstanden und somit keine Maschinen. Sie waren aus Fleisch und Blut.

In der Hoffnung, das geschäftige Treiben in der Abflughalle würde ihn ablenken, blickte Jake zur Seite.

Plötzlich rührte sich sein Sitznachbar, rappelte sich auf und beugte sich soweit zu ihm, dass sein blondes Haar Jakes Ohr kitzelte. Jake musste grinsen. Davey kam ihm oft noch sehr jung vor. Er flüsterte und klang dabei schüchterner als sonst.

„Meinst du, wir können uns auf dem Flug ein Quartier teilen?“ Dann setzte er sich zurück, ein schmales Lächeln im Gesicht.

„Geht klar“, hauchte Jake und versuchte, Davey dabei nicht anzusehen. Unauffällig blickte er über seine Schulter.

Die meisten seiner Kollegen genossen die gepolsterten Wartesessel oder hielten ein Schläfchen. Jake lag nichts daran herauszufinden, wer von seinen Kameraden von einem der aufgeschlossenen Planeten stammte, wo man kein Problem mit einem Ranger und einem Kompaniekoch hatte, die Männer in ihrem Bett bevorzugten. Zu viele dieser Jungs waren, wie er, am Rande des Systems beheimatet, weit entfernt von den zivilisierten Gebieten im Zentrum. Dort, wo die Fabriken unaufhörlich Schmutz in die dünne Atmosphäre bliesen und zwischen Armut und Verzweiflung Brutalität und Hass blühten. Besser man teilte denen nicht mit, dass man nur Männer anziehend fand. Am Ende würde sich einer von ihnen noch bedroht fühlen. Jake wollte nicht daran denken, was dann passieren würde.

Er antwortete Davey mit einer abwehrenden Handbewegung. Zum Glück verstand der sofort. Er nickte und sah ohne ein weiteres Wort über Jake hinweg in die Abflughalle. Neugierig lenkte Jake seinen Blick ebenfalls dorthin.

 

Eine Familie nebst Kleinkind eilte an ihm vorbei in Richtung Ausgang. Aus den Augenwinkeln sah Jake, wie das blonde Mädchen in dem roten Kleid an der Hand seiner Mutter hing. Das kleine Gesicht hatte sich grünlich verfärbt und jetzt übergab sich das Mädchen auch noch auf den Boden.

Jake drehte nicht einmal den Kopf zur Seite. Seit er Mitglied der Planet Rangers war, konnte nur noch wenig Ekel in ihm hervorrufen. Leid, Elend, blutende Menschen, sterbende Gentechs, die wie Menschen wirkten, all diese Dinge gehörten seit sechs Jahren zu seinem Alltag.
Jetzt hatte die Mutter das weinende Kind auf den Arm genommen. Der Vater brüllte nach dem bulligen Gentech mit dem leeren Gesichtsausdruck, der mit einem schwebenden Eimer unentwegt die Halle durchquerte. Der Arbeiter kam schwerfällig angeschlurft und begann, den Boden zu säubern. Ob sie ihn wohl so gezüchtet hatten, dass es ihm nichts ausmachte, den Dreck der Menschen aufzuwischen? Hatten sie dem Arbeiter im Gentech-Labor diese Eigenschaften verpasst? Nicht dass er viel davon verstand, aber Jake fragte sich manchmal, was in den Köpfen der gezüchteten Kreaturen vorging. Fühlten sie wie Menschen? Fühlten sie überhaupt etwas? Gentechs waren billiger in der Produktion und weniger störanfällig als Roboter, das war der Grund ihrer Existenz, so hatte es Jake zumindest gelernt.

Zum Glück lösten sich diese Gedanken bald auf. Er war ein Planet Ranger und ein Teil seiner Aufgabe war es, entlaufende Gentechs unschädlich zu machen. Das war sein Job! Wenn sie ihm etwas in der Kurzausbildung beigebracht hatten, dann, dass es für die eigene Lebenserwartung besser war, keine Fragen zu stellen.

Er blickte zur Familie und überlegte, was wohl anstrengender war. Mit einem Kleinkind zu reisen oder mit einer Horde Rangers, die sich jede Nacht sinnlos mit dem Alkohol betranken, den sie den Schmugglern abnahmen? Wahrscheinlich waren seine Kameraden pflegeleichter, wenn er sich das Mädchen so betrachtete. Dieses wand sich inzwischen schreiend auf dem Arm seiner Mutter und zerrte heftig an deren Haaren.

Ja, er war bereit für den nächsten Einsatz. Bereit für den nächsten Felsen im All, den nächsten Dauerregen, die nächste Hitzewelle und die nächsten Monate, eingepfercht mit einem Trupp Ranger, die auf engstem Raum mit ungenießbarer Verpflegung hausten.

Für einen Moment huschte sein alter Traum durch seinen Kopf. Navigator hatte er werden wollen, damals, als er seinen Heimatplaneten verlassen hatte. Lächerlich. Wie sollte er das Geld für diese anspruchsvolle Ausbildung jemals verdienen?

Nur einen Augenblick später stieß ihn Davey mit dem Ellbogen an. Unvermittelt schreckte Jake aus seinen Gedanken auf.

„Wow, schau mal dort“, flüsterte Davey aufgeregt und deutete mit dem Kinn über Jakes Schulter in die Halle. Langsam drehte Jake seinen Kopf in die gezeigte Richtung. Der Kleine klang so begeistert und tatsächlich, wer da auf dem glänzenden Hallenboden angeschritten kam, war jeden Blick wert.

 

Drei Personen bewegten sich anmutig auf die Frachter-Ausgänge zu. Inmitten all der Familien, Geschäftsreisenden und Rangers wirkten diese drei sonderbar. Wie schöne Farbkleckse, die zufällig auf ein schwarz-weiß Bild gefallen waren, sahen sie aus.
Neben zwei Männern schritt eine schlanke Frau, Ende zwanzig, mit einem Gesicht wie von einem der wunderschönen Hologramme, die zu teuer für einen Planeten wie diesen waren. Sie trug eine enge, dunkelrote Tunika über einer schmalen, schwarzen Hose und hohen Stiefeln. Ihr langes, blondes Haar war zu einem hohen Pferdeschwanz gebunden, ihr Gesichtsausdruck stolz und überlegen. Sie erregte sofort Aufsehen unter den Männern, die im gleichen Abschnitt wie Jake saßen. Er sah, wie einige der anderen Rangers sich in ihren Sesseln vorlehnten und die Frau ungläubig anstarrten. Jake konnte es ihnen nicht verdenken. Hätte er Frauen bevorzugt, wäre diese seine erste Wahl gewesen.

Neben ihr lief ein Mann, Anfang fünfzig vielleicht, groß gewachsen und muskulös, mit einem verwegenen Gesichtsausdruck. Er trug eine Lederweste über einem schwarzen Hemd und einer Lederhose. Unter seinem kurzen T-Shirt war ein auffälliges Tattoo sichtbar, das Jake auf die Entfernung nicht genau erkennen konnte. Aber er war es nicht, der Jake den Atem nahm. Nein, das war der zweite, der jüngere Mann!

Mit der Eleganz einer Raubkatze schritt er vor den anderen und schien die Gruppe anzuführen. Alles an diesem Kerl war beeindruckend, Jake konnte sich kaum entscheiden, wo er zuerst hinsehen sollte. Der Mann war der größte der drei, etwa so groß wie Jake selbst. Das schwarze Haar war an den Seiten kurz geschnitten und etwas länger über dem Kopf, glänzte im kalten Licht der Abflughalle. Ein paar dunkle Strähnen fielen ihm lässig in die Stirn. Über einem grauen Hemd, das aussah, als wäre es ihm auf den eleganten Körper geschneidert worden, trug er einen locker umgeschnallten Waffengürtel. Der enthielt natürlich keine Waffen, das Tragen von Solarshooters war auf dem ganzen Planeten den Rangers vorbehalten. Dem Gürtel folgte eine dunkelgraue Hose aus einem Funktionsstoff, die ebenfalls wie für ihn gemacht aussah. Sie steckte in Stiefeln, ähnlich wie Jake sie trug. Halbhohe Einsatzstiefel, die mit Schnallen geschlossen wurden. Beide Hände wurden von schwarzen Handschuhen verborgen.

Jetzt war die nicht zu übersehende Gruppe fast auf einer Höhe mit Jake. Er schluckte trocken. Unruhig rutschte er in seinem Sessel hin und her und hoffte, niemand bemerkte, wie aufgewühlt er war. Warum war er überhaupt aufgeregt? Die Vereinigten Planeten waren voller schöner Männer und dies war nicht der Erste, den er aus der Nähe sah. Es ist sein Gesicht, dachte Jake und nickte unwillkürlich zu seinem Gedanken. Dieser Kerl hatte ein Gesicht, wie Jake es an keinem Menschen jemals gesehen hatte. Perfekt geschwungene Lippen, rot und sinnlich wirkten sie. Eine ganz gerade Nase, hohe Wangenknochen, ein markantes Kinn und die schönsten mandelförmigen Augen, die Jake sich vorstellen konnte. Eine dunkle Glut leuchte so intensiv daraus hervor, dass es Jake fast den Atmen nahm. Dichte Wimpern rahmten sie ein und blinzelten nicht ein einziges Mal. Dieser Mann war vielleicht Mitte Zwanzig und schritt so gelassen durch die Halle, als wäre er einer der märchenhaften Herrscher der Freien Zone.

In diesem Moment waren die drei auf der Höhe seines Sessels angelangt. Jake ruckte unruhig mit dem Bein und bevor er wegsehen konnte, traf sein Blick für einen Wimpernschlag den des schönen jungen Kerls. War das etwa ein Augenaufschlag gewesen, für ihn? Nein, natürlich nicht, er musste sich getäuscht haben. Etwas in Jakes Magen zuckte unruhig, doch es war nicht die geringste Regung in dem Gesicht des fremden Mannes zu entdecken. Ohne irgendwelche Hast bewegten sich die drei zum Ausgang für die Besatzung von Frachtschiffen.

„Was für ein Weib, was, Greeny?“, rief Larry, einer seiner Kumpel, von einer Sitzreihe weiter hinten.

Jake drehte den Kopf zu ihm und grinste breit. Dann hob er zustimmend den Daumen. Larry nickte. Gut, dachte Jake, das wäre geklärt.

„Was für ein Mann“, flüsterte Davey.

Dieses Mal war Jake schlauer und lehnte sich nicht zu ihm. Er zwinkerte Davey mit einem schiefen Grinsen zu. Ja, was für ein Mann, dachte er und sah zum Seitenausgang am Ende der Halle.

„Ein Frachtschiffcaptain und seine Crew?“, fragte Davey neugierig und starrte mit leuchtenden Augen zum Ausgang, durch den der sagenhafte Kerl gerade verschwunden war.

„Hmm“, brummte Jake.

Wie die Hände unter diesen Handschuhen wohl aussahen? Ob sie ebenso schön wie der Rest des Mannes waren? Nachdenklich strich Jake durch sein Haar und betastete unwillkürlich die Narbe, die je eine Fingerkuppe lang oberhalb und unterhalb seines künstlichen Auges verlief.

 

„Ein Aufruf für die Angehörigen des Planet Ranger Trupps VZ5279. Das Schiff nach Santoren Prime steht Ihnen in Kürze zur Verfügung. Beim Einstieg wird Ihr Ausweischip kontrolliert.“

 

Die freundliche Stimme schallte durch die ganze Halle und endlich wurden die Abflugdaten auch auf den Bildschirmen angezeigt. Jake drehte sich um und sah zu seinen wartenden Kameraden. Die erhoben sich schweigend von ihren Sesseln und trabten gelangweilt zum Passagierausgang.

 

Schnell stand er ebenfalls auf, schwang seine Arme leicht, bewegte seine Füße in Kreisen, um seine Glieder zu lockern, und griff dann unter den Wartesessel. Mit einem Ruck zog er einen flachen Behälter heraus, der etwa halb so lang wie ein Mann war. Er strich mit der Hand über die schlichte, mattglänzende Mettallbox, die sein Handgepäck beinhaltete. Mit drei Fingern betätigte er den Mechanismus an der Unterseite und die Box begann mit einem surrenden Geräusch auf die Höhe seiner Knie zu schweben.

Welche Fracht beförderte der beeindruckende junge Captain wohl? Jake musste grinsen. Der Mann würde ihm noch einige Zeit durch den Kopf wandern, da war er sich sicher. Plötzlich schreckte er aus seinen Gedanken. Ah, der Ausgang!

 

Lässig schob er die Innenseite seines Handgelenks an dem runden Lesegerät vorbei. Die Lichtschranke vor ihm öffnete sich und ließ ihn passieren.

Einige Schritte weiter betrat er einen gläsernen Tunnel. Für einen Moment blieb er stehen und sah beeindruckt zu dem enormen Schiff, das am Ende des Tunnels schwebte. Die längliche Form schimmerte in metallischem Blau. Vereinigte Planeten Transporte, war auf der einen Seite in weiß leuchtenden Buchstaben zu lesen.

Die meisten der Ranger befanden sich schon weiter vorne im Tunnel. Jake begann zu laufen und betrat mit seinen schweigsamen Kameraden zusammen das Schiff.

Der Boden unter seinen Füßen schwankte und Jake musste seine Schwebebox einige Male korrigieren, damit sie nicht an die helllackierten Wände stieß. Vorsichtig lief er durch die Korridore, von denen links und rechts die Gleittüren zu den Kabinen abgingen. Endlich fand er den breiten Gang, in dem er für die nächsten fünf Tage beheimatet war. Eine Gruppe Ranger stand im Korridor herum und verhandelte über ihre Mitbewohner. Die Regierung zahlte ihnen niemals Einzelkabinen und Jake wunderte das nicht. Ihr Sold war ja auch nicht angemessen, wieso sollten sie ihnen dann diesen Luxus erlauben?

Ah, da war Davey. Grinsend lehnte er an einem Türrahmen. Jake nickte nur, passierte ihn und betrat die Kabine. Klein wie immer, dachte er augenrollend. Zwei Betten, eines an jeder Seite, ein Bildschirm, der an der Decke schwebte. Nicht einmal ein Holoprojektor, typisch! Die engen Start- und Landesessel hatten gerade noch Platz zwischen den Betten.

 

„Liebe Passagiere, wir begrüßen Sie herzlich auf unserem fünftägigen Raumflug von Ren 5 nach Santuren Prime. Bitte nehmen Sie jetzt in den vorgesehenen Sesseln Platz. Wir starten in wenigen Augenblicken. Ihr vollständiges Gepäck wird Ihnen in Kürze in die Kabinen geliefert!“

 

Jake ließ sich in einen der beiden giftgrünen Sessel fallen. Eine unsichtbare Vorrichtung gab einen Lichtgurt frei und umschloss ihn sicher um die Hüfte. Davey setzte sich zögerlich in den anderen Sessel.

„Aufgeregt?“, fragte Jake und drehte den Kopf zu seinem Sitznachbarn. Er erinnerte sich, Davey hatte ihm anvertraut, dass Raumstarts ihn nervös machten.

„Bisschen. Aber es geht schon.“ Davey biss sich auf die Unterlippe und blickte starr auf den Bildschirm, der den Start übertrug.

Tröstend strich Jake ihm über die Hand und erntete ein schmales, dankbares Lächeln.

„Was … was war noch mal der Auftrag? Entlaufende Gentechs?“ Daveys Stimme zitterte leicht.

„Nein. Dieses Mal jagen wir keine entflohenen Labormenschen. Es gibt ein Schmugglernest auf Santuren Prime. Die Regierung traut den lokalen Milizen nicht mehr zu, das Problem in den Griff zu bekommen. Also müssen die Planet Rangers ran.“ Jake fuhr sich mit einer Hand durchs Haar.

„Ach ja. Sie teilen mir die Aufträge mit, aber ich bin ja immer mit der Küche beschäftigt. Aber wirklich, Jake, Labormenschen? Das hört der Chef nicht gerne. Sind doch offiziell keine Menschen, nur Gentechs.“

„Hm. Sehen doch aus wie wir und atmen auch, oder? Aber ist mir egal. Was du in der Küche machst, würde ich allerdings gerne wissen, denn Kochen ist es jedenfalls nicht.“ Bei dem Gedanken an Daveys nicht vorhandenes Kochtalent verzog Jake den Mund.

Jetzt war das vertraute surrende Geräusch zu hören, das den Start des Raumschiffes ankündigte. Der Boden der Kabine begann so sehr zu vibrieren, dass es Jake durch die Stiefel kitzelte. Er rollte gerade seine Zehen auf, da setzte sich das Schiff mit einem heftigen Ruck in Bewegung. Die Fliehkräfte drückten Jakes Körper tief in den Sessel. Wie immer bei einem Start reagierte sein Magen mit leichter Übelkeit. Davey war allerdings kreidebleich und krallte sich ängstlich in seine Lehne. Jake nahm erneut seine Hand und drückte sie fest. Hoffentlich konnte er mit diesem Kerl überhaupt Sex haben. Das Großer-Bruder-Gefühl saß fest in seiner Brust und wollte nicht weichen.

„Nur noch einen Moment, dann schalten sie den Antrieb um“, flüsterte er.

Davey nickte ergeben und saß starr aufrecht. Und tatsächlich, einen Augenblick später lösten sich die Lichtgurte und gaben sie frei. Jake atmete tief ein und aus.

 

„Mann, ich bin echt hungrig. Lass uns gleich zum Essen gehen!“ Jake hatte das Gefühl, Stunden mit Davey herumgesessen zu haben. Er stand auf und streckte die Arme weit über den Kopf. Dann bot er Davey seine Hand an.

Der zog sich daran in den Stand und presste sich Schutz suchend gegen ihn. Besorgt legte Jake ihm eine Hand auf den Rücken. Angst vor Raumreisen sind eher ungünstig für den Koch einer Planet-Ranger-Truppe, dachte er. Laut fragte er in einem milden Tonfall: „So schlimm?“

Plötzlich sah Davey mit einem breiten Grinsen nach oben. „Ich wollte eigentlich nur, dass du mich in den Arm nimmst. Du riechst echt gut. Ich schwöre, Jake, du bist der Einzige unter den Rangers, der sich jeden Tag mit heißem Wasser übergießt.“ Davey schnupperte an seinem Nacken.

 

Gerade wollte Jake ihn lachend wegstoßen, da ging erneut ein heftiger Ruck durch das Schiff. Heftiger als der erste. Jake strauchelte und konnte sich nur mit Mühe aufrecht halten. Was war das?

 

Kapitel 2

 

„Was ist passiert?“, fragte Davey ängstlich.

„Ich weiß nicht. Ein technisches Problem?“

„Was denn für ein technisches Problem? Wir haben gerade erst den Orbit verlassen.“ Davey sah sich prüfend um.

„Ist sicher nichts Schlimmes. So was passiert schon m…“

Jetzt ruckte das Raumschiff erneut. Jake fiel rückwärts auf das Bett und Davey landete auf ihm. Noch ein Ruck. Und dann Stille.

Wo war die Durchsage? Unruhe stieg in Jake auf und schob sich nervös durch seinen Körper. Was war da los? Er ließ Davey von sich abrollen und setzte sich auf. Vorsichtig, um nicht von der nächsten plötzlichen Bewegung erfasst zu werden, schob er erst ein, dann noch ein Bein aus dem Bett und kam in den Stand. Er griff nach seinem Solarshooter, der an seinem Waffengürtel hing und lud ihn mit einer Fingerbewegung. Die Waffe in der Hand, streckte er den Arm aus und ging zur Tür. Dann hielt er inne. War das übertrieben? Vielleicht gab es nur ein kleines Problem mit dem Antrieb? Aber der Weltraum um Ren 5 galt als unsicher. Der Planet war zu arm, um sich Abwehrsateliten zu leisten, und wo blieb die verdammte Durchsage? Doch, die Waffe bereit zu halten, war eine gute Idee. Mit seiner freien Hand öffnete er den Mechanismus der Tür. Surrend glitt sie zur Seite und gab den Blick auf den menschenleeren Gang frei. Jake sah um die Ecke. Nichts. Wo waren seine Kameraden?

„Was willst du mit der Waffe?“, hörte er jetzt Davey hinter sich. „Ich dachte, es ist ein technisches Problem?“

„Vielleicht. Ich will mich nur kurz umsehen. Bleib hier! Ich bin gleich zurück“, befahl Jake und verließ mit vorsichtigen Schritten die Kabine. Die Gleittür schloss sich augenblicklich hinter ihm.

„Hey Baku! Hat das mit dem Gas funktioniert?“

Die Stimme kam von einem Quergang, ein Stück weiter vorne. Jake drückte sich gegen die Wand des Korridors, die Waffe im Anschlag. Was ging hier nur vor sich? Sein Herz raste aufgeregt. Wo waren seine verfluchten Kollegen? Suchend sah er über seine Schulter, aber niemand zeigte sich. Er tastete sich vorsichtig an der Wand weiter, bis er etwa einen Fuß vom Quergang entfernt stand.

„Glaub schon“, war jetzt zu hören. Jake hoffte inständig, es war nur einer der Gentech-Arbeiter, der etwas überprüfte. Er stellte die Waffe auf Betäubung und überlegte, ob er gerade maßlos übertrieb. Eine schussbereite Waffe auf einem normalen Transportschiff? Was sollte schon groß passieren? Sicher nur ein Energieabfall. Er trat einen Schritt in den Quergang und zielte.

 

Zielte auf … fünf übel aussehende Kerle. Jake zuckte augenblicklich zusammen. Piraten! Verdammt! Seine schlimmste Befürchtung war wahr geworden. Gas? Sie hatten Komagas in die Kabinen geleitet, um den Frachtraum in Ruhe plündern zu können. Natürlich! Das war doch ein üblicher Piratentrick. Etwas musste schief gelaufen sein, hatten die Piraten das Gas doch nicht in alle Unterkünfte leiten können. Aber wie hatten sie nur das Sicherheitssystem überwinden können? Jetzt begann die Waffe zusammen mit der Hand, die sie hielt, zu zittern. Verdammte Scheiße! Er war hier allein, Davey noch in der Kabine.

Staubtrocken fühlte sich sein Mund plötzlich an und das verfluchte künstliche Auge zuckte in seiner Höhle. Heftige Schmerzblitze trafen sein Hirn. Verdammt! Das passierte ihm nie in einem Einsatz.

Jetzt kamen die Piraten, grinsend und mit wippenden Schritten, auf ihn zu. Zwei von ihnen fehlten Zähne. Ein weiterer besaß statt einem Auge nur noch eine dunkle, bedrohlich wirkende Augenhöhle. Ein Pirat mit einer besonders großen Waffe im Anschlag hinkte und sein Kumpel neben ihm wirkte, als wäre er auf … Fassungslos zuckte Jake zusammen. Die Augen dieses Kerls … der war auf … Color Candy!

Jetzt waren die Piraten so nah, dass Jake es ohne jeden Zweifel sah: mindestens drei dieser Verbrecher waren high! Sein Herz hämmerte gegen seine Brust. Rote Pupillen! Ein eindeutiges Zeichen für Candyjunkies. Das Zeug machte wach und extrem aggressiv. Oft genug hatten Jakes Trupp eine Color-Candy-Küche ausgehoben, er erkannte einen Süchtigen schon von weitem.

Einer der Zahnlosen lachte hämisch. Er streckte seine Zunge in eines der Löcher in seinem Mund und gab ein ekliges, schmatzendes Geräusch von sich. Seine Kleidung war verdreckt und abgenutzt.

„Na, Ranger. Willste uns verhaften? Versuch’s doch mal. Na? Naaa?“ Lachend umrundete er Jake wie ein gieriges Tier kurz vor dem Angriff.

Ergeben! Jakes Gedanken überschlugen sich. Wenn er auch nur den Hauch einer Chance haben wollte, musste er sich jetzt ergeben. Langsam ließ er die Waffe sinken. Alle fünf lachten laut. Mit dem Daumen sicherte Jake den Solarshooter und ließ ihn auf den Boden gleiten. Er wollte etwas sagen. Aber was konnte man einer Meute Piraten auf Color Candy schon mitteilen, um sie zu beruhigen? Schweigend hob er die Hände über den Kopf.

Plötzlich waren zwei der Typen hinter ihm. Sie stießen Jake mit den Schultern an und johlten dabei. „Yeaaaaahh. Einen so hübschen Kerl hatten wir schon lange nicht mehr als Gefangenen!“, grölte einer von ihnen.

„Yeah, den fresse ich!“ Schon war einer von den Piraten mit seinem schrecklichen Gebiss vor ihm und riss seinen Mund weit auf.

Jake wurde übel von dem Geruch, der auf ihn einströmte. Er wollte hier weg! Weg von diesen Monstern. Warum war er nicht in der Kabine geblieben? Davey! Glühend heiß schoss ihm der Gedanke an seinen Kabinengenossen in den Kopf. Hoffentlich blieb Davey in der Kabine! Jakes Arm zuckte, seine Beine drohten nachzugeben. Bei jedem Einsatz war er in Begleitung anderer Rangers gewesen. Und jetzt? Jetzt stand er hier allein und … könnte gleich tot sein. Diese Erkenntnis ließ seinen Körper noch mehr zittern.

„Hat Angst, der Junge, he he.“

„Schau mal, der hat so ein schickes Auge. Hey! So eins will ich schon lange.“

„Weg da“, rief jetzt einer, der wie der älteste der Piraten aussah. „Wir nehmen ihn mit. Soll der Boss entscheiden, was mit ihm geschieht. Vielleicht ist er den Rangers ein paar Credits wert.“

Jake sah genauer hin. Der Kerl hatte einen stoppeligen, grauen Bart und seine Augen wirkten klar. Wenigstens war er also nicht auf Candy. Der Samen einer winzigen Hoffnungsblume keimte in Jake auf.

„Baaahhhh, von mir aus“, murrte der Einäugige. „Soll der Boss entscheiden. Aber ich will das Auge!“

„Und ich seinen jungen Arsch.“ Der Zahnlose klang aufgeregt.

„Astrala teilt die Beute auf und sonst keiner!“ Der ältere Mann sah entschlossen aus. Er richtete einen langen Solarshooter auf Jake. „Deine Waffen!“, befahl er. „Alle!“

Jakes Hoffnung, noch einen Ausweg zu finden, schwand. Entmutigt öffnete er seinen Waffengürtel und übergab ihn dem Piraten mit dem Bart.

„Los jetzt!“

Jake spürte einen Shooter, der sich in seinen Rücken bohrte, und stolperte vorwärts. Mutlos und mit hängendem Kopf ließ er sich durch das menschenleere Schiff drängen. Durch die breiten Gänge der Passagierunterkünfte, die engen Korridore der Besatzungsquartiere. Jedes Mal, wenn sie abbogen, hoffte Jake auf Hilfe zu treffen. Doch niemand war zu sehen. Kein Mensch, nicht einmal ein Gentech. Hoffnungslos setzte er einen Fuß vor den anderen und spürte immer wieder, wie er mit dem Shooter in den Rücken oder die Seite gestoßen wurde.

Schließlich erreichten sie einen Seiteneinstieg. Der sollte während des Fluges fest geschlossen sein, doch die Gleittür war zurückgefahren und ein kurzer Gang hatte sich an sie angeschlossen. Der Korridor aus Metall wirkte verbeult. Die rote Farbe war zum größten Teil abgeblättert. Auf Jake wirkte er wie ein riesiger Mund, der ihn verschlingen wollte.

Wenn ich jetzt dort hinübergehe, ist es vorbei, dachte er. Jetzt! Er musste es versuchen. Mit einem Ruck löste Jake sich aus der Gruppe und begann zu rennen.

Dumpf traf ihn das Geschoss in den Rücken. Tot? Sterbe ich jetzt? Gedanken krachten in seinen Kopf, richteten Chaos an. Was war das? Seine Glieder wurden nur gefühlos. Ein Betäubungsschuss! Mit dieser Erkenntnis fiel er zu Boden und in tiefe Schwärze.

 

Kalt. Jakes Wange presste sich gegen eine kalte Oberfläche. Er blinzelte und stöhnte auf. Ganz langsam kroch das Leben zurück in seinen Körper und das Gefühl von Taubheit lies immer mehr nach. Vorsichtig bewegte Jake seine Zehen, dann die Unterschenkel und die Knie. Nur ein starkes Kribbeln blieb zurück. Was war geschehen? Jetzt strömten die Bilder und Gedanken zurück in seinen Kopf.

Piraten! Das Transportschiff, das ihn und seine Kameraden zum nächsten Einsatz hatte bringen sollen, war von Piraten überfallen worden. Offensichtlich waren alle anderen in Tiefschlaf versetzt worden, nur in seine und Daveys Kabine war das Gas nicht eingedrungen. Jake versuchte sich zu bewegen und fühlte sogleich einen dumpfen Schmerz in seinen Gelenken.

Mit einem Ächzen drehte er sich um. Die Zelle, in die ihn die Piraten gesperrt hatten, war eng. Kaum sechs Fuß breit und nur wenig länger als er selbst. Sie war vollkommen leer. Es gab keine Pritsche, keine Matratze, nichts. Nur den eiskalten Metallboden, auf dem er lag. Drei Wände waren aus dem gleichen matt glänzenden Material, eine weitere bestand aus einer durchsichtigen Barriere, die wie Glas aussah. Es schien endlos zu dauern, doch schließlich hatte Jake genug Kraft gesammelt, um seinen Oberkörper aufzurichten. Er zog ein Knie an, stellte den Fuß auf und mit einem Ruck versuchte er aufzustehen. Aber sein Körper wollte ihm nicht gehorchen - wie ein Insekt fiel er auf den Rücken. Wie ein verdammter Käfer, dachte er verächtlich. Jake atmete tief ein und aus und versuchte es erneut. Dieses Mal gelang es ihm. Langsam und mit zitternden Beinen kam er in den Stand. Er wankte zur Wand und fühlte seine Beine nachgeben. Hilflos und frustriert glitt er an der kalten, glatten Oberfläche zu Boden.

Was sollte er jetzt tun? Was konnte er jetzt überhaupt tun?

Plötzlich wurde ein Strahler angeschaltet. Er konnte erkennen, dass sich die Zelle in einem riesigen Raum befand, der noch mehr dieser Gefängnisse beinhaltete. Doch alle anderen waren leer.

Jetzt waren Stimmen vom anderen Ende des Raumes zu hören.

„Was machen wir denn mit dem?“

„Das Auge! Verdammte Scheiße! Niemand außer mir fasst das Auge an!“

„Ein Ranger? Interessiert mich nicht! Habt ihr Candy? Habt ihr was?“

„Elon, du nervst! Ich hab dir heute schon dreimal gesagt, du wirfst viel zu viel Candy ein.“

„Geht dich gar nichts an, du dreckiger Dealer!“

Jake zuckte zusammen. Je mehr die Folgen des Betäubungsschusses abnahmen, desto größer wurde seine Panik. Sein Herzschlag überschlug sich, seine Finger verkrampften sich und ihm war übel. Entmutigt legt er seinen Kopf auf die Knie. Er wollte das nicht hören. Wollte nicht wissen, dass ihm gleich jemand sein künstliches Auge stehlen würde. Sicher würden sie es ihm ohne Betäubung herausreißen. Er konnte den grauenhaften Schmerz schon fühlen. Er hatte ihn schon einmal gespürt. Jetzt kroch Übelkeit aus seinem Magen in jede seiner Zellen. Die Stimmen waren nun ganz nah. Jake sah nicht auf.

„Was’n das für ne Memme? Dachte, das wär so einer von den Planet Rangers. Hockt da und heult.“

„Ist mir egal. Ich will nur das Auge.“

Jakes Beine zitterten, aber er heulte mit Sicherheit nicht! Verdammt, er hatte doch noch so viel vorgehabt. Auf keinen Fall wollte er in einer leeren Zelle auf einem Piratenschiff sterben!

Jetzt traten doch Tränen in seine Augen. Er dachte an seine Eltern, an Henry, seinen kleinen Bruder, an alle, die er je geliebt hatte. Sie waren alle tot und er würde gleich ebenfalls sterben. Aber warum hätte auch ausgerechnet er überleben sollen? Das war von Anfang an nicht so vorgesehen gewesen. Nur der Zufall und ein bisschen Glück hatten es gewollt. Jetzt war es vorbei.

Er hörte schnelle Schritte, die sich auf die Zelle zubewegten. Wie viele Stimmen hatte er gehört? Drei? Ein weiterer Verbrecher war also im Anmarsch. Als ob die Verstärkung notwendig wäre. Er war unbewaffnet und immer noch durch den Betäubungsschuss gelähmt.

„Ihr Idioten! Was soll das hier werden? Keine Gefangenen! Wie oft soll ich euch drogensüchtigen Dummköpfen das noch sagen?“

Jake zuckte zusammen. Die neue Stimme gehörte ebenfalls zu einem Mann. Sie war dunkel und klang aufgebracht.

„Hey Boss, der hat uns angegriffen! Was hätten wir denn tun sollen?“

„Betäuben! Dort lassen! Volltrottel.“

„Aber Boss, der hat so ein Auge, wie ich es schon lange will!“

Für einen Moment herrschte Stille und Jake hätte gerne die Genugtuung gehabt, wie dieser fiese Mörder von seinem Boss fertiggemacht wurde. Aber er traute sich nicht, den Kopf zu heben.

Jetzt sprach die dunkle Stimme ganz leise und bedrohlich: „Baku, Präsident aller Idioten! Wenn du nicht deinen gesamten Anteil an der Beute in Color Candy umsetzen würdest, hättest du dir längst ein neues Auge leisten können.“

Ein abschätziger Laut war die Antwort.

„Sperrt die Zelle auf!“

Jake kauerte sich zusammen. Für einen großen, schlaksigen Kerl wie ihn war das nicht leicht. Er versuchte, seine Knie noch näher an den Körper zu ziehen. Jetzt hörte er Schritte in seiner Zelle. Langsam kam jemand auf ihn zu.

„He he, willst ihn wohl selbst erledigen, Boss?“, rief einer der Piraten.

Jake überlegte, ob er irgendein Gebet an einen der vielen Götter seiner Welt kannte. Aber seine Eltern waren nicht gläubig gewesen. Es wollte ihm keines einfallen. Verfluchte Scheiße! Er gehörte zu den mutigsten unter den Rangers. Wieso konnte er seinem Tod nicht würdevoll entgegensehen?

„Hey“, hörte er die dunkle Stimme ganz nah an seinem Ohr.

Vorbei! Lass es einfach schnell vorbei sein. Bitte, betete er zu einem unbekannten Gott.

„Hey du, sie mich mal an. Ich will dich nicht töten.“

Da war eine Hand, die sich auf seinen Oberarm legte. Nicht töten? Was wollte der Piratenboss denn sonst? Ihn vorher foltern? Jake fröstelte. Er war in seiner Kurzausbildung zum Ranger auf Folter vorbereitet worden. Genau eine Unterrichtsstunde lang. Ranger traten immer in der Gruppe auf und waren bis an die Zähne bewaffnet. Man ging davon aus, dass sie im Kampf starben, aber nicht, dass sie festgenommen und gefoltert würden. Tja, falsch gedacht.

„Hey, was ist mit dir? Was haben sie mit dir angestellt?“

„Nix, Boss, gar nix. Wir wissen doch, dass du die Beute verteilst.“

Das war schon wieder einer der candysüchtigen Piraten. Und dann war Jake plötzlich alles egal. Er würde ohnehin gleich sterben. Sein Kopf bildete sich schon ein, der Kerl vor ihm hätte freundlich mit ihm gesprochen. Bevor er völlig verrückt im Hirn sterben würde, musste er sich den letzten Rest seiner Würde bewahren.

Langsam hob Jake seinen Kopf. Was er sah, war so unglaublich, dass er nur starren konnte. Mit offenem Mund sah er den Kerl an, der vor ihm hockte und ihn besorgt musterte. Er kannte diesen Mann! Schwarze Handschuhe, graues Hemd, schwarzer Waffengürtel, dunkelgraue Hose und Einsatzstiefel und … dieses Gesicht. Das schönste Gesicht, das Jake je an einem Mann gesehen hatte. Der junge Frachtercaptain aus der Abflughalle! Wie konnte so ein Kerl, der aussah wie ein junger Prinz, der Anführer einer ekelhaften Piratenbande sein?

Noch bevor Jake eine Antwort auf diese Frage hatte, hörte er Baku sagen: „Hey Boss, was machst’n? Wenn du ihn kalt machst, denk an das Auge!“

Scharf presste der junge Mann Luft durch seine Zähne. „Zisch ab, Baku! Nimm die anderen Nichtsnutze gleich mit. Ihr Trottel habt einen Transporter überfallen, der Ranger an Bord hatte! Und jetzt macht ihr es zu meinem Problem. Ich sollte euch ins All werfen!“

„Aber das wussten wir doch nicht. Ranger werden nicht auf der Passagierliste aufgeführt. War Zufall. Wir haben übrigens den Frachtraum leer geräumt, hat sich gelohnt.“

Der Boss schnaufte verächtlich. „Von mir aus. Jetzt verzieht euch. Ich regle das hier.“

 

Kapitel 3

 

Jake bemerkte, dass sein Mund immer noch offfenstand und klappte ihn schnell zu. Er sah an dem Mann, der vor ihm in der Hocke saß, vorbei. Die drei Piraten zuckten mit den Schultern und schlurften aus dem Raum. Lautlos schloss die Gleittür sich hinter ihnen. Jetzt war er also allein mit diesem Kerl. Was nun? Warum hatte er seine Männer fortgeschickt? Es wäre doch eine wirkungsvolle Machtdemonstration gewesen, einen Ranger zu töten. Der Gesichtsausdruck des Piratenbosses war unbeweglich und nicht zu deuten.

„Geht es dir gut?“

Seltsame Frage. Jake schnaufte leise. „Es geht schon.“

„Gut.“

Jake versuchte, Anzeichen für eine Gefühlsregung im Gesicht des Mannes zu erkennen. Aber es blieb versteinert, wie das Gesicht einer wunderschönen Statue. Nur die dunklen Augen suchten ihn unaufhörlich ab.

„Meine Männer haben dich also nicht angefasst?“

Jake schüttelte den Kopf. Noch hatten sie ihn tatsächlich nicht angefasst.

„Gut. Wir sind mit Hyperantrieb geflü… geflogen, haben einen Raumsprung durchgeführt und sind jetzt etwa einen Tag entfernt von dem Transporter. Ich könnte dich in einer Landekapsel aussetzen. Aber wir sind fernab der Transporterwege, im Anflug auf die Freie Zone. Die Chancen, dass du in der Kapsel jämmerlich eingehst, sind hoch.“

„Wie?“ Jake konnte es nicht fassen. Freie Zone? Und wieso dachte dieser Verbrecher überhaupt darüber nach, ihn auszusetzen? War es nicht einfacher, ihn mit einem Schuss zu erledigen?

„Keine Sorge. Ich sagte ja, ich könnte. Aber dich hier zurückzulassen wäre dein sicherer Tod.“

Jake schluckte. Er war in der sagenumwogenden Freien Zone gelandet? In der Region, in der Chaos und Anarchie herrschten und die sich keinem System anschließen wollte? Unbehagen kroch durch seinen Körper. Er drückte sich noch näher an die kalte Oberfläche der Metallwand. So schön dieser Mann auch war, er wirkte so gefühllos wie die kahlen Wände in dieser Zelle. Und warum wollte er nur sein Leben retten? Jake verstand kein Wort.

„Kannst du aufstehen?“ Der Piratenboss zeigte mit seinem Kinn auf Jake.

„Denke schon.“

„Dann komm mit.“

Plötzlich schien ihm die Zelle ein sicherer Ort zu sein. Unwillkürlich schüttelte er den Kopf.

„Komm jetzt!“

Nun war der Mann ganz nah bei ihm, schob seinen Arm um Jakes Rücken, griff um seine Brust und nickte ihm zu. Jake verstand. Er spürte den Ruck, der von dem Arm ausging, und drückte seine Füße fest gegen den Boden. Einen Moment später stand er aufrecht.

Wie zuvor verzog der Piratenboss keine Miene. Ausdruckslos sah er Jake an. „Willkommen auf der Heart of Sky. Wir fliegen, wie gesagt, in die Freie Zone. Wenn du also zurück in das System der Vereinigten Planeten willst, wirst du es ein paar Wochen hier aushalten müssen.“

Jake zuckte zusammen. „Heart of Sky? Dann bist du …?“

Jetzt umspielte für einen winzigen Augenblick ein feines Lächeln den Mund seines Gegenübers. Für einen Moment schien er zu überlegen. „Ja, ich bin Kinan Astrala, der Captain dieses Schiffes.“

Wie? Diese Information erreichte nur bruchstückhaft sein Hirn. Astrala? Heart of Sky? Ausgerechnet die am meisten gefürchtete Piratencrew im ganzen System hatte ihn gekidnappt. Er schluckte trocken. Ein flaues Gefühl breitete sich in seinem Magen aus.

So oft hatte Jake die Fahndungsmeldungen zur Heart of Sky gehört. Er wusste, wie dieses Schiff von außen aussah. Schwarz wie das All selbst war es. Und der Name des Captains – Astrala – war im ganzen System bekannt. Irgendwie hatte es dieser Mann geschafft, dass kein einziges Bild, geschweige denn ein Hologramm von ihm existierte. Er schien durch sämtliche Überwachungsmechanismen zu schlüpfen.

Jake sah sich den Kerl mit den schönen Gesichtszügen und dem eleganten Körper erneut an und schüttelte den Kopf. „Du bist Astrala“, murmelte er überwältig. Wann immer er sich den Captain dieses Schiffes vorgestellt hatte, war es ein verwegener älterer Kerl gewesen, der so aussah wie die widerlichen Männer, die ihn mitgenommen hatten.

Verdammt. Jake fiel ein, was dieses Wissen bedeutete. „Wenn … wenn ihr mich aussetzt, dann versucht ihr, meine Erinnerung zu manipulieren, ja? Das ist gefährlich.“ Wie sonst sollten sie sichergehen, dass er nicht aus seiner Erinnerung sofort ein Hologramm von diesem Mann anfertigen ließ? Der Eingriff in die Erinnerung eines Menschen konnte böse ausgehen, hatte er gehört.

„Wer weiß“, erwiderte Astrala schulterzuckend und legte seine behandschuhte Hand auf Jakes Oberarm. Jake erwartete, hart gepackt zu werden. Aber die Hand lag nur dort, ganz ruhig. „Komm jetzt endlich! Außer du willst die nächsten Wochen in dieser Zelle verbringen? Wir haben mit den Rangers nichts zu schaffen und mir liegt nichts daran, ihre Aufmerksamkeit auf uns zu ziehen. Zudem habe ich eine bessere Verwendung für einen ehrlichen, kampferprobten Mann wie dich. Nun?“

Jake atmete mehrmals tief ein und aus. Von welcher Wahl sprach dieser Mann? Diese Zelle oder … Im Bruchteil eines Augenblicks entschied er sich. Langsam nickte er. Es war wie im Einsatz: Wer zu lange zögerte, hatte schon verloren.

Astrala blinzelte. Dann ging er an Jake vorbei. Mit schnellen Schritten verließ er die Zelle und eilte zur Gleittür. Jake folgte ihm mit schweren Beinen. Verdammt, er folgte hier unbewaffnet einem gesuchten Verbrecher.

 

Sie verließen das Gefängnis des Schiffes durch eine weitere Gleittür und gelangten in einen dunklen Gang.

„Licht“, sagte Astrala und sowohl die Decke als auch die Wände erhellten sich.

Er eilte voran und Jake folgte ihm verwirrt, bis sie einen Aufzug betraten. Astrala gab dort eine Nummer auf einer Tastatur ein und der Aufzug erreichte rasend schnell sein Ziel. Das Piratenschiff war größer, als es auf den Fahndungsbildern aussah, bemerkte Jake. Bald hatte er das Gefühl, durch die zehnte Waffen- oder Nahrungsmittelkammer zu stolpern. Sie hasteten durch einen Maschinenraum und einen Holoraum, der widerlich roch. Was auch immer die Besatzung dieses Schiffes hier mit den Hologrammen trieb, er wollte es nicht wissen.

Endlich bogen sie in einen kurzen Korridor ab, von dem nur drei Türen abgingen. Am Ende des Ganges befand sich ein Notausstieg mit einer Landungskapsel. Zwei Gleittüren waren auf einer Seite angebracht, eine einzelne lag gegenüber. Astrala blieb vor dieser Tür stehen und drehte sich zu Jake um. Er sah aus, als wollte er etwas sagen, doch dann schüttelte er den Kopf und betätigte den Öffnungsmechanismus. Die Tür glitt zur Seite und gab die Sicht auf einen weiteren, unbeleuchteten Gang frei. War das seine neue Zelle? Jake schauderte. Schon wieder kein Bett.

Astrala öffnete die linke Tür und dahinter wurde ein heller Raum sichtbar. Jake fühlte sich merkwürdig ruhig. Wie schlimm könnte es nach der Metallzelle noch kommen?

Ein ganz normaler Wohnraum tat sich vor ihm auf. Groß genug, um als Quartier eines Captains zu dienen. Ein enormes Bett stand zu seiner Linken. Die Wand dahinter bestand aus einem riesigen Fenster. Wie zu erwarten, zeigte es nur tiefe Schwärze. Jake dreht neugierig den Kopf. Auf der anderen Seite befand sich eine Wand voller weißer Regale. Kristalle in unterschiedlichen Größen und Farben waren darauf zu erkennen. Aber vor allem befanden sich dort Ständer voller Datenchips, die Holobücher enthielten.

Der mysteriöse Captain dieses Piratenschiffes war also belesen? Jake konnte es kaum fassen. Er selbst hatte nur seine Schulbücher gelesen und natürlich alles, was er zum Thema Navigation finden konnte.

Jake sah zu Boden. Etwas unter seinen Füßen fühlte sich weich an. Dann erkannte er, dass er auf einem strahlend blauen Teppich stand. Wie unpassend für einen Raumschiffcaptain. Unter den Regalen konnte er zwei bequeme Lesesessel, ebenfalls in Weiß, entdecken und viele bunte Holobilder zierten die Wände. Die Farben liefen ineinander, die Landschaften schienen sich ständig zu verändern. Diese Unterkunft war alles, nur nicht das, was er von einem Piratencaptain erwartet hätte. Jetzt trat Astrala zur Seite und Jake hielt den Atem an.

Dort, im hinteren Teil des Quartiers, lag ein weiterer Teppich. Ebenso blau, aber von vielen bunten Tupfen überzogen. Inmitten eines Haufens, der aussah, als wäre er aus einem Spielzeugtransport gestohlen worden, saß … die blonde Frau, die er ebenfalls in der Halle gesehen hatte. Neben ihr kniete ein kleines Kind.

 

Jakes Hand ballte sich zu einer Faust. Sein künstliches Auge zuckte unruhig und verzerrte einige Bilder. Wut baute sich in ihm auf. Aber natürlich! Astrala war Pirat und er war … ein Menschenhändler! Wo hast du dieses Kind gestohlen, wollte er aufgebracht rufen.

Da drehte der Kleine seinen Kopf. Ein etwa fünfjähriger Junge mit schwarzem Haar sah mit großen Augen zu ihm. Er sah aus … wie die Miniaturausgabe von Astrala.

„Papa!“, rief der Junge aufgeregt, stand hastig auf und kam angelaufen.

Astrala bückte sich, hob den Kleinen hoch und nahm ihn auf den Arm. Zum ersten Mal sah Jake, wie der Captain lächelte. Nicht nur für einen kleinen Augenblick. Nein, er zeigte ein breites, erfreutes Lächeln und küsste den Jungen, der ganz offensichtlich sein Sohn war, auf die Wange.

„Na, Yari, hat Andra dich auch nicht geärgert?“, sagte Astrala und zwinkerte der Frau zu.

„Neiiiin. Andra hat mir etwas vorgelesen.“ Der Kleine sah prüfend zu Jake.

„Schön. Erzähl mir später, was es war, ja? Schau mal, ich habe Besuch mitgebracht. Das ist …“ Sein Blick war fragend.

Jake fiel ein, dass er diese Frage im Gefängnistrakt gar nicht beantwortet hatte. „Jake. Jake Greeny“, sagte er, immer noch verwirrt von dem, was er hier erlebte.

„Jake bleibt eine Weile bei uns.“

„Wo kommt Jake denn her?“, fragte der Kleine neugierig. Während er seinen Besucher immer noch kritisch betrachtete, spielte er mit seinen kleinen Fingern in den schwarzen Haaren seines Vaters.

„Von dort“, erwiderte Astrala und zeigte auf das Fenster.

„Aber du sagst immer, da draußen ist es sehr kalt?“ Jetzt befingerte der Junge die Ohrmuschel des Piratencaptains.

„Jake war warm angezogen“, versicherte ihm sein Vater und grinste.

Der Kleine schien diese Aussage nicht recht glauben zu wollen. Er legte den Kopf zur Seite und musterte Jake mit zusammengezogenen Augenbrauen.

Dann ließ ihn sein Vater auf den Boden gleiten. „Danke Andra. Kannst du Yari noch für einen Moment mit zu dir nehmen? Ich hole ihn gleich.“

Die blonde Frau stand vom Spielteppich auf und durchquerte langsam den Raum. Jake blieb unbeweglich und versuchte zu verstehen, was gerade vor sich ging. Sein Ranger-Leben bestand aus Gewalt, Gefahr und der Langeweile nach dem Einsatz. Mit dem Privatleben von Schmugglern, Piraten und anderen Verbrechern beschäftigte er sich nicht.

Die schöne Frau kam mit anmutigem Gang auf Astrala zu. Für einen Moment sah sie ihm tief in die Augen und ließ dann ihren Blick zu Jake wandern. Wieso musste Astrala diese Frau eigentlich bitten, das Kind mitzunehmen? War sie denn nicht die Mutter? Diese beiden, wie aus einem zauberhaften Märchen entstiegen, passten so gut zusammen.